Museumsführer Sammlung Scharf-Gerstenberg

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Museumsführer Sammlung Scharf-Gerstenberg
Berlin, den 10. Juli 2008
Museen Charlottenburg
Eröffnung der Sammlung Scharf-Gerstenberg
Schloßstr. 70, 14059 Berlin
Öffnungszeiten ab 11.7.2008: Di – So 10 – 18 Uhr
Pressekonferenz, Do 10. Juli 2008, 11 Uhr
Ort: Sammlung Scharf-Gerstenberg, Eingang: Schloßstraße, Neues
Eingangsgebäude/Foyer
Surreale Welten
Sammlung Scharf-Gerstenberg
Publikation: Museumsführer zur Sammlung Scharf-Gerstenberg
Prestel Verlag
Vorwort
Unter dem Titel Surreale Welten eröffnen die Staatlichen Museen zu Berlin die
Sammlung Scharf-Gerstenberg. Die Kollektion aus hochkarätigen Werken der
Surrealisten und ihrer Vorläufer reicht von Piranesi und Goya über Klinger und
Redon bis zu Dalí, Magritte, Ernst und Dubuffet. In direkter Nachbarschaft zum
Charlottenburger Schloss gelegen, bildet die Sammlung Scharf-Gerstenberg
gemeinsam mit dem Museum Berggruen (Picasso und seine Zeit) ein neues
Zentrum für die Kunst der Klassischen Moderne in der Hauptstadt. Darüber hinaus
demonstrieren die beiden sich gegenüberliegenden Häuser die glückliche
Verbindung zwischen privatem Sammlertum und öffentlicher Institution. Die
Sammlung Scharf-Gerstenberg zeigt die Bestände der »Stiftung Sammlung Dieter
Scharf zur Erinnerung an Otto Gerstenberg«. Den Ausgangspunkt bildet die um
1910 entstandene Sammlung von Otto Gerstenberg (1848 – 1935). Dieser hatte in
Berlin eine der größten und wichtigsten Gemälde- und Grafiksammlungen seiner
Zeit zusammengetragen, deren Spektrum von den Alten Meistern bis zum
Impressionismus reichte.
Die Sammelleidenschaft Otto Gerstenbergs wurde von seinen Enkeln Walther
Scharf (1923 – 1996) und Dieter Scharf (1926 – 2001) weitergeführt. Letzterer
übernahm die grafischen Zyklen von Goya, Méryon und Manet als Fundament
seiner eigenen Kollektion, die sich auf das Fantastische und Surreale konzentrierte.
Zielstrebig und konsequent baute er eine herausragende Sammlung auf. Bereits im
Jahr 2000 war diese Kollektion unter dem Titel Surreale Welten mit großem Erfolg
in der Neuen Nationalgalerie präsentiert worden. Die Ausstellung hatte während
ihrer ersten drei Stationen – der Hamburger Kunsthalle, dem Von der HeydtMuseum in Wuppertal und der Kunsthalle Tübingen – den Untertitel Meisterwerke
aus einer Privatsammlung getragen. Erst bei ihrer letzten Präsentation, die das
Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin in der Neuen Nationalgalerie
einrichtete, gab der Sammler Dieter Scharf sein Inkognito auf, tat die Umwandlung
großer Teile seiner Sammlung in eine Stiftung kund und verwies mit der Hommage
an seinen Großvater Otto Gerstenberg darauf, dass seine Sammlung ihre Wurzeln
in Berlin hat.
Ihren Bestimmungsort hat die Sammlung Scharf-Gerstenberg nun in einem in den
1850er Jahren von dem Architekten Friedrich August Stüler errichteten
Gebäudeensemble gegenüber dem Schloss Charlottenburg. Die historischen
Bauteile, der so genannte östliche Stülerbau, der angegliederte Marstall und die
Remise, wurden ursprünglich für die Pferde, Kutschen und Leibgarde König
Wilhelms IV. geplant.
Zwischen 1967 und 2005 wurden sie durch das Ägyptische Museum genutzt und
um den in den 1980er Jahren entstandenen Sahurê-Saal erweitert. Nach dem
Auszug des Ägyptischen Museums und dessen Rückkehr auf die Museumsinsel
wurde der Gesamtkomplex unter der Leitung des Bundesamtes für Bauordnung und
Raumwesen in Abstimmung mit der Denkmalpflege durch das Architekturbüro
Sunder-Plassmann für die Präsentation von moderner Kunst umgebaut.
Als neues Bauelement fügten die Architekten einen großzügig verglasten
Eingangsbereich mit Café hinzu, sodass der Hof zwischen der Sammlung ScharfGerstenberg, dem Heimatmuseum Charlottenburg, der Abguss- Sammlung Antiker
Plastik und den Naturwissenschaftlichen Sammlungen
Berlin als städtebauliches Ensemble neu erlebbar wird. Die Besucher betreten die
Sammlung Scharf-Gerstenberg durch den neuen Eingang in der Fuge zwischen den
beiden historischen Bauteilen. Zur Rechten empfängt sie der große, fließende Raum
des Marstalls mit seinen gusseisernen Säulen. Hier sind die ›klassischen‹
Surrealisten zu sehen, wobei der Schwerpunkt auf Gemälden und Skulpturen von
Max Ernst, René Magritte, André Masson, Salvador Dalí und Yves Tanguy liegt. Es
schließen sich die beeindruckenden Werke von Jean Dubuffet an, welche den Weg
vom Surrealismus in die Kunst der Nachkriegszeit weisen. Zur Linken befinden sich
im Stülerbau, um die Rotunde angeordnet, kleine, kabinettartige Räume, in denen
die historischen Vorläufer des Surrealismus gezeigt werden. Im Erdgeschoss führt
der Weg von Piranesi und Goya bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Darüber
dominieren die eher kammermusikalischen Bildwerke des 20. Jahrhunderts mit
großen Konvoluten von Paul Klee, WOLS und Hans Bellmer. Erweitert wird das
Spektrum der gezeigten Kunst durch ein Filmprogramm, das klassische
surrealistische Filme von Luis Buñuel und Salvador Dalí ebenso umfasst wie Filme
zeitgenössischer Künstler, die auf den Surrealismus Bezug nehmen oder dessen
formale Mittel verwenden. Die Filme werden im Sahurê-Saal gezeigt, in dem noch
die Säulen des gleichnamigen antiken Tempels stehen. Sie zählen ebenso wie das
Kalabscha-Tor zur Sammlung des Ägyptischen Museums und werden ihren
endgültigen Aufstellungsort im vierten Ausstellungsflügel des Pergamonmuseums
finden. Bis zu dessen Fertigstellung jedoch bilden die beiden Großarchitekturen ein
surreales Element in der Sammlung Scharf-Gerstenberg. Die Surrealen Welten
wurden von Dieter Scharf noch bis zu seinem Tode mit großem Elan ergänzt,
zuletzt durch Werke von Man Ray und Salvador Dalí.
Seine Tochter Julietta Scharf, welche als Vorsitzende des Vorstandes der »Stiftung
Sammlung Dieter Scharf zur Erinnerung an Otto Gerstenberg« die Verantwortung
für Erhaltung und Pflege der Sammlung übernommen hat, brachte Werke von
Gerhard Altenbourg, Max Klinger, Michel Nedjar, André Thomkins und Christian
d’Orgeix ein sowie für das Film programm (auf Anregung des Kurators Dieter
Scholz) Videoarbeiten von Chris Larson und Rosemarie Trockel. Außerdem gab es
eine umfangreiche Zustiftung durch den Künstler Christian d’Orgeix, dem wir dafür
ebenso zu großem Dank verpflichtet sind wie Wolfgang Wittrock, auf dessen
vielfältige Unterstützung auch die Sammlung Scharf-Gerstenberg seit Langem
zählen kann.
Mit einem zunächst auf zehn Jahre befristeten Dauerleihvertrag konnte die
»Stiftung Sammlung Dieter Scharf zur Erinnerung an Otto Gerstenberg« für die
Staatlichen Museen zu Berlin gewonnen werden. Die thematisch angelegte
Sammlung bildet eine ideale Ergänzung zu der auf die vier Künstlerpersönlichkeiten
Matisse, Picasso, Klee und Giacometti konzentrierten Sammlung von Heinz
Berggruen auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Durch die Sammlung ScharfGerstenberg erhält Berlin ein weiteres Kunstjuwel, und der Museumsstandort
Charlottenburg wird zu einem Zentrum jener Klassischen Moderne, die besonders
von der Kunst Frankreichs entscheidend beeinflusst wurde. Die Kunst Frankreichs
ist mit Meisterwerken von Watteau und Chardin aus der Sammlung von Friedrich
dem Großen ja auch im Schloss Charlottenburg präsent. Somit entwickelt sich der
Museumsstandort Charlottenburg in Zusammensetzung der Stiftung Preußische
Schlösser und Gärten, des Museum Berggruen und der Sammlung ScharfGerstenberg zu einem einzigartigen ›quartier français‹ der Künste mitten in Berlin.
Wir sind Dieter Scharf, seiner Frau Hilde Scharf, ihrer Tochter Julietta Scharf sowie
der von Dieter Scharf gegründeten Stiftung und ihrem Kuratorium für die so
großzügige mäzenatische Gesinnung zu Gunsten der Berliner Nationalgalerie, des
Berliner Kupferstichkabinetts und aller Kunstfreunde Berlins von Herzen dankbar.
Damit schließt sich ein Kreis, der einst in Berlin mit der legendären Sammlung von
Otto Gerstenberg so großartig begonnen hat.
Peter-Klaus Schuster
Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin
WERKBESCHREIBUNGEN
Surreale Welten
Zur Sammlung Scharf-Gerstenberg (aus dem Prestel-Museumsführer)
Im Museum der Sammlung Scharf-Gerstenberg schließen sich gleich mehrere
Kreise: Zum einen bedeutet es die Erfüllung eines Herzenswunsches meines Vaters
Dieter Scharf, einen Großteil seiner Sammlung der Öffentlichkeit und der Forschung
zugänglich zu machen, zum anderen kehrt mit ihren Beständen etwas nach Berlin
zurück, das hier – biografisch wie substanziell – seinen Ursprung hat. Denn auch
wenn das Museum die Resultate der Sammlertätigkeit meines Vaters zeigt, wäre
das ohne einen anderen Mann gar nicht möglich gewesen: seinen Großvater Otto
Gerstenberg (1848 – 1935). Dieser war Gründer und langjähriger Generaldirektor
der Victoria-Versicherung und begann vor über 100 Jahren in Berlin mit dem
Aufbau einer der damals bedeutendsten deutschen Kunstsammlungen. So besaß er
unter anderem fast das vollständige grafische Werk von Albrecht Dürer, Rembrandt
und Goya. Später kamen moderne Radierungen und Lithografien hinzu, unter
anderem von Honoré Daumier sowie das vollständige litho- grafische OEuvre von
Henri de Toulouse- Lautrec. In den frühen 10er Jahren des 20. Jahrhunderts
begann er, sich auf die französischen Künstler der Moderne zu konzentrieren und
trug in seiner Villa in Berlin-Dahlem eine exquisite Impressionisten-Sammlung
zusammen. Teile davon kannte mein Vater Dieter Scharf bereits aus Kindertagen
und diese frühe Nähe zur Kunst begründete sein lebenslanges Interesse und seine
Leidenschaft, die zum Aufbau einer eigenständigen Sammlung führte. Nach dem
Tod seiner Mutter Margarethe Scharf 1961 erbten er und sein Bruder Walther die
nach dem Krieg verbliebenen Stücke der großväterlichen Sammlung (in den Wirren
des Zweiten Weltkrieges war viel verloren gegangen und zerstört worden, einige
Stücke wurden nach Russland abtransportiert und sind heute in Sankt Petersburg
und Moskau zu sehen) und machten sie zum Ausgangspunkt
eigener Sammlungen – Walther Scharf in Oberstdorf im Allgäu, wo die Familie ein
Haus besaß, und mein Vater in Hamburg. Schon 1951 hatte er sein erstes Aquarell
von Paul Klee erworben, ein Künstler, den er besonders schätzte, und der mit 33
Werken heute innerhalb der Stiftung eine Art Sammlung in der Sammlung bildet.
Doch er ließ sich Zeit– sowohl mit der Entwicklung seines Sammlungsprinzips als
auch mit dem Erwerb. Der rote Faden, der sein Sammeln ist das Fantastische oder
besser gesagt: die Frage nach der Realität und ihren künstlerischen Brechungen.
Was er zusammengetragen hat, zeigt und erklärt
– uns und ihm – dass es Surreale Welten durchaus jenseits des Surrealismus gibt.
Und vor allem schon immer gab. Auf diese Weise ist ein spannungsreiches
Spektrum zusammengekommen von Piranesi bis Victor Hugo, von Klee bis WOLS,
von Édouard Manet bis Antoni Tapiès, von Odilon Redon bis Jean Dubuffet. Viele
Künstler und Werke hat mein Vater selbst entdeckt, auf andere stieß er im
Austausch mit Freunden, Bekannten, Kunsthändlern. Doch so, wie ich ihn erlebte,
war er stets vorsichtig und auf eine fast altmodische Weise reserviert gegenüber
dem Schnellen, allzu Schlüssigen – erst wenn er selbst verstanden hatte, vom
Bezug einer Arbeit zu seinem Thema überzeugt war, erwarb er sie. Bis zu seinem
Tod 2001 aktiv begleitet wurde er dabei von meiner Mutter, der Grafikerin Hilde
Scharf. Der Name der Stiftung, des gesamten Museums erschließt sich also als das,
was er eben auch ist: eine Hommage an
den Großvater, der den Grundstein für das Kunstinteresse meines Vaters und für
seine Sammlung legte.
Die kurz vor seinem Tod gegründete »Stiftung Sammlung Dieter Scharf zur
Erinnerung an Otto Gerstenberg« wird von mir und zwei Vorstandsmitgliedern
geleitet. Zur Seite steht mir der Stiftungsbeirat, bestehend aus
Museumsfachleuten, Juristen, Journalisten und vor allem Freunden, die dafür Sorge
tragen, dass die Intention meines Vaters, die Surrealen Welten vielen zu
erschließen, verwirklicht wird.
In diesem Sinne wünscht die Stiftung fantastische Erlebnisse, Eindrücke und
Einsichten.
Julietta Scharf
Ausgewählte Werke der Sammlung Scharf-Gerstenberg
Hans Bellmer
Selbstbildnis
1942
Gouache, Papier auf Holz, 32,7 × 46
Ziehen die Werke Bellmers mit ihren erotischperversen Fantasien für gewöhnlich
den Blick des Betrachters an und lassen ihn zum Voyeur werden, so kehren sich
hier die Dinge um, denn nun schaut der Künstler selbst dem Betrachter entgegen.
Mit festem, ja fast dämonischem Blick fixiert er ihn. Der Kopf, der wie eine
Geistererscheinung aus den Farbflecken hervorschwebt, ist ins Dreiviertelprofil
gedreht, das Gesicht verhärmt und von Flecken übersät. Wie unter Wasser tauchen
in der olivgrünen, von Luftbläschen durchsetzten F arbe, die noch immer zu fließen
scheint, organische Formen auf, die an fleischige Blütenkelche und verfaulende
Granatäpfel erinnern, beides Symbole, die gleichermaßen auf die zentralen Themen
Bellmers – Erotik und Verwesung – verweisen. Die Gouache entstand mit einem
Abklatschverfahren – Décalcomanie –, das Bellmer bei Max Ernst und Oskar
Domínguez kennenlernte. Dabei erzielte er seine fantastischen Blätter auf zwei
Wegen: Zum einen fertigte er erst den Abklatsch an, um ihn dann mit der
Zeichnung auszudeuten; zum anderen legte er die Zeichnung vorher an, um sie
dann mit nassen Farben und darauf abgezogenen Blättern zu vervollständigen.
Bellmer schuf auf diese Weise viele Porträts von Freunden und Bekannten und
verdiente sich damit zunächst seinen Lebensunterhalt. In seinem OEuvre, das
hauptsächlich aus Grafiken und Fotografien besteht, nehmen die DécalcomanieGouachen der frühen 1940er Jahre einen wichtigen Platz ein.
Max Ernst
Le triomphe de l’amour / fausse allégorie
Der Triumph der Liebe / falsche Allegorie 1937
Öl auf Leinwand, 54,5 × 73,5
Waren Vögel schon lange thematischer Bestandteil im Werk von Max Ernst, so
verfremdet sich ihre Morphologie mit der voranschreitenden Dekade der 1930er
Jahre zunehmend hin zu bedrohlichen Fabelwesen. Im Triumph der Liebe /
falsche Allegorie sind diese Figuren in einer merkwürdig verschlungenen
Prozession monumental an den vorderen Bildrand gerückt. Den Hintergrund
dominiert der tiefe dunstig-kühle Horizont, der im linken Bilddrittel von einer
kargen Gebirgskette durchschnitten wird. Die eigentümlichen Zwitter- und
Fantasiewesen erheben sich vor diesem Hintergrund im Gegenlicht und sind
teilweise so verschattet, dass man sie kaum noch ausmachen kann. Das lang
gestreckte Ungetüm, die ganze Breite des Bildvordergrundes einnehmend: fährt
es auf Glücksrädern einher? Der Schattenriss der stehenden Figur verwirrt noch
mehr: ein Engel, dessen rechter Flügel amputiert wurde? Der existente Flügel:
Gefieder oder eine scharfkantige Sichel? Die nackte Frau auf den
zusammenwachsenden Bäumen, der einzigen Vegetation in den Bergketten:
das Engelungetüm um Gnade bittend oder ihm huldigend? Diese Ambivalenzen
verunsichern den Betrachter zutiefst und tragen mit der kühlen Farbigkeit zur
apokalyptischen Ausstrahlung des Bildes bei. Max Ernst verneinte für sein Werk
die Frage nach einer allgemeingültigen Aussage oder Interpretation. Hier
allerdings entsteht der Eindruck, dass diese Intention aufgegeben wurde. Die
Forschung hat denn auch gemeinhin die Bilder der Jahre 1936 – 37 als Kritik
am Spanischen Bürgerkrieg sowie der politischen Entwicklung in Deutschland
gewertet. Fast prophetisch mutet
der alternative Titel eines Werks aus derselben Zeit an: Barbaren gen Westen
ziehend. Unwillkürlich denkt man an den Einmarsch der Deutschen in die BeneluxStaaten und Frankreich 1940. Ernst hatte bereits aus seiner Abscheu gegen den
Ersten Weltkrieg, den er als aktiver Teilnehmer miterlebt hatte, keinen Hehl
gemacht. Der Triumph der Liebe scheint nur ein weiteres Spiel zwischen Titel und
Bildinhalt gewesen zu sein, wurde aber von Ernst im selben Atemzug revidiert,
falsche Allegorie, so als sei er sich der Ungeheuerlichkeit der Diskrepanz noch
während der Namensgebung bewusst geworden. Künstler wie Betrachter kommen
zur bitteren Erkenntnis: Die Liebe triumphiert nicht, nicht im Spanischen
Bürgerkrieg, nicht am Vorabend des Zweiten Weltkrieges.
Odilion Redon
Hommage à Goya
Um 1895
Öl auf Karton, auf Leinwand montiert, 65 × 54
Zehn Jahre vor Entstehung dieses Blattes hatte Odilon Redon sein lithografiertes
Album Hommage à Goya herausgegeben, das beispielsweise den Dichter Stéphane
Mallarmé zu enthusiasmieren vermochte. Magie und Hexerei sind Teil einer sehr
unbestimmten Suche nach dem Unbekannten; das Vage wird zum Prinzip, die
Halluzination hat System. In jenem Album findet sich als sechstes Blatt ein ernster
Mädchenkopf mit eng anliegendem Haar und delikatem
Haarschmuck. Dieses Motiv greift Redon in vorliegendem Blatt wieder auf, aber er
dreht den nunmehr halslosen Kopf im Ganzen wie eine Scheibe aufwärts und lässt
die Pupille nahezu unsichtbar werden, sodass der Augapfel zu blickloser Weiße
wird: ein Fenster ins Jenseits. Bei Moreau hatte Redon die Leuchtkraft einer Palette
studieren können, die mit wenigen strahlenden Tönen und Partien operiert, denen
ein ganz besonderer Glanz verliehen wird, indem sie neben dunkeltonigen und
schweren Partien mit opakem mystischem Schimmern stehen. Die Relation der
Palette, das auffällige Aufscheinen der Glanzpunkte – das hat eine Kostbarkeit, wie
man sie von Möbeln des 18. Jahrhunderts mit ihren Schildpatt- und
Holzeinlegearbeiten kennt, aus deren Dunkeltonigkeit dann Perlmutt und Silber mit
kryptischem Glanz heraustreten. Eine solch irritierende und irisierende Noblesse ist
auch dem himmelwärts schauenden Kopf eigen. Gleich einem jungfräulich reinen
Wesen schwebt das Bildnis ätherisch daher, alles Irdische – Leib wie Blickbezug –
hinter sich lassend. Doch was bei Goya in den Desastros und den Caprichos
dämonisch erscheint, wird bei Redon gleich einer Fata Morgana ins Magische und
Transzendentale transferiert, es wird poetisiert, doch nicht verharmlost: Visionen
hier wie dort.
Kontakt in der Sammlung Scharf-Gerstenberg
Staatliche Museen zu Berlin – Nationalgalerie
Sammlung Scharf-Gerstenberg, Schloßstr. 70, 14059 Berlin
Dr. Silke Krohn
Telefon: (+49) 030/34357314
E-Mail: [email protected]