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28. Jahrestagung der Integrations-/Inklusionsforscher/innen in deutschsprachigen Ländern. 19. bis 22. Februar 2014 Zur Logik der Widrigkeiten – Theoriefundamente der Inklusion Behindertenfeindlichkeit – narzisstische Abwehr der eigenen Verletzlichkeit Prof. Dr. Dr. Rolf Haubl Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung sollen gemeinsam in der Regelschule unterrichtet werden. Allerdings kommt die Inklusion in Deutschland vergleichsweise langsam voran. Von den knapp 10 Millionen behinderten Menschen in Deutschland [7 Millionen schwerbehindert] sind ungefähr eine halbe Million Schüler_innen mit Förderbedarf. Nur 22% von ihnen besuchen eine Regelschule. Die anderen gehen auf Sonder- oder Förderschulen und verlassen diese all zu oft ohne Abschluss und Berufsperspektive. Viele Lehrer_innen befürworten die Inklusion, sind aber skeptisch, was deren Realisierung betrifft, und fühlen sich überfordert. Denn kaum jemand von ihnen hat gelernt, behinderte Schüler_innen zu unterrichten. Kurzfortbildungen, die sie erhalten, differenzieren nicht nach Fächern und schon gar nicht nach den verschiedenen Behinderungen. Dabei geht es nicht nur um Didaktik, sondern um Beziehungsarbeit, einschließlich einer kompetenten Regulation der eigenen Emotionen, die bei dieser Arbeit auftreten. Oft sind es negative Emotionen wie Angst, Ohnmacht, Wut und Schuldgefühle, die Lehrer_innen nicht haben sollten, weil sie ihre Profession zu einem pädagogischen Optimismus verpflichtet, die sie aber dennoch haben, wofür sie sich dann auch noch schämen. Lehrer_innen erzählen mir in der Supervision über ihre emotionalen Turbulenzen, wenn sie z.B. sozioemotional gestörte Kinder und Jugendliche in ihren Klassen haben: Sie fühlen sich von ihnen terrorisiert, quälen sich mit verpönten Wünschen, Störenfriede streng zu bestrafen, und fürchten, tatsächlich die Kontrolle zu verlieren, was sie im Gegenzug lähmt. Die wenigsten Lehrer_innen haben alltagsweltliche Erfahrungen mit behinderten Menschen. Einer Untersuchung von „Aktion Mensch“ aus dem Jahre 2012 zufolge teilen sie diesen Erfahrungsmangel mit 2/3 der Bevölkerung. XXXX Es gibt keine allgemein anerkannte Definition für Behinderung. Der Sachverhalte der Behinderung ist gesellschaftlich vermittelt: Soziale Normen bestimmen darüber, wer an einem bestimmten sozialen Ort zu einer bestimmten Zeit als behindert gilt. Insofern sind es kontingente Zuschreibungen, die an der Schnittstelle von Behindertsein und Behindertwerden erfolgen. Solche Zuschreibungen sind durchsetzt mit Fantasien, wie z.B. der, dass psychisch kranke Menschen besonders gewalttätig seien. These: Neben allen anderen Faktoren kommt es bei der Inklusion in die Regelschule sehr darauf an, welche Fantasien alle Akteure über behinderte Menschen und deren spezielle Behinderungen haben: Fantasien der Lehrer_innen, der Eltern von nichtbehinderten, aber auch behinderten Kindern und Jugendlichen, sowie der behinderten und nichtbehinderten Schüler_innen selbst. XXXX Ein Ziel der Inklusion behinderter Menschen ist es, die binäre Konstruktion zu überwinden, der zufolge behinderte Menschen wesensmäßig andere Menschen sind als nichtbehinderte Menschen. Diese Konstruktion erfolgt in sieben Schritten: 1. Unterscheidung: Es gibt nichtbehinderte und behinderte Menschen. 2. Spaltung: Behinderte Menschen sind anders als nichtbehinderte Menschen. 3. Polarisierung: Die Andersartigkeit von behinderten nichtbehinderten Menschen unvereinbar. Menschen ist mit 4. Abwertung: Behinderte Menschen sind weniger wert als nichtbehinderte Menschen. 5. Rationalisierung: Behinderte Menschen sind weniger wert, weil weniger leistungsstark, und sie kosten dadurch die Gesellschaft mehr als sie nutzen. 6. Generalisierung: Alle behinderten Menschen sind anders als nichtbehinderte Menschen. 7. Typisierung: Wie immer sich ein Mensch verhält, er verhält sich so, weil er entweder behindert oder nichtbehindert ist. Dieser Logik folgend werden behinderte Menschen einer binären Kategorisierung unterworfen, die eine scharfe Grenze zwischen ihnen und nichtbehinderten Menschen zieht, um sie dann so zu behandeln, dass sie gar nicht zeigen können, wozu sie fähig sind, was rückwirkend die binäre Kategorisierung validiert. Behinderte Menschen werden auf diese Weise von nichtbehinderten Menschen schnell auf ihre Behinderung reduziert. Es scheint dann so, als gäbe es gar keine persönlichkeitsspezifischen Differenzen. Tatsächlich sind aber behinderte Menschen ebenso interindividuell verschieden wie nichtbehinderte Menschen, was auch heißt: Sie haben nicht weniger Persönlichkeit als diese. Und da sie Persönlichkeit haben, gelten auch für sie alle bewussten und unbewussten Prozesse der Persönlichkeitsbildung. Das heißt, dass auch behinderte Menschen in der Bewältigung ihrer Erlebnisse einer Psychodynamik unterliegen, die Unbewusstheit produziert, um unerträgliche Erlebnisse halbwegs erträglich zu machen. Diese Psychodynamik wird, wie im Falle einer geistigen Behinderung, auch nicht durch die eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten der Betroffenen außer Kraft gesetzt, sondern findet in deren Rahmen statt. Fallen geistig behinderte Menschen z.B. durch Stereotype wie ein „dümmliches“ Lächeln auf, dann ist es ein Leichtes, dies als Beleg für ihre kognitiven Defizite zu nehmen. Unter Umständen ist es aber ein soziales Symptom: Mit ihm wehren die Betroffenen befürchtete oder bereits erlebte Missachtungen durch ihre nichtbehinderten Mitmenschen ab, indem sie sich hinter eine mimische Fassade sozialer Resonanz zurückziehen. XXXX Behinderte Menschen verdienen soziale Unterstützung von nichtbehinderten Menschen (und Institutionen). Das ist eine moralische Norm. Die Anwendung dieser Norm wird empirisch aber immer wieder außer Kraft gesetzt, nämlich dann, wenn sich behinderte Menschen nicht so verhalten, wie es von ihnen erwartet wird. So gesehen, ist Behindertsein eine Rolle – eine Rolle, aus der behinderte Menschen auch fallen können. Zu dieser Rolle gehört vorrangig die Erwartung, ihre nichtbehinderten Mitmenschen nicht zu überfordern. Erving Goffman konstatiert: Behinderte Menschen sollen „eine heitere ergebene Art“ ausbilden und weder „Bitterkeit, Groll noch Selbstmitleid“ zeigen, außerdem „unerbetene Angebote von Interesse, Sympathie und Hilfe taktvoll“ annehmen und den Anschein erwecken, diese Angebote seien „effektiv und willkommen“. Behinderte Menschen entlasten ihre nichtbehinderten Mitmenschen, indem sie ihren Unterstützungsbedarf auf deren Bewältigungskapazität abstimmen. So sprechen sie oft nicht über das wahre Ausmaß ihrer Beeinträchtigungen, weil sie Rückzug und Zurückweisung befürchten. Oder sie stellen sich selbständiger dar, als sie es sind: Behinderte Menschen dürfen nicht den Eindruck erwecken, als wollten sie ihren Status ausnutzen, um über Gebühr Unterstützung zu beanspruchen: Dem entsprechend wird behinderten Menschen nur dann und nur soweit Rücksichtnahme gewährt, wie sie gleichzeitig die Bereitschaft zeigen, mit möglichst wenig Unterstützung auszukommen. Für die Unterstützung, die sie dann erhalten, sollen sie zudem dankbar sein. Diese Erwartung ist gelegentlich mit der Botschaft unterlegt, nichtbehinderten Menschen verdienten Dankbarkeit, weil sie sich doch zu einer Unterstützung überwunden hätten, was freilich heißt, eine selbstverständliche Unterstützung dürften sie gar nicht erst erwarten. Nichtbehinderte Menschen reagieren aber oft auch negativ, wenn behinderte Menschen ihr Schicksal zu gut bewältigen. Dann fühlen sie sich durch deren Lebensleistung beschämt, insbesondere dann, wenn ihnen die Begegnung mit ihnen nicht nur Respekt abverlangt, sondern ihnen zu Bewusstsein bringt, wie gut sie selbst es unverdientermaßen haben. XXXX Mangelnde Unterstützung behinderter Menschen geht zum einen auf unzureichendes Wissen und fehlende praktische Erfahrungen zurück. Zum anderen ist sie aber auch das Resultat einer mehr oder weniger bewussten mehr oder weniger subtilen Feindlichkeit. Beispiele: Behindertsein wird von nichtbehinderten Menschen oft nicht als lebenswerte Lebensform anerkannt, da sie auf die Defizite fokussieren: „Oft gucken mich Leute an, als müsste ich immer traurig sein“ – und verletzender noch: „als wäre es für mich besser, wenn ich gar nicht geboren worden wäre.“ Derart als bestenfalls bemitleidenswerte Existenz stigmatisiert, akzeptieren es dann auch viele nichtbehinderte Menschen nicht, wenn behinderte Menschen selbstbewusst ihre Rechte einklagen. Empört sich ein Rollstuhlfahrer darüber, dass ihm aufgrund fehlender Barrierefreiheit der Zugang zu einem öffentlichen Gebäude verwehrt wird, kann es ihm passieren, dass sich nichtbehinderte Menschen über seine Empörung empören! Einer aktuellen FORSA-Studie zufolge, assoziieren 16% der repräsentativen Bevölkerungsumfrage „Mitleid“, wenn sie an „Behinderung“ denken. Dies steht im Gegensatz zu den Selbstbeschreibungen der meisten behinderten Menschen, die keineswegs über fehlende Lebenszufriedenheit klagen, sondern berichten, dass sie ihr Leben so selbst bestimmt leben, wie es ihnen möglich ist und im Hinblick auf gesellschaftliche Widerstände ermöglich wird. „Mitleid macht besonders wütend, wenn […] wir die Fähigkeit verloren haben, auf eigenen Füßen zu stehen. Dann sehen wir im Blick und hören in den Worten des Mitleids: Du bist kein Selbständiger mehr. Das Bemitleiden wird dadurch zur Demonstration von Ohnmacht. Es ist keine bösartig demonstrierte und keine genossene Ohnmacht, aber eben doch eine Demonstration der Ohnmacht, die der andere zwar nicht herbeigeführt, aber in der Geste des Mitleids darstellt und betont. Dadurch gerät der Ausdruck des Mitleids in gefährliche Nähe zur Demütigung.“ (Peter Bieri, 2013, Eine Art zu leben. Über die Vielfältigkeit menschlicher Würde, S. 150) Die Stigmatisierung behinderter Menschen führt nicht zwangsläufig zur Entwicklung eines negativen Selbstbildes. Denn sie setzen sich mit ihrer Stigmatisierung auseinander. Das gilt auch für geistig behinderte Menschen. Ihnen diese Reflexion ungeprüft abzusprechen, trägt feindliche Züge. Geistig behinderte Menschen haben in vielen Fällen ein Bewusstsein, dass sie behindert sind bzw. bei ihren Mitmenschen sowie in der Gesamtgesellschaft als behindert gelten. Auch wenn dieses Bewusstsein vom Ausmaß der kognitiven Beeinträchtigung abhängt, so wäre es falsch, wollte man ein fehlendes Selbstbewusstsein verallgemeinern. Wo aber ein Bewusstsein seiner selbst als geistig behinderter Mensch besteht, gibt es auch Möglichkeiten, sich von stigmatisierenden Zuschreibungen zu distanzieren. Behandelt man geistig behinderte Menschen so, als seien sie keines Selbstbewusstseins fähig, entsteht daraus schnell eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Zwar mag es Fälle geben, in denen sie nur deshalb ein positives Selbstbild haben, weil sie ihre Situation nicht begreifen, förderlicher aber ist es, ihnen stets bis auf Weiteres zu unterstellen, dass sie fähig sind, ein realistisches Selbstbild zu konstruieren. So beklagt sich ein geistig behinderter Mann darüber, dass er von einem nichtbehinderten Mitmenschen als „behindert“ bezeichnet wurde, und begründet seine Ablehnung der Zuschreibung, durch die er sich verletzt fühlt, mit der Äußerung: „Denn ich bin ja eigentlich ein Mensch und kein Tier, wo man mit machen kann, was man will.“ Der geistig behinderte Mann leugnet nicht seine Behinderung, sondern zeigt auf, dass das Prädikat „behindert“ nicht deskriptiv, sondern normativ gebraucht worden ist: Ihn „behindert“ zu nennen, spricht ihm seinen Status als Mensch und in eins damit seine menschliche Handlungsfreiheit ab. Mit am stärksten wird Feindlichkeit gegenüber behinderten Menschen in punkto Sexualität deutlich: (a) Nichtbehinderte Menschen reagieren peinlich oder sogar mit Ekel, wenn sie mit sichtbarem sexuellen Begehren von behinderten Menschen konfrontiert sind: Küssen in der Öffentlichkeit, insbesondere mit einem nichtbehinderten Partner. (b) Behinderten Menschen wird entweder eine kaum kontrollierbare Triebhaftigkeit oder – entgegengesetzt – völlige Trieblosigkeit zugeschrieben. (c) Schwangerschaft und Mutterschaft behinderter Frauen werden abgelehnt und zu verhindern gesucht. (d) Insbesondere geistig behinderte Frauen, die sterilisiert sind und sich aufgrund ihrer sozialen Isolation für Zuwendungen empfänglich zeigen, werden erschreckend oft das Opfer sexueller Gewalt. Feindseligkeit gegen behinderte Menschen kann als vermeintliche Freundlichkeit maskiert sein, sogar ohne dass nichtbehinderte Menschen selbst diese Maskierung durchschauen. „Wie kommen Sie denn mit ihrer [körperlichen] Behinderung zurecht“ oder aufmunternd „Sie machen das ja [trotz Behinderung] richtig gut.“ Solche Äußerungen sind übergriffig. Denn ein derart geäußertes Wohlmeinen ist selten frei von Selbstgefälligkeit. Meist sind es Äußerungen, mit denen nichtbehinderte Menschen eine Überlegenheit für sich in Anspruch nehmen und damit zugleich bekräftigen, dass es hierarchisierte Wertigkeiten gibt. Ganz anders der kleine Junge, der mit unverhohlener Neugier die Spasmen eines Tetraparetikers, der im Rollstuhl sitzt, beobachtet, erst dessen Grimassieren nachahmt und ihn dann streichelt, während seine Mutter ihn wegzieht, weil es ihr peinlich ist. Während die wohlmeinenden Äußerungen der Erwachsenen den Beginn einer authentischen Begegnung fingieren, aber eher darauf abzielen, eine solche Begegnung zu verhindern, birgt der Annäherungsversuch des Kindes die Chance, sich ohne falsche Scham zu begegnen. Eine doppelbödige Freundlichkeit gegenüber behinderten Menschen besteht auch dann, wenn sie in moralischen Diskursen dafür herhalten müssen, zu symbolisieren, „worauf es im Leben wirklich ankommt“. Zum Beispiel werden Menschen mit einem Down-Syndrom regelmäßig wegen ihrer Herzlichkeit gelobt, die „in unserer Gesellschaft so selten geworden ist“. Wenn Menschenwürde verlangt, Menschen als Zweck und nicht als Mittel zu behandeln, dann verletzen auch solche wohlmeinenden moralischen Exempel die Würde der Betroffenen, die dies zu Recht als Übergriff erleben. Davon zu unterscheiden, ist der aufrichtige Respekt von nichtbehinderten Menschen vor den Lebensleistungen, die behinderte Menschen unter ihren erschwerten Lebensbedingungen erbringen. Nicht jede negative Bewertung behinderter Menschen durch nichtbehinderte Menschen ist allerdings bereits eine Feindlichkeit. Bedingungslose politische Korrektheit führt schnell zu diesem Kurzschluss. Dann wird sie ihrerseits feindlich, weil sie behinderten Menschen das Recht abspricht, ebensolche Unsympathen sein zu dürfen, wie nichtbehinderte Menschen auch. Gravierend ist die Identifikation behinderter Menschen mit behindertenfeindlichen Aggressionen, die darin besteht, dass sie entwertende Urteile von nichtbehinderten Menschen gegen die eigene Person wenden. Wenn ein junger behinderter Mann sich selbst „Krüppel“ nennt, kann das ein Symptom einer solchen identifikatorischen Selbststigmatisierung sein, aber auch genau das Gegenteil: eine selbstbewusste Offensive gegen solche Entwertungen, indem er selbst ausspricht, was nichtbehinderte Menschen vielleicht denken mögen, und dadurch für die Gewalt von Worten sensibilisiert. Letztlich muss bedacht werden, dass es vermutlich keine isolierte Feindlichkeit gegen behinderte Menschen gibt, sondern eine Feindlichkeit gegen alles Fremde, je näher es auf den Leib rückt und nicht in authentische, sondern bestenfalls exotisierende Neugier verwandelt werden kann. (Folglich wären behindertenfeindliche nichtbehinderte Menschen mit erhöhter Wahrscheinlichkeit z.B. auch kinder-, frauen- und ausländerfeindlich.) XXXX In dem wunderbaren Kinderbuch „Mein kleiner großer Bruder“ erzählt Tore Tvweit (1991), welche Erfahrungen die Hauptfigur mit ihrem schwer behinderten Bruder macht. So muss sie miterleben, dass nichtbehinderte Gäste das Restaurant verlassen, weil sie den Anblick des Bruders nicht ertragen – „Wie kann man so einen mit ins Restaurant nehmen […] Sie könnten doch etwas Rücksicht auf andere nehmen“. Die Mutter bleibt gelassen und kommentiert diese Feindlichkeit: „Wenn uns etwas begegnet, das wir nicht kennen und nicht verstehen, dann werden wir oft ängstlich“ […] „Und wenn wir ängstlich und unsicher sind, werden wir oft böse. Das ist eine Möglichkeit, seine Angst loszuwerden.“ […] Es ist wichtig, dass wir das kennenlernen und zu verstehen versuchen, wovor wir Angst haben“ […] Um welche Ängste handelt es sich? 1980 stand in der FAZ unter dem Titel „Warum sollen wir denn anders sein?“ ein bemerkenswerter Text zu lesen. Beschrieben wurde ein Fest, das die Schüler_innen der Rheinischen Landesschule für Körperbehinderte, die dort die Mittlere Reife oder das Abitur anstreben, feierten: „Harter Rock aus Lautsprechern im abgedunkelten Raum. Hemmungsloses Fallen. Armlose, Beinlose suchen im rhythmischen Durcheinander Vergessen. Ein Spastiker kniet und schlägt mit seiner Stirn im Takt auf den Boden. Der hübschen Blonden fliegen die Locken ums Gesicht; was bislang verborgen war, wird nun sichtbar: die kleinen Schulterflossen [skapula alata]. Das Rollstuhlkind wirft den Körper hin und her. Pause. Licht. Im Zuschauerraum kein Lachen. Die Tänzerin hockt auf der Rampe, mit dem Fuß führt sie eine Zigarette zum Mund. Am Knöchel die Armbanduhr. Die Luft ist schwer geworden. Der Gast wagt kaum aufzuschauen. Um ihn herum Wesen einer anderen Welt, die Privilegierten an Stöcken, die meisten im Rollstuhl. Kleine Bündel Mensch: Stiefel beginnen am Rumpf. Füße in Mondstellung. Unter Decken sind Beine, embryohaft verschränkt. Ein Unterarm nach oben gedreht, ruht auf einem Klapptisch.“ Diese Beschreibung, gleich wie vom Autor intendiert, reiht sich ein in die Geschichte der Freak-Shows. Nicht einzelne behinderte Menschen werden vorgestellt, sondern Behinderungen als alptraumhafte Schrecken in Szene gesetzt. Mit Jaques Lacan kann man von einem Phantasma des zerstückelten Körpers sprechen. Vermutlich würde die heutige politische Korrektheit verhindern, dass ein solcher Text gedruckt wird, die Angst vor Zerstückelung, die er anspielt, dürfte aber nach wie vor dieselbe sein. XXXX These: Wahrnehmbare schwere körperliche und geistige Behinderungen werden von nichtbehinderten Menschen als Bedrohung ihrer narzisstischen Integrität erlebt. Vorurteile und Feindseligkeit lassen sich als Abwehr dieser Bedrohung verstehen. Unsere narzisstische Integrität beruht auf drei positiven Illusionen, die unsere Handlungsfähigkeit sichern. (1) „Ich bin unverletzlich. Mir kann nie etwas passieren.“ – Aber: 85% der 10 Millionen behinderten Menschen in Deutschland gehen auf chronische Erkrankungen zurück, die im Laufe des Lebens erworben werden! Treffen wir auf einen behinderten Menschen, droht diese narzisstische Illusion zerstört zu werden. Plötzlich sind wir an seinem Beispiel mit unserer eigenen Verletzlichkeit und Sterblichkeit konfrontiert. Und das setzt die Angst frei, die wir durch unsere Illusionsbildung zuvor erfolgreich abgewehrt haben. Dabei erleben wir uns besonders bedroht, wenn uns der behinderte Mensch ähnlich ist. Dann mutet er uns eine Selbstkonfrontation zu, die auf Desillusionierung drängt. Angesichts dieser Aufgabe, uns dieser schmerzlichen Bewusstwerdung zu stellen, verspricht der Versuch, die Abwehr auszubessern oder gar zu verstärken, eine schnellere Unterbindung der Angstentwicklung. Denn mit der geplatzten Illusion – „Ich bin verletzlich. Mir kann jederzeit etwas passieren“ – lässt sich sehr viel schwerer leben. Folglich bedarf es einer narzisstischen Restitution. Und die kann darin bestehen, jede Ähnlichkeit mit dem behinderten Menschen zu bestreiten: „Ich bin völlig anders. Deshalb kann mir nicht passieren, was ihm passiert ist.“ Um dies zu erreichen, muss ihm aber Empathie verweigert werden. Denn eine empathische Anteilnahme macht zwangsläufig deutlich, dass der behinderte Mensch kein völlig anderer Mensch ist. (2) Eine zweite positive Illusion betrifft die Kontrollierbarkeit der eigenen Lebensbedingungen: „Die Welt ist geordnet. Folglich sind die Ereignisse in ihr vorhersehbar. Und was ich vorhersehen kann, das kann ich auch kontrollieren.“ Diese Illusion wird vor allem durch die Unschuld eines behinderten Menschen bedroht. Wenn jemand unschuldig Schaden nimmt, dann ist er Spielball eines Schicksals, das wahllos zuschlägt: „Die Welt ist chaotisch. Folglich sind die Ereignisse in ihr unvorhersehbar. Und was ich nicht vorhersehen kann, das kann ich auch nicht kontrollieren.“ Die aus dieser Desillusionierung resultierenden Ohnmachtsgefühle können so lähmend sein, dass man versucht, sie durch eine Erneuerung der narzisstischen Illusion zu bewältigen. Und dies gelingt, indem bestritten wird, dass der behinderte Mensch tatsächlich unschuldig gewesen ist. Behinderte Menschen müssen damit rechnen, dass sie die Schuld an ihrer Behinderung selbst zugeschrieben bekommen, weil nichtbehinderte Menschen dadurch ihre bedrohte Kontrollillusion restabilisieren. „Hätte er nicht mit seinem riskanten Fahrstil seine Freundin beeindrucken wollen, hätte es keinen Unfall gegeben. So hat er selbst schuld“ ist eine Beschuldigung, die drei Implikationen hat: Es gibt (a) einen kontrollierbaren Kausalfaktor, den ich (b) durch meine Lebensführung vermeide, (c) was auch moralisch geboten ist. Also: „Ich hätte keinen Unfall gehabt, weil ich nicht mit einem riskanten Fahrstil meine Freundin beeindrucken will. Wer das will, lebt verkehrt“ – und hat folglich selbst schuld. Gelegentlich beschuldigen sich behinderte Menschen sogar selbst. Dann bestehen z.B. Opfer eines Autounfalls, die querschnittsgelähmt sind, gegen den objektiven Tatbestand darauf, selbst falsch gehandelt und deshalb Schaden genommen zu haben. Zum einen wehrt eine solche Selbstbeschuldigung die Angst ab, „blindem Zufall“ ausgeliefert zu sein. Zum anderen kann ein behinderter Mensch durch seine Selbstbeschuldigung befürchteten Beschuldigungen durch seine nichtbehinderten Mitmenschen zuvorkommen. (3) Mit der implizierten moralischen Norm wird eine dritte positive Illusion kenntlich: „Guten Menschen passiert Gutes, schlechten Menschen passiert Schlechtes“. Wird diese Illusion in der Konfrontation mit einem behinderten Menschen restabilisiert, dann führt das zu dem Umkehrschluss: „Er hat Schaden genommen, also muss es ein moralisch schlechter Mensch sein. Und damit geschieht ihm recht. Er verdient, was ihm passiert ist. Da ich selbst nicht behindert bin, darf ich mich ebenfalls zu Recht als moralisch guter Mensch fühlen, der es verdient hat, nicht zu Schaden gekommen zu sein.“ XXXX Erinnert sei an das oft zitierte Flensburger Urteil von 1992: Ein Gericht sprach einer Familie, die Urlaub in einem Hotel gemacht hatte, in dem auch behinderte Menschen logierten, Schadenersatz wegen entgangener Urlaubsfreude zu. Dieses Ereignis sowie vergleichbare skandalöse Ereignisse trugen mit dazu bei, dass 1994 ein Artikel in das Grundgesetz aufgenommen wurde, der ausdrücklich die Diskriminierung von behinderten Menschen verbietet: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ 2002 kam flankierend das „Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen“ hinzu. Solche gesetzgeberischen Maßnahmen erlauben eine Sanktionierung von Stigmatisierungen und Diskriminierungen. Die Entstehung von vorurteilsvollen und feindlichen Einstellungen verhindern sie erst einmal nicht. Ebenso wenig gewährleisten sie, dass die verbriefte Gleichstellung auch tatsächlich praktiziert wird. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass lediglich die Formen der Stigmatisierung und Diskriminierung subtiler werden. Die größten Fortschritte gibt es auf der Ebene des Diskurses. Sie lassen sich an einer veränderten Semantik ablesen. So folgte auf das „Jahr der Behinderten“, das die UNO 1981 ausgerufen hatte, im Jahre 2003 das „Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen“. Mit dieser semantischen Korrektur wurde deutlich gemacht, dass Behinderung kein Wesensmerkmal von Menschen ist. Manchen Betroffenen geht aber auch diese Korrektur nicht weit genug, weshalb sie dafür plädieren, von „Menschen mit Assistenzbedarf“ zu sprechen. In Verbindung mit der viel zitierte Formel „Normal ist, verschieden zu sein“ wird eine regulative Idee formuliert, die eine notwendige, sicher aber keine hinreichende Bedingung für eine veränderte soziale Praxis ist. XXXX Im Diskurs um Feindlichkeit gegen behinderte Menschen ist allerdings darauf zu achten, dass es zu keiner Romantisierung der Vergangenheit kommt. Nach allen historischen Untersuchungen, die ich kenne, war das soziale Verhältnis zwischen nichtbehinderten und behinderten Menschen nie frei von Ambivalenz. Eine selbstverständliche Inklusion von behinderten Menschen hat es wahrscheinlich nie gegeben. Sie ist eine moderne Forderung, die aus der Vorstellung resultiert, dass alle Menschen dieselben Rechte haben, selbstbestimmt und damit auch individualisiert zu leben. Sich auf diesem Hintergrund zu vergegenwärtigen, wie unwahrscheinlich eine selbstverständliche Inklusion von behinderten Menschen ist, hilft, das Ausmaß der notwendigen Anstrengungen zu ermessen und mit ständigen Rückschlägen zu rechnen. Denn Diskurs und Praxis kommen selten im gleichen Schritt voran. In der Regel hinkt die Praxis dem Diskurs hinterher. Die Psyche ist antiquierter, als es die Empörung gegenüber Missachtung und Diskriminierung erlauben möchte. Eine Lehrerin in einer Inklusionsklasse berichtet, wie schwer es ihr fällt, zu akzeptieren, dass sich eine geistig behinderte Schülerin ihre Lippen und ihre Fingernägel knallrot anmalt. Das tun nichtbehinderte Schülerinnen auch, aber das stört sie irritierenderweise wenig. In der Reflexion dieses Erlebens stellt sich heraus, dass es zwei Ebenen gibt: Auf der Oberfläche liegt ihre ängstliche Fürsorge, unbedingt sexuelle Anreize zu vermeiden, um sexuellen Übergriffen auf ihren Schützling vorzubeugen. Tiefer liegt das Gefühl, dass es für behinderte Menschen unbotmäßig ist, selbstbewusst auf sich aufmerksam zu machen. Die Lehrerin wird von ihren eigenen Reaktionen überrascht, da sie anders denkt, als sie fühlt. Auch wenn das soziale Verhältnis von nichtbehinderten und behinderten Menschen schon immer von Ambivalenz geprägt war, so sind es doch die jeweiligen historischen Rahmenbedingungen, die darüber entscheiden, ob die eine oder die andere Seite akzentuiert wird: Missachtung und Diskriminierung oder Achtung und Gleichberechtigung. In diesem Sinne ist es notwendig, Leitvorstellungen wie die des NeoLiberalismus scharf zu kritisieren, der den Wert eines Menschen an dessen Nützlichkeit bindet und Nützlichkeit als ökonomische Verwertbarkeit von Humankapital begreift. Denn daran gemessen, werden behinderte Menschen schnell als weniger wert oder sogar als wertlos wahrgenommen. Selbstbestimmung und Individualisierung zu bejahen, ist ein Kennzeichen moderner Gesellschaften. Traditionale Gesellschaften sind eher durch Heteronomie und Homogenität gekennzeichnet. Geraten beide regulative Ideen in den Sog eines forcierten NeoLiberalismus, zeigen sie ihre Schattenseiten. Aus Chancen werden Risiken: Galten behinderte Menschen lange Zeit als Menschen, die nicht fähig sind, für sich selbst zu sorgen, weshalb sie einer patriarchalen Fürsorge unterstellt werden müssten, so propagiert der Neo-Liberalismus auch für sie Selbstbestimmung und Individualisierung, was aber leicht zu einer Überforderung führt, wenn beide Ideen als Legitimation missbraucht werden, nicht länger fürsorglich zu sein. Wo dies geschieht, darf man eine rationalisierte Feindlichkeit vermuten. XXXX Soweit ich aussagefähige Untersuchungen kenne, ist die Feindseligkeit gegen behinderte Menschen, wie sie noch in den 1970er und 1980er Jahren festgestellt wurde, inzwischen zurückgegangen. An ihre Stelle tritt eine Haltung, die man als vorsichtige Toleranz gegenüber behinderten Menschen bei einem gleichzeitigen Plädoyer für einen eugenischen Schutz vor Behinderungen beschreiben kann. Eugenisch meint dabei die argumentative Position, dass es aufgrund der sich ständig erweiternden biotechnischen Interventionsmöglichkeiten alsbald bestimmte Behinderungen „gar nicht mehr geben müsste“. Im Klartext gesprochen: Werdende Eltern müssen befürchten, dass ihnen die Geburt eines behinderten Kindes als persönliches Versäumnis vorgeworfen wird. Und das auch institutionell: In den USA weigern sich schon Krankenversicherungen, behinderte Kinder zu versichern, Behinderung vor der Geburt diagnostiziert wurde oder diagnostiziert werden können: Ein Schwangerschaftsabbruch kostengünstiger! heute deren hätte käme Einer meiner Coaching-Klienten aus einem neo-liberal geprägten Berufsfeld, in dem ständige Kosten-Nutzen-Analysen der Mitarbeitenden die Unternehmenskultur prägen, lebt in einer Partnerschaft, in der seine Frau karrieremäßig ebenso eingespannt ist als er. Dennoch wünschen sich beide ein Kind, was ihnen aber bislang versagt bleibt. Vieles spricht für eine – belastungsbedingte – psychogene Unfruchtbarkeit. Beide halten von dieser Erklärung aber nichts. Stattdessen spielt er im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zu einer gelungenen „work-life-balance“ verschiedene Möglichkeiten durch, dennoch ein Kind zu bekommen und zwar ein gesundes Kind, da er sich von einem behinderten Kind fürchtet, mehr noch – sich fast sicher ist, auf „natürlichem“ Wege nichts anderes als ein behindertes Kind bekommen zu können! Am meisten fasziniert ihn die Vorstellung einer künstlichen Befruchtung, verbunden mit einer Präimplantationsdiagnostik, von der er bedauert, dass sie in Deutschland (noch) verboten ist. Im Neo-Liberalismus gibt es nicht nur die Angst, persönlich zu versagen, sondern tiefer liegend die Angst, einer Kosten-NutzenAnalyse unterzogen und für nutzlos, weil zu teuer, erklärt zu werden. Es mag diese Angst sein, die mein Coaching-Klient aufgrund seiner beruflichen Erfahrungen mit den Selektionsmechanismen seines Arbeitgebers auf seinen Kinderwunsch projiziert hat. XXXX Ungeachtet erheblicher Bemühungen in den vergangenen Jahrzehnten, die Kluft zwischen nichtbehinderten und behinderten Menschen zu überwinden, sind persönliche Kontakte nach wie vor eher die Ausnahme. Auch wenn es zutrifft, dass immer mehr Zugangsbarrieren abgebaut werden, und behinderte Menschen sich im Vergleich zu früheren Zeiten häufiger im öffentlichen Raum zeigen, die bloßen Begegnungsmöglichkeiten sagen nichts über die soziale Gestaltung dieser Begegnungen aus. Die Neigung, sich zu separieren, besteht weiterhin und das auf beiden Seiten. Sich nahe zu kommen, heißt nicht zwangsläufig, sich besser zu verstehen. Was Not tut, neben vielem anderen, ist die Bereitschaft, sich den verwirrenden Gefühlen zu stellen, die unweigerlich aufkommen und sich um politische Korrektheit nicht scheren. Um zum Abschluss noch einmal die Kinderbuchmutter zu zitieren: „Es ist wichtig, dass wir das kennenlernen und zu verstehen versuchen, wovor wir Angst haben.“