Quelle und Ziel allen Lebens Eine chassidische Geschichte

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Quelle und Ziel allen Lebens Eine chassidische Geschichte
Kalenderblätter zum Jahr des Glaubens – Ausgabe Januar 2013
Quelle und Ziel allen Lebens
DOKUMENT ÜBER DIE LITURGIE
Eine chassidische Geschichte
(ist zum Beispiel als Einstieg zu den Impulsfragen nutzbar)
Die chassidischen Geschichten faszinieren mich immer wieder aufs Neue, diese Erzählungen von
jüdischen Frommen aus Ostpolen. Neulich gab mir ein guter Freund einen mir bis dahin unbekannten
Text, der zu unserer Situation zu passen scheint. Die Geschichte handelt von vier der ganz Großen
des Chassidismus; sie hört sich etwa so an:
„Wenn der Baal-schem-tow etwas Schwieriges zu erledigen hatte, irgendein Werk zum Nutzen der
Geschöpfe, so ging er an eine bestimmte Stelle im Wald, zündete ein Feuer an und sprach, in
Meditationen versunken, Gebete. — Und alles, was er dann unternahm, geschah, wie er es sich
vorgenommen hatte.
Wenn eine Generation später der Maggid von Meseritsch vor einem großen Vorhaben stand, ging er
an jene Stelle im Wald und sagte: „Das Feuer können wir nicht mehr machen, aber die Gebete
können wir sprechen.” — Und nachdem er sie gesprochen hatte, ging alles nach seinem Plan.
Wieder eine Generation später sollte Rabbi Mosche Löb aus Sassow eine große Tat vollbringen. Auch
er ging in den Wald. Dort sagte er: „Wir können das Feuer nicht mehr anzünden, wir kennen auch die
geheimen Meditationen nicht mehr, die das Gebet beleben. Aber wir kennen den Ort im Wald, wo all
das hingehört, und das muss genügen.” — Und es zeigte sich, dass es tatsächlich genügte.
Als wieder eine Generation später Rabbi Israel von Rizsin ein großes Werk zu vollbringen sich
vorgenommen hatte, da setzte er sich zu Hause auf einen Stuhl und sagte: „Wir können kein Feuer
machen, wir können die vorgeschriebenen Gebete nicht mehr sprechen, wir kennen auch den Ort im
Wald nicht mehr, aber wir können die Geschichte davon erzählen.” — Und seine Geschichte allein
hatte dieselbe Wirkung wie das, was die drei anderen getan hatten.
Mir scheint: Das ist unsere Situation. Wir können kein Feuer mehr machen — wir können die Gebete
nicht mehr sprechen — wir kennen auch den richtigen Ort nicht mehr {was auch immer wir an Stelle
von „Feuer“, „Gebet“ und „Ort“ einsetzen müssten) — so ähnlich ist unsere Lage. Aber die
Situationsschilderung des Rabbi der vierten Generation ist dennoch tröstlich, er sagt: „Wir können
die Geschichte davon erzählen.” Und er endet mit der Zuversicht weckenden Feststellung: „Seine
Geschichte allein hatte dieselbe Wirkung wie die Taten der drei andern.”
Die Geschichte erzählen — Erinnerungen von Glaubenszeugen — Lebensgeschichten von solchen, die
sich von ihrem Glauben haben prägen lassen — Glaubensgeschichten weitergeben und diese mit
Herz erzählen. Und andererseits: Bescheiden sein und nicht so tun, als könnten wir alles auf
vollkommene Weise, als müssten wir uns und anderen Hochleistungen abverlangen. Ich glaube, die
Bescheidenheit allein wäre schon wirkungsvoll genug, um Ähnliches zu erreichen, wie die vier Großen
des Chassidismus. Aber: Wie wird man bescheiden?
Aus: Gabriele Miller, Aus frischen Quellen schöpfen, Butzon & Bercker, Kevelaer 2000, S. 135-136

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