Das jüdische religiöse Leben in Wien in der Zwischenkriegszeit

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Das jüdische religiöse Leben in Wien in der Zwischenkriegszeit
Das jüdische religiöse Leben in Wien in der
Zwischenkriegszeit
Shlomo Spitzer
Einleitung
Das jüdische Leben in Wien erfuhr in seiner jahrhundertelangen Geschichte mehrere
Zäsuren. Das sogenannte erste Ghetto fand 1420 mit der Vertreibung der Juden aus
der Stadt sein Ende, das zweite 1670. In jeder dieser beiden Zeitabschnitte waren in
Wien bedeutende rabbinische Persönlichkeiten tätig. Wir nennen hier nur Rabbi
Jizchak Or Sarua, Rabbi Abraham Klausner, Rabbi Jeschajahu Horowitz (genannt
Sch'la) und sein Sohn Rabbi Schabbatai Scheftel. Auch der berühmte Prager Rabbiner
Rabbi Jom Tow Lipmann Heller amtierte kurze Zeit als Rabbiner in Wien. Und nach
der Judenvertreibung von 1670 finden wir den auch rabbinisch gelehrten Rabbi
Samson (Schimschon) Wertheimer als Hofjuden in Wien.
Mit der verstärkten Wiederansiedlung von Juden im ausgehenden 18. und
beginnenden 19. Jahrhundert begann das jüdische Leben in Wien erneut zu blühen.
Die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der Wiener Gemeinde war beispiellos.
Hier wollen wir aber hauptsächlich das religiöse Leben betrachten, das sich ebenfalls
von neuem entfaltete.
Die IKG, Synagogen, Bethäuser
1826 wurde die erste offiziell anerkannte Synagoge nach 1670 eingeweiht: der
Wiener Stadttempel in der Seitenstettengasse, dessen Ritus vom Prediger Isak Noa
Mannheimer und von Oberkantor Salomon Sulzer geprägt wurde. Der Wiener Ritus
wurde in zahlreichen jüdischen Gemeinden in der Habsburgermonarchie nachgeahmt.
1848 kam es zur Emanzipierung der Juden Wiens. Kurze Zeit später wurde offiziell
eine Gemeinde gegründet (de facto hatte sie schon lange vorher bestanden, doch war
sie von den Behörden nicht anerkannt). 1952 wird als das Gründungsjahr der Wiener
Kultusgemeinde angesehen. In dem bereits existierenden Baukomplex des
Wiener Stadttempels wurden die Räumlichkeiten und Büros der Kultusgemeinde
eingerichtet. Von da an entwickelte sich die Gemeinde rasant.
Als Rabbiner der Gemeinde – wenn anfangs auch noch nicht unter dieser
Bezeichnung – fungierte Rabbi Lazar Horwitz, ein in Burgenland geborener Schüler
des "Chatam Sofer" (Rabbi Mosche Sofer = Schreiber) in Preßburg.
Für die rasch anwachsende Wiener Gemeinde wurde der Stadttempel bald zu klein, es
mußten dann rasch noch weitere Synagogen und Bethäuser erbaut werden. Vor dem
Zweiten Weltkrieg gab es in Wien insgesamt 6 Gemeindesynagogen, 18 Synagogen
von Privatvereinen und 71 kleinere Bethäuser. Dieses reiche religiöse Leben fand in
der Schoa sein jähes und tragisches Ende.
In religiöser Hinsicht hatte die IKG Wien stets einen konservativen Charakter, wenn
auch die meisten Wiener Juden der Religion gegenüber gleichgültig
gegenüberstanden. Bei den meisten beschränkte sich das religiöse Leben auf den
Synagogengang zu den Hohen Feiertagen.
Daneben existierte aber auch eine starke Orthodoxie, und über diese will ich hier im
besonderen sprechen.
Die ungarische Orthodoxie – Schiffschul und "Adass Jisroel"
[Die Anfänge]
Die Mehrheit der Wiener Juden war liberal oder religiös indifferent, wenn der
Gottesdienst auch immer konservativ blieb. Deshalb organisierte sich die damals
hauptsächlich von ungarischen und slowakischen, aber auch aus frommen mährischen
und auch schon einigen galizianischen Juden zusammengesetzte Orthodoxie in einer
eigenen Gemeinschaft. Die Anfänge sind schon auf das Revolutionsjahr 1848
zurückzuverfolgen. Zunächst hatten die Orthodoxen ihre Bethäuser in der
Schönlatern- und Sterngasse im ersten Bezirk, wenig später gründeten sie in der
Ankergasse (heute Hollandstraße) die so genannte "Ankerschul". Bald darauf wurde
dieser Ankerschul ein Beth Hamidrasch (Lehrhaus) angegliedert.
Nachdem die Räumlichkeiten in der Ankerschul zu eng wurden, gelang es einem
Proponententeam mit Jitzchak Löb Freistadt an der Spitze die behördliche
Zustimmung zum Bau einer den damaligen Erfordernissen entsprechenden Synagoge
im Hof des Grundstückes Große Schiffgasse 8 -10 zu erlangen. (Von dieser
Straßenbenennung leitet sich auch der Name "Schiffschul" ab). Nach Überwindung
allerlei Schwierigkeiten und mancherlei Behinderungen auch seitens der damals noch
jungen Israelitischen Kultusgemeinde konnte die neu errichtete Schiffschul am 16.
September 1864 in Anwesenheit verschiedener Behörden feierlich eröffnet werden.
Es sollte eine "mächtige Festung gegen Reform und Assimilation in Wien und ein
Vorposten für ‚Jiddischkeit’ sein", vermerkte ein zeitgenössischer Bericht. 1892
wurde das Bethaus mit dem dazugehörigen Grundstück durch das Schiffschulkomittee
käuflich erworben, im selben Jahr anstelle des kleinen Häuschens vor dem Bethaus –
nach Plänen des Baurates Wilhelm Stiassny - ein dreistöckiges Haus errichtet, in
dessen erster Etage dann auch das Beth Hamidrasch untergebracht war.
[Adass Jisroel]
1897 übernahm die als Dachverband gedachte Organisation "Adass Jisroel" die
zahlreichen Funktionen der Schiffschul. Als de facto autonom verwaltete Gemeinde
beherbergte die Schiffschul verschiedene Einrichtungen, wie etwa die 1854 gegründet
Wiener Talmud-Thora-Schule oder die von Spitzer gegründete „Beth Hamidrasch
Tora Ez Chaim“. Zur Gemeinde zählte auch das Grundstück Nestroygasse 11, wo der
Schulverein "Jesod Hatora" tätig war und Kindergarten, Grundschule, Cheder und
Jeschiwa untergebracht waren. An die Gemeinde angebunden waren weiters
eine Mazzotbäckerei, Schwarz-, Weiß- und Zuckerbäckereien, zehn
Fleischverschleißstellen und zwei Selchereien. Weiters wurde die „Volks- und
Mittelstandsküche Einheit“ betrieben sowie ein "Krankenverein" mit eigener Küche
im Allgemeinen Krankenhaus (AKH) zur Versorgung jüdischer Patienten mit
koscherem Essen in den Spitälern. Ferner zählte auch der Verein "Tomech Ewjonim"
zur Versorgung Armer und Kranker an Schabbabot und Feiertagen zur Gemeinde,
sowie einige weitere Initiativen.
In der Leopoldstadt und in weiteren Wiener Gemeindebezirken wurden im Geiste der
Schiffschul weitere Bethäuser und Synagogen gegründet, darunter die "Talmud
Tora"-Synagoge in der Malzgasse, die "Stumperschul" im 5. Bezirk und die
"Storchenschul" im 14. Bezirk, sowie etliche kleinere Bethäuser.
Die "Schiffschul" bildete auch in der Zwischenkriegszeit mit der "Adass Jisroel"Gemeinde den Mittelpunkt der Orthodoxie.
Nach dem Anschluss 1938, insbesondere aber nach dem Novemberpogrom, bei dem
die Schiffschul vollständig niedergebrannt wurde, emigrierte ein großer Teil der
jüdischen Bevölkerung. Ein Teil der orthodoxen Gemeinde konstituierte sich im
Emigrationsziel Williamsburg, New York im Jahr 1941 neu und ist bis heute
als "Vienner Community" aktiv.
[Die Rabbiner]
Der erste Rabbiner war der 1826 in Alt-Ofen geborene Rabbiner Salomon Spitzer. Er
kam 1853 nach Wien und erhielt zunächst die Stelle eines Bethausrabbiners. 1864
übersiedelte er mit der "Ankerschul" in die Große Schiffgasse. Er spielte in der
Auseinandersetzung zwischen Reform und Orthodoxie eine entscheidende Rolle.
Salomon Spitzer starb 1893.
Ihm folgte Oberrabbiner Jesaja (Siegmund) Fürst. Dieser war nicht nur Leiter der
Schiffschul, sondern profilierte sich auch als prominenter Führer der Weltorganisation
"Agudas Israel". Auch in seiner Amtsperiode versuchten orthodoxe Juden eine eigene
Kultusgemeinde zu gründen, doch scheiterte dies erneut am Widerstand der
Behörden. [Darüber später noch mehr.]
Neben Oberrabbiner Fürst wirkten Rabbiner Josef Baumgarten und dessen Sohn
Rabbiner Schlomo.
Die Einwanderung aus Galizien und der Chassidismus
Im Verlaufe des Ersten Weltkriegs strömten aus dem Kriegsgebiet Galizien zahllose
jüdische Füchtlinge in die Residenzstadt. Diese zumeist chassidischen Juden gaben
der Leopoldstadt bald ein besonderes Gepräge. Die Anhänger der verschiedenen
chassidischen Gruppen taten sich zusammen und errichteten eine große Zahl von
Bethäusern ("Schtibelach").
Die Flüchtlinge aus Osteuropa hatten anfangs arge Anpassungsschwierigkeiten. In der
Habsburger Metrolpole trafen sie ein zum größten Teil zur Assimilation neigendes
Judentum an. Die Neuankömmlinge wurden von ihren alteingesessenen
Glaubensgenossen alles andere als freundlich aufgenommen, da diese befürchteten,
diese "Ostjuden" würden wegen ihrer Erscheinung und Lebensart dem
Antisemitismus Vorschub leisten.
[Eingliederung ins Gemeindeleben]
Nach einer gewissen Zeit stellte sich allerdings heraus, daß das neue Element der
ansäßigen Gemeinde neues Leben einhauchte, vor allem jüdisches Leben. Viele der
alteingesessenen Wiener Juden begannen ein genuines Interesse an Chassidismus und
am Judentum überhaupt zu bekunden.
Die wienerische Spielart des Chassidismus erwies sich als sehr wandel- und formbar.
Die chassidische Tradition (das Anhängen an einen Rebben etc.) wurde zwar
weitergeführt, doch waren die Einflüsse der westlichen Kultur auf die Wiener
Chassidim bald unübersehbar. In Wien verwischten sich die Unterschiede zwischen
den verschiedenen chassidischen Strömungen mit der Zeit; man hatte hier Wichtigeres
zu tun, als mit anderen chassidischen Gruppen zu streiten.
Viele Söhne der galizianischen Chassidim besuchten die "Talmud-Tora"-Schule, eine
Schule die im 19. Jahrhundert von der lokalen Orthodoxie gegründet worden war.
Dort wurden auch sekuläre Gegenstände unterrichtet. Weit mehr Kinder von
Chassidim lernten aber in den öffentlichen Schulen, und zwar sowohl Söhne als auch
Töchter. Nach dem Abschluß der Volksschule lernten dann zahlreiche Mädchen im
orthodoxen "Bet-Jakob"-Lehrerinnenseminar.
[Berühmte Rebbes und Rabbiner]
Im Ersten Weltkrieg ließen sich auch chassidische Rebbes in Wien nieder und hielten
hier in gewohnter Weise Hof, wobei sie sich allerdings in gewisser Weise an die neue
und ungewohnte Umwelt anpaßten. Unter den Rebbes ragten jene der Ruzhiner
Dynastie hervor. Vier Branchen derselben wurde in Wien seßhaft und verblieben dort
auch in der Zwischenkriegszeit: Czortkow, Sadagora, Hussiatyn und Bojan. (Rabbi
Mordechai Schalom Josef von Sadagora, Rabbi Mosche von Bojan etc.)
Ferner gab es auch die Kopyczyncer Dynastie (benannt nach Kopytschynzi in der
Ukraine) , deren Mitglieder den Familiennamen Heschel trugen.
Einige weitere Rebbes fanden ebenfalls Zuflucht in Wien. Nach dem Krieg kehrten
die meisten davon (mit Ausnahme der oben genannten aus der Ruzhiner Dynastie) an
ihren ursprünglichen Wohnort oder in dessen Umgebung zurück.
Berühmte Rabbiner galizianischer Abstammung, die sich während des Ersten
Weltkriegs und/oder in der Zwischenkriegszeit in Wien aufhielten, waren u. a. Rabbi
Meir Arik, Rabbiner von Buczacz; Rabbi Josef Engel aus Krakau; Rabbi Menachem
Mendel Steinberg aus Brody, Rabbi Chajim Jizchak Jerucham aus Staryi-Sambor;
Aron Leib Arak, Rabbi Meir Meyersohn, Rabbi Nachum Kornmehl, Rabbi Naftali
Hersch Schmerler u. a. m.
Auch aus der Bukowina kamen bedeutende religiöse Persönlichkeiten, darunter Rabbi
Ben-Zion Katz aus Czernowitz.
Organiationsversuche der Orthodoxie
[Versuchte Schismen]
Die Schiffschulgemeinde sah sich selbst als Führerin der Wiener Orthodoxie.
Zwischen der Gemeinde und der IKG Wien bestand stets ein gespanntes Verhältnis.
Die IKG schien den ungarischen Orthodoxen Preßburger Zuschnitts zu lax in der
Gebotsausübung, ja sogar zur Reform neigend.
Schon früh kam es daher zu Versuchen, sich von der IKG abzutrennen und eine
eigene autonome Gemeinde zu gründen. 1850 konnte der k. k. Hofwechsler Ignatz
Deutsch, ein gebürtiger Preßburger und der Rabbinerfamilie Sofer nahestehend, die
Behörden fast davon überzeugen, eine eigene Gemeinde entstehen zu lassen. 1872
legte dann Rabbiner Spitzer, dem ursprünglich sogar der Posten als Oberrabbiner der
IKG angeboten worden wäre, sofern er von der Orthodoxie Abstand nehme, alle
Funktionen in der IKG zurück. Die Bitte um Erlaubnis zur Gründung einer eigenen
(orthodoxen) Kultusgemeinde wurde 1874 seitens des zuständigen Ministeriums
abgelehnt. Ab 1897 wurde die Schiffschul dann vom Verein "Adass Jisroel"
(Gemeinde Israels), der aus der Gemeinde heraus gegründet wurde, betreut. Der
Verein entwickelte sich, wie wir schon oben betont haben, zu einer Art Gemeinde
innerhalb der Gemeinde und war de facto autonom. Eine Trennung von der IKG
wurde auch weiterhin angestrebt, wurde aber auch in Hinkunft nie behördlich
gestattet.
Andere orthodoxe Gruppen (Polen, Mährer und Türken) standen diesen Streitereien
indifferent gegenüber. Sie führten in Ruhe ihr Eigenleben und mischten sich nicht in
die Gemeindeangelegenheiten ein, damit zufrieden, daß sie nach ihrem Brauch beten
konnten. Die polnischen Juden, die nach dem Ersten Weltkrieg eingewandert waren,
hielten nichts von der politischen Absonderung der "Adass Jisroel", und auch die
Chassidim wollten aus freiem Willen Mitglieder der Wiener jüdischen Gemeinde
sein.
[Spannungen innerhalb der Orthodoxie]
Zwischen der ungarischen Orthodoxie und den Chassidim kam es zu gewissen
Reibungen, aber auch zu Versuchen, eine einheitliche Organisation zu bilden.
Die "Adass Jisroel" hatte anfangs die Hoffnung gehegt, daß die Ankunft der
chassidischen Admorim ihre Kraft stärken und die Verwirklichung ihrer
Trennungspläne ermöglichen würde. Darin sahen sie sich bald getäuscht. Alle aus
Osteuropa stammenden Rabbiner unterstützen die Einheit der Gemeinde.
Seitens der alteingesessenen Orthodoxen war eine gewisse Überheblichkeit den
Neuankömmlingen gegenüber zu beobachten. Das klassische Mitglied der "Adass
Jisroel" musterte die neuangekommenen Flüchtlinge von Kopf bis Fuß und fand diese
wegen Laxheit bei Einhaltung einiger Mizwoth und Ungenauigkeit bei Beachtung von
halachischen Details etwas verdächtig. Diese patronistische Einstellung erregte bei
den Orthodoxen aus Polen natürlich Widerstand.
Trotz aller Spannungen kam es jedoch zum Aufbau von korrekten gesellschaftlichen
Beziehungen zwischen dem Talmidei-Chachamim beider Gemeinden. Der alte Rebbe
von Sadegora, Rabbi Mordechai Schalom Josef, erhielt ein Ehrenzeugnis von der
"Schiffschul". Besondere Ehre wurde Rabbi Mosche von Bojan zuteil, einem großen
Thoragelehrten: ein Teil der "Schiffschul"-Mitglieder wurden zu seinen Chassidim.
[Versuche politischer Organisation der Orthodoxie]
Innerhalb der Wiener Orthodoxie kam es zu mehreren Versuchen einer politischen
Organisation. Ende 1923 unternahm der Vorstandes des Gemeindegerichtes und
Rabbis des polnischen Bethauses "Bet Israel", Rabbi Meir Maiersohn, einem
ernsthaften Versuch, eine Partei namens "Achdut Israel" (Einigkeit Israels) zu
gründen.
Im Oktober 1923 kam es zu einer Versammlung im Versammlungsraum des
polnischen Bethauses "Bet Israel". Diese Versammlung wurde von der "Achdut
Israel" einberufen, um ihre Position zu den Trennungsbestrebungen der "Schiffschul"
festzulegen. Abgesehen von den Vertretern des Bethauses "Bet Israel" nahmen auch
Vertreter anderer Bethaus-Vorstände teil. Der Vorsitzender dieser Versammlung, der
Rabbi Maiersohn betonte die Wichtigkeit der Einheit der gesamten Gemeinde. Alle
Anwesenden sprachen sich gegen die Trennungsabsichten der "Schiffschul" aus, die
zu einer Zerbröckelung der Gemeinde führen und dem orthodoxen Judentum schaden
könnte. Auch sprach die Versammlung den Vertretern des "Schiffschul" das Recht ab,
sich als universelle Abgesandte der Wiener Orthodoxie zu deklarieren.
Die "Achdut Israel" trat zu den IKG-Wahlen 1924 als selbständige Liste an.
Bei denselben Wahlen trat auch die "Wirtschaftspartei" an, die von einigen
orthodoxen Juden gegründet worden war, sowie der sogenannte "Religiöse Block".
Der "Religiöse Block" war eine Listen einiger ungarisch-stämmiger
Führungspersönlichkeiten der religiös-zionistischen "Misrachi"-Partei, die von der
Politik enttäuscht waren, aber Ambitionen hatten. Sie versuchten das Vertrauen der
polnisch-stämmigen Juden mit den Versprechen zu kaufen, ihnen eine völlige
Gleichberechtigung in der Kultusgemeinde zu sichern (die polnischen Juden fühlten
sich nicht als vollwertige Mitglieder der Gemeinde) und auch für religiöse Belange zu
sorgen. Sie wurden aber nicht in den Kultusrat gewählt.
Auch die "Agudas Jisroel" existierte in Wien. Sie stützte sich natürlich in erster Linie
auf die Kreise der Schiffschulgemeinde. Im Jahre 1929 hielt die Weltorganisation der
"Aguda" in Wien ihre zweite Generalversammlung (die sogenannte "Knessia
Gedola") ab.
Einstellung zum Zionismus
Die Orthodoxie war ferner in ihrer Haltung zum Zionismus gespalten, es gab unter
ihnen "Misrachi"- und "Agudas Jisroel"-Anhänger. Die letzteren waren ideologisch
antizionistisch. Die Besiedlung des Heiligen Landes durch Juden (vor allem religiöse)
unterstützten sie aber durchaus.
Im der "Adass Jisroel"-Schiffschulgemeinde herrschte die Ideologie der "Aguda" vor.
Innerhalb der polnischen Orthodoxie kam es hingegen zu einer bemerkenswerten
Entwicklung. Der Großteil der osteuropäischen chassidischen Rebbes galt als
extremer Gegner der zionistischen Bewegung. Auch die später in Wien ansäßigen
Rebbes bildeten hier keine Aussnahme. In Wien aber begann sich dieses Verhältnis
zum Zionismus zu ändern. Selbst die polnischen Rebbes, die in ihren Reden den
Zionismus und die Aufklärung anzugreifen pflegten, verzichteten in ihren
Sendschreiben nach Wien darauf, ihre Meinung zu diesem Thema kundzutun.
Werfen wir einen Blick auf die Ruzhiner Dynastie, die den Wiener Chassidismus am
stärksten gepräft hat. Ein Kennzeichen sämtlicher Branchen der Ruzhiner Dynastie
war ein besonderes Interesse an Eretz Israel und die aktiven Tätigkeiten zur jüdischen
Besiedlung desselben. Nennen wir hier nur die "Tiferet Israel"-Synagoge in der
Jerusalemer Altstadt. Auf Initiative der Sadagorer Dynastie wurden Wohnhäuser für
Juden in Jerusalem und in Zefat (Safed) erbaut. Lehr- und Bethäuser entstanden in
Jerusalem, Zefat (Safed) und Tiberias.
Rabbi Schlomo Chaim Friedmann war von Jugend an ein "Misrachi"-Aktivist. In
Österreich war er für lange Zeit Präsident der Misrachi-Bewegung und unterstützte
Auswanderer auf dem Weg nach Israel. Zu diesem Zweck gründete er für sie eine
eigene Herberge in Wien und kämpfte für die Bewilligung von EinwanderungsZertifikaten nach Eretz-Israel für Jeschiwa-Studenten. 1939 emigrierte er nach Israel
und wurde in Tel-Aviv wohnhaft.
Rabbi Israel Friedmann von Hussiatyn distanzierte sich zwar von jeder politischen
Tätigkeit, unterstützte aber den Nationalfonds und spendete jährlich den sogenannten
"Zionistischen Schekel". Sein Schwiegersohn und Amtsnachfolger Rabbi Jakob war
in Wien ein führender Aktivist der religiösen Zionisten und emigrierte gemeinsam mit
seinem Schwiegervater.
Das Kronjuwel des österreichischen Chassidismus war die Gründung der Gesellschaft
"Besiedlung Israels" 1918 in Wien. Vorsitzender dieser Gesellschaft war Rabbi
Chajim Meir Jechiel Schapira, der Rebbe von Drohobycz.
Nach dem Anschluß Österreichs an Nazi-Deutschland ließen sich die Rebbes der
Ruzhiner Dynastie zumeist in Eretz Israel nieder.
Die "türkische" Gemeinde
Zu der Orthodoxie ist auch die sefardische ("türkische") Gemeinde zu rechnen. Die
Gründung einer sephardischen Gemeinde in Wien ist von der Legende um Diego de
Aguilar umwoben. Aguilar, mit jüdischem Namen Mosche Lopez Pereyra, kam in
den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts anscheinend über Amsterdam nach Wien.
Unter Karl VI. und Maria Theresia spielte er eine äußerst bedeutsame finanzielle
Rolle für den Ärar, da er die Reorganisation des österreichischen Tabakgefälles
übernommen hatte. Für seine außerordentlichen Verdienste wurde er vom Kaiser mit
einem portugiesischen Adelsprädikat belohnt. Sein Wort hatte bei Hofe viel Gewicht.
Ende des 19. Jahrhunderts war Wien ein kleines, aber wichtiges Zentrum
sephardischer Kultur. Die Universität zog Sephardim aus Belgrad, Bulgarien,
Rumänien, Triest, Rhodos, Ägypten und Marokko an. Noch weit vor der
Jahrhundertwende bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts war Wien ein
Begriff für den spanisch-jüdischen (Ladino) Buchdruck, was einerseits aus dem
wachsenden Einfluss Österreich-Ungarns auf den Balkan, anderseits aus den
edukativen Aktivitäten der Alliance Israelite Universelle resultierte. Auch eine Reihe
spaniolischer Periodika erschien hier, beispielhaft seien "El Mundo Sefardi", "Carmi"
und "El Correo de Vienna" genannt. Für einige der 18 zwischen 1856 und 1923 in
Wien herausgegebenen spaniolischen Zeitschriften waren das Zielpublikum auch die
Juden in der Türkei. Im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts wurde die
Studentenorganisation "Esperanza" gegründet sowie die kulturelle Vereinigung
"Union Espanola", deren Promotoren Mosche Galimir und R. Nissim Ovadia waren.
Die "Esperanza" übersiedelte Anfang der 30er Jahre nach Sarajevo. Für die Ziele der
Alliance setzte sich in Wien besonders der bekannte Journalist Schem Tov Semo ein,
der eine Synthese aus sephardischer Tradition, Zionismus sowie modernem
Erziehungs- und Wirtschaftswesen anstrebte, wie sie schon früher von R. Jehuda
Bibas aus Korfu und später von R. Jehuda Alkalay aus Sarajevo propagiert wurde.
Problematisch gestaltete sich das Verhältnis zwischen der Israelitischen
Kultusgemeinde Wien und der sephardisch-türkischen Gemeinde. Besonders seit die
Israelitische Kultusgemeinde Wien die einzige offizielle jüdische Vertretung der
Regierung war, kam es immer wieder zu Spannungen zwischen Aschkenasim und
Sephardim, die ihre organisatorische Unabhängigkeit nicht aufgeben wollten. 1909
erst kam es zu einer vorläufigen Übereinkunft: Die türkische Gemeinde hatte den
Status einer in der Kultusgemeinde integrierten Korporation, wurde jedoch von der
Steuerabgabe an die Kultusgemeinde befreit. Nach der Ausrufung der Republik
schließlich erklärte die sephardisch-türkische Gemeinde wieder ihre volle
Unabhängigkeit. 1922 wurde sie jedoch gezwungen, ihren Status als "Verband der
türkischen Israeliten zu Wien" innerhalb der Israelitischen Kultusgemeinde gemäß der
Regulation von 1909 wieder anzunehmen, wobei ihr allerdings Sonderprivilegien
eingeräumt wurden.
Ende der 20er Jahre kam es zu einer drastischen Dezimierung der Mitgliederzahl der
sephardischen Gemeinde. Die Gründe dafür sind einerseits in der hoffnungslosen
Wirtschaftslage jener Zeit, anderseits auch in der Übersiedelung R. Nissim Ovadias
nach Paris, wohin ihm viele Anhänger folgten, zu sehen. Das letzte große Ereignis in
der sephardischen Gemeinde war die Feier zum 800. Geburtstag Maimonides im Jahre
1935 unter dem Präsidenten Heskia. Im November 1938 wurde der türkische Tempel
Wiens zerstört. Die österreichischen Sephardim, die nicht fliehen konnten, wurden
nach Dachau gebracht.