Artikel BAZ Miriam Sochi

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Artikel BAZ Miriam Sochi
Sport.Sotschi 2014.
| Mittwoch, 19. Februar 2014 | Seite 34
Gekommen, um
nichts zu sagen
Von Dominic Willimann, Adler
Suizidgedanken und Verschwörungen. Claudia Pechstein
möchte sich endlich aufs Sportliche konzentrieren. Foto Keystone
Ein Leben unter Verdacht
Claudia Pechstein kämpft heute um Gold, fast alles dreht sich aber um das Thema Doping
Von Reto Kirchhofer, Sotschi
Sie hatte von allem genug. Genug Aufmerksamkeit, genug Erfolg, genug vom
Leben. Das Abschieds-SMS war geschickt, der Sprung von der Brücke
schien der einzige Ausweg zu sein. Es
war dieser eine kurze Moment in ihrem
Leben, in dem sie nicht mehr bereit war,
zu kämpfen. Claudia Pechstein aber
sprang nicht – und heute ist sie eine
Kämpferin wie eh und je. In der Adler-Arena strebt die deutsche Eisschnellläuferin über 5000 Meter den Gewinn
ihrer zehnten olympischen Medaille an.
Eigentlich wollte sich die 41-Jährige in
den Tagen vor dem Rennen ganz auf
das Sportliche fokussieren – aber auch
in Sotschi holen sie die Dämonen der
Vergangenheit ein.
Pechstein wuchs in Ost-Berlin auf,
trainierte im Sportforum Hohenschönhausen, wo «jeder Pflasterstein gedopt»
sei, wie der Dopingexperte Werner
Franke einmal gegenüber der «Zeit» gesagt hat. Schon als Jugendliche wollte
Pechstein immer gewinnen, überall die
Beste sein; sie war hyperaktiv, vom
Sport besessen. Früh kamen erste Erfolge, 1992 gewann sie Olympiabronze.
Acht Olympiamedaillen, fünf goldene,
sollten folgen – und die Eisschnellläuferin zur erfolgreichsten deutschen Winterolympionikin machen.
Holländische
Dominanz
Eisschnelllauf: Das Königreich
feiert weiteren Dreifachsieg
Sotschi. Die holländischen Festspiele
im Eisschnelllauf gehen weiter. Das Königreich feierte auch über 10 000 Meter
einen Dreifachsieg. Gold holte aber
nicht der Topfavorit Sven Kramer, sondern Jorrit Bergsma.
Bergsma, der Bronzemedaillengewinner über 5000 Meter, zeigte gestern
ein unglaubliches Rennen. Der 28-Jährige lief die letzten fünf Runden unter
30 Sekunden und verbesserte mit
12:44,45 Minuten den Olympia-Rekord
gleich um mehr als 14 Sekunden. Den
Weltrekord von Kramer aus dem Jahr
2007 verpasste er dabei lediglich um
2,76 Sekunden, wobei dieser in der Höhenluft von Salt Lake City erzielt worden war.
Bronze sicherte sich Bob de Jong,
der bereits zum vierten Mal auf dieser
Strecke auf dem Olympia-Podest
stand – 2006 hatte er Gold geholt. Damit feierten die Holländer bereits den
vierten Dreifach-Sieg in Sotschi im Eisschnelllaufen, den dritten bei den Männern. Sie haben nun 19 (6 goldene) von
insgesamt 27 Eisschnelllauf-Medaillen
gewonnen. SI
Pechstein war eine Glücksmarie gewesen, bis die Nacht vom 7. auf den 8.
Februar 2009 ihr Leben veränderte. In
einer Blutprobe anlässlich eines Wettkampfs in Hamar (No) wurde ein erhöhter Wert an Retikulozyten gemessen. Es handelt sich um Vorläuferzellen
roter Blutkörperchen. Im Urin waren
keine Spuren verbotener Substanzen zu
finden, dennoch wurde Pechstein für
zwei Jahre gesperrt. Es handelte sich
um den ersten Fall, bei dem eine Athletin aufgrund mutmasslicher Blutmanipulation und somit eines indirekten Doping-Beweises sanktioniert wurde.
Nachdem die niedergeschlagene
Athletin ihrem Manager erwähnte Abschiedsnachricht geschickt hatte, reagierte dieser unverzüglich. Die deutlichen Worte am Telefon reichten, um die
Athletin bei der Ehre zu packen. An diesem Tag hat ihr Kampf gegen die Dopingsperre begonnen; gegen die vermeintliche Verleumdung, gegen all ihre
Kritiker. Ihr wichtigstes Rennen war
lanciert – und ist immer noch im Gange.
Pechstein und ihr Anwalt forschten
nach Gründen für die hohen Retikulozytenwerte. Eine Blutkrankheit wurde
vermutet. Das Sportgericht der Internationalen Eislaufunion ISU sperrte sie
offiziell. Es folgten weitere Gutachten,
der Schritt zum Internationalen Sportgerichtshof (CAS), welcher das Urteil
bestätigte. Ein paar Tage später wurden
von der Welt-Anti-Doping-Agentur
neue Richtlinien eingeführt, die besagen, dass künftig neben Retikulozytenwerten neun zusätzliche Blutwerte herangezogen werden müssen. Nach diesen Weisungen würde Pechstein heute
nicht mehr verurteilt werden. Der
Kampf der Athletin gegen das System
ging weiter. Weil sie wegen ihrer Sperre
die Spiele in Vancouver verpasste, forderte sie von der ISU vier Millionen
Euro Schadenersatz. Ein Münchner
Arzt diagnostizierte eine vom Vater vererbte Blutanomalie und warf ihr somit
einen möglichen Rettungsanker zu –
doch das Schweizer Bundesgericht wies
Pechsteins Rekurs ab.
Schlechtes Klima und viel Zoff
In Sotschi tritt Pechstein letztmals
bei Olympischen Spielen an. Auch am
Ufer des Schwarzen Meers, fernab ihrer
Heimat, verlief die Vorbereitung auf ihre
Paradedisziplin 5000 Meter nicht ohne
Misstöne. Sie erlitt einen Schwäche­
anfall, begründete diesen an der Pressekonferenz mit einem Besuch im Krankenhaus: «Ich hatte Probleme mit den
Blutwerten, wollte diese überprüfen lassen, aber die Krankenschwester hatte
Mühe bei der Blutentnahme, da wurde
mir übel.» Journalisten der «Süddeutschen» wollten es genauer wissen, hak-
ten beim Deutschen Olympischen Sportbund und bei dessen Facharzt nach.
Dies bewog die erzürnte Athletin, auf
ihrer Homepage während der Spiele
eine über 10 000 Zeichen (!) umfassende Stellungnahme zu veröffentlichen
und die Rechercheure anzuprangern.
Auch sonst scheint das Klima rund um
die kämpferische, aggressive, verbissene, unangenehme Olympionikin trotz
subtropischer Brise schlecht zu sein: Sie
zofft sich öffentlich mit Teamkollegin
Stephanie Beckert, wittert hinter jeder
künstlichen Palme eine Verschwörung.
In drei Tagen wird Claudia Pechstein 42 Jahre alt. Ihre Zielsetzung für
das heutige Rennen hat sie revidiert.
Nach Platz 4 über 3000 Meter hatte
Pechstein gesagt, sie wolle nun über die
5000 Meter gewinnen. Vorgestern sagte
die Deutsche aber: «Es wäre vermessen,
von einer Medaille auszugehen.» Mit einem Medaillengewinn würde Pechstein
zur ersten Athletin, die an sechs Winterspielen mindestens eine Medaille gewonnen hat. Holte sie gar Gold, hätte
sie Lidia Skoblikowa als erfolgreichste
Eisschnellläuferin in der Geschichte
eingeholt. Es gäbe also durchaus etliche
sportliche Aspekte, über die im Vorfeld
berichtet werden könnte. Bei Claudia
Pechstein aber geht es eher früher als
später immer wieder um das eine – sie
lebt ein Leben unter Verdacht.
Simon Ammann hat Gesprächsbedarf.
Und ruft die Schweizer Medienschaffenden drei Tage nach seinem missglückten Auftritt von der Grossschanze
im Olympic Park zusammen. Bis auf den
letzten Platz ist die obere Etage im
House of Switzerland besetzt, der Raum
ist proppenvoll. Die Mehrheit mutmasst,
dass er per Ende Saison zurücktritt.
Einige glauben, er teile mit, wegen der
WM in Falun noch eine Saison anzuhängen. Die wenigsten gehen davon aus,
dass er gar nichts sagt. Denn Ammann
ist einer, der mit den Medien umzugehen weiss. Er kennt die Mechanismen
der Branche und hat ein gutes Gespür
dafür, sich medial sinnvoll mitzuteilen.
Diesmal ist die Aussagekraft etwas gar
mager. Mit seinem «zu meinem Rücktritt gibt es noch nichts zu sagen»
nimmt er der Veranstaltung jegliche
Brisanz, noch ehe sie richtig begonnen
hat. Vor dem Saisonfinale in Planica
werde er sich in dieser Causa ganz
bestimmt nicht äussern. Punkt.
Stattdessen rollt Ammann nochmals
seine Geschichte der letzten drei Jahre
auf. Wie er in den Ferien 2011 seiner
Frau gesagt habe, dass er ohne Skispringen nicht sein könne. Wie er im Sommer 2012 erstmals die Schanze in
Esto-Sadok besucht habe und wie sehr
ihn dieses Grün rund um den Schanzentisch an Japan, und somit an Nagano,
erinnert habe. Wie intensiv er sich mit
dem Sotschi-Schanzenprofil beschäftigt
habe. Und wie er sich mit den Tüfteleien rund um seinen Innenschuh nochmals mit einem letzten Projekt vor Russland auseinandergesetzt habe.
Der Traum des Doppel-Doppelolympiasiegers, sich mit einer Medaille von der
Olympia-Bühne zu verabschieden, hat
sich aber jäh in Luft aufgelöst. «Es fällt
mir schwer, ein Fazit von Olympia zu
ziehen», sagt der 32-Jährige. Die Enttäuschung ist noch immer spürbar.
Nicht mehr so sehr wie am Samstag
nach dem Springen, doch es ist noch
nicht der alte Ammann, der da sitzt:
«Mein Panzer hat Risse bekommen, der
olympische Funke ist erloschen», sagt er
nach seiner dreijährigen Sotschi-Reise.
Die Saison werde er aber auf alle Fälle
beenden. «Ich fühle mich dazu verpflichtet.» Dann steht er auf und verlässt nach einer Viertelstunde den Saal.
Die spannendste Frage aber bleibt im
Raum zurück. Unbeantwortet.
Mein Olympia: Miriam Anken, Reiseberaterin Globetrotter
«Ich bin rund um die Uhr erreichbar»
Aufgezeichnet von
Dominic Willimann, Adler
Weist den Fans den Weg. Miriam
Anken, Schweizer Reiseberaterin in
Sotschi. Foto Dominic Willimann
«Seit dem 1. Februar bin ich nun als
Vertretung meines Arbeitgebers in Sotschi und kümmere mich um unsere
Kunden. Zwischendurch waren wir zu
zweit, nun bin ich bis zum Ende der
Spiele die Einzige unseres Teams, die
für die Kundenbetreuung da ist. Alle,
die über uns gebucht haben, kennen
meine russische Handynummer, und
deshalb bin ich rund um die Uhr
erreichbar. Es kann also vorkommen,
dass bei mir das Telefon mitten in der
Nacht klingelt. Die Kontaktaufnahmen
sind im Vergleich zum Beginn der
Spiele aber weniger geworden. Da
kamen Anrufe von Leuten, die Hilfe
brauchten, um ein Taxi zu bestellen.
Mit unseren Hotels, mit denen wir
zusammenarbeiten, sind wir zufrieden.
Bis auf eine Ausnahme: In Esto-Sadok
ist ein Hotel gebaut worden, das auf der
anderen Seite des Flusses liegt und das
daher vom Bahnhof per Brücke erreicht
werden sollte. Doch die Brücke wurde
nie gebaut. So müssen die Gäste, die in
diesem abgelegenen Haus logieren,
jeweils mit dem Taxi zum Bahnhof oder
zur nächsten Bushaltestelle gefahren
werden. Das ist umständlich. Trotz der
Rund-um-die-Uhr-Präsenz bekomme
ich zwischendurch das Sportliche mit.
So verfolgte ich die Abfahrt der Männer
live vor Ort.
Vor vier Jahren war ich privat in Vancouver. Der Grossanlass in Sotschi ist in
meiner Funktion als Reiseberaterin
mein erstes Olympia-Abenteuer. Ich bin
hier, da ich Russland auch etwas kenne.
Ich verbrachte schon ein paar Tage in
Moskau und St. Petersburg, und ich
fuhr einst mit der Transsibirischen
Eisenbahn durchs Land. Russland ist
nicht gleich die Schweiz, das muss man
wissen, wenn man hierher kommt. Das
Spezielle ist, dass sich die Regeln hier
täglich ändern können. Deshalb habe
ich einige Kontakte, bei denen ich mich
melden kann, wenn ich nicht mehr weiterkomme. Da sich meine Russischkenntnisse in Grenzen halten, ist es von
Nutzen, wenn ein Einheimischer vermitteln kann. Das Wichtigste ist jedoch,
dass man flexibel bleibt und improvisiert, wenn es nicht nach Plan läuft.
Mehrere Hundert Supporter haben die
Reise nach Sotschi mitgemacht – etwa
gleich viele also wie 2010 in Vancouver.
Ein Besuch an den Sommerspielen in
London war gefragter, da die Destination in kürzester Zeit von der Schweiz
aus erreicht werden kann. Da ist es
nachvollziehbar, dass mehr Arrangements verkauft werden. Nebst Fans
haben wir aber auch zusammen mit
Fis-Travel die Reisen von Sportlern und
Funktionären diverser Nationen organisiert. Mit uns gereist ist etwa Tucker
Murphy, der Langläufer von den Bermudas, der bei der Eröffnungsfeier in
Shorts ins Stadion einlief. Insgesamt
sind 35 Charterflüge für die Olympischen Spiele und die Paralympics von
uns gebucht worden. Dies ist mit ein
Grund, weshalb ich immer wieder mehrere Stunden am Flughafen von Adler
verbringe, Tickets aushändige und
schaue, dass alle den richtigen Flieger
erwischen. Bis jetzt hat alles gut
geklappt, nur ein einziger Koffer hat es
nicht auf dem direkten Weg nach Russland geschafft. Eine Herausforderung
werden die anstehenden Rückflüge, da
das Gros der Kunden am Wochenende
oder am Montag heimfliegt. Meine
Arbeit in Sotschi endet dann, wenn der
letzte Kunde im Flugzeug sitzt. Ich
selbst fliege am Dienstag heim.»