Texte von Bischof Kamphaus

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Texte von Bischof Kamphaus
Bonusmaterial: Bischof-Kamphaus-Texte
1a/5
„Antworten“ von Bischof
Franz Kamphaus zum Thema
Menschen mit Behinderung
Warum erschrecken wir, wenn wir Menschen
mit Behinderungen sehen?
Was bedeutet es, dass jeder Mensch
Ebenbild Gottes ist?
Wenn wir Menschen mit schweren Behinderungen sehen,
erschrecken wir fast instinktiv und weichen aus. Wir versuchen, uns möglichst schnell an ihnen vorbeizudrücken.
Manch einer denkt: ‚Besser, sie wären nicht geboren! Was
wäre den Eltern und der Gesellschaft alles erspart geblieben!‘ Die Abneigung gegen körperlich oder geistig behinderte Menschen sitzt uns von der Evolution her in den
Knochen. Gerade in unserer Gesellschaft sehen wir fast nur
noch Gesundheit und Vitalität, Stärke und Leistung.
Er ist nicht sein eigener Schöpfer, nicht das Ebenbild eines
Menschen. Wäre er nur das, etwa nur das Produkt seiner
Eltern, wäre er an deren Maß gekettet, ein Klon. Das ist unter seiner Würde. Ebenbild eines Menschen oder Gottes
Ebenbild – das ist ein himmelweiter Unterschied. Bild Gottes zu sein schenkt dem Menschen die Freiheit, er selbst zu
sein und es immer mehr zu werden, ein Original. Das ist ein
Plädoyer für Menschenleben in Vielfalt, in Verschiedenheit.
Wer nicht zählen kann, zählt mit! Behinderte Menschen
haben ihr gutes Recht auf ein eigenständiges Leben. Es geht
nicht nur darum, sich „aus lauter Liebe und Barmherzigkeit“ ihrer anzunehmen. Sie haben ein Recht auf Anerkennung und Entfaltung ihrer Person, ein Recht auf Sozialleistungen des Staates.
Bischof em. Dr. Franz Kamphaus, aus:
Die Mission behinderter Menschen, Material für Renovabis
Gibt es einen Unterschied zwischen Menschen
mit und ohne Behinderung?
Am Anfang von allem und an unser aller Ursprung steht
nicht irgendetwas, sondern Gott in seiner schöpferischen
Liebe. Er hat jede und jeden von uns beim Namen gerufen.
Das ist der Grund unserer Menschenwürde. Wir sind weder
Zufallsprodukte noch Blindgänger. Jeder ist ein Original,
keiner eine Kopie. Mit jedem hat Gott Besonderes vor. Das
zu wissen kann unseren Tagen mehr Leben geben, ob wir
jung sind oder betagt, erfolgreich oder ein Pechvogel, behindert oder scheinbar unbehindert. Das Abenteuer unseres Lebens geht weit über das hinaus, was wir planen und
ins Werk setzen können. Wir haben das Leben nicht in den
Händen, schon gar nicht den Tod. […]
Wir sind ins Leben „gerufen“, sagt die Bibel. Noch vor
den Eltern hat der Schöpfer des Himmels und der Erde uns
aus dem Nichts ins Dasein gerufen: Komm, ich möchte,
dass du lebest; ich freue mich auf dich; es soll die Welt nicht
ohne dich geben!
Bischof em. Dr. Franz Kamphaus, aus:
Material für Renovabis
Das
Leben teilen.
erten
Solidarisch mit behind
Menschen im Osten Europas
Bischof em. Dr. Franz Kamphaus, aus:
Leben mit Behinderung, Material für Renovabis
Was meinen wir, wenn wir vom Wert oder von
der „Würde des Menschen“ sprechen?
Das Wort “Wert“ stammt vom Markt, aus der Ökonomie.
Was ist das wert?, fragen wir. Wir kennen Messwerte,
Grenzwerte oder auch Wertpapiere. Der Wert hängt jeweils
von der Bewertungsgrundlage ab, ändert sich mit ihr und
kann gegen Null gehen. Er unterliegt der Definition des
Menschen. […] Die Würde sprechen wir uns nicht zu. Sie
ist uns vorgegeben. Darum können wir sie einander auch
nicht absprechen. Sie besteht vorgängig zu unserer Taten
und Untaten, zu unseren Leistungen und Fehlleistungen.
Auch diejenigen, die nicht selbstbestimmt leben können,
besitzen eine unantastbare Würde.
Bischof em. Dr. Franz Kamphaus, aus:
Leben mit Behinderung, Material für Renovabis
20 Jahre
Bonusmaterial: Bischof-Kamphaus-Texte
Was können wir von Menschen
mit Behinderung lernen?
Das Zusammenleben mit geistig behinderten Menschen
kann dazu anleiten, ehrlicher zu werden gegenüber sich
selbst und dem Menschsein überhaupt. Sie sagen frei heraus, was sie fühlen und denken. Selbsttäuschungen zerbrechen sehr schnell, vor allem die heute so beliebte Vorstellung, aus eigener Kraft oder mit vereinten Kräften „ganzheitlich“ und „heil“ zu werden. Behinderte Menschen geben
deutlich zu erkennen, dass das eine Illusion ist. Sie bezeugen: Unser Leben ist endlich und hat Grenzen.
Bischof em. Dr. Franz Kamphaus, aus:
Material für Renovabis
Ich habe das noch nie in meinem Leben so erfahren, dass es
das Allerwichtigste ist, einfach da zu sein. Entscheidend ist
nicht so sehr, was ich sage oder tue, sondern dass ich dort
lebe, einfach dazwischen bin.
Bischof em. Dr. Franz Kamphaus, aus:
Der Rand wird zur Mitte, Material für Renovabis
1b/5
Was bedeutet das für christliche Gemeinden?
Der evangelische Pfarrer Ulrich Bach, seit dem 23. Lebensjahr an den Rollstuhl gefesselt, sagt: „Eine Gemeinde ohne
Behinderte ist eine behinderte Gemeinde.“ Sie hat nicht begriffen, was sie nach Gottes Willen in dieser Welt sein soll:
Nicht nur eine Gemeinde von gesunden, glaubensstarken
und belastbaren Leuten, die sich einsetzen für die Armen,
Schwachen und Behinderten. Sie soll vielmehr eine Gemeinschaft von Menschen sein, von denen keiner ganz
schwach und keiner ganz stark ist, keiner nur behindert und
keiner ganz unbehindert; eine Gemeinschaft von Menschen, die Jesus an seinem Tisch zusammengebracht hat
und beieinander hält, damit sie sich mit ihren Stärken und
Schwächen ergänzen, einer die Last des anderen trägt, mit
der Schulter, die er gerade frei hat. „Was wir können und
was wir nicht können, das alles gehört uns gemeinsam. Und
für uns miteinander wird’s schon reichen.“
Bischof em. Dr. Franz Kamphaus, aus:
Die Mission behinderter Menschen, Material für Renovabis
Was haben uns Menschen
mit Behinderung zu sagen?
Behinderte haben ihren Mitmenschen viel zu sagen: ‚Merkt
ihr nicht‘, sagen sie, ‚wie behindert ihr seid: behindert durch
eure Vorstellung, ihr dürftet von niemandem abhängig sein,
ihr müsstet alles selbst in den Griff bekommen und unter
Kontrolle haben …‘ Wir vermeintlich Unbehinderten sind
auf die Behinderten angewiesen, um die eigenen Grenzen
zu entdecken und dazu zu stehen. Je mehr jemand seine eigenen Behinderungen und Einschränkungen annimmt,
wird er auch ein Gespür für den Umgang mit behinderten
Menschen bekommen.
Bischof em. Dr. Franz Kamphaus, aus:
Die Mission behinderter Menschen, Material für Renovabis
Das
Leben teilen.
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20 Jahre
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2/5
Als Gottes Abbild geschaffen
L
ängst lebt der alte Traum vom perfekten Menschen wieder auf – vom Menschen mit medizinischem Gütesiegel. Er wird stets auf Kosten der nicht so perfekten Menschen geträumt. Dazu gehören wir früher oder später alle.
Wenn wir Menschen mit schweren Behinderungen sehen, erschrecken wir fast instinktiv und weichen aus. Wir
versuchen, uns möglichst schnell an ihnen vorbeizudrücken. Manch einer denkt: ‚Besser, sie wären nicht geboren!
Was wäre den Eltern und der Gesellschaft alles erspart geblieben!‘ Die Abneigung gegen körperlich oder geistig behinderte Menschen sitzt uns von der Evolution her in den
Knochen. Gerade in unserer Gesellschaft sehen wir fast nur
noch Gesundheit und Vitalität, Stärke und Leistung. Niemandem ist ein Vorwurf daraus zu machen, dass er verunsichert ist und abwehrend reagiert, wenn er behinderten
Menschen begegnet. Aber das ist keine Entschuldigung,
sondern eine Herausforderung. Wir haben lebenslang daran zu arbeiten, diese Menschen in Freiheit und Liebe zu
würdigen wie jeden anderen. Leider wird ihnen heute in
zunehmend vielen Fällen das Leben genommen, bevor sie
zur Welt kommen.
D
ie Pränataldiagnostik verschärft die Gefahr, nicht nur
Schwächen aufzuspüren, sondern die Schwachen und
als „unwert“ erachtetes Leben zu „entsorgen“. Faktisch wird
hier die Solidargemeinschaft mit den betroffenen Eltern
und Kindern aufgekündigt. Das hat unübersehbare Folgen.
Der Umgang mit behinderten Menschen vor der Geburt ist
ein Menetekel für den Umgang mit behinderten, schwachen
und alten Menschen überhaupt. Wem eigentlich soll es einleuchten, dass die Gründe, die nach der Geburt für eine Benachteiligung vollmundig abgelehnt werden, vor der Geburt für eine Tötung sprechen? Die Auswirkungen dieser
Entwicklung auf die Betroffenen sind nicht zu überhören.
Christian Judith, ein Vorkämpfer in der Behindertenbewegung, spricht von der „Gnade der frühen Geburt“. Sehr bitter über die heutige Entwicklung lässt er seine Erleichterung spüren, dass er zu einer Zeit geboren ist, als seine Be-
Das
Leben teilen.
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Menschen im Osten Europas
hinderung noch nicht pränatal erkannt werden konnte. Ein
anderer Betroffener sagt angesichts der Tatsache, dass er bei
seiner Behinderung heute kaum zur Welt gekommen wäre:
„Ich fühle mich wie weggeschmissen.“
W
as veranlasst Christen, trotz aller inneren und äußeren Widerstände rückhaltlos für das Lebensrecht
der behinderten Menschen einzustehen? Die kürzeste und
aufregendste Antwort auf diese Frage steht auf der ersten
Seite der Bibel: „Gott schuf den Menschen als sein Abbild;
als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er
sie“ (Gen 1,27). Das ist und bleibt revolutionär. Es sind keine großen Statuen oder Tiere, die als wirkmächtige Repräsentationen Gottes gelten, auch keine Priester oder Könige.
Der Mensch ist es, jeder Mensch, Adam und Eva, Mann und
Frau. Darin sind alle gleich. Nicht der eine „gleicher“ als der
andere; nicht der eine wertvoll, der andere unwert. Ebenbild Gottes besagt, dass der Mensch einer letzten Bewertung
durch Menschen entzogen ist. Vorgängig zu seinen Fähigkeiten und Behinderungen ist er von Gott angenommen
und durch Jesus Christus erlöst. Darin gründet seine unveräußerliche Würde. Die gewährt weder Staat noch Gesellschaft noch Eltern, und darum können sie sie auch nicht
entziehen. Die Würde des Menschen ist unantastbar, weil
Gott ihr Urheber und Garant ist.
S
tatt behinderte Menschen immer nur in der Perspektive
ihres Unvermögens zu sehen, gilt es die Augen zu öffnen
für ihre Fähigkeiten. Wer Behinderung mit Leiden gleichsetzt, der übersieht viel Lebensfreude, viel Charakterstärke in
der Art, wie Betroffene Einschränkungen ins eigene Leben
integrieren. Im Atelier der Lebenshilfe Frankfurt arbeiten
geistig behinderte Maler und Bildhauer. Ihre Kreativität
kommt nicht aus ihrer Behinderung, sondern aus ihrer Begabung. Auf den rechten Blick kommt es an, darauf, sie so anzusehen, dass ihnen als Bild Gottes Ansehen geschenkt wird.
Aus: Bischof em. Franz Kamphaus,
Die Mission behinderter Menschen
20 Jahre
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Jeder und Jede ist ein Original
„M
an kann dem Leben nicht mehr Tage geben, aber
den Tagen mehr Leben.“ Dieses Wort hat’s in sich.
Unsere Tage sind gezählt – wir können sie nicht vermehren.
Aber wir können den Tagen, die uns geschenkt sind, mehr
Leben geben. Darum geht’s.
Wir besitzen das Leben nicht wie eine Armbanduhr oder
wie ein Grundstück. Wir sind in unser Leben hinein aufgewacht. Wir haben nicht die geringste Erinnerung an diesen
Augenblick; alle anderen um uns wussten damals früher als
wir selbst, dass es uns gibt. Nur weil uns Mutter und Vater
immer wieder bei unserem Namen gerufen haben, sind wir
mit der Zeit bei uns selber angekommen.
Wir sind ins Leben „gerufen“, sagt die Bibel. Noch vor
den Eltern hat der Schöpfer des Himmels und der Erde uns
aus dem Nichts ins Dasein gerufen: Komm, ich möchte,
dass du lebest; ich freue mich auf dich; es soll die Welt nicht
ohne dich geben!
Am Anfang von allem und an unser aller Ursprung steht
nicht irgendetwas, sondern Gott in seiner schöpferischen
Liebe. Er hat jede und jeden von uns beim Namen gerufen.
Das ist der Grund unserer Menschenwürde. Wir sind weder
Zufallsprodukte noch Blindgänger. Jeder ist ein Original,
keiner eine Kopie. Mit jedem hat Gott Besonderes vor. Das
zu wissen kann unseren Tagen mehr Leben geben, ob wir
jung sind oder betagt, erfolgreich oder ein Pechvogel, behindert oder scheinbar unbehindert. Das Abenteuer unseres Lebens geht weit über das hinaus, was wir planen und
ins Werk setzen können. Wir haben das Leben nicht in den
Händen, schon gar nicht den Tod.
Das Zusammenleben mit geistig behinderten Menschen
kann dazu anleiten, ehrlicher zu werden gegenüber sich
selbst und dem Menschsein überhaupt. Sie sagen frei he-
Das
Leben teilen.
erten
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Menschen im Osten Europas
raus, was sie fühlen und denken. Selbsttäuschungen zerbrechen sehr schnell, vor allem die heute so beliebte Vorstellung, aus eigener Kraft oder mit vereinten Kräften „ganzheitlich“ und „heil“ zu werden. Menschen mit Behinderung
geben deutlich zu erkennen, dass das eine Illusion ist. Sie
bezeugen: Unser Leben ist endlich und hat Grenzen. Sie gehen offener und freier mit dem Tod um, holen ihn ins Leben: „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen …“
In der Stunde des Todes lassen sie ihren Gefühlen freien
Lauf, sprechen aus, was sie bewegt. Noch geht mir die erste
Todesstunde nach, die ich hier im Sankt Vincenzstift erlebt
habe. Wir haben nach dem Eintritt des Todes zunächst gemeinsam in der Gruppe zwei Gesätze des schmerzhaften
Rosenkranzes gebetet. Dann verabschiedete sich jeder vom
Verstorbenen, machte ihm das Kreuz auf die Stirn, sagte,
was er auf dem Herzen hatte. Die Stunde werde ich so
schnell nicht vergessen. Man kann nicht nur Freunde unter
den Lebenden gewinnen, sondern auch unter den Toten.
Menschen mit geistiger Behinderung sterben nicht anders als andere Menschen, jeder stirbt seinen Tod. Behindert oder scheinbar nicht behindert – wir stehen gemeinsam vor der Aufgabe, loszulassen, was wir zu besitzen meinen, Ohnmacht auszuhalten und in alle dem bis zum letzten
Atemzug die Würde zu wahren. Lebenskunst gibt es nicht
ohne Sterbe-Kunst. Sie führt dazu, dem Tag mehr Leben zu
geben. Christlich gesehen geht es auch im Tod ums Leben,
so wahr der Gekreuzigte auferstanden ist. Wem das Beste
immer noch bevorsteht, der ist von Torschlusspanik befreit.
Er vertraut dem, der das Tor zum ewigen Leben öffnet.
Bischof em. Franz Kamphaus,
Material für Renovabis
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Leben mit Behinderung
Der Rand wird zur Mitte
Von Bischof em. Dr. Franz Kamphaus
Der Mensch ist Gottes Ebenbild,
das Ebenbild eines Menschen.
Einer der aufregendsten Sätze der Bibel steht auf der ersten
Seite: „Gott schuf den Menschen als sein Abbild; als Abbild
Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie“ (Gen
1,27). Das ist und bleibt revolutionär. Es sind keine großen
Statuen oder Tiere, die als wirkmächtige Repräsentationen
Gottes gelten, auch keine Priester oder Könige. Der Mensch
ist es, jeder Mensch, Adam und Eva, Mann und Frau. Darin
sind alle gleich. Nicht der eine „gleicher“ als der andere; nicht
der eine wertvoll, der andere unwert. Ebenbild Gottes besagt,
dass der Mensch einer letzten Bewertung entzogen ist.
Er ist nicht sein eigener Schöpfer, nicht das Ebenbild eines Menschen. Wäre er nur das, etwa nur das Produkt seiner Eltern, wäre er an deren Maß gekettet, ein Klon. Das ist
unter seiner Würde. Ebenbild eines Menschen oder Gottes
Ebenbild – das ist ein himmelweiter Unterschied. Bild Gottes zu sein schenkt dem Menschen die Freiheit, er selbst zu
sein und es immer mehr zu werden, ein Original. Das ist ein
Plädoyer für Menschenleben in Vielfalt, in Verschiedenheit.
Wer nicht zählen kann, zählt mit! Behinderte Menschen
haben ihr gutes Recht auf ein eigenständiges Leben. Es geht
nicht nur darum, sich „aus lauter Liebe und Barmherzigkeit“ ihrer anzunehmen. Sie haben ein Recht auf Anerkennung und Entfaltung ihrer Person, ein Recht auf Sozialleistungen des Staates.
Es ist uns untersagt, dass wir uns vom
anderen Menschen ein Bild machen.
Wenn der Mensch das Ebenbild Gottes ist, dann ist er einbezogen in das zweite der „Zehn Gebote“: „Du sollst dir
kein Bild machen von Gott“. Das Bilderverbot lautet dann:
Du sollst dir kein Bild machen von Gott und nicht vom
Menschen, der sein Ebenbild ist (vgl. Max Frisch). Die Anfertigung eines Gottesbildes verstößt gegen Gottes eigene
Intention. Es gibt ja schon eins, das er selbst geschaffen hat:
der lebendige Mensch.
Das
Leben teilen.
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Wer den Menschen auf ein selbst gemachtes Bild reduziert, verstößt gegen das so erweiterte Bilderverbot. Ein
von außen hergestelltes Bild kann nicht die Individualität
eines Menschen berücksichtigen, es verdrängt sie geradezu.
Indem man es reproduziert, verletzt man die Einmaligkeit
des Individuums. Schlimmstenfalls führt das dazu, das zukünftige Leben zu simulieren und es nur dann anzunehmen, wenn es passt. – Es genügt ja schon längst nicht mehr,
sich selbst zu verwirklichen, man muss sich selbst neu erfinden und neu schaffen, mit Skalpell und Silikon bei Schönheitsoperationen. Die Weigerung des Menschen, sich als
Ebenbild Gottes anzunehmen, schürt eine zerstörerische
Selbst-Unzufriedenheit und liefert ihn schutzlos dem Perfektionszwang der eigenen Idealbilder aus.
Der Mensch hat nicht Wert,
der Mensch hat Würde.
Das Wort “Wert“ stammt vom Markt, aus der Ökonomie.
Was ist das wert?, fragen wir. Wir kennen Messwerte,
Grenzwerte oder auch Wertpapiere. Der Wert hängt jeweils
von der Bewertungsgrundlage ab, ändert sich mit ihr und
kann gegen Null gehen. Er unterliegt der Definition des
Menschen. Würde dagegen eignet einem Menschen als
Mensch. Kant hat das klar formuliert: „Was einen Preis hat,
an dessen Stelle kann auch etwas anderes … gesetzt werden;
was dagegen über allen Preis erhaben ist … das hat eine
Würde“ (I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten II,
AA, 434). Die darf man nicht zum Markte tragen. Sie ist
nicht an Bedingungen geknüpft, sondern gilt unbedingt. Sie
schützt davor, dass der Mensch Mittel zum Zweck wird. Das
ist unter seiner Würde.
Die Würde sprechen wir uns nicht zu. Sie ist uns vorgegeben. Darum können wir sie einander auch nicht absprechen.
Sie besteht vorgängig zu unserer Taten und Untaten, zu unseren Leistungen und Fehlleistungen. Auch diejenigen, die
nicht selbstbestimmt leben können, besitzen eine unantastbare Würde. Wenn die Haltung des nicht antastenden Res-
20 Jahre
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pektes vor der Würde jedes Menschen verschwindet, werden
wir statt einer Ethik der Würde sehr bald nur noch eine
„Ethik“ der Erfolgsinteressen haben. Im Handumdrehen
trägt dann die Selektion die Maske der Selbstbestimmung,
die Vernichtung von Menschenleben die Maske des Mitleids.
Es ist dringend notwendig
im Zusammenhang der Pränataldiagnostik
die schwangeren Frauen eine
unabhängige Beratung anzubieten.
Mehrere länderübergreifende Studien belegen, dass inzwischen fast alle Kinder mit Down-Syndrom nach einer vorgeburtlichen Diagnostik abgetrieben werden. Ähnlich sieht
es bei anderen genetisch bedingten Erkrankungen aus.
Zurzeit ist es möglich, bereits wenige Stunden nach der
Zeugung über 600 Krankheiten im Erbgut zu erkennen.
Aber leider kann man nur sehr wenige heilen. Bei einer
Krankheitsdiagnose ohne Heilungsaussichten denken immer mehr Frauen an Abtreibung. Wissenschaftler sprechen
inzwischen von einem „Selektionskonsens“. Die Zukunft
behinderter Menschen entscheidet sich zunehmend, bevor
sie zur Welt kommen.
Seit Jahren fordern Eltern, Ärzte und Hebammen, Behinderten-Verbände und Kirchen eine Revision der Pränataldiagnostik. Die gängige Praxis überlässt die Betroffenen in schweren Stunden sich selbst, mit allen sozialen
Konsequenzen. Eine unabhängige Beratung ist notwendig,
die die rein medizinische Logik überschreitet; eine Beratung, die Frauen Perspektiven eröffnet, mit einem behinderten Kind zu leben; eine Beratung, die aufzeigt, dass behinderte Kinder nicht nur Defekte besitzen, sondern viele
Kompetenzen.
Behindert wird man nicht allein durch eine
körperliche oder geistige Beeinträchtigung,
sondern durch eine behinderte Gesellschaft.
Wenn wir Menschen mit schwerer körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung sehen, erschrecken wir und versuchen, uns möglichst schnell an ihnen vorbeizudrücken.
Diese Abneigung ist tief in die Evolution des Lebendigen
eingeschrieben, sie sitzt uns in den Knochen. Gerade in unserer Gesellschaft sehen wir fast nur noch Gesundheit und
Vitalität, Stärke und Leistung. Niemandem ist ein Vorwurf
daraus zu machen, dass er verunsichert ist und abwehrend
reagiert, wenn er behinderten Menschen begegnet. Wir haben lebenslang daran zu arbeiten, sie in Freiheit und Liebe
Das
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zu würdigen wie jeden anderen Menschen (Kultur des Zusammenlebens!).
Ein in seiner eigenen Familie betroffener Journalist
schrieb in „Die Zeit“: „Karolina, ein dreijähriges, glückliches Mädchen mit Down-Syndrom, meine Tochter: lieb,
laut, lustig. Ihr kleines Leben ist nicht die Hölle – auch
wenn es unwissende Zeitgenossen nicht glauben mögen.
Die Hölle ist, wenn Ärzte in den Kliniken nicht in der Lage
sind, geschockte Eltern eines neugeborenen behinderten
Babys einfühlsam aufzuklären. Die Hölle ist, wenn Menschen auf der Straße nur glotzen, sich nicht trauen zu fragen. Unwissenheit, Ignoranz und Intoleranz sind es, die ein
Leben mit Behinderung zur Hölle machen können.“
Es geht mir nicht darum, das Leben von und mit behinderten Menschen schön zu reden. Es gibt unter ihnen Verzweifelte, die lieber tot sein wollen, als dass sie leben. Vielleicht können sie ihr Leben nicht annehmen, weil sie selbst
von ihrer Umwelt nicht angenommen sind. Genau das
macht ihre eigentliche Behinderung aus, und genau das
können wir ändern, wir müssen es nur wollen. Also: Behindert wird man nicht allein durch eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung, sondern durch eine behinderte Gesellschaft, die nicht lernt, dass bestimmte Menschen einfach
anders sind.
Der Rand wird zur Mitte
Seit einigen Jahren lebe ich im Vincenzstift Aulhausen, einer großen Behinderteneinrichtung. „Warum sind sie dorthin gezogen“, werde ich immer wieder gefragt. Das hat viele
Gründe. Ein Grund: Ich wollte an den Rand des Bistums
Limburg ziehen, um meinem Nachfolger nicht im Wege zu
stehen. Also bin ich jetzt am äußersten Rande und entdecke
von Tag zu Tag mehr: Der Rand ist die Mitte. Er ist nicht nur
zum Mittelpunkt meines Lebens geworden. Ich lese dort das
Evangelium neu, etwa die Geschichte vom Mann mit der
verdorrten Hand (Mk 3,1-6). Jesus sagt zu ihm: „Steh auf
und stell dich in die Mitte!“ Was / wer ist für Jesus Rand,
und was / wer gehört in die Mitte?
Ich bin mit Menschen zusammen, die wenig zu sagen,
aber viel zu erzählen haben und Fragen stellen –allein durch
ihr Dasein: „Seht ihr – so sagen sie - wie behindert ihr seid:
behindert durch eure Wahnvorstellung, ihr müsstet immer
fit und rundum belastbar sein, ihr dürftet von niemandem
abhängig sein, ihr müsstet alles selbst in den Griff bekommen und unter Kontrolle haben …’ Festgefahrene und verengte Bilder vom geglückten Leben werden aufgebrochen.
20 Jahre
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Man entdeckt am Anderen, mit den Begrenzungen auch des
eigenen Lebens sinnvoll umzugehen – jeder und jede von
uns ist ein Fragment, und zugleich das Ganze (des Menschen) im Fragment! Man lernt einen respektvollen Umgang mit Verschiedenheiten, ohne immer wieder die alten
Muster von besser und schlechter zu traktieren. Man lernt,
Ängste vor dem Unbekannten und Befremdlichen abzubauen, man kommt auf die Fährte einer Menschlichkeit, die für
viele Platz hat. Denken Sie nicht, Menschen mit Behinderung seien automatisch Leidende. Als ich im Vincenzstift
einzog, dachte ich: Jetzt kannst du dich laufend mit der
Sinnfrage auseinandersetzen. Das ist nicht der Fall, es betrifft eher die Eltern.
Samstags gegen Abend feiern wir gemeinsam Eucharistie. „Kann man denn mit geistig behinderten Menschen
überhaupt Gottesdienst feiern?“, fragte , als er zu Besuch da
war. Und ob! Ich vergesse nicht den ersten Gottesdienst mit
den schwerst-mehrfach Behinderten. Auch sie feiern Gottesdienst. Besonders eindrucksvoll ist unsere Fronleichnamsprozession gemeinsam mit dem Dorf Aulhausen: An
der Spitze ein behinderter Kreuzträger, die Prozession
(Messdiener, Fahnenträger etc.) gemischt, auch das anschließende Pfarrfest.
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Vor kurzem sagte Anne, eine 14-Jährige: „Die andern
haben Gott im Kopf, ich habe ihn im Herzen.“ Die Kommunikation gelingt nur über die Beziehung/Emotion (Hallo
Bischof – du!). Die Sprache meiner Mitbewohnerinnen und
Mitbewohner ist unmittelbar, direkt. Nach dem Gottesdienst zur Einführung kam gleich jemand auf mich zu: „Du
hast gut gepredigt, aber viel zu lang.“ Die Herausforderung:
Elementarisierung unserer großen Worte, ohne dabei banal
zu werden. Man muss sich abschminken, Sprüche klopfen
zu wollen. Es kommt darauf an, ebenerdig zu reden und zu
leben. Stufen sind für behinderte Menschen der Teufel.
Wichtig sind die Lieder. Der Chor ist für den Gesang von
besonderer Bedeutung. Alles wird auswendig gesungen.
Ich habe das noch nie in meinem Leben so erfahren, dass
es das Allerwichtigste ist einfach da zu sein. Entscheidend
ist nicht so sehr, was ich sage oder tue, sondern dass ich dort
lebe, einfach dazwischen bin. Wenn ich an einem Samstag/
Sonntag nicht da bin, kommen anschließend die Fragen:
Wo warst du? Warum warst du nicht da? Über Gemeinschaft wird nicht geredet, sie ist da. Der evangelische Pfarrer Ulrich Bach, seit dem 23. Lebensjahr an den Rollstuhl
gefesselt, sagt: „Was wir können und was wir nicht können,
das alles gehört uns gemeinsam. Und für uns miteinander
wird’s schon reichen.“
20 Jahre
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Die Mission behinderter Menschen
Von Bischof em. Dr. Franz Kamphaus
Die wohl bekannteste Gestalt mit einer starken Behinderung findet sich in einem Roman von Victor Hugo. Sie heißt
Quasimodo und hat als Glöckner von Notre Dame Aufsehen erregt. Die Geschichte ist inzwischen zweimal verfilmt,
als Hörspiel gesendet und als Musical aufgeführt. Victor
Hugo beschreibt die Reaktion auf das Findelkind so: „Es
war ein eckiger, sehr beweglicher Klumpen, der in einem
Sack steckte. Nur der Kopf schaute heraus … ein missgestaltetes Ding. Man sah nur einen Wald fuchsroter Haare, ein
Auge, einen Mund und Zähne. Das Auge weinte, der Mund
schrie, und die Zähne schienen Lust zum Beißen zu haben
… Eine der Schaulustigen meinte: ‚Es ist ein wahres Ungeheuer von Scheußlichkeit, dieses sogenannte Findelkind‘;
eine andere ergänzte: ‚Ich glaube, es ist ein Tier, der Bastard
eines Juden und einer Sau; irgendetwas Unchristliches ist es
ganz gewiss‘ … ‚Man müsste es ins Wasser oder ins Feuer
werfen.‘“
Tiefsitzende Widerstände
Eines zeigt schon der Anfang der Geschichte des Quasimodo: Das Überleben behinderter Menschen hängt entscheidend davon ab, wie die Gesellschaft sie wahrnimmt. Von je
her hatten sie unter vielfachen Abgrenzungen zu leiden, die
oft zur Ausgrenzung geführt haben. Als „Krüppel“ und
„Schwachsinnige“ abgestempelt, hatten sie noch nie viel zu
lachen. In der Antike waren griechische und römische
Schönheitsideale maßgebend: perfekte Menschen mit perfekten Körpern. Sie wurden in Olympia umjubelt und gekrönt und in der Kunst dargestellt. Wer diesem Ideal nicht
entsprach, war arm dran. Platon forderte, verkrüppelte
Kinder auszusetzen.
Es war ein langer Weg vom Tollhaus bis zur Werkstatt für
Behinderte. Heute gibt es Arbeitsplätze für sie in der freien
Wirtschaft und Verwaltung – wenn auch noch viel zu wenige - es gibt Förderprogramme und finanzielle Vergünstigungen. Es gibt nicht nur Olympia, sondern auch die ParaOlympics.
Dennoch, all zu oft sind archaische Praktiken nicht wirklich überwunden, sondern nur zivilisatorisch verfeinert.
Wir lassen es zu, dass Kinder bis zum neunten Monat unter
Das
Leben teilen.
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dem Deckmantel einer falsch verstandenen Mitmenschlichkeit abgetrieben werden. Diese Einstellung ist oft genug
das Produkt eines in den Medien propagierten Schönheitswahns. Längst lebt der alte Traum vom perfekten Menschen
wieder auf – vom Menschen mit medizinischem Gütesiegel.
Er wird stets auf Kosten der nicht so perfekten Menschen
geträumt. Dazu gehören wir früher oder später alle.
Wenn wir Menschen mit schweren Behinderungen sehen, erschrecken wir fast instinktiv und weichen aus. Wir
versuchen, uns möglichst schnell an ihnen vorbeizudrücken. Manch einer denkt: ‚Besser, sie wären nicht geboren!
Was wäre den Eltern und der Gesellschaft alles erspart geblieben!‘ Die Abneigung gegen körperlich oder geistig behinderte Menschen sitzt uns von der Evolution her in den
Knochen. Gerade in unserer Gesellschaft sehen wir fast nur
noch Gesundheit und Vitalität, Stärke und Leistung. Niemandem ist ein Vorwurf daraus zu machen, dass er verunsichert ist und abwehrend reagiert, wenn er behinderten
Menschen begegnet. Aber das ist keine Entschuldigung,
sondern eine Herausforderung. Wir haben lebenslang daran zu arbeiten, diese Menschen in Freiheit und Liebe zu
würdigen wie jeden anderen. Leider wird ihnen heute in
zunehmend vielen Fällen das Leben genommen, bevor sie
zur Welt kommen.
Die Gnade der frühen Geburt …
Noch vor dreißig Jahren gab es kaum eine Möglichkeit, Behinderungen vor der Geburt festzustellen. Das hat sich
durch neue Methoden der Früherkennung grundlegend geändert. Inzwischen können bald nach der Zeugung mehr
als sechshundert Krankheiten im Erbgut erkannt werden.
Nur sehr wenige davon sind derzeit zu heilen. Bei einer
Krankheitsdiagnose ohne Heilungsaussichten denken immer mehr Frauen an Abtreibung. Zwischen Zeugung und
Geburt schiebt sich mit der Pränataldiagnostik ein vorher
unbekannter Konflikt mit zweischneidigen Folgen. Auf der
einen Seite erhöhen sich die therapeutischen Chancen, zugleich aber wächst die Tendenz, auszuwählen. Die einen
werden geboren, die anderen abgetrieben. Unter der Hand
werden bestimmte Menschen per se zu einem unerwünsch-
20 Jahre
Bonusmaterial: Bischof-Kamphaus-Texte
ten Risiko. Die Entscheidung, dieses Risiko zu tragen, fällt
nicht nur in den Verantwortungsbereich der Eltern; sie gerät im Ernstfall unversehens zu ihrer „Schuld“: Wer in Zeiten vorgeburtlicher Diagnostik noch ein erbkrankes Kind
zur Welt bringt, ist selbst „schuld“; er hat - so die Meinungstendenz - auch die Lasten und Kosten zu tragen und nicht
andere zu behelligen. Mehrere länderübergreifende Untersuchungen belegen, dass fast alle Kinder mit Down-Syndrom nach einer vorgeburtlichen Diagnostik abgetrieben
werden. Ähnlich sieht es bei anderen genetisch bedingten
Erkrankungen aus. Wissenschaftler sprechen von einem
breit vertretenen „Selektionskonsens“.
Niemandem soll die rassistische oder eugenische Ideologie der Nazis unterstellt werden. Aber niemand sollte sich
auch darüber hinwegtäuschen, dass unauffällig vor der Geburt eben das im Ergebnis geschieht, was den Nationalsozialisten bei ihrer eugenischen Politik vorschwebte. Im Grunde handelt es sich um eine zunehmend verfeinerte Qualitätskontrolle für Embryonen, die positiv ein möglichst perfektes „Designer-Baby“ zu garantieren sucht, die negativ
nach „Ausschuss-Ware“ fahndet, die der Mühe und Kosten
ihrer „Aufzucht“ nicht wert ist. Ist es nicht verräterisch,
dass von den Anfängen der Eugenik an das volkswirtschaftliche bzw. ökonomische Argument eine große Rolle spielte
und noch immer spielt?
Die Pränataldiagnostik verschärft die Gefahr, nicht nur
Schwächen aufzuspüren, sondern die Schwachen und als
„unwert“ erachtetes Leben zu „entsorgen“. Faktisch wird
hier die Solidargemeinschaft mit den betroffenen Eltern
und Kindern aufgekündigt. Das hat unübersehbare Folgen.
Der Umgang mit behinderten Menschen vor der Geburt ist
ein Menetekel für den Umgang mit behinderten, schwachen
und alten Menschen überhaupt. Wem eigentlich soll es einleuchten, dass die Gründe, die nach der Geburt für eine Benachteiligung vollmundig abgelehnt werden, vor der Geburt für eine Tötung sprechen? Die Auswirkungen dieser
Entwicklung auf die Betroffenen sind nicht zu überhören.
Christian Judith, ein Vorkämpfer in der Behindertenbewegung, spricht von der „Gnade der frühen Geburt“. Sehr bitter über die heutige Entwicklung lässt er seine Erleichterung spüren, dass er zu einer Zeit geboren ist, als seine Behinderung noch nicht pränatal erkannt werden konnte. Ein
anderer Betroffener sagt angesichts der Tatsache, dass er bei
seiner Behinderung heute kaum zur Welt gekommen wäre:
„Ich fühle mich wie weggeschmissen.“
Das
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Option für Menschenleben in Vielfalt
Was veranlasst Christen, trotz aller inneren und äußeren
Widerstände rückhaltlos für das Lebensrecht der behinderten Menschen einzustehen? Die kürzeste und aufregendste
Antwort auf diese Frage steht auf der ersten Seite der Bibel:
„Gott schuf den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes
schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie“ (Gen 1,27).
Das ist und bleibt revolutionär. Es sind keine großen Statuen oder Tiere, die als wirkmächtige Repräsentationen Gottes gelten, auch keine Priester oder Könige. Der Mensch ist
es, jeder Mensch, Adam und Eva, Mann und Frau. Darin
sind alle gleich. Nicht der eine „gleicher“ als der andere;
nicht der eine wertvoll, der andere unwert. Ebenbild Gottes
besagt, dass der Mensch einer letzten Bewertung durch
Menschen entzogen ist. Vorgängig zu seinen Fähigkeiten
und Behinderungen ist er von Gott angenommen und
durch Jesus Christus erlöst. Darin gründet seine unveräußerliche Würde. Die gewährt weder Staat noch Gesellschaft
noch Eltern, und darum können sie sie auch nicht entziehen. Die Würde des Menschen ist unantastbar, weil Gott ihr
Urheber und Garant ist.
Wenn der Mensch das Ebenbild Gottes ist, dann ist er
auch einbezogen in das 2. der Zehn Gebote: „Du sollst dir
kein Bild machen von Gott“. Das Bilderverbot lautet dann:
Du sollst dir kein Bild machen von Gott und nicht vom
Menschen, der sein Ebenbild ist (vgl. Max Frisch). Die Anfertigung eines Gottesbildes verstößt gegen Gottes eigene
Intention. Es gibt ja schon eins, das er selbst geschaffen hat:
der lebendige Mensch.
Wir leben in einer visuellen Kultur. Damit stehen wir in
der Gefahr, unser Denken von Bildern überwältigen zu lassen. Bilder beflügeln die Fantasie. Wir projizieren in sie unsere Ängste und Hoffnungen und übertragen sie immer
wieder auf Menschen. Ist das nicht bezeichnend: Das erste
Bild, das wir heute in der Regel von einem Menschen haben,
ist der Blick des Arztes auf den Embryo bei der Ultraschalluntersuchung. Nicht die Mutter blickt auf ihr Kind, sondern
sie tut es nach dem Arzt mit dessen nach Fehlern fahndenden Augen.
Wer im anderen das Ebenbild Gottes erkennt, der sieht
ihn mit anderen Augen. Er erblickt in ihm nicht nur das
Ebenbild eines Menschen. Wäre er nur das, etwa nur das
Produkt seiner Eltern, wäre er an deren Maß gekettet. Das
ist unter seiner Würde. Bild Gottes zu sein schenkt dem
Menschen die Freiheit, er selbst zu sein und es immer mehr
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zu werden, ein Original. Das ist ein Plädoyer für Menschenleben in Vielfalt, in Verschiedenheit. Wer nicht zählen
kann, zählt mit. Behinderte Menschen haben ihr gutes
Recht auf ein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben. Es
geht nicht nur darum, sich „aus lauter Liebe und Barmherzigkeit“ ihrer anzunehmen. Sie haben ein Recht auf Anerkennung und Entfaltung ihrer Person.
Der andere Blick
Jeder Mensch lebt ein Gutteil von dem „Ansehen“, das ihm
entgegen gebracht wird. Es ist also lebenswichtig, dass und
wie wir einander ansehen. Gibt es Größeres im Anderen zu
entdecken als das Bild Gottes? Christen lassen sich von niemandem in der Achtung des Menschen übertreffen, schon
gar nicht in der Achtung derer, denen mit ihrer Behinderung viel zugemutet ist. Wie werden sie in unserer Gesellschaft wahrgenommen? Worauf liegt das Augenmerk? Oft
ist der Blick fixiert auf ihre körperlichen und geistigen
Mängel. Normale (biologische) Prozesse scheinen gestört.
Behinderung, so das gängige Verständnis, ist eine dauerhafte Beeinträchtigung dessen, was als „normal“ angesehen
wird. Behindertes Leben erscheint dann als eine Minusvariante des Normalen. Das Normale ist das voll funktionsfähige menschliche Leben. Behinderte sind die, die dahinter
zurückfallen. Ihr Leben steht damit fortwährend unter einem Minus.
Das ist eine verkehrte, lebensschädliche Blickrichtung.
Statt immer nur das zu sehen, was Behinderte nicht können,
ist der Blick für ihre Fähigkeiten zu schärfen. Das gilt auch
sonst im Alltagsleben. Jeder hat Fehler, jeder ist in bestimmten Bereichen unterdurchschnittlich. Aber unser Selbstwertgefühl, unser Ansehen beruht nicht auf unseren Mängeln, sondern auf unserem Können. Die reine Defizit-Sicht
von Behinderung muss einer fairen Würdigung Platz machen. Danach ist Behinderung nicht die gestörte Funktionsfähigkeit eines Menschen, sondern das Ergebnis einer erschwerten, unter Umständen gestörten sozialen Beziehung
zwischen einer organisch versehrten Person und ihrer Umwelt. Erst dieser gestörte Alltagsumgang macht den Benachteiligten letztlich zum Behinderten. In diesem Sinn sieht die
Weltgesundheitsorganisation (WHO) Behinderung durch
das Zusammen-wirken von drei Faktoren verursacht: durch
eine anatomische Schädigung (impairment), durch verschiedene Funktionsbeeinträchtigungen infolge dieser
Schädigungen (disabilities) und der Benachteiligung im
Alltag (handicap). Oftmals sind es die in ihren Folgen über-
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haupt nicht beabsichtigten Rückmeldungen und Reaktionen der nicht behinderten auf behinderte Menschen, die
das Problem ausmachen. Zugespitzt formuliert: Behindert
wird man nicht allein durch eine Beeinträchtigung, sondern
durch eine behinderte Gesellschaft, die nicht in der Lage ist,
mit dem Anderssein von Mitmenschen umzugehen, die ihnen neben der ohnehin schon vorhandenen Beschädigung
auch noch den Stempel „behindert“ aufdrückt.
Statt behinderte Menschen immer nur in der Perspektive
ihres Unvermögens zu sehen, gilt es die Augen zu öffnen für
ihre Fähigkeiten. Wer Behinderung mit Leiden gleichsetzt,
der übersieht viel Lebensfreude, viel Charakterstärke in der
Art, wie Betroffene Einschränkungen ins eigene Leben integrieren. Im Atelier der Lebenshilfe Frankfurt arbeiten geistig behinderte Maler und Bildhauer. Ihre Kreativität kommt
nicht aus ihrer Behinderung, sondern aus ihrer Begabung.
Auf den rechten Blick kommt es an, darauf, sie so anzusehen, dass ihnen als Bild Gottes Ansehen geschenkt wird.
Ein gemeinsamer Lebensraum
Die Arbeit mit geistig behinderten Menschen ist in den vergangenen Jahrzehnten durch tiefgreifende Wandlungen geprägt. Sie orientierte sich zunächst an pädagogischen, dann
an psychologischen und heilpädagogischen Konzepten, bis
schließlich der Ertrag dieser unterschiedlichen Ansätze in
die Leitidee „Selbstbestimmung“ mündete. Ziel ist, dass
Menschen mit geistiger Behinderung entsprechend ihrer
Situation und Kompetenz soweit wie eben möglich selbstständig leben. Sie sind gleichberechtigte Bürgerinnen und
Bürger mit allen Rechten auf Erziehung, Bildung, Förderung und Entwicklung ihrer Person. Unabhängig von Art
und Schwere der Behinderung haben sie ein Recht auf Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und darauf, dass ihre
Würde nicht angetastet wird. Sie leben nicht in einer Sonderwelt, sondern in dem von allen für alle verantworteten
Gemeinwesen (Inklusion!).
Dieser Grundsatz hat einschneidende Konsequenzen.
Gesellschaftliche Teilhabe ruft nach Präsenz im Gemeinwesen. Es genügt nicht länger, nur Heimplätze vorzuhalten,
vor Ort müssen Lebens- und Arbeitsräume für behinderte
Menschen geschaffen werden. Die Entwicklung stationärer
Einrichtungen hatte in der Vergangenheit dazu geführt,
dass sie ihre Region verließen und weit entfernt in „Anstalten“ lebten. Nun kehren sie in ihre Heimat zurück und können weiter in ihrem sozialen Umfeld wohnen. Das ist nur zu
verantworten, wenn sie sich dabei auf eine angemessene
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Unterstützung verlassen können. Die Alternative Familie
oder Heim wird aufgebrochen. Gefragt sind stützende Einrichtungen und Maßnahmen vor Ort, die das starre Entweder-Oder (ambulant oder stationär) zugunsten durchlässiger Lösungen erübrigen. Zu denken ist etwa an Betreutes
Wohnen und Außenwohngruppen, an Familien stützende
Dienste und Familienassistenz. Ziel ist es, dass Menschen
mit Behinderung nicht ghettoisiert und bevormundet werden, sondern am Leben der Gesellschaft teilhaben und es
selbstbestimmt mit gestalten können.
Mit der Veränderung der Strukturen hin zu kleineren,
übersichtlichen, dezentralen und gemeindenahen Einrichtungen und Diensten kommen Menschen mit Behinderung
in ihre Herkunftsregion zurück und werden dort zunehmend präsent: in Kindergärten und Schulen, am Arbeitsplatz und an Freizeitorten. Sonderdienste und Sondereinrichtungen werden reduziert. Die Gemeinde wird zum primären Ort der Verantwortung für ihre behinderten Bürgerinnen und Bürger. Alle sind zur Solidarität herausgefordert. Ehrenamtlich engagierte Frauen und Männer bauen
Brücken im Alltagsleben der Gemeinde und helfen, Barrieren, Scheu und Scham abzubauen. Nachdem unsere Gesellschaft über Generationen weitgehend entwöhnt worden ist,
Menschen mit Behinderung im Alltag zu begegnen, eröffnet sich eine neue Chance des gemeinsamen Lebens. Daran
mitzuwirken ist Auftrag und Verpflichtung für eine zukunftsfähige Gesellschaft.
Was der Mission im Wege steht
Die skizzierte Entwicklung in der Arbeit mit behinderten
Menschen betrifft ganz ausdrücklich den kirchlichen Auftrag, und zwar nicht nur unmittelbar die professionelle
kirchliche Behindertenarbeit (die die Entwicklung mit voran gebracht hat), sondern das Verständnis von Kirche als
Gemeinschaft (communio) und die Arbeit in den Pfarrgemeinden vor Ort. In der Vergangenheit sind nicht nur die
Menschen mit Behinderung weitgehend aus ihrem Horizont verschwunden, der Nächstendienst überhaupt hat sich
in zunehmendem Maße außerhalb der Ortsgemeinden professionalisiert und verselbständigt. Im Ergebnis stehen die
gut durch organisierte Caritas-Institution und eine ebenso
perfekt strukturierte Pastoral (Seelsorgeamt) nebeneinander. Das schadet beiden. Wenn man vor Ort in den Gemeinden nicht mehr antreffen kann, wovon Predigt und Katechese sprechen, werden sie abstrakt und leer. Die Bußgottesdienste werden harmlos, die Fürbitten aus dem Buch ab-
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gelesen. Und die Leute kommen immer weniger über ihr
Leben ins Gespräch. Für vieles, was sie umtreibt (ob sie Arbeit haben oder Schulden, ob ihre Beziehung hält und wie
mit dem behinderten Kind umzugehen ist), das machen
professionelle Dienste und der Fachverband. Diese Entwicklung lähmt nicht zuletzt die missionarische Kraft der
Kirche. Denn der Nächstendienst ist das, was Christen gegenüber Außenstehenden am glaubwürdigsten macht. Aus
all diesen Gründen muss immer mehr zusammenrücken
und zusammenwachsen, was zusammen gehört: Nächstendienst (Caritas) und Gemeinde! Das dient vor allem den
betroffenen hilfebedürftigen Menschen. Das dient den Gemeinden, indem es sie zu ihrer Sendung ruft. Und es dient
schließlich den Caritas-Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
Die sind oft ebenso isoliert wie ihre Klienten. Sie haben die
Kirche als Arbeitgeber, kaum als Heimat.
Das Miteinander und Ineinander von Nächstendienst
und Glaubensdienst hat ganz wesentlich dazu beigetragen,
dass sich das Christentum in den ersten Jahrhunderten so
schnell ausgebreitet hat. Die frühchristlichen Gemeinden
waren, wie H. Lutterbach aufgezeigt hat, in der caritativen
Arbeit in höchstem Maße innovatorisch und sprachen dadurch viele an. Sie beriefen sich dabei auf die fundamentale
Wahrheit des christlichen Glaubens: Wenn alle Menschen
durch die Taufe gleich sind, dann dürfen die Menschen mit
Beeinträchtigungen nicht ausgeschlossen werden. Sie lebten folglich mitten in der Gemeinde, sie gehörten dazu. Es
gab keine Sondereinrichtungen oder Sonderwelten für sie,
sie waren vor Ort präsent.
Der Wandel in der Behindertenarbeit heute könnte eine
Chance für die Pfarrgemeinden oder Seelsorgseinheiten
sein, sich nicht nur mit sich selbst zu befassen und damit
abzusterben, sondern diakonische Kompetenz und damit
Glaubwürdigkeit und missionarische Kraft zurückzugewinnen. Es ist ja nicht zu übersehen, dass der in den vergangenen Jahren theologisch exakt erarbeitete und schriftlich
und mündlich verkündete missionarische Auftrag der Kirche kaum Wirkung zeigt. Er lässt sich nicht allein durch
Verkündigung und Katechese erledigen. Er muss durch den
Nächstendienst geerdet sein und sich als lebensdienlich erweisen.
Was wird geschehen, wenn behinderte Menschen verstärkt vor Ort in Erscheinung treten? Eigentlich müssten
die Pfarrgemeinden für sie die erste Adresse sein. Werden
sie dort wahrgenommen? Wird ihnen der Platz eingeräumt,
den das Evangelium für sie vorsieht, oder werden sie bei der
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jahrelangen Selbstbeschäftigung mit Pastoralstrukturen
übersehen und aus dem Blick geraten? Christinnen und
Christen wissen doch, dass in ihnen das Bild Gottes zu finden ist, dass sie einer oder eine von uns sind und, was das
Gewicht noch verstärkt: dass sie getauft sind. Da müssten
Berührungsängste überwindbar sein, da müsste eine barrierenfreie Begegnung möglich werden. Da müsste alle Hilfe
geboten werden, um das Leben in Würde zu gestalten. Es
gilt für alle Beteiligten: Wem etwas zugetraut wird, der kann
sich trauen!
Die „Arche“ ist eine christliche Lebensgemeinschaft mit
behinderten Menschen. Ihr Gründer wurde vor einigen
Jahren von Papst Johannes Paul II. für sein Lebenswerk geehrt. Am Ende der Feier half der Geehrte dem behinderten
Papst aus dem Stuhl. Er führte ihn zu seiner Gruppe von
behinderten Frauen und Männern. Der Papst begrüßte jeden und jede sehr persönlich. Als er sich verabschiedet hatte, hielt er an der Tür einen Moment inne, drehte sich um
und rief den behinderten Menschen zu: „Führt die Kirche
ins dritte Jahrtausend.“
Aufeinander angewiesen
Mit Behinderungen sein Leben zu führen hat einen eigenen
Sinn. Für die Mehrzahl der Menschen relativiert es die gewohnten Maßstäbe des Sinnvollen und Nichtsinnvollen.
Nichtbehinderte erkennen, dass es möglich ist, sinnvoll zu
leben – bei allem Anderssein. Festgefahrene und verengte
Bilder vom geglückten Leben werden aufgebrochen. Sie entdecken am Anderen neue Möglichkeiten, mit den Grenzen
auch des eigenen Lebens umzugehen. Sie lernen einen respektvollen Umgang mit Verschiedenheiten, ohne immer
wieder die alten Muster von besser oder schlechter zu traktieren. Sie lernen, Ängste vor dem Unbekannten und Befremdlichen zu überwinden. Sie lernen eine Art von
Menschlichkeit, die für viele Platz hat. So besehen, sind
Menschen mit Behinderungen besondere Autoritäten für
den Reichtum sinnerfüllten Lebens, der sich in kein festgefügtes Bild pressen lässt.
Behinderte haben ihren Mitmenschen viel zu sagen:
‚Merkt ihr nicht‘, sagen sie, ‚wie behindert ihr seid: behindert durch eure Vorstellung, ihr dürftet von niemandem
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abhängig sein, ihr müsstet alles selbst in den Griff bekommen und unter Kontrolle haben …‘ Wir vermeintlich Unbehinderten sind auf die Behinderten angewiesen, um die eigenen Grenzen zu entdecken und dazu zu stehen. Je mehr
jemand seine eigenen Behinderungen und Einschränkungen annimmt, wird er auch ein Gespür für den Umgang mit
behinderten Menschen bekommen.
Der evangelische Pfarrer Ulrich Bach, seit dem 23. Lebensjahr an den Rollstuhl gefesselt, sagt: „Eine Gemeinde
ohne Behinderte ist eine behinderte Gemeinde.“ Sie hat
nicht begriffen, was sie nach Gottes Willen in dieser Welt
sein soll: Nicht nur eine Gemeinde von gesunden, glaubensstarken und belastbaren Leuten, die sich einsetzen für die
Armen, Schwachen und Behinderten. Sie soll vielmehr eine
Gemeinschaft von Menschen sein, von denen keiner ganz
schwach und keiner ganz stark ist, keiner nur behindert und
keiner ganz unbehindert; eine Gemeinschaft von Menschen, die Jesus an seinem Tisch zusammengebracht hat
und beieinander hält, damit sie sich mit ihren Stärken und
Schwächen ergänzen, einer die Last des anderen trägt, mit
der Schulter, die er gerade frei hat. „Was wir können und
was wir nicht können, das alles gehört uns gemeinsam. Und
für uns miteinander wird’s schon reichen.“
Dem eingangs zitierten Glöckner von Notre Dame – von
den Menschen wie ein Monster begafft - geschah nichts. Als
das Feuer schon angezündet war, so erzählt Victor Hugo,
trat ein junger Pfarrer vor, der abseits gestanden und alles
mit angehört hatte. Er legte die Hand auf ihn. „Ich nehme
dieses Kind an“, sagte er gerade noch rechtzeitig. Er nahm es
auf den Arm und trug es fort. Er taufte es auf den Namen
des Tages, an dem er es gefunden hatte: Quasimodo (Introitus des 2. Ostersonntages), und brachte damit zum Ausdruck: Das ist ein Gotteskind. Der Pfarrer unterrichtete seinen Adoptivsohn selbst und machte ihn, nachdem er zum
Erzdechanten von Notre Dame in Paris ernannt war, zum
Glöckner dieser Kathedrale. Dort lebte der Verwachsene in
einem Heiligtum von unendlicher Harmonie. Er hat die
Würde seines behinderten Lebens an die große Glocke
gehängt.
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