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28. Jahrestagung der Integrations-/Inklusionsforscher/innen in
deutschsprachigen Ländern.
19. bis 22. Februar 2014
Zur Logik der Widrigkeiten –
Theoriefundamente der Inklusion
Behindertenfeindlichkeit – narzisstische Abwehr der eigenen
Verletzlichkeit
Prof. Dr. Dr. Rolf Haubl
Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung sollen gemeinsam
in der Regelschule unterrichtet werden. Allerdings kommt die
Inklusion in Deutschland vergleichsweise langsam voran. Von den
knapp 10 Millionen behinderten Menschen in Deutschland [7
Millionen schwerbehindert] sind ungefähr eine halbe Million
Schüler_innen mit Förderbedarf. Nur 22% von ihnen besuchen eine
Regelschule. Die anderen gehen auf Sonder- oder Förderschulen und
verlassen diese all zu oft ohne Abschluss und Berufsperspektive.
Viele Lehrer_innen befürworten die Inklusion, sind aber skeptisch,
was deren Realisierung betrifft, und fühlen sich überfordert. Denn
kaum jemand von ihnen hat gelernt, behinderte Schüler_innen zu
unterrichten. Kurzfortbildungen, die sie erhalten, differenzieren nicht
nach Fächern und schon gar nicht nach den verschiedenen
Behinderungen.
Dabei geht es nicht nur um Didaktik, sondern um Beziehungsarbeit,
einschließlich einer kompetenten Regulation der eigenen Emotionen,
die bei dieser Arbeit auftreten. Oft sind es negative Emotionen wie
Angst, Ohnmacht, Wut und Schuldgefühle, die Lehrer_innen nicht
haben sollten, weil sie ihre Profession zu einem pädagogischen
Optimismus verpflichtet, die sie aber dennoch haben, wofür sie sich
dann auch noch schämen.
Lehrer_innen erzählen mir in der Supervision über ihre emotionalen
Turbulenzen, wenn sie z.B. sozioemotional gestörte Kinder und
Jugendliche in ihren Klassen haben: Sie fühlen sich von ihnen
terrorisiert, quälen sich mit verpönten Wünschen, Störenfriede streng
zu bestrafen, und fürchten, tatsächlich die Kontrolle zu verlieren, was
sie im Gegenzug lähmt.
Die wenigsten Lehrer_innen haben alltagsweltliche Erfahrungen mit
behinderten Menschen. Einer Untersuchung von „Aktion Mensch“ aus
dem Jahre 2012 zufolge teilen sie diesen Erfahrungsmangel mit 2/3
der Bevölkerung.
XXXX
Es gibt keine allgemein anerkannte Definition für Behinderung. Der
Sachverhalte der Behinderung ist gesellschaftlich vermittelt: Soziale
Normen bestimmen darüber, wer an einem bestimmten sozialen Ort zu
einer bestimmten Zeit als behindert gilt. Insofern sind es kontingente
Zuschreibungen, die an der Schnittstelle von Behindertsein und
Behindertwerden erfolgen. Solche Zuschreibungen sind durchsetzt mit
Fantasien, wie z.B. der, dass psychisch kranke Menschen besonders
gewalttätig seien.
These: Neben allen anderen Faktoren kommt es bei der Inklusion in
die Regelschule sehr darauf an, welche Fantasien alle Akteure über
behinderte Menschen und deren spezielle Behinderungen haben:
Fantasien der Lehrer_innen, der Eltern von nichtbehinderten, aber
auch behinderten Kindern und Jugendlichen, sowie der behinderten
und nichtbehinderten Schüler_innen selbst.
XXXX
Ein Ziel der Inklusion behinderter Menschen ist es, die binäre
Konstruktion zu überwinden, der zufolge behinderte Menschen
wesensmäßig andere Menschen sind als nichtbehinderte Menschen.
Diese Konstruktion erfolgt in sieben Schritten:
1. Unterscheidung:
Es gibt nichtbehinderte und behinderte Menschen.
2. Spaltung:
Behinderte Menschen sind anders als nichtbehinderte Menschen.
3. Polarisierung:
Die Andersartigkeit von behinderten
nichtbehinderten Menschen unvereinbar.
Menschen
ist
mit
4. Abwertung:
Behinderte Menschen sind weniger wert als nichtbehinderte
Menschen.
5. Rationalisierung:
Behinderte Menschen sind weniger wert, weil weniger leistungsstark,
und sie kosten dadurch die Gesellschaft mehr als sie nutzen.
6. Generalisierung:
Alle behinderten Menschen sind anders als nichtbehinderte Menschen.
7. Typisierung:
Wie immer sich ein Mensch verhält, er verhält sich so, weil er
entweder behindert oder nichtbehindert ist.
Dieser Logik folgend werden behinderte Menschen einer binären
Kategorisierung unterworfen, die eine scharfe Grenze zwischen ihnen
und nichtbehinderten Menschen zieht, um sie dann so zu behandeln,
dass sie gar nicht zeigen können, wozu sie fähig sind, was
rückwirkend die binäre Kategorisierung validiert.
Behinderte Menschen werden auf diese Weise von nichtbehinderten
Menschen schnell auf ihre Behinderung reduziert. Es scheint dann so,
als gäbe es gar keine persönlichkeitsspezifischen Differenzen.
Tatsächlich sind aber behinderte Menschen ebenso interindividuell
verschieden wie nichtbehinderte Menschen, was auch heißt: Sie haben
nicht weniger Persönlichkeit als diese. Und da sie Persönlichkeit
haben, gelten auch für sie alle bewussten und unbewussten Prozesse
der Persönlichkeitsbildung. Das heißt, dass auch behinderte Menschen
in der Bewältigung ihrer Erlebnisse einer Psychodynamik unterliegen,
die Unbewusstheit produziert, um unerträgliche Erlebnisse halbwegs
erträglich zu machen. Diese Psychodynamik wird, wie im Falle einer
geistigen Behinderung, auch nicht durch die eingeschränkten
kognitiven Fähigkeiten der Betroffenen außer Kraft gesetzt, sondern
findet in deren Rahmen statt.
Fallen geistig behinderte Menschen z.B. durch Stereotype wie ein
„dümmliches“ Lächeln auf, dann ist es ein Leichtes, dies als Beleg für
ihre kognitiven Defizite zu nehmen. Unter Umständen ist es aber ein
soziales Symptom: Mit ihm wehren die Betroffenen befürchtete oder
bereits erlebte Missachtungen durch ihre nichtbehinderten
Mitmenschen ab, indem sie sich hinter eine mimische Fassade sozialer
Resonanz zurückziehen.
XXXX
Behinderte Menschen verdienen soziale Unterstützung von
nichtbehinderten Menschen (und Institutionen). Das ist eine
moralische Norm. Die Anwendung dieser Norm wird empirisch aber
immer wieder außer Kraft gesetzt, nämlich dann, wenn sich
behinderte Menschen nicht so verhalten, wie es von ihnen erwartet
wird. So gesehen, ist Behindertsein eine Rolle – eine Rolle, aus der
behinderte Menschen auch fallen können. Zu dieser Rolle gehört
vorrangig die Erwartung, ihre nichtbehinderten Mitmenschen nicht zu
überfordern. Erving Goffman konstatiert: Behinderte Menschen sollen
„eine heitere ergebene Art“ ausbilden und weder „Bitterkeit, Groll
noch Selbstmitleid“ zeigen, außerdem „unerbetene Angebote von
Interesse, Sympathie und Hilfe taktvoll“ annehmen und den Anschein
erwecken, diese Angebote seien „effektiv und willkommen“.
Behinderte Menschen entlasten ihre nichtbehinderten Mitmenschen,
indem
sie
ihren
Unterstützungsbedarf
auf
deren
Bewältigungskapazität abstimmen. So sprechen sie oft nicht über das
wahre Ausmaß ihrer Beeinträchtigungen, weil sie Rückzug und
Zurückweisung befürchten. Oder sie stellen sich selbständiger dar, als
sie es sind:
Behinderte Menschen dürfen nicht den Eindruck erwecken, als
wollten sie ihren Status ausnutzen, um über Gebühr Unterstützung zu
beanspruchen: Dem entsprechend wird behinderten Menschen nur
dann und nur soweit Rücksichtnahme gewährt, wie sie gleichzeitig die
Bereitschaft zeigen, mit möglichst wenig Unterstützung
auszukommen. Für die Unterstützung, die sie dann erhalten, sollen sie
zudem dankbar sein. Diese Erwartung ist gelegentlich mit der
Botschaft unterlegt, nichtbehinderten Menschen verdienten
Dankbarkeit, weil sie sich doch zu einer Unterstützung überwunden
hätten, was freilich heißt, eine selbstverständliche Unterstützung
dürften sie gar nicht erst erwarten.
Nichtbehinderte Menschen reagieren aber oft auch negativ, wenn
behinderte Menschen ihr Schicksal zu gut bewältigen. Dann fühlen sie
sich durch deren Lebensleistung beschämt, insbesondere dann, wenn
ihnen die Begegnung mit ihnen nicht nur Respekt abverlangt, sondern
ihnen zu Bewusstsein bringt, wie gut sie selbst es unverdientermaßen
haben.
XXXX
Mangelnde Unterstützung behinderter Menschen geht zum einen auf
unzureichendes Wissen und fehlende praktische Erfahrungen zurück.
Zum anderen ist sie aber auch das Resultat einer mehr oder weniger
bewussten mehr oder weniger subtilen Feindlichkeit.
Beispiele:
 Behindertsein wird von nichtbehinderten Menschen oft nicht als
lebenswerte Lebensform anerkannt, da sie auf die Defizite
fokussieren: „Oft gucken mich Leute an, als müsste ich immer
traurig sein“ – und verletzender noch: „als wäre es für mich
besser, wenn ich gar nicht geboren worden wäre.“ Derart als
bestenfalls bemitleidenswerte Existenz stigmatisiert, akzeptieren
es dann auch viele nichtbehinderte Menschen nicht, wenn
behinderte Menschen selbstbewusst ihre Rechte einklagen.
Empört sich ein Rollstuhlfahrer darüber, dass ihm aufgrund
fehlender Barrierefreiheit der Zugang zu einem öffentlichen
Gebäude verwehrt wird, kann es ihm passieren, dass sich
nichtbehinderte Menschen über seine Empörung empören!
Einer aktuellen FORSA-Studie zufolge, assoziieren 16% der
repräsentativen Bevölkerungsumfrage „Mitleid“, wenn sie an
„Behinderung“ denken. Dies steht im Gegensatz zu den
Selbstbeschreibungen der meisten behinderten Menschen, die
keineswegs über fehlende Lebenszufriedenheit klagen, sondern
berichten, dass sie ihr Leben so selbst bestimmt leben, wie es
ihnen möglich ist und im Hinblick auf gesellschaftliche
Widerstände ermöglich wird.
„Mitleid macht besonders wütend, wenn […] wir die Fähigkeit
verloren haben, auf eigenen Füßen zu stehen. Dann sehen wir im
Blick und hören in den Worten des Mitleids: Du bist kein
Selbständiger mehr. Das Bemitleiden wird dadurch zur
Demonstration von Ohnmacht. Es ist keine bösartig
demonstrierte und keine genossene Ohnmacht, aber eben doch
eine Demonstration der Ohnmacht, die der andere zwar nicht
herbeigeführt, aber in der Geste des Mitleids darstellt und betont.
Dadurch gerät der Ausdruck des Mitleids in gefährliche Nähe
zur Demütigung.“ (Peter Bieri, 2013, Eine Art zu leben. Über
die Vielfältigkeit menschlicher Würde, S. 150)
 Die Stigmatisierung behinderter Menschen führt nicht
zwangsläufig zur Entwicklung eines negativen Selbstbildes.
Denn sie setzen sich mit ihrer Stigmatisierung auseinander. Das
gilt auch für geistig behinderte Menschen. Ihnen diese Reflexion
ungeprüft abzusprechen, trägt feindliche Züge.
Geistig behinderte Menschen haben in vielen Fällen ein
Bewusstsein, dass sie behindert sind bzw. bei ihren
Mitmenschen sowie in der Gesamtgesellschaft als behindert
gelten. Auch wenn dieses Bewusstsein vom Ausmaß der
kognitiven Beeinträchtigung abhängt, so wäre es falsch, wollte
man ein fehlendes Selbstbewusstsein verallgemeinern. Wo aber
ein Bewusstsein seiner selbst als geistig behinderter Mensch
besteht, gibt es auch Möglichkeiten, sich von stigmatisierenden
Zuschreibungen zu distanzieren.
Behandelt man geistig behinderte Menschen so, als seien sie
keines Selbstbewusstseins fähig, entsteht daraus schnell eine
sich selbst erfüllende Prophezeiung. Zwar mag es Fälle geben, in
denen sie nur deshalb ein positives Selbstbild haben, weil sie
ihre Situation nicht begreifen, förderlicher aber ist es, ihnen stets
bis auf Weiteres zu unterstellen, dass sie fähig sind, ein
realistisches Selbstbild zu konstruieren.
So beklagt sich ein geistig behinderter Mann darüber, dass er
von einem nichtbehinderten Mitmenschen als „behindert“
bezeichnet wurde, und begründet seine Ablehnung der
Zuschreibung, durch die er sich verletzt fühlt, mit der Äußerung:
„Denn ich bin ja eigentlich ein Mensch und kein Tier, wo man
mit machen kann, was man will.“ Der geistig behinderte Mann
leugnet nicht seine Behinderung, sondern zeigt auf, dass das
Prädikat „behindert“ nicht deskriptiv, sondern normativ
gebraucht worden ist: Ihn „behindert“ zu nennen, spricht ihm
seinen Status als Mensch und in eins damit seine menschliche
Handlungsfreiheit ab.
 Mit am stärksten wird Feindlichkeit gegenüber behinderten
Menschen in punkto Sexualität deutlich: (a) Nichtbehinderte
Menschen reagieren peinlich oder sogar mit Ekel, wenn sie mit
sichtbarem sexuellen Begehren von behinderten Menschen
konfrontiert sind: Küssen in der Öffentlichkeit, insbesondere mit
einem nichtbehinderten Partner. (b) Behinderten Menschen wird
entweder eine kaum kontrollierbare Triebhaftigkeit oder –
entgegengesetzt – völlige Trieblosigkeit zugeschrieben. (c)
Schwangerschaft und Mutterschaft behinderter Frauen werden
abgelehnt und zu verhindern gesucht. (d) Insbesondere geistig
behinderte Frauen, die sterilisiert sind und sich aufgrund ihrer
sozialen Isolation für Zuwendungen empfänglich zeigen, werden
erschreckend oft das Opfer sexueller Gewalt.
 Feindseligkeit gegen behinderte Menschen kann als
vermeintliche Freundlichkeit maskiert sein, sogar ohne dass
nichtbehinderte
Menschen
selbst
diese
Maskierung
durchschauen. „Wie kommen Sie denn mit ihrer [körperlichen]
Behinderung zurecht“ oder aufmunternd „Sie machen das ja
[trotz Behinderung] richtig gut.“ Solche Äußerungen sind
übergriffig. Denn ein derart geäußertes Wohlmeinen ist selten
frei von Selbstgefälligkeit. Meist sind es Äußerungen, mit denen
nichtbehinderte Menschen eine Überlegenheit für sich in
Anspruch nehmen und damit zugleich bekräftigen, dass es
hierarchisierte Wertigkeiten gibt.
Ganz anders der kleine Junge, der mit unverhohlener Neugier
die Spasmen eines Tetraparetikers, der im Rollstuhl sitzt,
beobachtet, erst dessen Grimassieren nachahmt und ihn dann
streichelt, während seine Mutter ihn wegzieht, weil es ihr
peinlich ist.
Während die wohlmeinenden Äußerungen der Erwachsenen den
Beginn einer authentischen Begegnung fingieren, aber eher
darauf abzielen, eine solche Begegnung zu verhindern, birgt der
Annäherungsversuch des Kindes die Chance, sich ohne falsche
Scham zu begegnen.
 Eine doppelbödige Freundlichkeit gegenüber behinderten
Menschen besteht auch dann, wenn sie in moralischen Diskursen
dafür herhalten müssen, zu symbolisieren, „worauf es im Leben
wirklich ankommt“. Zum Beispiel werden Menschen mit einem
Down-Syndrom regelmäßig wegen ihrer Herzlichkeit gelobt, die
„in unserer Gesellschaft so selten geworden ist“. Wenn
Menschenwürde verlangt, Menschen als Zweck und nicht als
Mittel zu behandeln, dann verletzen auch solche wohlmeinenden
moralischen Exempel die Würde der Betroffenen, die dies zu
Recht als Übergriff erleben.
Davon zu unterscheiden, ist der aufrichtige Respekt von
nichtbehinderten Menschen vor den Lebensleistungen, die
behinderte
Menschen
unter
ihren
erschwerten
Lebensbedingungen erbringen.
 Nicht jede negative Bewertung behinderter Menschen durch
nichtbehinderte Menschen ist allerdings bereits eine
Feindlichkeit. Bedingungslose politische Korrektheit führt
schnell zu diesem Kurzschluss. Dann wird sie ihrerseits
feindlich, weil sie behinderten Menschen das Recht abspricht,
ebensolche Unsympathen sein zu dürfen, wie nichtbehinderte
Menschen auch.
 Gravierend ist die Identifikation behinderter Menschen mit
behindertenfeindlichen Aggressionen, die darin besteht, dass sie
entwertende Urteile von nichtbehinderten Menschen gegen die
eigene Person wenden. Wenn ein junger behinderter Mann sich
selbst „Krüppel“ nennt, kann das ein Symptom einer solchen
identifikatorischen Selbststigmatisierung sein, aber auch genau
das Gegenteil: eine selbstbewusste Offensive gegen solche
Entwertungen, indem er selbst ausspricht, was nichtbehinderte
Menschen vielleicht denken mögen, und dadurch für die Gewalt
von Worten sensibilisiert.
 Letztlich muss bedacht werden, dass es vermutlich keine
isolierte Feindlichkeit gegen behinderte Menschen gibt, sondern
eine Feindlichkeit gegen alles Fremde, je näher es auf den Leib
rückt und nicht in authentische, sondern bestenfalls
exotisierende Neugier verwandelt werden kann. (Folglich wären
behindertenfeindliche nichtbehinderte Menschen mit erhöhter
Wahrscheinlichkeit z.B. auch kinder-, frauen- und
ausländerfeindlich.)
XXXX
In dem wunderbaren Kinderbuch „Mein kleiner großer Bruder“
erzählt Tore Tvweit (1991), welche Erfahrungen die Hauptfigur mit
ihrem schwer behinderten Bruder macht. So muss sie miterleben, dass
nichtbehinderte Gäste das Restaurant verlassen, weil sie den Anblick
des Bruders nicht ertragen – „Wie kann man so einen mit ins
Restaurant nehmen […] Sie könnten doch etwas Rücksicht auf andere
nehmen“. Die Mutter bleibt gelassen und kommentiert diese
Feindlichkeit:
„Wenn uns etwas begegnet, das wir nicht kennen und nicht verstehen,
dann werden wir oft ängstlich“ […] „Und wenn wir ängstlich und
unsicher sind, werden wir oft böse. Das ist eine Möglichkeit, seine
Angst loszuwerden.“ […] Es ist wichtig, dass wir das kennenlernen
und zu verstehen versuchen, wovor wir Angst haben“ […]
Um welche Ängste handelt es sich?
1980 stand in der FAZ unter dem Titel „Warum sollen wir denn
anders sein?“ ein bemerkenswerter Text zu lesen. Beschrieben wurde
ein Fest, das die Schüler_innen der Rheinischen Landesschule für
Körperbehinderte, die dort die Mittlere Reife oder das Abitur
anstreben, feierten:
„Harter Rock aus Lautsprechern im abgedunkelten Raum.
Hemmungsloses Fallen. Armlose, Beinlose suchen im rhythmischen
Durcheinander Vergessen. Ein Spastiker kniet und schlägt mit seiner
Stirn im Takt auf den Boden. Der hübschen Blonden fliegen die
Locken ums Gesicht; was bislang verborgen war, wird nun sichtbar:
die kleinen Schulterflossen [skapula alata]. Das Rollstuhlkind wirft
den Körper hin und her. Pause. Licht. Im Zuschauerraum kein Lachen.
Die Tänzerin hockt auf der Rampe, mit dem Fuß führt sie eine
Zigarette zum Mund. Am Knöchel die Armbanduhr. Die Luft ist
schwer geworden. Der Gast wagt kaum aufzuschauen. Um ihn herum
Wesen einer anderen Welt, die Privilegierten an Stöcken, die meisten
im Rollstuhl. Kleine Bündel Mensch: Stiefel beginnen am Rumpf.
Füße in Mondstellung. Unter Decken sind Beine, embryohaft
verschränkt. Ein Unterarm nach oben gedreht, ruht auf einem
Klapptisch.“
Diese Beschreibung, gleich wie vom Autor intendiert, reiht sich ein in
die Geschichte der Freak-Shows. Nicht einzelne behinderte Menschen
werden vorgestellt, sondern Behinderungen als alptraumhafte
Schrecken in Szene gesetzt. Mit Jaques Lacan kann man von einem
Phantasma des zerstückelten Körpers sprechen.
Vermutlich würde die heutige politische Korrektheit verhindern, dass
ein solcher Text gedruckt wird, die Angst vor Zerstückelung, die er
anspielt, dürfte aber nach wie vor dieselbe sein.
XXXX
These: Wahrnehmbare schwere körperliche und geistige
Behinderungen werden von nichtbehinderten Menschen als
Bedrohung ihrer narzisstischen Integrität erlebt. Vorurteile und
Feindseligkeit lassen sich als Abwehr dieser Bedrohung verstehen.
Unsere narzisstische Integrität beruht auf drei positiven Illusionen, die
unsere Handlungsfähigkeit sichern.
(1) „Ich bin unverletzlich. Mir kann nie etwas passieren.“ – Aber:
85% der 10 Millionen behinderten Menschen in Deutschland gehen
auf chronische Erkrankungen zurück, die im Laufe des Lebens
erworben werden! Treffen wir auf einen behinderten Menschen, droht
diese narzisstische Illusion zerstört zu werden. Plötzlich sind wir an
seinem Beispiel mit unserer eigenen Verletzlichkeit und Sterblichkeit
konfrontiert. Und das setzt die Angst frei, die wir durch unsere
Illusionsbildung zuvor erfolgreich abgewehrt haben. Dabei erleben
wir uns besonders bedroht, wenn uns der behinderte Mensch ähnlich
ist. Dann mutet er uns eine Selbstkonfrontation zu, die auf
Desillusionierung drängt. Angesichts dieser Aufgabe, uns dieser
schmerzlichen Bewusstwerdung zu stellen, verspricht der Versuch, die
Abwehr auszubessern oder gar zu verstärken, eine schnellere
Unterbindung der Angstentwicklung. Denn mit der geplatzten Illusion
– „Ich bin verletzlich. Mir kann jederzeit etwas passieren“ – lässt sich
sehr viel schwerer leben. Folglich bedarf es einer narzisstischen
Restitution. Und die kann darin bestehen, jede Ähnlichkeit mit dem
behinderten Menschen zu bestreiten: „Ich bin völlig anders. Deshalb
kann mir nicht passieren, was ihm passiert ist.“ Um dies zu erreichen,
muss ihm aber Empathie verweigert werden. Denn eine empathische
Anteilnahme macht zwangsläufig deutlich, dass der behinderte
Mensch kein völlig anderer Mensch ist.
(2) Eine zweite positive Illusion betrifft die Kontrollierbarkeit der
eigenen Lebensbedingungen: „Die Welt ist geordnet. Folglich sind die
Ereignisse in ihr vorhersehbar. Und was ich vorhersehen kann, das
kann ich auch kontrollieren.“ Diese Illusion wird vor allem durch die
Unschuld eines behinderten Menschen bedroht. Wenn jemand
unschuldig Schaden nimmt, dann ist er Spielball eines Schicksals, das
wahllos zuschlägt: „Die Welt ist chaotisch. Folglich sind die
Ereignisse in ihr unvorhersehbar. Und was ich nicht vorhersehen
kann, das kann ich auch nicht kontrollieren.“ Die aus dieser
Desillusionierung resultierenden Ohnmachtsgefühle können so
lähmend sein, dass man versucht, sie durch eine Erneuerung der
narzisstischen Illusion zu bewältigen. Und dies gelingt, indem
bestritten wird, dass der behinderte Mensch tatsächlich unschuldig
gewesen ist.
Behinderte Menschen müssen damit rechnen, dass sie die Schuld an
ihrer Behinderung selbst zugeschrieben bekommen, weil
nichtbehinderte Menschen dadurch ihre bedrohte Kontrollillusion
restabilisieren.
„Hätte er nicht mit seinem riskanten Fahrstil seine Freundin
beeindrucken wollen, hätte es keinen Unfall gegeben. So hat er selbst
schuld“ ist eine Beschuldigung, die drei Implikationen hat: Es gibt (a)
einen kontrollierbaren Kausalfaktor, den ich (b) durch meine
Lebensführung vermeide, (c) was auch moralisch geboten ist. Also:
„Ich hätte keinen Unfall gehabt, weil ich nicht mit einem riskanten
Fahrstil meine Freundin beeindrucken will. Wer das will, lebt
verkehrt“ – und hat folglich selbst schuld.
Gelegentlich beschuldigen sich behinderte Menschen sogar selbst.
Dann bestehen z.B. Opfer eines Autounfalls, die querschnittsgelähmt
sind, gegen den objektiven Tatbestand darauf, selbst falsch gehandelt
und deshalb Schaden genommen zu haben. Zum einen wehrt eine
solche Selbstbeschuldigung die Angst ab, „blindem Zufall“
ausgeliefert zu sein. Zum anderen kann ein behinderter Mensch durch
seine Selbstbeschuldigung befürchteten Beschuldigungen durch seine
nichtbehinderten Mitmenschen zuvorkommen.
(3) Mit der implizierten moralischen Norm wird eine dritte positive
Illusion kenntlich: „Guten Menschen passiert Gutes, schlechten
Menschen passiert Schlechtes“. Wird diese Illusion in der
Konfrontation mit einem behinderten Menschen restabilisiert, dann
führt das zu dem Umkehrschluss: „Er hat Schaden genommen, also
muss es ein moralisch schlechter Mensch sein. Und damit geschieht
ihm recht. Er verdient, was ihm passiert ist. Da ich selbst nicht
behindert bin, darf ich mich ebenfalls zu Recht als moralisch guter
Mensch fühlen, der es verdient hat, nicht zu Schaden gekommen zu
sein.“
XXXX
Erinnert sei an das oft zitierte Flensburger Urteil von 1992: Ein
Gericht sprach einer Familie, die Urlaub in einem Hotel gemacht
hatte, in dem auch behinderte Menschen logierten, Schadenersatz
wegen entgangener Urlaubsfreude zu. Dieses Ereignis sowie
vergleichbare skandalöse Ereignisse trugen mit dazu bei, dass 1994
ein Artikel in das Grundgesetz aufgenommen wurde, der ausdrücklich
die Diskriminierung von behinderten Menschen verbietet: „Niemand
darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ 2002 kam
flankierend das „Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen“
hinzu. Solche gesetzgeberischen Maßnahmen erlauben eine
Sanktionierung von Stigmatisierungen und Diskriminierungen. Die
Entstehung von vorurteilsvollen und feindlichen Einstellungen
verhindern sie erst einmal nicht. Ebenso wenig gewährleisten sie, dass
die verbriefte Gleichstellung auch tatsächlich praktiziert wird. Es ist
nicht unwahrscheinlich, dass lediglich die Formen der Stigmatisierung
und Diskriminierung subtiler werden.
Die größten Fortschritte gibt es auf der Ebene des Diskurses. Sie
lassen sich an einer veränderten Semantik ablesen. So folgte auf das
„Jahr der Behinderten“, das die UNO 1981 ausgerufen hatte, im
Jahre 2003 das „Europäische Jahr der Menschen mit
Behinderungen“. Mit dieser semantischen Korrektur wurde deutlich
gemacht, dass Behinderung kein Wesensmerkmal von Menschen ist.
Manchen Betroffenen geht aber auch diese Korrektur nicht weit
genug, weshalb sie dafür plädieren, von „Menschen mit
Assistenzbedarf“ zu sprechen.
In Verbindung mit der viel zitierte Formel „Normal ist, verschieden
zu sein“ wird eine regulative Idee formuliert, die eine notwendige,
sicher aber keine hinreichende Bedingung für eine veränderte soziale
Praxis ist.
XXXX
Im Diskurs um Feindlichkeit gegen behinderte Menschen ist
allerdings darauf zu achten, dass es zu keiner Romantisierung der
Vergangenheit kommt. Nach allen historischen Untersuchungen, die
ich kenne, war das soziale Verhältnis zwischen nichtbehinderten und
behinderten Menschen nie frei von Ambivalenz. Eine
selbstverständliche Inklusion von behinderten Menschen hat es
wahrscheinlich nie gegeben. Sie ist eine moderne Forderung, die aus
der Vorstellung resultiert, dass alle Menschen dieselben Rechte haben,
selbstbestimmt und damit auch individualisiert zu leben.
Sich auf diesem Hintergrund zu vergegenwärtigen, wie
unwahrscheinlich eine selbstverständliche Inklusion von behinderten
Menschen ist, hilft, das Ausmaß der notwendigen Anstrengungen zu
ermessen und mit ständigen Rückschlägen zu rechnen. Denn Diskurs
und Praxis kommen selten im gleichen Schritt voran. In der Regel
hinkt die Praxis dem Diskurs hinterher. Die Psyche ist antiquierter, als
es die Empörung gegenüber Missachtung und Diskriminierung
erlauben möchte.
Eine Lehrerin in einer Inklusionsklasse berichtet, wie schwer es ihr
fällt, zu akzeptieren, dass sich eine geistig behinderte Schülerin ihre
Lippen und ihre Fingernägel knallrot anmalt. Das tun nichtbehinderte
Schülerinnen auch, aber das stört sie irritierenderweise wenig. In der
Reflexion dieses Erlebens stellt sich heraus, dass es zwei Ebenen gibt:
Auf der Oberfläche liegt ihre ängstliche Fürsorge, unbedingt sexuelle
Anreize zu vermeiden, um sexuellen Übergriffen auf ihren Schützling
vorzubeugen. Tiefer liegt das Gefühl, dass es für behinderte Menschen
unbotmäßig ist, selbstbewusst auf sich aufmerksam zu machen. Die
Lehrerin wird von ihren eigenen Reaktionen überrascht, da sie anders
denkt, als sie fühlt.
Auch wenn das soziale Verhältnis von nichtbehinderten und
behinderten Menschen schon immer von Ambivalenz geprägt war, so
sind es doch die jeweiligen historischen Rahmenbedingungen, die
darüber entscheiden, ob die eine oder die andere Seite akzentuiert
wird: Missachtung und Diskriminierung oder Achtung und
Gleichberechtigung.
In diesem Sinne ist es notwendig, Leitvorstellungen wie die des NeoLiberalismus scharf zu kritisieren, der den Wert eines Menschen an
dessen Nützlichkeit bindet und Nützlichkeit als ökonomische
Verwertbarkeit von Humankapital begreift. Denn daran gemessen,
werden behinderte Menschen schnell als weniger wert oder sogar als
wertlos wahrgenommen.
Selbstbestimmung und Individualisierung zu bejahen, ist ein
Kennzeichen moderner Gesellschaften. Traditionale Gesellschaften
sind eher durch Heteronomie und Homogenität gekennzeichnet.
Geraten beide regulative Ideen in den Sog eines forcierten NeoLiberalismus, zeigen sie ihre Schattenseiten. Aus Chancen werden
Risiken: Galten behinderte Menschen lange Zeit als Menschen, die
nicht fähig sind, für sich selbst zu sorgen, weshalb sie einer
patriarchalen Fürsorge unterstellt werden müssten, so propagiert der
Neo-Liberalismus
auch
für
sie
Selbstbestimmung
und
Individualisierung, was aber leicht zu einer Überforderung führt, wenn
beide Ideen als Legitimation missbraucht werden, nicht länger
fürsorglich zu sein. Wo dies geschieht, darf man eine rationalisierte
Feindlichkeit vermuten.
XXXX
Soweit ich aussagefähige Untersuchungen kenne, ist die
Feindseligkeit gegen behinderte Menschen, wie sie noch in den
1970er und 1980er Jahren festgestellt wurde, inzwischen
zurückgegangen. An ihre Stelle tritt eine Haltung, die man als
vorsichtige Toleranz gegenüber behinderten Menschen bei einem
gleichzeitigen Plädoyer für einen eugenischen Schutz vor
Behinderungen beschreiben kann. Eugenisch meint dabei die
argumentative Position, dass es aufgrund der sich ständig
erweiternden biotechnischen Interventionsmöglichkeiten alsbald
bestimmte Behinderungen „gar nicht mehr geben müsste“. Im
Klartext gesprochen: Werdende Eltern müssen befürchten, dass ihnen
die Geburt eines behinderten Kindes als persönliches Versäumnis
vorgeworfen wird.
Und das auch institutionell: In den USA weigern sich schon
Krankenversicherungen, behinderte Kinder zu versichern,
Behinderung vor der Geburt diagnostiziert wurde oder
diagnostiziert werden können: Ein Schwangerschaftsabbruch
kostengünstiger!
heute
deren
hätte
käme
Einer meiner Coaching-Klienten aus einem neo-liberal geprägten
Berufsfeld, in dem ständige Kosten-Nutzen-Analysen der
Mitarbeitenden die Unternehmenskultur prägen, lebt in einer
Partnerschaft, in der seine Frau karrieremäßig ebenso eingespannt ist
als er. Dennoch wünschen sich beide ein Kind, was ihnen aber bislang
versagt bleibt. Vieles spricht für eine – belastungsbedingte –
psychogene Unfruchtbarkeit. Beide halten von dieser Erklärung aber
nichts. Stattdessen spielt er im Zusammenhang mit seinen
Überlegungen zu einer gelungenen „work-life-balance“ verschiedene
Möglichkeiten durch, dennoch ein Kind zu bekommen und zwar ein
gesundes Kind, da er sich von einem behinderten Kind fürchtet, mehr noch – sich fast sicher ist, auf „natürlichem“ Wege nichts
anderes als ein behindertes Kind bekommen zu können! Am meisten
fasziniert ihn die Vorstellung einer künstlichen Befruchtung,
verbunden mit einer Präimplantationsdiagnostik, von der er bedauert,
dass sie in Deutschland (noch) verboten ist.
Im Neo-Liberalismus gibt es nicht nur die Angst, persönlich zu
versagen, sondern tiefer liegend die Angst, einer Kosten-NutzenAnalyse unterzogen und für nutzlos, weil zu teuer, erklärt zu werden.
Es mag diese Angst sein, die mein Coaching-Klient aufgrund seiner
beruflichen Erfahrungen mit den Selektionsmechanismen seines
Arbeitgebers auf seinen Kinderwunsch projiziert hat.
XXXX
Ungeachtet erheblicher Bemühungen in den vergangenen Jahrzehnten,
die Kluft zwischen nichtbehinderten und behinderten Menschen zu
überwinden, sind persönliche Kontakte nach wie vor eher die
Ausnahme. Auch wenn es zutrifft, dass immer mehr Zugangsbarrieren
abgebaut werden, und behinderte Menschen sich im Vergleich zu
früheren Zeiten häufiger im öffentlichen Raum zeigen, die bloßen
Begegnungsmöglichkeiten sagen nichts über die soziale Gestaltung
dieser Begegnungen aus. Die Neigung, sich zu separieren, besteht
weiterhin und das auf beiden Seiten. Sich nahe zu kommen, heißt
nicht zwangsläufig, sich besser zu verstehen. Was Not tut, neben
vielem anderen, ist die Bereitschaft, sich den verwirrenden Gefühlen
zu stellen, die unweigerlich aufkommen und sich um politische
Korrektheit nicht scheren. Um zum Abschluss noch einmal die
Kinderbuchmutter zu zitieren: „Es ist wichtig, dass wir das
kennenlernen und zu verstehen versuchen, wovor wir Angst haben.“