der Masterarbeit als PDF

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„Wenn du ein Schiff bauen willst,
so beginne nicht, mit ihnen Holz zu sammeln,
sondern wecke in ihnen die Sehnsucht nach dem großen weiten Meer.“
(Antoine de Saint-Exupery)
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Inhaltsverzeichnis
I
I.1
II
Einleitung
4
Zum Verlauf der Unterrichtsreihe
Übergreifende Sachanalyse
5
6
II.1
Inhalt und Sinn der Kunst-Pädagogik
6
II.2
Zum Kunstverständnis der Waldorfschule
10
II.3
Das Plastizieren
12
II.4
Gewähltes Thema in Bezug auf menschenkundliche Belange
22
III
Fachdidaktische Überlegung zum Aufbau der Unterrichtsreihe
26
III.1
Frage 1: In welcher Absicht tue ich etwas?
27
III.2
Ziele der Unterrichtsreihe
29
III.3
Frage 2: Was bringe ich in den Horizont der Kinder?
37
III.4
Frage 3/4: Wie tue ich das? Mit welchen Mitteln verwirkliche ich das?
39
III.5
Frage 5/6: An wen vermittel ich das? In welcher Situation verwirkliche ich das? 42
IV
Durchführung der Unterrichtsreihe
47
IV.1
Beschreibung der 1. Unterrichtseinheit
47
IV.2
Beschreibung der 2. Unterrichtseinheit
49
IV.3
Beschreibung der 3. Unterrichtseinheit
55
IV.4
Beschreibung der 4. Unterrichtseinheit
58
IV.5
Beschreibung der 5. Unterrichtseinheit
61
IV.6
Beschreibung der 6. Unterrichtseinheit
64
Reflexion und Evaluation der Reihe
67
V
V.I
Übereinstimmung von Konzeption und Verlauf
67
V.2
Evaluation der Ziele
70
V.3
Selbstreflektion
71
VI
Schlussreflexion
74
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Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Versicherung
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I
Einleitung
Einführung in das Plastische Gestalten
Die vorgestellte Unterrichtsreihe fand in ihrer Umsetzung 2012 in einer städtischen
Gemeinschafts-Grundschule in Köln statt. Aufgrund fehlender Fachlehrer wurde bislang an
dieser Schule kein plastischer Unterricht angeboten.
Ausgehend von einem kunstpädagogischen Verstehen, bei welchem der Erwerb und die
Erfahrung von motorischen Fertigkeiten zu den Grunderfahrungen bildnerischer Erziehung
gehören, und welches vorsieht den Schülern und Schülerinnen1 möglichst in den ersten
Jahren originäre und sinnlich basierte Primärerfahrungen zu ermöglichen, entwickelte ich
unter Einbeziehung waldorfpädagogischer Ansätze diese Unterrichtsreihe. (vgl. II.2)
In einer von Elektronik und virtuellen Medien bestimmten Welt, die SuS über Fühlen und
(Be-)Greifen im sensomotorischem-künstlerischen Tun, die „Handlungs-Fähigkeit“ ihrer
Hände entdecken zu lassen, beschreibt einen wesentlichen Aspekt meines Vorhabens und
zeigt zugleich den Versuch, bei den SuS eine Bereitschaft zum plastischen Arbeiten zu
erzeugen, sich dieser mutig zu öffnen und sich diese zuzutrauen.
Diesem Anspruch gerecht werden zu wollen, konzipierte ich diesen Unterrichtsentwurf. In
seiner Entwicklung kristallisierten sich für mich folgende vier Fragen, deren Beantwortung
das Konzept und die Umsetzung der Reihe gerecht werden sollen.
•
Lässt sich durch die Bearbeitung eines Naturmaterials und über das Erwecken des
Willens schöpferische Energien und Freude am künstlerischen Tun erzeugen?
•
Wie können parallel dazu die SuS auf didaktisch-methodisch sinnvollem Wege zu
gestalterischen Fähigkeiten und Fertigkeiten gelangen?
•
Lassen sich einfache Übungen des Formens und erste Grunderfahrungen der Genese
von Formen und Tierkörpern, mimetisch, verstehend und einfühlend erfahren und
gleichzeitig das „Ich“ als eine selbstbildende Kraft im Gestalt,- und Formgeben
entdecken?
1
Im folgenden Verlauf wird für Schülerinnen und Schüler das Kürzel SuS verwendet.
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•
Gibt es Möglichkeiten positiver Sinnerfahrung im künstlerischen Tun, um Willkür
vermeidend hin zu einer verantworteten Gestaltung zu kommen, welche dem
Selbstwert dienend die SuS in ihrer weiteren Entwicklung positiv bestärken können?
I.1
Zum Verlauf der Unterrichtsreihe
Die Unterrichtsreihe erstreckte sich über einen Zeitraum von sechs Wochen.
Aufgrund der Klassengröße wurden die SuS ab der zweiten Unterrichtseinheit von der
Lehrerin der Klasse in zwei Gruppen mit jeweils 13 SuS eingeteilt. Die einzelnen
Unterrichtseinheiten fanden jeweils an zwei aufeinander folgenden Tagen statt.
Die Reihe gliedert sich in folgende 6 Unterrichtseinheiten:
1. Kugelform Kugelformen fühlen
2. Kugel sehend formen / Kugel blind formen
3. Handschmeichler
4. Eine Maus / Igel formen
5. Pinguin formen
6. Anmalen der Tiere, Gemeinsame Reflexionsrunde zur Unterrichtsreihe
Der Aufbau dieser Arbeit, gliedert sich in eine Sachanalyse, in fachdidaktische
Vorüberlegungen und in ihre Durchführung und Reflexion.
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II Übergreifende Sachanalyse
II.1 Inhalt und Sinn der Kunst-Pädagogik
Kunstprozesse sind Bildungsprozesse
Der Mensch als Person kennzeichnet sich durch Begriffe wie Freiheit, Vernunft,
Relationalität und Verantwortung gegenüber sich selbst und der Welt. Als sich bildendes,
kulturelles Wesen ist er aufgefordert, sich in die Welt einzufinden und sich als entwickelndes
Individuum in Gemeinschaften verantwortungsvoll einzufügen.
Ausgehend von einem Menschenbild, in welchem schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts
dem Kind ein unverstelltes natürliches Schöpferpotenzial nachgesagt wurde, sieht die
Kunstpädagogik ihre Aufgabe darin, dieses zu bewahren, seiner Imaginationskraft Raum zu
geben und seine kreative Gestaltungsfähigkeit und sein Ausdrucksbedürfnis zu fördern. Es
gilt: „Das Kind im Kinde zu retten, es zu potenzieren, es reif und bereit zu machen für die
Wirkung des Genius!“2 (Zitat Gustav Hartlaub)
Angesichts einer sich durch Mechanisierung und Digitalisierung rasant verändernden
Gesellschaft, in welcher als Resultat eine zunehmende Entfremdung des eigenen Lebens
droht, gilt das Erhalten der Achtsamkeit gegenüber den anthropologisch verankerten
künstlerisch-ästhetischen Ausdrucksbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen als eines der
Hauptanliegen der kunstpädagogischen Arbeit.
Der Gefühlsinnenwelt des Kindes, seinem Ausdrucks- und Erkundungswunsch
entgegenkommend, werden im Kunstunterricht Fähigkeiten und Fertigkeiten vermittelt,
welche nicht zuletzt auch zukünftige berufsrelevante Wünsche und Möglichkeiten
mitbestimmend prägen und die in der Berufswelt gefragten Schlüsselqualifikationen wie
Team- und Kommunikationsfähigkeit, Lernbereitschaft, kreatives Denken, Handeln und
Ausdauer, entscheidend mit fördern. Das Erlernen von besagten Fähigkeiten und Fertigkeiten
als tragender Grund für das individuelle Ich-Erleben, bietet dem Kind innere Sicherheit,
stärkt sein Selbstvertrauen, wirkt persönlichkeitsfördernd und dient somit der eigenen Arbeit
2
Gustav Hartlaub, 1930, S. 145.
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an dem Selbst.
Nach Klafki sollen die von ihm benannten „Schlüsselprobleme der Gegenwart“ 3
grundsätzlich zum Fokus der Bildungsinhalte für das fachübergreifende und
fächerverbindende Lernen werden. Themen wie ökologische Verantwortung, Friedensfragen,
oder gesellschaftlich produzierte Ungleichheit, können als Bildungsinhalt das Fach Kunst
bestimmen und lassen sich hier auf kunstspezifische Weise erfahren und reflektieren 4. Ein
werkorientiertes Arbeiten, sich aufhaltend im Spannungsfeld zwischen der Theorie und
Praxis, bietet neben den zu erlernenden praktischen Fertigkeiten Raum für eigenständiges
Lernen, experimentelle Problemlösung und kritische Reflexion von Kontexten.
Des Weiteren sind ästhetisch-künstlerische Prozesse auch Such- und Erkundungsprozesse mit
offenem Ausgang. Die SuS machen dadurch Erfahrungen, wie sie Irritationen,
Enttäuschungen und Frustrationen aushalten um sie über gemeinsames Reflektieren als neue
Lernchancen nutzen zu können. Dazu ein Zitat von Jochen Krautz: „Kunst verstanden als
interpersonale Erziehungs- und Bildungsprozesse hofft, dass aus der Ich-Zentrierung,
(Individuation), Sinngebung für Andere (Sozialisation), wächst!“ 5
Neben der musischen Erziehung bei geistiger und seelischer Erhöhung durch Freude und
Erweiterung im Bereich der sicht- und greifbaren Dinge, schafft die Kunstpädagogik durch
Erziehung zur Kritikfähigkeit und Verantwortlichkeit einen Dialog zwischen der Eigenwelt
und der Sachwelt. Erst wenn der Schüler mittels der Produktion sinnvoll einsetzbarer
Objekte, durch die Frage nach der Brauchbarkeit, die Notwendigkeit seiner eigenen Arbeit
erkennen kann, ist es ihm möglich, sich seiner sozialen Verantwortung und der Bereitschaft
Aufgaben zu übernehmen, mit Zuversicht zu stellen und sich gleichsam in einem
unmittelbaren Verhältnis zur Welt zu sehen. Das Gefühl des somit „Eingebundenseins ins
Welt-Ganze“, schenkt ihm das nötige Vertrauen und erfordert gleichzeitig vom Lehrer ein
3
Zu den wesentlichen Inhalten der Allgemeinbildung gehören bei Wolfang Klafki die sog.
„epochaltypischen Schlüsselprobleme“der Gegenwart. Dazu gehören Frieden, Umwelt, Technikfolgen,
Demokratisierung, gerechte Verteilung in der Welt, Gleichberechtigung/Menschenrechte und
Glücksfähigkeit. Es handelt sich dabei um „Strukturprobleme von gesamtgesellschaftlicher, meistens sogar
übernationaler bzw. weltumspannender Bedeutung, die gleichwohl jeden Einzelnen zentral betreffen“.
Klafki 1996. S. 60, und http://hypersoil.uni-muenster.de/2/01/04.htm, recherchiert am 28.04.2013.
4
Jochen Krautz, 2010, S. 29.
5
Jochen Krautz, 2010, S. 25.
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verantwortliches Auswählen von Inhalten, künstlerischen Techniken und gestalterischen
Aufgaben.
In der Psychoanalyse wird nach Donald W. Winnicott die menschliche Schöpferkraft als Akt
der „Symbolbildung“ verstanden. Stellvertretend für die Objektbeziehung in der äußeren
Realität werden Kunstwerke aus der eigenen Reflexion von Wahrgenommenem im
intermediären Bereich, (kennzeichnet den „(...) Erlebnis- und Erfahrungsbereich, der
zwischen dem Daumenlutschen und der Liebe zum Teddybär liegt, zwischen der oralen
Autoerotik und der echten Objektbeziehung“ (Peez6) illusorisch als sogennante symbolische
Übergangsobjekte geschaffen.
Der Kunstunterricht übernimmt die Aufgabe, die menschliche Schöpferkraft einerseits zu
erhalten, auszubauen und zu fördern und parallel dazu Räume zu erschließen, in welchem die
künstlerische Arbeit als Symbol von geschichtlichen, kulturellen und biografischen
Erfahrungen und Erkenntnissen aufgearbeitet und kompensiert werden kann.
Zur Vermittlung von Kulturkompetenz als Bildungsauftrag der Kunstpädagogik gehört neben
der Aktualität der Alltagswissenschaften, eine Orientierung an der humanen Dimension der
Kunst in ihrer ganzen Geschichte und der reichen Diversität der Weltkunst.
Die Begleitung der personal-geistigen Orientierung in der sichtbaren Welt und in der Welt der
Bilder bedeutet insbesondere in Anbetracht der fortschreitenden Digitalisierung der Medien
das Erlernen einer komplexen Bildkompetenz, um „produktiv“, „rezeptiv“ und „reflektiv“
der fortschreitenden Bilderflut begegnen zu können.
Die ästhetische Erfahrungssuche welche dem Aufbau des eigenen Urteilsvermögens dient, als
auch die Frage nach Qualität7 stellt, bildet im Sinne von Jochen Krautz Möglichkeiten für die
Entfaltung des ganzen Menschen in einer visuellen und taktilen Auseinandersetzung mit der
Wirklichkeit.
In den folgenden vier Dimensionen wird der Mensch unter dem Blickwinkel einer
6
Georg Peez, 2008, S. 87.
7
Qualitäten hier zu verstehen als das menschliches Vermögen, wie physische, geistige und seelische Schätze
des Menschen. Fragen die an Qualität heranführen sind: Ist das gut; ist das stimmig, angemessen,
funktional richtig; ist es sinnvoll; was ist besser? Jochen Krautz, 2010. S. 49.
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personalen Kunstpädagogik aufgebaut, unterstützt und gestärkt: „Innerlichkeit, Sozialität,
denkende Erfassung der Welt und tätiges Handeln!“8 Hierbei wird deutlich, was auch im
gesamt kunstpädagogischen Kontext immer wieder betont werden muß, dass das Fach Kunst
gegenüber dem mehr intellektuellen Fächergefüge nicht allein auf eine kompensatorische
Funktion reduziert werden darf; Persönlichkeitsformung und kulturelle Rezeption als
Resultat von künstlerischem Selbstausdruck, bietet die Grundlage für die oben genannten
„Schlüsselqualitfikationen“.
Die Rolle des Kunstlehrers macht deutlich, mit welch kontroversen Positionen die
Kunstpädagogik in der aktuellen Bildungsdebatte diskutiert wird. Hubert Sowa fasst dies wie
folgt zusammen: „Ein rational- funktional und pragmatischer Ansatz auf der einen Seite und
rein ästhetischer und auf Sinnlichkeit ausgerichteter Ansatz auf der anderen Seite.“ 9 Zum
einen bilden „Fakten- (Know-that), Orientierungs- (Know that und Know-how),
Ausführungs- und Anwendungswissen (Know-how)“10 ein Regulativ, an welchem die
Schritte innerhalb der eigenen Entwicklung gemessen werden können. Zum anderen hat der
Lehrer die Aufgabe, die künstlerische, intuitive Eigentätigkeit und Ausdrucksfähigkeit des
Schülers wachsen und geschehen zu lassen. Nach Gert Selle gleicht hier ein Eingreifen des
Kunsterziehers in den Gestaltungsprozess einer, „(...) Störung der unveräusserlichen
Grundrechte des ästhetischen Subjekts, indem sie diesem verwehren sich ein eigenes
Wahrnehmungsurteil (zu) nehmen oder es (zu) verweigern.“ 11 Zwischen diesen beiden Polen
findet der Lehrer sich in seiner Aufgabe als Lernbegleiter und Lehrender. Eine pädagogischdidaktische Grenzziehung kann an der Stelle demnach eigentlich nur situativ begründet
werden.
Ob Kunstunterricht in seiner Wirkung nach Gunther Otto als „Selbstbildung und
Erkenntnisgewinn“ zu definieren ist oder nach Gert Selle vielmehr als eine
„biographieerschließende Lebenssinn verändernde Instanz“ 12 wirkt, wird wohl weiterhin
Gegenstand der fachdidaktischen Diskussion bleiben. Mit einem Zitat von Gert Fröbel
(1782-1852) lässt sich beides zusammengefasst so formulieren:
8
Jochen Krautz, 2010, S. 50.
9
Hubert Sowa, 2010, S. 137.
10 Hubert Sowa, 2010, S. 21.
11
Gert Selle, 2003, S. 4.
12 Franz Billmayer, 2009, S. 12.
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“Gesang, Zeichnen, Malen und Formen müssen früh als wirkliche Gegenstände der
ernsten Schule behandelt werden, weder in der Absicht, (...) dass jeder Schüler in
Kunstfächern Künstler werde, sondern in der bestimmten Absicht, dass jeder Mensch
dahin erhoben werde, sich seinem Wesen getreu...vollkommen zu entwickeln!“ 13
Eine Kunstpädagogik welche als Förderung der Persönlichkeitsentwicklung verstanden wird,
benötigt nach Fritz Oser und Ma. als entscheidendes Merkmal eine sogennante
„Desäquilibration“, d.h. dass neue Strukturen nur dann entstehen können, wenn ein aus der
Umwelt kommender Impuls so stark ist, dass er durch Herausreißen aus Konventionen und
Erzeugung von Ungleichgewicht so stark verunsichert, dass nichts mehr in gewohnte
Denkmuster eingeordnet werden kann14. Guter Kunstunterricht kennzeichnet sich somit
durch Polarisierung und Selbstreflektion, Konfrontation mit dem anderen und mit der
Herausforderung von ungewohnten Blickwinkeln, was mitunter auch Tendenzen subversiven
Charakters deutlich machen kann.
II.2 Zum Kunstverständnis der Waldorfschule
„(...) die Waldorfschule ist überhaupt kein pädagogisches System, sondern sie ist eine Kunst,
um dasjenige, was da ist in den Menschen, aufzuwecken!“15 So versteht sich die Didaktik der
Waldorfpädagogik als ein maieutisches Vorgehen, das dem Schüler hilft, sinnstiftend, durch
Vertrauen in die eigenen schöpferischen Kräfte und durch Selbst-Berufung zu eigenem
Erkennen zu gelangen.
„Vom Spiel zur Arbeit“ lautet das Motto Rudolf Steiners; hiernach begründet er die Aufgabe
der kunstpädagogischen Arbeit, eine Brücke zu schaffen, von einem dem frohen,
befreienden, spontanen und unreflektierten Spieltrieb des Kindes hin zu einem geordneten
reflektierten Wirken und Handeln in der Arbeit.
Die anthropologische Orientierung der Kunstpädagogik der Waldorfschule zielt auf den
13 Vgl. Wieland/Keßler, 2005, S. 27.
14 Fritz Oser und Ma.,1990.
15 Steiner, GA 217, S. 22.
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Menschen als ganzes Wesen. Die Qualifizierung des Anschauungs- und
Auffassungsvermögens, die Sensibilisierung der Wahrnehmung und eine ästhetische
Schulung werden im schöpferischen Prozess durch die Bildung von Kopf, Herz und Hand, in
Form der gegenseitigen Durchdringung von Intellekt, Gefühl und Wille zu einem zentralen
Thema innerhalb des Bildungsauftrags. Mittels differenzierter Sinneserfahrungen, welche
durch vielfach erprobte Materialbearbeitung zu Darstellungs- Gestaltungskompetenzen
führen, lassen sich die drei Wesensbereiche des Menschen, Handeln (Wollen), Fühlen
(Fühlen) und Verstehen (Denken), gleichermaßen bilden und entwickeln. Durch den
Wechselbezug von Reflexion und Handlung im künstlerischen Tun verbindet sich „das
Gefühl und der Wille mit dem Intellekt zu einer höheren Erkenntniskraft“ und verhilft dem
Schüler so zu einer Begegnung mit sich selbst und der Welt 16. Im Kunstprozess stimmen das
'Ich' und die Welt überein und ermöglichen ein Identitätserlebnis als sinnvolles
Eingebundensein in einen übergeordneten Weltzusammenhang.
Im praktischen Tun entwickelt sich das erkennende Bewusstsein gegenüber dem eigenen
Handeln, welches zunehmend dadurch bestimmt, die Grundlage für ein identitätsstiftendes
Handeln aus Erkenntnis bietet, um welches sich die Waldorfpädagogik in der Erziehung der
Heranwachsenden hin zur Freiheit originär bemüht.
Um der Gefahr einer einseitigen Intellektualisierung entgegen zu treten, wird durch die
Betätigung des Willens und des Gemüts im Malen, Zeichnen und Handwerken der Intellekt
auf sein Seelisch-Geistiges verwiesen, bzw. von ihm durchdrungen, gespeist und genährt.
Das zuvor intellektuell Gedachte verbindet sich im künstlerisch-praktischen Arbeiten mit den
seelischen und geistigen Inhalten. Indem auf ästhetische Weise das Gemüt- und Gefühlsleben
angesprochen und entwickelt wird, wird der Intellekt auf des Seelische hingewiesen. Erst das
von Gefühl und Willen ergriffene und durchdrungene Denken kann in die geistige Welt
hineinführen und dauerhaft „tote von lebendigen“ Wahrheiten unterscheiden 17.
Um den Menschen in seiner Ganzheit zu fördern und entwicklungsgemäße Fähigkeiten 18 und
16 Michael Martin, 1991, S. 328.
17 Michael Martin, 1991, S. 312.
18 „Fähigkeiten sind im Laufe des Lebens gesammelte Erfahrungen, welche durch die Auseinandersetzung
des 'Ich' mit den Welterscheinungen erworben wurden. Im Vergleich zu dem ad hoc-Wissen des
kurzfristigen Gedächtnisses, können sie ein Leben lang immer wieder schnell aktualisiert werden und
bilden somit einen kontinuierlichen biographischen Grund für die menschliche Persönlichkeit.“ Jochen
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Fertigkeiten auszubilden zu können, werden die Schüler in künstlerische Prozesse
einbezogen, welche sich jeweils an der körperlichen, seelischen und geistigen
Entwicklungsstufe des Kindes orientieren. Hierzu bemerkt Jochen Krautz kritisch, dass
bezüglich einer als gemeingültig betrachteten Anthropologie „(...) die bildnerische
Entwicklung nicht unabhängig auch von kulturellen Kontexten gesehen werden kann und
von daher nicht überzeitlich, sondern historisch gebunden sei“ 19.
Die Arbeit am künstlerischen Werk bietet den Schülern lebensbedeutsame
Sinneserfahrungen, welche ihnen hilft in der Begegnung mit der Eigengesetztlichkeit der
Welt, sich mit ihr zu verbinden und im Sinne der Salutogenese nach A. Antonovsky 20 sie in
ihrem menschlichen Kohärenzbedürfnis, durch die Erfahrung von Sinnhaftigkeit,
Verstehbarkeit und Handhabbarkeit bestärkt. 21
II.3 Das Plastizieren22
„Im Greifen, Bearbeiten und Umwandeln der Erdenstoffe wird der Mensch eins mit der Welt,
in der er lebt. Im Bewußtwerden der Außenwelt durch Wahrnehmung und Denken entsteht
zuerst eine Distanz, die aber durch die Tätigkeit an ihr und in ihr überwunden wird.“ 23
Krautz, 2010, S. 63.
19 Jochen Krautz, 2010, S. 31.
20 Aron Antonovsky (1923-1994) entwickelte die Salutogenese als ein Konzept der Entstehung von
Gesundheit. Gesundheit ist kein Zustand, sondern muss als Prozess verstanden werden. Ins Zentrum seiner
Antwort auf die Frage: Wie entsteht Gesundheit? stellt er einen „Sinn für Kohärenz“. Das Kohärenzgefühl
wird jeweils als (subjektive) Empfindung von drei Komponenten gebildet: Sinnhaftigkeit, Verstehbarkeit,
Handhabbarkeit. Der Mensch sieht sein Wirken als sinnhaft und wertvoll, vertraut in sein Handeln und
erlebt sich sinnstiftend eingebunden in das Welt-Ganze, (Sinnhaftigkeit). Er erlangt die Fähigkeit, seine
Umwelt auch übergeordnet zu verstehen und sinnvoll zu interpretieren, (Verstehbarkeit). Im Wissen um die
eigenen Ressourcen weiss er Situationen und Probleme aktiv zu bewältigen, (Handhabbarkeit).
21 Jochen Krautz, 2010, S. 30.
22 Für das Arbeiten mit Ton wird im weiteren Verlauf der Begriff Plastizieren verwendet. Plastizität bedeutet
die Formbarkeit eines Materials (Duden 2013); durch das plastische Arbeiten werden Formen, Formbarkeit
selbst erlebt, hingegen Modellieren mehr auf Modell-Abnehmen verweist. Anke-Usche Clausen/Martin
Riedel 1979, S.169.
23 Michael Martin, 1991, S. 24.
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„Material kommt vom lat. Substantia oder Materia = Gegensatz von Geist, Seele oder Idee“ 24
gleichzeitig dient es als Mittler und Replik und bietet Widerstand. „Es bildet die emotionale
Grundlage der Plastik, gibt ihr den Grundakzent und bestimmt die Grenzen ihrer ästhetischen
Wirkung.“25
Der Begriff Plastisches Gestalten wird im deutschsprachigen Raum in zweifache Weise
definiert: Zum einen findet er Verwendung für das Additive, Antragende, Massebildende
Verfahren beim Arbeiten mit weichen, formbaren Materialien, zum anderen wird er
gebraucht für das durch Schnitzen und Meißeln subtraktive Arbeiten mit harten Materialien,
wie Holz und Stein. Der etymologische Ursprung des Begriffs Plastik stammt von dem
griechischen Verb plassein für bilden und formen und wird in seiner engeren
terminologischen Verwendung auf jene Tätigkeit des modellierenden Bearbeitens von
bildsamer Tonmasse durch Zusammenfügen, Anhäufen und Umformen beschränkt 26.Unter
Formen verstehen wir alles, was die kubisch, räumliche Tastbarkeit als bildnerische Aufgabe
hat.
Das plastische Gestalten ist im Vergleich zur Kinderzeichnung ein noch grundsätzlich wenig
erforschtes Feld. In den allgemeinen Lehrplänen der staatlichen Schulen findet es kaum
Platz; mangelndes Wissen und Können seitens der Lehrer, ein eher unbequemes, unsauberes
Arbeiten und das vergleichsweise schwierige Dokumentieren der entstandenen Werke,
klammern den Bereich aus.
Historisch betrachtet richteten sich die wenigen Publikationen der ersten Jahrzehnte des
20. Jahrhunderts entweder auf das Vorschulalter oder blieben in der Mehrzahl ohne Rücksicht
auf entwicklungspsychologische Fragestellungen allein auf den Werkunterricht bezogen.
Noch die letzten drei veröffentlichten Werke zum Ende des 20. Jahrhunderts, welche erstmals
gestaltpsychologische und methodisch-didaktische Inhalte ansprachen, bezogen sich in der
Regel auf ein noch aus vollkommen anderem soziokulturellen historischen Kontext
entstandenem Fachwissen.27
24 Elke Wieland/Wolfgang Keßler, 2005, S. 46.
25 H. Kurz, 2000, S. 47.
26 Stefan Becker, 2003, S. 10.
27 Stefan Becker, 2003, S. 9-10.
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In den pädagogischen Vorträgen Rudolf Steiners können wir ein wenig über das elementare
Plastizieren als festen Bestandteil des künstlerischen Unterrichtes finden; gemeinsam mit
dem Zeichenunterricht dient es in den ersten vier Schuljahren als voraussetzende Grundlage
für das Formanschauen und Formempfinden des Kindes. Alle möglichen Formelemente
sollen begleitend im Zeichenunterricht geübt werden, um das Kind in das Formempfinden
hineinzubringen, noch bevor es dieselben Gestaltungen in der äußeren Welt wiederfindet,
noch bevor der Nachahmungstrieb erwacht ist28. Steiner geht davon aus, dass die dem
Menschen innewohnenden Bildekräfte (vgl. II. 4) über das künstlerische Schaffen und Beleben
zu Formkräften werden; dieselben Formen und Kräfte, welche er in seinem inneren
Erlebnisbereich trägt, die Kräfte der Bewegung, Sammlung, Dehnung, Aufrechte, der
Schwere und der Leichte, des Wachstums und der Formung, findet er in der äusseren,
gegenständlichen Welt wieder. D.h. über das Entdecken und Schulen des eigenen
Formempfindens wird er vertrauter und sicherer den äusseren Formen und damit der Welt
begegnen und sich dieser nicht gegenüber, sondern mit ihr verwoben und in ihr aufgehoben
fühlen29.
Im Alter von neun bis zehn Jahren soll im Kinde über die Beschäftigung mit den
Organformen des Menschen das Interesse nach plastischer Gestaltung angesprochen werden,
weniger kopierend, als vielmehr aus der Hohlhand heraus, die Formen selbst entdeckend und
entwickelnd30.
Auch in der anthroposophischen Kunsttherapie gilt das plastische Gestalten als Aus- und
Eindrucksmittel auf Körper, seelischer und geistiger Ebene und bildet damit einen
wesentlichen Beitrag, um charakterologische und entwicklungsbedingte Einseitigkeiten
auszugleichen. So können z.B. temperamentsbedingte Schwankungen, Nervosität u.Ä. durch
das Arbeiten mit Ton wieder ins Gleichgewicht finden.
Entwicklungspsychologisch ist man sich mittlerweile einig, dass die triebdynamische,
emotionale und sinnliche Erfahrung sensomotorisch-haptischen Tuns die Basisfunktionen für
den Aufbau von strukturierten Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozessen, wie z.B. der
Sprachentwicklung bilden. Die ersten Material- und Tasterfahrungen aus frühester Kindheit,
28 Rudolf Steiner, GA 295, 1919.
29 Michael Martin, 1991, S. 306.
30 E.A. Karl Stockmeyer, 200, S. 325.
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wie Matschen, Schmieren und Behauen, welche als Entdeckungs- und Gestaltungshaltungen
in uns angelegt sind, verweisen heute bei den zunehmend medienorientierten Kindern und
Jugendlichen auf ein deutliches Defizit. Materialien im sensomotorischen Tun tastend zu
erleben, zeigt sich für viele Kinder heute weitgehend ausgeklammert. Werden diese
ganzheitlichen Sinneserfahrungen in den entsprechenden kindlichen Entwicklungsphasen
nicht gelebt, kann dies zu erheblichen Entwicklungsdefiziten führen. Das Arbeiten mit Ton
als polyästhetische31 Sinneserfahrung soll als kompensatorische Möglichkeit für diese
gesellschaftlich erzeugten Defizite, über die Tastwahrnehmung als haptischen Anteil, an
diese alten Erfahrungen anknüpfen. Emotionale Befindlichkeiten sollen erzeugt und
verdrängte und verschüttete Bedürfnisse wachgerufen werden, um eine labile Verhaltensbasis
stabilisieren zu können;32 später lassen sich leider diese sogenannte „regressiven“ Verfahren
nur mühsam und bedingt nachholen33. Dazu Rudolf Steiner: “Wenn man Gegenstände
betastet, nimmt man nichts vom Gegenstand wahr, sondern man nimmt nur wahr, was in
einem selber bewirkt wird.“34
Der Gestaltvorgang
Der plastische Vorgang, das Phänomen der Gestaltbildung selbst gliedert sich in der
anthroposophischen Dreigliederung nach Rudolf Steiner, in “die polaren Prinzipien von
Chaos (Wollen) und Form (Denken), zwischen denen der Rhythmus (Fühlen) vermittelt“35,
mit dem Willen lassen sich die Gliedmaßen ergreifen, um über das Fühlen und Formen des
Materials die eigenen Vorstellungen zum Ausdruck zu bringen und um sich darüber hinaus an
den Raumgesetzen orientieren zu können. Dadurch, dass das Wollen, Fühlen und Denken in
der körperlichen Motorik vereint gemeinsam angesprochen und gefördert werden, können
über das Formen, unsere Vorstellungen in eigens generierten Begriffen Klärung und Ordnung
finden.
31 Aisthesis (Wahrnehmung). Der Terminus „Polyästhetik“ verweist auf aristotelisches Gedankengut, auf das
„sensorium commune“ in Aristoteles; d.h. Dinge werden immer im Zusammenwirken von mehreren
Sinnen wahrgenommen. Polyästhetik kann also als „vielgestaltige sinnliche Wahrnehmung“oder, wie
Wolfgang Roscher (Musikpädagoge,1927-2002) selbst, als „sinnliche „Mehr-Wahrnehmung“ übersetzt
werden.
32 Barbara Wichelhaus, 1995, zitiert in Georg Peez, 2008, S. 83.
33 Georg Peez, 2008, S. 82-83.
34 Rudolf Steiner, GA 199, 3. Vortrag, 1920.
35 Elke Wieland/Wolfgang Keßler, 2005, S. 26.
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Das Seelisch-Geistige steigt während des Plastizierens belebend und prägend in die Form
schaffenden Bildekräfte (vgl. II.4), aus welchen die Natur den Menschen geschaffen hat,
während die Hände frei die Raumeswelt denkend begreifen können36. Im Vollzug erlebt der
Schaffende ein Zusammenspiel von Körper, - Seelisch,- und Geistigem. Über seinen Leib
erlebt er im Fühlen sinnlich Erfahrbares, in der Seele bewahrt er die Eindrücke und verbindet
sie mit seinem Dasein und im Geiste, in seinem Wesenskern, bildet sich Erkenntniss, baut
sich sein individuelles Ich. Nach Steiner begreift der Mensch erst durch den
Formnachvollzug im plastischen Tätigsein das eigentliche Wesen der den Körper
aufbauenden Kräfte, das Wesen des Bildekräfteleibes (Ätherleib) . (Vgl. II.4)
Der Ton als Material bietet durch seine Weichheit und Formlosigkeit großmögliche
Flexibilität und Freiheit im Ausdruck, er lädt zum Spielen ein, wobei das Eigene gut entdeckt
werden kann. Entsprechend seinem spezifischen Aufforderungscharakter will er über
berühren und spüren eher sachte, behutsam und vorsichtig bearbeitet werden, wobei sich die
Konzentration während des Arbeitsvorganges auf Material, Gegenstand und Art der
Bearbeitungstätigkeit beschränkt. Im Versuchen, Untersuchen, Zusammenfügen, Aufbauen,
Maß nehmen, aneinanderfügen und Ordnen befindet sich der Gestalter hierbei gleichzeitig in
einem Prozess von Suchen und Finden, Denken und Tun, welche gleichrangig und ineinander
existieren. Durch die Bewegung im Wahrnehmen treten Subjekt und Objekt in Beziehung.
Das Material nimmt die Bewegung des Gestalters auf, löst in ihm eine innere Bewegung,
welche den schöpferischen Entwicklungsprozess in Gang setzt, während im wechselseitigen
Dialog mit Aussagen über Wölbung und Höhlungen, über additives und subtraktives
Verformen, das Bildnerische entsteht 37.
Zwischen dem entstehenden Objekt, dem Raum und dem eigenen Körpergefühl tritt eine
Wechselwirkung zwischen Formwollen und der Formveränderung des Materials 38. Im
direkten Zugriff auf das weiche, formbare Material, dessen Empfänglichkeit für Druck jede
Formgestalt als Spur konserviert, reagieren die Hände sich selbst korrigierend auf das
formannehmende Material; aus neuen sich wiederholenden Gesten des Formens ergeben sich
neue Gestaltvorschläge, die über die Wahrnehmung wieder zu neuerlichen Korrekturen der
Bewegung des Gestaltens führen und den Gestaltenden über die Nähe zu Material und Werk
36 Anke-Usche Clausen/Martin Riedel, 1979, S. 23.
37 Elke Wieland/Wolfgang Keßler, 2005, S. 37 - 38.
38 Elke Wieland/Wolfgang Keßler, 2005, S. 48.
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hin zu sich selbst führt39. Das Eine fällt in das Andere. Die wahrnehmend, aufnehmende
Geste geht in die körperlich-sinnliche Erfahrung über und wird durch die Reflexivität des
Bewußtseins und das gestalterische Handeln über den Tastgriff zum Formgriff. Der
Gestaltungsvorgang vollzieht sich aus der unauflösbaren Verbindung zwischen den
Sinnesaktivitäten und der Reflexivität des Bewußtseins 40. Die im Raum entstehende Plastik,
welcher sich der Schaffende als Betrachter gegenüberstellt, wird also nicht nur von außen
gesehen, sondern auch beim Erschaffen erfühlt. Gemäß ihrer Stimmigkeit in Rückwirkung
auf sie selbst, wird sie nicht nur von außen erzeugt, sondern gleichzeitig auch aus sich selbst
heraus geschaffen. Neue Erfahrungen werden gemacht, gesichert und gleichzeitig neu
entworfen; die Erfahrungsneugier als Vorgriff und die Ahnung, dass da noch mehr zu holen
ist, wecken die Erfahrungsphantasie und treiben den Gestaltungsvorgang voran41. Sich über
die Hand von den eigenen Sinnen und dem Körpergefühl dirigieren zu lassen, bringt den
Gestalter in die Nähe zu sich selbst und den eigenen Wesensgrund, aus welchem heraus er
zur Gestaltbildung drängt.42
Das Drücken, Streichen, Kneten, Ansetzen und Höhlen des Materials unterstützt das Erleben
der eigenen Fähigkeiten, Dinge selbst gestalten und verändern zu können und wirkt in
seinem ruhigen, sachten Arbeitstempo klärend und ordnend auf Leib und Psyche. Die zu
erfahrende Grenze zwischen dem Material und der Umgebung, zwischen Innen und Außen,
kann den Kindern helfen, auch in schwierigen Situationen Klarheit und Orientierung zu
finden.
Die Sinne
Das plastische Gestalten ist in erster Linie eine von den Sinnen bestimmende Tätigkeit.
Alexander Baumgarten, Begründer der Ästhetik, formuliert zwei Seiten unserer
Weltzuwendung; eine wissenschaftliche und eine ästhetische. Als Hauptgegenstand der
Ästhetik versteht er das sinnliche Erkennen, als das sich Einfühlen in die Phänomene der
Welt, um ihnen nahe zu stehen. Parallel dazu und ähnlich formuliert, spricht Jost Schieren
bezugnehmend auf Goethe in seinem Aufsatz über „Die Veranlagung von intuitiven
Fähigkeiten in der Pädagogik“, dass unsere Sinneswahrnehmungen zunächst als vorgestellte
39 Gert Selle, 1993, S. 146.
40 Gert Selle, 1993 S. 35.
41 Gert Selle, 1993, S. 33.
42 Wieland, Elke/Keßler, Wolfgang, 2005, S. 22.
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Erlebnisqualitäten in unser Bewusstsein gelangen. Erst durch das mittels unserer
unverfälschten Sinneserfahrungen eigene Erfahren der Dinge, kann es zu dem Bruch unseres
Vorstellungspanzers kommen, um somit zum Eintritt in die Qualitäten der Welt 43.
Für die Schulung und Kultivierung unserer Sinneswahrnehmungen, für die
Vergegenwärtigung ihrer Qualitäten und folglich vom Wahrnehmen der Qualitäten der Welt
gilt folgendes als Voraussetzung: Eine bewußt geführte Beobachtungsintention, die
Differenzierung von Beobachtung- und Denktätigkeit als auch die Deutung von
Wahrnehmungen durch den Verstand, welcher Im Wahrnehmen, Erfahren und Erkennen
bildend eingreift44.
Um einen Ausgleich zu der rein vom Intellekt bestimmten Welt des Denkens zu schaffen, ist
es möglich, sich im gestaltenden Tun, als auch in der Rezeption dessen, über das sinnliche
qualitative Empfinden des Materials und der Formen mit den Dingen zu verbinden und
Vorstellungen durch gemachte Erfahrungen 45 zu ersetzen; im forschenden Arbeitsprozess
verwandeln sich die Vorstellungen über das Bewußtsein zu eigen erlebten, individualisierten
Begriffen46.
Nach Steiner ermöglichen diese lebensbedeutsamen Sinneserfahrungen dem Schüler Einsicht
in höhere Erkenntnisstufen, welche er neben dem Begriff der Intuition (vgl. III.2.1) auch als
Imagination47 und Inspiration bezeichnet.
Bereits am Anfang des letzten Jahrhunderts forderten die Reformpädagogen für den
43 Jost Schieren, 2010, S. 6.
44 Jost Schieren, 1998, S. 135.
45 Im Text versteht sich Erfahrung als die von Goethe für seine naturwissenschaftlichen Forschungsmethoden
genannte Definition von Erfahrung. Erfahrungen als das durch die Sinne Gegebene, werden von den
Seelenkräften aufgefasst, geordnet und ausgebildet. Das Aufgenommene wird durch das Wie und Was
thematisiert und findend durch den Versuch eine bewusste Vergegenwärtigung seines Inhaltes. Dazu ein
Zitat Jvon ürgen Blasius „Der Versuch ist bei Goethe, „(...) die Erfahrung, die sich durch intersubjektive
Reproduzierbarkeit auszeichnet“. Jost Schieren, 1998, S. 88.
46 Wir erschließen uns den zunächst unüberschaubaren Bereich des Wahrnehmbaren dadurch, dass wir ihn im
Tun, im Erfahren, allmählich mit eigenen Begriffen durchdringen und diese dabei gleichzeitig von dem
individualisierenden Einfluß des Wahrnehmbaren durchdringen lassen. Die Anpassung von dem Begriff an
die Wahrnehmung nennt Steiner “Die Individualisierung des Begriffs“. Jost Schieren, 2012, S. 19.
47 Imagination ist hier nicht nur zu verstehen als kulturell geformte Vorstellungskraft, sondern als eine
produktive Vorstellungskraft.
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Unterricht der Schüler mehr Anschauung, Handlungsmöglichkeiten und Erlebnisqualitäten.
Dies beinhaltend wurde der Ruf nach mehr Förderung der Körper- und Sinneswarnehmung
insbesondere durch die künstlerischen Fächer unabdingbar und hat bis heute an seiner
Aktualität nichts verloren. Neuere Ergebnisse der Lern- und Hirnforschung zeigen, dass diese
Forderungen erneut in den Focus unserer aktuellen Bildungsdebatte rücken mussten:
„Die Gehirnforschung macht deutlich, dass unter den Sinneserfahrungen ganz
besonders die Tast- und Berührungserlebnisse, die kognitiven Fähigkeiten, b.z.w. die
Entwicklung des Gehirns begünstigen, fördern und es lebenslang 'ernähren'!“ 48
Hinweise für die Verbindung der beiden Bereiche zeigen sich insofern auch, als das viele
Bezeichnungen wie Erfassen, Behalten, Begreifen, Verbinden, Verknüpfen, für geistige
Vorgänge dem taktilen Bereich entnommen werden. Einen weiteren Hinweis ihrer
Verbindung liefert die moderne Hinforschung insofern, als dass sie die unsere Sprache als
eine Weiterbildung und Folge der Kommunikation mit Handzeichen deutet49.
Hände und Augen
„Zuerst lernte der Mensch den Gebrauch der Hände (...) und erfüllte die Umwelt mit
Taten.“ Rudolf Steiner50
Im plastischen Vorgang sind unsere Hände nicht nur Werkzeug, sondern gleichzeitig
abtastendes, Körper- und Stofflichkeit empfindendes Sinnesorgan, welches entsprechend
erfahrende Informationen an unser Gehirn weiterleitet und somit aus physiologischer Sicht
den Organismus in seiner Eigentätigkeit stärkt. Der hierfür verantwortliche Tastsinn als
Sammelbezeichnung für die Wahrnehmungsoptionen der menschlichen Haut umfasst die drei
Sinnesqualitäten: Druckempfindung, Berührungsempfindung und Vibrationsempfindung51.
Der durch ihn sensibilisierte, sich anschließende Propriozeptive Sinn 52 ist der uns
48 Manfred Spitzer, 2007.
49 Georg Peez, 2002, S. 90.
50 Rudolf Steiner, GA 93a, 1905, S. 124
51 http://www.flexikon.doccheck.com/de/Tastsinn, recherchiert am 15.05.2013.
52 Unter dem Propriozeptiven Sinn verstehen wir den „Bewegungssinn“ und „Gleichgewichtssinn“, von
Rudolf Steiner auch „Nachtsinne“ oder „Willenssinne“ genannt. Propriozeption bezeichnet die
Wahrnehmung von Körperbewegung und -lage im Raum, bzw. der Lage/Stellung einzelner Körperteile
zueinander. http://de.wikipedia.org/wiki/Propriozeption, recherchiert am 19.04.2013. Die über den Tastsinn
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unbekannteste, unzugänglichste Sinn und selten ist uns bewußt, dass er, verantwortlich für
unsere Eigengestalt- und Raumwahrnehmung, dem Kind den Aufbau seiner Leib-SeeleKongruenz (Übereinstimmung von Fühlen, Denken und Handeln) erst ermöglicht und somit
die Basis seines Realitätsbezuges bildet.
Der Pädagoge Karl Klöckner unterteilt die Hände in ihren Aufgaben in folgende zwei
Funktionen: Die „Tasthand“, welche mehr „erfühlend“ und aufnehmend die Welt
erkundschaftet; die „Arbeitshand“, mehr konzentriert auf das „Erfassen der Dinge“ und die
Willensspannung, ist die stärker auf den Intellekt bezogene 53.
Indem unsere Hände als Gestaltungs- und Wahrnehmungsorgan im plastischen Vorgang
Formen nach-, um- und neuschaffen, vermitteln sie zwischen der Innen- und der Aussenwelt.
Unsere Sinne als Organe der Verinnerlichung nehmen auf und geben nach Innen weiter;
hingegen die Hände das Aufgenommene durch die eigene Art des Menschen im
Verinnerlichen verwandeln und das, was sie als Impuls von innen empfangen, nach aussen
wieder abstrahlen54.
Für das plastische Gelingen spielt hier die enge Zusammenarbeit zwischen Hand,
(sinnlichere Sinn) und Auge, (geistigere Sinn) eine wesentliche Rolle. Dadurch, dass das
Auge im Arbeitsprozess mitverfolgt, was die Hand tut, wird es im Wahrnehmen der
Formbildung der Hand wach, und die Kontrolle im gegenseitigen Wechselbezug wirkt
schulend und stark belebend auf das physische Sehvermögen. Als gleichberechtigter,
bestimmender Sinn und weltwahrnehmendes Organ nährt es von aussen die Bilder unserer
Innenwelt, stärkt zugleich die Kräfte unserer Vorstellungen, welche die Hände im plastischen
Vorgang führen. Des Weiteren macht ihre Beziehung zueinander den entscheidenden
Unterschied zwischen zwei- und dreidimensionaler Gestaltung deutlich; eine Zeichnung ist
mit geschlossenen Augen undenkbar, während ein Blinder durchaus eine plastische Arbeit
schaffen kann.
In ihrer Tätigkeit stellen die Hände intelligente Erkenntnisinstrumente dar, welche den
erhaltenen Informationen können uns nur durch die propriozeptiven Sinne, die räumliche Vorstellung eines
dreidimensionalen Gegenstandes vermitteln. Stefan Becker 2003, S.12.
53 Karl Klöckner, 1969, S. 435.
54 Michael Martin, 1991, S. 113.
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Sinnesorganen und dem Gehirn zuarbeiten, damit diese sich selbst und die Welt begreifen
können. Mit Beginn der Evolution treiben sich Gehirn und Hand in ihrer Ausbildung
gegenseitig an und stehen in einer komplexen, kaum zu überbietenden Wechselbeziehung
zueinander. Bezugnehmend dazu weist der Neurobiologe Gerhard Neuweiler darauf hin, dass
bei allen Vorgängen der Hände, die einen zeitlichen Ablauf beinhalten, das Kleinhirn sich als
lernende Zeitmaschine zuschaltet und aufkommende Fehler in den Bewegungsabläufen so
lange korrigiert, bis die neurale Absicht und der motorische Ablauf identisch sind55. D.h.
durch die Rückkopplung des Gehirns und die damit einhergehenden Fehlerkorrekturen, wird
durch wiederholtes Handeln und Üben nicht nur das Gehirn trainiert, sondern gleichermaßen
auch die Gestaltungskraft unserer Hände ausgebildet. Im Plastizieren wie grundsätzlich im
Handwerk, ist der Gedanke also unmittelbar mit dem Tun der Hände verbunden, es wird eine
Denkweise stimuliert welche sich gerne/auch als ein „Denken mit den Händen“ beschreiben
läßt. Die Gedankenlogik, die sich unmittelbar aus der Sache und dem Material folgend ergibt,
wird somit auf „lebensvolle“ Weise geübt56.
Der Mensch, im Vergleich zum Tier ein Hand- und handelndes Wesen, vermag es anhand
seiner Hände seine Vorstellungen nach aussen tragen zu können. Die Arme und Finger
werden nach Steiner im plastischen Vorgang zu unseren Gedankenwerkzeugen.
Forciert durch das dem Menschen innewohnende Plastische Prinzip, gelangt das gedanklich
Erfasste und das Gesehene von den Augen über die Arbeit der Hände nach Aussen und
manifestiert sich in den zu entstehenden bildhaften Formen57. „Der Mensch denkt so also mit
seinem ganzen Leibe.“58 In der Hand als ein Instrument der Erkenntnis, zeigt sich ihre
außerordentliche Bedeutung für das Begreifen der Wirklichkeit und des Erinnern von Welt
und Selbst.
„Immer ist die Tätigkeit der Hände Ausdruck der inneren Aktivität, der Empfindung, der
Bewegung des ganzen Menschen.“59 (Zitat Eva-Maria Garbe) In der klassische Kunsttherapie
benennt der schwedische Bildhauer und Psychiater P. Bjerre den Akt des künstlerischen
55 Neuweiler (2007) attestierte der Hand sogar eine „motorische Intelligenz“. Hubert Sowa, 2012
56 Michael Martin, 1991, S. 325.
57 Rudolf Steiner, GA 307, 1923.
58 Rudolf Steiner, 1919.
59 Eva-Maria Garbe, 1977, S. 102.
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Schaffens selbst, die “Psychosynthese“, als den wichtigsten Heilfaktor und sieht darin sogar
eine Analogie zu der Wundheilungstendenz in der Organmedizin: „Mithilfe der Hände lassen
sich Geheimnisse enträtseln, an denen sich der Verstand vergebens bemühte!“ 60
Das Plastizieren als Begriffsbildung verstanden, geht von einem plastischen
Wahrnehmungshandeln aus, indem die Hand sowohl sich selbst als auch die vor ihr
befindliche Welt begreift. Das Ergebnis dieses Begreifens ist ein Begriff, ein Begriff von
Selbst und ein Begriff von Welt, der sich durch das plastische Handeln bildet. Diese Weise
der Begriffsbildung ist eine Form von Identitätsbildung und Weltbildung. Durch die
persönliche Begegnung der äußeren und inneren Bilder im handelnden Begreifen, folgt das
eigene „Aneignen“ der Dinge als Voraussetzung für jegliches Verstehen.
Indem der Handelnde versucht, die eigenen Ideen in bildhafte Formen zu kleiden, werden sie
zu „lebendigen Ideen“, die den ganzen Menschen in seinem Denken, Fühlen und Wollen
ergreifen. Steiner formuliert an der Stelle paradox: „Die Idee ist eine plastische Form, das
Kind lernt eigentlich auch alles das zu machen, was es denken lernt.“ So entsteht, dass die
Schüler auch das machen können, was sie wissen, d.h. “Könnendes Wissen und wissendes
Können“.61
II.4 Gewähltes Thema in Bezug auf menschenkundliche Belange
Im Menschen lebt der innere Drang, die innere Sehnsucht, plastisch gestaltend tätig zu sein.
Bereits die ersten Kunstwerke der Menschheit bestanden neben der Wandmalerei aus
plastisch, gestaltender Kunst. Diese Freude im Umgang mit dem Naturmaterial Ton ist
bereits auch deutlich im Kleinkindalter zu erleben. Das Spiel als Ausdruck von kindlichem
Tatendrang beschreibt Rudolf Steiner als eine “Befreiung von einer Tätigkeit, die heraus
will“. dieser Drang, etwas machen zu wollen, eine Gestalt, etwas Ganzes, begleitet von einer
noch offenen, bildsamen Kinderseele und einem starken Einfühlungsvermögen, gilt es
behutsam überzuführen in die schöpferische Tätigkeit, ins plastische Gestalten.
Mit dem Schuleintritt wird dennoch die von ungehemmten Trieben und Wünschen
60 Elke Wieland/Wolfgang Keßler, 2005, S. 20.
61 Rudolf Steiner, GA 307, 1923.
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ausgerichteten Welt des Kindes durch Ordungen, Zeit und Ruhe behutsam Grenzen gesetzt.
In der noch ergebnisoffenen Welt des Spielens erfährt das Kind erste einschränkende
Widerstände, geistiger als auch körperlich-motorischer Anpassungsdruck wird ihm
abverlangt. Seinem “Werksinn“62 weiterhin folgend, möchte es Wirken, Schaffen und sich
selbst ausprobieren. Seiner Trieblenkung bewußt, erwacht der Wille und lenkt seine
Aktivitäten zielgerichteter. Da das Kind besonders jetzt in seiner zweiten Lebensepoche noch
in die eigene Schöpferkraft vertrauend, seine Welt als schön empfindet, offen und am
empfänglichsten für alles Künstlerische ist, läßt sich über das künstlerische Arbeiten viel
erreichen. Noch stark in seiner Vorstellungswelt verhaftet, baut es in seinem Weltverstehenund Aneignen Bildvorstellungen, öffnet sich Räume der Phantasie von Möglichem und
Unmöglichem und schafft so wichtige Grundlagen für ästhetische Erscheinungen und
Vorgänge; so ist die “(...) Bildnerische Tätigkeit als Gestaltung im Sicht- und Greifbaren eine
Grundform kindlichen Seins und Lebens“.63
Nach der anthroposophischen Pädagogik und Menschenerkentniss Rudolf Steiners,
verwandelt sich während des Zahnwechsels mit der Geburt des Äther- oder Bildekräfteleibes
64
die ganze Seelenkonstitution des Kindes; das Seelisch-Geistige emanzipiert sich allmählich
vom Leib und richtet sich neu ein; die zuvor den Leib-und organbildenden Kräfte werden
frei, verwandeln sich über den Appell an das Gefühlsmäßige, das auf den Willen wirkt, in
Verstandeskräfte und wollen im Aussen wirken.
Die im Leib bis zum neunten bis zehnten Lebensjahr aufbauende und formende Ätherkraft
62 Erik Erikson, 2003, S. 61.
63 Karl Klöckner, 1969, S. 426.
64 Für Rudolf Steiner erfolgt die gesamte Entwicklung des Menschen in Rhythmen von ca. sieben Jahren.
Dabei unterteilt er den Menschen in vier verschiedene, ineinander greifende Wesensglieder oder
Lebensleiber, welche er bis zu 21. Lebensjahr durchwandert. 1.-7. Jahr Bildung des Physischen Leibes,
(mineralisch) 7.-14. Jahr Bildung des Ätherleibes, (Lebensleib) 14.-21. Jahr Bildung des Astralleibes
(Empfindungsleib). Ab dem 21 Jahr ist der Ich-Leib voll entwickelt und damit die Zeit der Selbsterziehung
erreicht. Die Bildung des Ätherleibes oder Bildekräfteleibes bedeutet die Zeit der Entwicklung der
Neigungen, Gewohnheiten, des Gewissens, des Charakters, des Gedächtnisses, der Vorstellungen und der
Tempramente. Der Organismus findet langsam den Ausgleich zwischen Blutzirkulations,- und
Atmungssystem. Jetzt ist die Zeit, wo von Aussen auf das Kind eingewirkt werden kann, im Denken,
Fühlen, und Wollen; um ihm die Möglichkeit geben zu können, sein Seelisch-Geistiges aus dem PhysischLeiblichen heraus zu entfalten, ist ein Lernen über Gleichnisse, Bilder, Religion und Vorbild von Nöten.
Rudolf Steiner, 1965, S. 26.
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(Bildekraft) bildet jetzt im Kind den Wunsch und Drang auch im Aussen nach ebenso
schaffendem und selbsttätigem Arbeiten. Diese im Inneren wirkenden organbildenden Kräfte,
die das Kind mit plastischer Tätigkeit durchzieht, es selbst als “unbewusst inneren Plastiker“
beschreibt, können im äusseren Schaffen durch plastisches Formen und Malen vom Kinde
erfahren und gelebt werden. Diese innerlich plastischen Anlagen gilt es ins Aussen
hervorzuholen. “All das, was aus dem Kind herauskommen muß, ist in kindlicher Weise an
das Kind heranzutragen“.65
Um diesen charakterologischen Qualitäten pädagogisch begegnen zu können, bietet sich der
Ton als Material künstlerischen Arbeitens in seiner Qualität und plastischen Eigenschaft
hervorragend an; er wirkt aufbauend und formbildend auf den Gestaltungsprozess des
Ätherleibes und fordert gleichzeitig im Gestaltungsvorgang die IntellektuellenVerstandeskräfte.
Um eine Differenzierung ästhetischer Ausdrucks- und Gestaltungsformen aufzubauen, bzw.
sein eigenes Formgefühl entwickeln zu können, bietet sich das Plastizieren jetzt als eine
Tätigkeit an, bei welcher das Kind mit Hilfe seiner im Inneren wirkenden lebendigen
Lebensprinzipien, den Bildekräften, im Aussen jetzt nicht mehr unbewußt nachahmend,
sondern aus der eigenen Formkraft herausarbeitend, für sich Formen finden und entwickeln
kann.
Die innere Gesetzmäßigkeit des Gestaltens zu wecken, ist durch das Nachahmen im Aussen
nur zwischen dem 7.-14. Lebensjahr möglich.66
Der so geschulte Formensinn gibt ihnen mehr Gefühl und Empfindlichkeit für die Schönheit
und die Qualitäten allgemeiner Gestaltung; das über die Augen aufgenommene und an die
Hände ableitende lernt geschmackvoll zu schaffen, was gefällt. Oder mit Steiners Worten:
“Aus der Pflege des Schönheits- und Kunstsinnes, erwächst Freude am Leben, Liebe zum
Dasein und Kraft zur Arbeit.“67
Die Umbildung des Ätherleibes zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife, wirkt
65 Rudolf Steiner, 2009, S. 26.
66 Rudolf Steiner, 2009, S. 25.
67 Rudolf Steiner, 1965, S. 36.
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von Aussen bewußt auch auf die Fortentwicklung des Gedächtnisses. Das vorher noch stark
situativ bezogene Erinnern des kleinen Kindes verwandelt sich mit der Geburt des
Ätherleibes erstmals zu einem unabhängigen, aus den eigenen, inneren Bildern gespeistem
Erinnern und Vorstellen; zu abstrakte und intellektuell gebildete, rationale Begriffe wirken da
noch stark belastend auf das Gedächtnis des Kindes.
Ausgleichend dazu spricht Rudolf Steiner in den “drei goldenen Regeln“ 68 zum Einen vom
lebendigen oder imaginativen-geistigen Anschauen, der Dinge im plastisch und malerischen
Arbeiten. Bilder und Gleichnisse nach dessen innerem Sinn und Wert es sich richten kann,
wirken ansprechend und hervorrufend auf die inneren Bilder, lenken die Phantasie und rufen
damit zugleich diejenigen Kräfte auf, die bis in den physischen Körper hinein das Gedächtnis
in der richtigen Weise zur Entfaltung kommen lassen. Zum Anderen wirken die für den
plastischen Prozess notwendig treibenden Kräfte der Motivation, Ausdauer und
Entschlossenheit, als Willensbetätigung und Willensbildung, fördernd für die
Gedächtnisentwicklung.
Um die Zeit mit ca. neun Jahren erlebt das Kind, hervorgerufen durch den seelischen
Umbruch, eine erste Trennung zwischen sich und der Welt und zwischen sich und den
Erwachsenen69. Seine Unbefangenheit und Naivität schwinden zunehmend zugunsten
auftauchender Fragen nach der eigenen Identität und Herkunft. Ein verstärktes “Sich-selbstErleben“ wird wach, und alles drängt darauf, sich empfindungsgemäß von der Umgebung zu
unterscheiden. Besonders in dieser Zeit kann das plastisch-bildnerische Arbeiten beleben und
helfend wirken; das Kind wendet sich im freudigen Tun willensstark der Welt zu und erfährt
als Schöpfer und Gestalter sich seiner Kräfte bewußt, Festigung und Halt. (Vgl. II.3)
68 „Wenn wir die drei Grundsätze festhalten: Begriffe belasten das Gedächtnis; Anschaulich-Künstlerisches
bildet das Gedächtnis, Willensanstrengung, Willensbetätigung befestigt das Gedächtnis.“ Rudolf Steiner,
GA 307, 1923, S. 204.
69 Rudolf Steiner, GA 307, 1923, S. 104.
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III Fachdidaktische Überlegung zum Aufbau der
Unterrichtsreihe
Um die Unterrichtsreihe organisiert und entsprechend meiner Anforderungen gut planen zu
können, habe ich die „Strukturanalyse“ aus dem lerntheoretischen Modell, dem „Berliner
Modell“ von P. Heimann, G. Otto und W. Schulz angewendet 70. Dieses bietet mit Hilfe der
folgenden 6 Fragen eine klärende Struktur für die didaktische Herangehensweise der
Unterrichtsgestaltung. Nach Heimann stehen die Fragen in strenger „Interdependenz“
zueinander, sie bedingen sich gegenseitig und die eine ist ohne die andere kaum
beantwortbar. Miteinander verknüpft, präzisieren und ergänzen sie sich untereinander und
erst ihr Zusammenspiel bietet die Möglichkeit für einen guten Unterricht.
1. In welcher Absicht tue ich etwas?
2. Was bringe ich in den Horizont der Kinder?
3. Wie tue ich das?
4. Mit welchen Mitteln verwirkliche ich das?
5. An wen vermittele ich das?
6. In welcher Situation vermittele ich das?
Die ersten vier Fragen unterliegen ausschließlich der Entscheidung des Lehrers, wie
Intentionalität, Thematik, Methodik und Medienwahl, (Entscheidungsfelder) und sind an
bestimmte Voraussetzungen gebunden. Diese, die anthropogenen,- und soziokulturellen
Voraussetzungen, zusammengefasst mit den Fragen 5 und 6, auch Bedingungsfelder genannt,
werden nach dem Grad ihrer Veränderbarkeit unterschieden. In Bezug auf die
Rahmenbedingungen des Unterrichtes wird ergänzend dazu die sich aus den drei folgenden
Punkten zusammensetzende Faktorenanalyse empfohlen, welche dem Lehrer eine zweite
Reflexionsmöglichkeit bietet. Diese zielt auf die gegebenen Voraussetzungen der schulischen
Realität und die seine eigenen Entscheidungen beeinflussenden Faktoren:
1. Normenkritik. Welche ideologischen und außerpädagogischen Normen prägen meine
70 Das „Berliner Modell“, auch „Lerntheoretisches Modell“ genannt, wurde um 1965 von Paul Heimann,
Gunter Otto und Wolfgang Schulz konzipiert. Es teilt sich auf in die die Struktur- und die Faktorenanalyse,
zwei Reflexionsebenen als Fahrplan für eine Unterrichtsgestaltung. Werner Jank/Hilbert Meyer, 1994, S.
183-185.
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Entscheidungen, wie z.B. Weltanschauung, Menschenbild, Schulgesetze, politischgesellschaftliche Richtlinien, Religionen?
2. Faktenbeurteilung. Die gegebenen Tatsachen wie personelle, materielle und
institutionelle Rahmenbedingungen müssen hinsichtlich ihrer Stabilität oder
Veränderbarkeit in Bezug auf den Unterricht durchdacht werden.
3. Formenanalyse. Sie dient dazu, bekannte und bewehrte Unterrichtsmethoden auf
ihren Erfolg bzw. ihre Wirkung hin zu untersuchen, um gemessen daran, den eigenen
Unterrichtsstil- und Haltung zu finden und gegebenenfalls selbstreflexiv zu
optimieren.
III.1
Frage 1: In welcher Absicht tue ich etwas?
Als mein Anliegen und zugleich zentrale Aufgabe und größte Herausforderung in meiner
Arbeit als Kunstlehrerin sehe ich, den beiden wichtigsten Fragen des Kindes: „Kannst du mir
zu einer Weltbegegnung verhelfen?“ und „Siehst du mich wirklich?“ 71 sachgemäß und
verantwortungsvoll begegnen zu können. Um dieser Aufgabe gerecht werden zu können und
weil das pädagogische Modell der rein kognitiven Wissensvermittlung nicht reicht um der
Welt vollständig zu begegnen, sie begreifend erfahren zu können, erarbeitete ich diese
Unterrichtsreihe unter waldorfpädagogischen Ansätzen. (Vgl. II.2) Mit Blick auf eine
freiheitliche Selbstbestimmung verhilft er dem Kind durch das eigene Tun in seiner
Weltbegegnung und läßt es in seiner seelisch und geistigen Tätigkeit die Welt selbst erfahren.
Mit dieser Unterrichtskonzeption verfolge ich weniger die Suche nach dem jungen Künstler
und seiner individuellen Ausdrucksform, als vielmehr dasjenige, was das schöpferische Tun
im Prozess bei den SuS auslöst, was als gemachte Erfahrung in ihnen begleitend zurückbleibt
und sie in ihrem Weltbegegnen stärkt. Das „Kunst-Machen verstanden als Methode, um eine
Brücke zu bauen, über die er aus seiner eigenen Welt in die Welt seiner späteren Wirksamkeit
schreiten kann.“72 Sie sollen die Möglichkeit bekommen, über die Sensibilisierung ihrer
Sinneswahrnehmungen die Hände als Werkzeug zum schöpferischen Tun kennen und nutzen
zu lernen, um ihnen neben dem Umgang mit dem Virtuellen, Leblosen, das Künstlerische als
71 Tobias Richter, 2006 S. 44.
72 Michael Martin, 1991, S. 308.
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Kraftquell zur Seite zu stellen, ihnen den Zugang zu diesen lebendigen Werdeprozessen zu
erschließen.
Um den hier gemeinten Begriff von Bildung durch das Potenzial von Kunstunterricht zu
beschreiben, möchte ich erneut auf Paul Heimann verweisen, dessen Bildungsbegriff als ein
Instrument der Entfaltung, auf die Entwicklung der Schüler zu einer „Daseinsbewältigenden
Persönlichkeit“73 zielt. Durch das gleichzeitige Ansprechen von Denken, Fühlen und
Handeln sollen sie in ihrer Persönlichkeitsbildung, Sozialfähigkeit und Kreativität gefördert
und gestärkt werden. Für den geplanten Unterricht bedeutet das, über
•
die Sensibilisierung der Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber bildnerischer
Gestaltungsmöglichkeiten,
•
das kritische Reflektieren gegenüber eigenen und anderer Gestaltungswege und
•
durch das Üben von Imagination und Vorstellung und deren Darstellungsfähigkeit
die Bildung und Übung des künstlerischen Denkens und Handels auszubauen.
Zur Motivwahl
Fachwissenschaftlich bestätigt, lässt sich über das persönliches Interesse der SuS an den
Lerninhalten und ein gefühlsmäßiges, positives Verbinden mit diesen, das Lernverhalten
positiv beeinflussen und damit steigern. Im Hinblick darauf habe ich als Arbeitsmotiv und
Identifikationsfläche altersentsprechend interessante Tiere gewählt, welche auch ihren
gestalterischen Möglichkeiten entsprechen. In diesem Alter zeigen die Kinder noch viel
Sympathie für die Tierwelt und hegen mitunter eine enge, positive und emotionale Beziehung
zu diesen. Des Weiteren lassen sich mittels der Tierkörperformen erste einfache
Grundübungen und Formen des Plastizierens sehr gut üben und darstellen und gleichzeitig
erste Grunderfahrungen der Genese von Formen erfahren, bzw. erleben.
Da ich die Frage nach der Intention des Lehrers in enger Verwandtschaft mit der Frage nach
den Unterrichtszielen sehe, möchte ich mit diesen fortfahren.
73 Werner Jank/Hilbert Meyer, 1994, S. 213.
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III.2
Ziele der Unterrichtsreihe
Als übergeordnetes Ziel der Unterrichtsreihe steht das Anfertigen einer kleinen Tierplastik
aus Ton. Ausgehend von einer Kugel, sollen die SuS mittels didaktischer Schritte lernen,
erfahrend und entdeckend ein kleines Tier zu formen. Als die dem untergeordneten Ziele
stehen,
•
das Fördern der körperlichen, geistigen und auf die Bewegung gerichteten
Wahrnehmung und
•
der Versuch, in ihnen ein Gefühl für ein Formanschauen und Formempfinden
zu wecken und aufzubauen.
Ihr Mitteilungs-, Handlungs- und Gestaltungsbedürfnis befriedigend soll es nicht primär um
Wissenserwerb oder ein zweckorientiertes aufgesetztes Kunstschaffen gehen, sondern um
eine intensive Erfahrungsarbeit als Handlungsziel, bei welcher der Verarbeitungsprozess des
Erlebens im künstlerischen Schaffen, die Übergänge von Aufnehmen, Erinnern, Verarbeiten
bis zu gestaltendem Antworten auf das Empfundene und Wahrgenommene in den
Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens rückt.
Grundsätzlich beziehen sich die Ziele auf die zu bewirkende Internalisation der SuS; sie
stehen nicht isoliert, sondern sind immer abhängig von den anthropogenen und
soziokulturellen Voraussetzungen und stehen darüberhinaus in enger Abhängigkeit mit den
Unterrichtsinhalten- und methoden. Ihr Wechselspiel untereinander bildet die Grundlage für
einen gelungenen Unterricht.
Ziele legen die Handlungsrichtungen fest, sind zukunftsorientierte Vorwegnahmen der
angestrebten und zu erwartenden Ergebnisse und bieten Kriterien zur reflexiven Überprüfung
unterrichtlicher Handlungen. Dabei unterscheidet man zwischen den vom Lehrer gesteckten
Lehrzielen und dem erreichten Lernziel, dem Lerngewinn des Schülers. Werden die Lehrziele
zu den Handlungszielen der Schüler, zeigt das im Idealfall einen positiven Unterrichtsverlauf
und verweist auf die intrinsische74 Motivation der Schüler; ihr Lernbedürfnis ist
74 Als intrinsische Motivation bezeichnet man das Bestreben, etwas um seiner selbst willen zu tun, weil es
einfach Spaß macht, Interessen befriedigt oder eine Herausforderung darstellt. Intrinsisch bezieht sich auf
die Motivation, die aus einer Aufgabe selbst entspringt. Personen die aus intrinsicher Motivation Verhalten
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deckungsgleich mit dem Anliegen des Lehrers und dem Unterrichtsprozess.
Übergeordnet möchte ich hier die Unterrichtsziele in explizite und implizite Lernziele
einteilen, wobei folglich die expliziten auch den impliziten Leistungen dienen.
Die expliziten Ziele beschreiben die Steigerung der eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten
der SuS, welche sich im Kunstunterricht im handlungsbezogenen Arbeiten und den
entsprechenden Arbeitsergebnissen ablesen lassen.
Unter impliziter Zielsetzung verstehe ich eine durch den mehr unbewußt-emotional positiv
erlebten Vollzug, eine aus dem natürlichen Anreiz heraus „selbstgeschaffene“ Zielrichtung.
Einem intrinsischen Motiv folgend, möchte ich mit Hilfe ausgesuchter Unterrichtsinhalte, die
Interessengewinnung, die Initiativ- und damit die Lernfreude der SuS wecken und sie so zu
mehr Selbstmotivation, selbst gesteuertem- und selbst verantwortetem Lernen und einer
eigenen Lernerfolgskontrolle motivieren. Diese Ziele wirken tiefer und mehr wesenshaft auf
die SuS, und deren Ergebnisse lassen sich eher dauerhaft an ihrer Persönlichkeitsentwicklung
und der eigenen Lebensgestaltung ablesen.
Um eine Präzisierung der Lernzielformulierung zu finden, habe ich mich an den beiden
Lerntheoretikern Benjamin Bloom und David Krathwohl 75 orientiert; in den 50er und 60er
Jahren entwickelten sie ein Dimensionierungsraster und klassifizierten die Ziele in folgende
drei Dimensionen. Die Grob- Richt- und Feinziele habe ich diesen untergeordnet.
Die kognitiven Lernziele beziehen sich auf den Bereich des Erinnerns (Kennen,
Reproduzieren) von Wissen und auf die Erweiterung intellektueller Fähigkeiten und
Fertigkeiten. Sie beschreiben ein Verhalten, das den Wahrnehmungs-, Gedächtnis- und
Denkbereich des Menschen betrifft76.
Die affektiven Lernziele beziehen sich auf den Bereich der Gefühle und Wertungen. Sie
beschreiben ein Verhalten, das den Bereich der Triebe, Interessen und Einstellungen betrifft;
zeigen sind im Vergleich mit extrinsisch motivierten Personen zufriedener mit ihrer Tätigkeit (genießen
den Weg), verfolgen die Ziele hartnäckiger, freuen sich mehr über das Erreichen eines Zieles und kommen
besser mit Mißerfolg zurecht. www.de.wikipedia.org/wiki/Motivation und www.
wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/intrinsische-motivation.html, recherchiert am 25.03.2013.
75 Werner Jank/Hilbert Meyer, 1994 S. 305.
76 paedpsych.jk.uni-linz.ac.at/internet/arbeitsblaetterord/LERNZIELORD/LernzieleDimens.html,
recherchiert am 29.05.2013.
Seite 30 von 77
d.h. ein Lernen bezügl. der Veränderungen von Interessenlagen, der Bereitschaft etwas zu tun
oder zu denken und auf die Entwicklung von Werthaltungen.
Die Psychomotorische, bzw. handlungsorientierte Lernziele beziehen sich auf das Lernen im
Bereich von z.T. auch sichtbaren, erwerbbaren Fertigkeiten; sie beschreiben die psychische
Fähigkeiten und Fertigkeiten des Schülers, z.B. Leibeserziehung, handwerkliche und
technische Fähigkeiten, Handschrift und Sprache
Im Kunstunterricht sind diese drei Zielebenen grundsätzlich eng miteinander verknüpft; das
psychomotorisch-handlungsorientierte Ergebnis ist gleichzeitig auch das Ergebnis kognitiver
Lernleistung.
Kognitive Lernziele
Die kognitiven Lernziele stehen in dieser Unterrichtsreihe für den Erwerb von inhaltlichem
Wissen und für Lösungen von handwerklichen und gestalterischen Aufgaben. Dabei verweist
einem speziellen Zweck dienend, das lösungsorientierte Denken auf die geistigen Prozesse
des Organisierens und Reorganisierens von Material und zielt im Kombinieren und
Neuordnen des vorgegebenen Materials auf die intellektuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten
der Kinder. Entscheidend ist hierbei im inneren wie auch im äusserlichen Tun selbst, die
Einigung von dem gefassten Willen, der Idee und dem entstehenden Werk in seiner
Erscheinung77. An der von im Selbst durchgeführten Tätigkeit soll das Kind lernen, die dem
Material innewohnenden Gesetzmäßigkeiten und Möglichkeiten zu erkennen, um gemessen
daran seine Ideen, Vorstellungen und sein Handeln aus zu richten. Ein schön gestaltetes Tier
erfordert im Arbeitsprozess ein permanentes Abwägen, Vergleichen und Kontrollieren der
Ergebnisse, d.h., ein Denken im permanenten Wechselspiel mit äusserem Handeln schult
neben dem Urteilsvermögen ein Denken, welches gemessen am praktischem Tun bei aller
Abstraktheit doch sachbezogen bleibt 78.
Wichtig für jede kreative Form der Wirklichkeitsdeutung und Aneignung ist auch die
Fähigkeit zum bildnerischen Denken79. Im künstlerischen Handeln, (eben anders als in
77 Tobias Richter, 2006 S. 44.
78 Georg Rist und Peter Schneider, 1977, S. 321.
79 Nach Reinhard Pfennig handelt es sich beim bildnerischen Denken um ein „Sichtbarmachen“. Jeder
Gestaltungsvorgang besteht aus einem Erfinden und Realisieren; das Konkretisieren einer nicht
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anderen wissenschaftlichen Tätigkeitsfeldern), sind Produktion, Rezeption und Reflexion,
Denken, Finden und Machen oft und ausdrücklich eins und sind insofern als gleichwertig zu
betrachten. Im Erfinden und Umsetzen sollen sie im Wechselspiel von „machen - sehen einfühlen - finden - reflektieren - reagieren und neuem machen“ ein Denken üben und
schulen, welches zwischen rational Gedachtem und intuitiv Erspürtem im Ausdruck “Das
Eigene“sichtbar werden lassen kann.
Ein weiteres sich diesem anschließendes Ziel, ist die Entwicklung und Förderung des
kreativen Denkens und Handelns. Die Kraft der Kreativität gilt allgemein als Motor
evolutionären Fortschritts und gehört zur Grundausstattung flexibler Intelligenz.
Charakteristisch für kreative Prozesse ist ein Zusammenspiel von divergenten, (innovativ,
flexibel) und konvergenten, (prüfen, bewerten) Denkweisen80. Mittels des Plastischen
Arbeitens neue Erfahrungen zu machen und Dinge auszuprobieren fordert und fördert
gleichsam beide Denkweisen und unterstützt damit ihre Fähigkeit, Dinge anders zu sehen
oder anders machen zu können. Das schöpferische Tun, der Gestaltungsprozess selbst, soll
ihnen den Raum bieten für kreatives Entwickeln; die hierbei gemachten Erfahrungen sind
von Dauer und bilden den Boden für ein Vertrauen in das eigene schöpferische Potenzial und
somit für ein Vertrauen in sich Selbst.
Affektiv, emotionale Lernziele
Das plastische Arbeiten soll die künstlerischen Kräfte der SuS wecken. Der Umgang mit dem
Material und das Gelingen der Arbeit soll ihnen Freude bereiten und ihnen erste Erfahrungen
vermitteln, wie plastisches Formen wirkt.
Den Ton mit den Händen zu (be‐)greifen, das Erleben, Dinge selbst gestalten und verändern
zu können, schenkt Vertrauen in die eigene schöpferische Kraft und soll helfen, sich selbst
und die eigenen Ressourcen zu entdecken. Ziel ist, das Ich als eine selbstbildende Kraft zu
erkennen, um zukünftig als Schöpfer der eigenen Entwicklung zu dienen.
Anhand der Verarbeitungsverfahren und der verschiedenen Techniken, sollen sich die SuS
vorhandenen Wirklichkeit als auch das Abstrahieren der vorhandenen Wirklichkeit bedeutet sowohl den
Weg als auch das Ziel des bildnerischen Denkvorganges. www.artwebs.de/pfennig.html, recherchiert am
04.06.2013.
80 Die Grundschulzeitschrift, 2012, S.33.
Seite 32 von 77
auf ihre Ausdrucksmöglichkeiten hin erkunden und erproben und nach Möglichkeit lernen,
eigene Gestaltungsbedürfnisse abzuleiten, um fortdauernd gelernte Verfahren und Techniken
in Gestaltungsprozessen absichtsvoll nutzen zu können. Das angeeignete Wissen und Können
zu nutzen und zu optimieren dient dazu, den Spielraum der gestalterischen Möglichkeiten
und inhaltlichen Freiheiten zunehmend selbstbewußter zu gestalten, wie z.B. auch ausserhalb
des Schulkontextes Ideen entwickeln zu können und sich mit ästhetischem Arbeiten
auseinander zu setzten. Insofern kann der Erwerb der eigenen Handlungskompetenz durch
das schöpferische Tätigsein, den SuS auch als Weg dienen, das eigene Handeln in Bezug auf
ihre Lebens- und Erfahrungswelt in einen sinnhaften Zusammenhang stellen zu können.
Die Entwicklung und Ausdifferenzierung der Sinne und der Empfindungsfähigkeit
(Wahrnehmungsfähigkeit) als eine der wichtigsten Aufgaben kunstpädagogischen Handelns,
verweist unter anderem auf ein ästhetisches Erfahren, auf den Auf- und Ausbau einer
Ästhetischen Bildung81. Das Arbeiten mit Ton als sinnliches Empfinden und Wahrnehmen
und das Form-Erkunden und Finden im eigenen Gestalten, sollen den SuS sowohl rezeptive
als auch produktive ästhetische Lern- und Erfahrungsprozesse ermöglichen. Im besten Falle
erzeugt ästhetisches Erfahren als Staunen und neues Erleben, einen Augenblick des glückhaft
bildnerischen Schaffens in Übereinstimmung von sich und der Welt und lässt sich als
Moment der genussvoll erlebten Gegenwart82 als sinngebendes Moment in den SuS dauerhaft
verankern.
Im Zusammenhang damit steht die Schulung der Phantasiekräfte. Die Phantasie, verstanden
als ein produktives Imaginieren, verbindet sich mit den inneren Bildern und arbeitet so als
eine von der Wirklichkeit losgelöste Vorstellungstätigkeit. Als eine bildschaffende Kraft
bildet und beeinflusst sie den Auf- und Ausbau des Gehirns und wirkt bei aller
Selbstverwirklichung und Sozialgestaltung als treibende Kraft. Als engste Verwandte der
Urteilskraft holt sie im Urteilen das Wirkliche ins Bild und schafft somit
wirklichkeitsunabhängig die Bilder für Zukünftiges.“Die Phantasie nimmt Zukunft vorweg
81 Ästhetische Bildung ist hier im engeren Sinne zu verstehen als eine auf das sinnliche Wahrnehmen und
Empfinden gerichtete Bildung. Über Erkunden, Ins-Bewusstsein-Rufen, Auslegen und Deuten, sich des
Wahrnehmens bewußt werden und dem Spüren und Erfahren einen Sinn geben, beschreibt sinnliches als
auch ästhetisches Verhalten. Sievert-Staudte, 1998, S. 25, online unter
www.georgpeez.de/texte/aesbild.htm, recherchiert am 14.05.2013.
82 Duncker, 1999, S.15. www.georgpeez.de/texte/aesbild.htm, recherchiert am 23.05.2013.
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und holt das Mögliche in das Wirkliche.“ 83
Der künstlerische Prozess als ein „Erfahrungsorientiertes Lernen“ ist im Hinblick auf die
Schulung des intuitiven Bewußtseins von zentraler Bedeutung. In Anlehnung an Rudolf
Steiner schreibt Jost Schieren in einem Aufsatz über die intuitiven Fähigkeiten in der
Pädagogik „Intuition ist ihrem Wesen nach Vollzug“84.
Ausgehend von einem vorgestelltem Wirklichkeitsbewußtsein, welches sich auf eine
Vorgegebenheit der Wirklichkeit bezieht und einem intuitiven, tätigem
Wirklichkeitsbewußtsein, welches von sich selbst wissend im Tätigsein seine Inhalte selbst
generiert, sollen sie im Arbeitsprozess mittels ihrer aktiv wahrgenommenen
Sinneserfahrungen, einen intuitiven Umgang 85 mit der Wirklichkeit erlernen. (Vgl. II.3)
Da der Wille und nicht die Vorstellung das Medium unserer Wirklichkeitsbegegnung ist 86, die
Wirklichkeit nicht vorgestellt sondern „getan“ werden muss, sollen die SuS im
Arbeitsprozess über das Gefühl der liebevollen Hingabe an das Werk, ihre Willenskräfte
mobilisieren und schulen. Ihre subjektive Triebkraft, die Freude und das Begehren, Tun und
Gestalten zu dürfen und der den SuS innewohnende Wunsch, auch Dinge besser machen zu
wollen, fordern ihre Willenstätigkeit, mit welcher Hilfe sie lernen sollen, über Übung,
Ausdauer und Entschlossenheit das Ziel, ein selbst gestaltetes Tier zu erreichen.
Zusammenfassend läßt sich sagen, dass die Einigung zwischen ihrem Willen und dem zu
schaffendem Werk, zwischen Vorgestelltem und der Erscheinung, auf dem Weg einer
gesunden Entwicklung in ihnen ihre Wirklichkeit bilden.
83 Stefan Leber, 1993, S. 466.
84 Jost Schieren, 2010, S. 12.
85 Jost Schieren spricht in seinem Aufsatz „Die Veranlagung intuitiver Fähigkeiten in der Pädagogik“ von der
Wesensintuition, als die prinzipielle „intuitive Verfasstheit des menschlichen Erkennens“. Sie bezieht sich
auf den von Rudolf Steiner formulierten Intuitionsbegriff, welcher von folgenden zwei verschiedenen
Denkformen ausgeht: „Das gegenständliche Denken, welches bezogen auf die Vorstellungen von Welt und
von uns Selbst im Gegenüberstellen beider Formen ein duales Bewußtsein hervorruft und ein intuitives
Denken, welches nicht nur 'etwas weiß' sondern von 'sich selbst weiß'. Steiner: 'Nur durch die Intuition
kann die Wesenheit das Denkens bewusst werden!'“ Jost Schieren 2010, S. 8.
86 Jost Schieren, 2010, S. 12.
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Psychomotorische bzw. handlungsorientierte Lernziele
Im Hinblick auf bestimmte Bewegungsformen unterliegen die SuS mit dem Schuleintritt
einem gewissen Anpassungsdruck; ihre spielerisch-ungestümen Verhaltensformen der
Vorschulzeit werden auf ein „Klassenraum-Niveau“ reduziert 87. Parallel dazu zeigt sich für
sie aufgrund sich verändernder Lebensbedingungen, ein deutlicher Mangel an
Bewegungsangeboten; weitreichende Auffälligkeiten im physischen als auch im psychischen
Bereich sind die Folgen. Das plastische Arbeiten soll über das gezielte Ansprechen ihrer
grob- und feinmotorischen Bewegungsformen, über taktile Erfahrungen wie Berühren,
Spüren und Handhaben, ausgleichend dazu wirken. In der Begegnung, der direkten
Berührung mit dem Ton, sollen sie sich fühlend selbst wahrnehmen und eine gefühlsmäßige
Formvorstellung vom eigenen Körper bekommen. Über das Erlebnis der Hand als tastendes
Kontrollorgan von plastischen Formen können sie in sich ein Formempfinden entdecken (vgl.
II. 3),
und die Bewusstheit für das eigene Wahrnehmen läßt sie ihre Hände als natürliche
„Werkzeuge“ erleben.
Das Erproben der Materialeigenschaften und das geführte Hantieren mit dem plastischen
Material trainiert ihre neuromuskuläre Koordination, welche letztendlich verantwortlich ist
für die Entwicklung ihrer muskulären und motorischen Fertigkeit. Sie sollen lernen, ihre
Hände und Finger geschickt und gezielt zu führen um ihre Feinmotorik zu differenzieren und
perfektionieren.
Die mit der Bewegung im aktiven Berühren der Finger, Gelenke und Bänder verbundenen
Sinnesempfindungen lösen im Inneren sensorische Prozesse, welche die Vorstellung
dreidimensionaler Gegenstände ermöglicht. Insofern ist hervorzuheben, dass die Schulung
der Feinmotorik, neben der Stärkung der Handmuskulatur und deren Beweglichkeit
handwerkliches Geschick befördern und gleichzeitig das Ausbilden und Verfeinern eines
differenzierten Raumwahrnehmens ermöglichen soll.
Zusammengefasst lassen sich wie folgt, die jeweiligen Ziele in die explizite und implizite
Zielsetzung einteilen.
87 Stefan Becker, 2003, S. 61.
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Explizite Zielsetzung
Kognitive Lernziele
•
Fachwissen
•
Anleitung zum gestalterischen Prozess nachvollziehen und umsetzen können
Affektiv, emotionale Lernziele
•
Verantwortliches Umgehen mit dem Material
•
Über partnerbezogenes, sprachliches Handeln Kommunikations,- Reflexions,- und
Sozialkompetenzen üben
•
Ordnungsliebe
•
Kreative Ideen und Lösungen auch außerschulisch suchen und anwenden
Psychomotorische bzw. handlungsorientierte Lernziele
•
Aufbau und Erweiterung der bildnerischen Fähigkeiten
•
Erlernen von Technik
•
Erweitern der taktil-motorischen Fähigkeiten im Umgang mit dem Werkstoff
•
Erweiterung der kreativen Fähigkeiten im Umgang mit dem Werkstoff
•
Implizite Zielsetzung
Kognitive Lernziele
•
Schulung von lösungsorientiertem Denken
•
Schulung von begrifflichem und bildnerischem Denken
•
Eigenes Urteil in sich finden und vertreten können, Fähigkeit zur Selbstkorrektur
•
Aufmerksamkeit, Konzentration, zielgerichtetes Arbeiten
Affektiv, emotionale Lernziele
•
Freude an der künstlerischen Arbeit gewinnen
•
Vertrauen in die eigene schöpferische Kraft gewinnen, Selbstbewußtsein aufbauen
•
Das „Ich“ als eine selbstbildende Kraft erkennen
•
Erkennen eines sinnhaften Zusammenhangs bezogen auf Welt
Seite 36 von 77
•
Übereinstimmung von sich und Welt erleben
•
Über emotionales Beteiligen an dem Werkstück, eine verantwortliche Beziehung
herstellen
•
Sensibilisierung der Sinne und Entwicklung und Ausdifferenzierung der
Wahrnehmungsfähigkeit
•
In sich ein Formempfinden entdecken
•
Aufbau eines ästhetischen Bewußtseins, Förderung der Phantasiekräfte
•
Erweiterung und Differenzierung der Imagination und des Vorstellungsvermögens
•
Ausbau des intuitiven Bewusstseins
•
Förderung der Willenstätigkeit, Entwicklung von Arbeits,- und Gestaltungswille
•
Lernen, die eigene Arbeit Wert zu schätzen
•
Bewußtsein entwickeln für den eigenen Lernfortschritt
•
Herausforderungen annehmen, Experimentierfreude entwickeln
•
Lernen, Hilfe anzunehmen und anderen zu helfen
•
Üben von Empathie
•
Achtung vor der Leistung anderer
Psychomotorische bzw. handlungsorientierte Lernziele
•
Sich fühlend selbst wahrnehmen, eine Formvorstellung vom eigenen Körper
bekommen
•
Entwicklung der Körper-und Raumvorstellungen
•
Erwerb von eigener Handlungskompetenz
III.3
Frage 2: Was bringe ich in den Horizont der Kinder?
Der Unterrichtsinhalt und damit die zentral didaktische Figur des Unterrichts bildet das
Plastizieren als eigenständiges Arbeiten an dem Werk und das daran Erlernte und Erfahrene.
(Vgl. II.3) Über
das Anfertigen einer kleinen Tierplastik aus Ton machen die SuS, dem
organischen Formbildeprozess folgend, erste Grunderfahrungen der Genese, lernen
empfindend ihre Formenwelt differenzierter und intensiver wahrzunehmen und gestalten mit
den Händen formend ihr Inneres als auch das über die Wachheit ihrer Sinnesorgane auch
Seite 37 von 77
äusseres Erleben.
Durch das blinde Ertasten von Kugeln aller Arten, den Versuch selber eine Kugel sowohl
sehend als auch blind zu formen, verschaffen sie sich im Erproben ihrer Hände ein
sensibilisiertes körperliches Wahrnehmen und erhalten über das Aufspüren des eigenen
Formgefühls,- und Empfindens, einen ersten Einstieg ins plastische Arbeiten. Entscheidend
dabei ist, sie über den Formprozess in die Form selber sich einfühlen zu lassen, ein „inneres
Verwachsensein“ mit dieser zu erzeugen. Insbesonde das blinde Formen der Kugel bietet
ihnen im konzentrierten Bei-Sich-Sein, einen elementaren Zugang zur Welt der Formen und
des Raumes.
In Anlehnung an Goethes Gedanken der Metamorphose 88, erleben die SuS im plastischen
Vorgehen, dass die Formen, bestimmt durch eine ihnen innewohnende Beweglichkeit, sich
fortwährend verändernde Gebilde sind. Sie erfahren im eigenen Erleben, dass die Form der
Kugel vielen Tieren als eine gemeinsame Grundform innewohnt, welche sich über die Form
eines Eies hin zu einer Tiergestalt verwandeln läßt. Die äussere Bewegung im Bilden und
Umbilden der Kugel, ihre stufenweise organische Verwandlung hin zu einem
gegenständlichen Tier, vollzieht sich ebenso in ihrem Inneren und schult als inneres
Mitvollziehen ein lebendiges Denken. Rudolf Steiner griff die Gedanken der Metamorphose
auf und erweiterte diese Idee auf alles lebendig sich Entwickelnde und führte sie ein in die
plastische und architektonische Kunst: „Man kann in der künstlerisch-plastischen
Gestaltungskraft dem Schaffenden der Natur nahe kommen, wenn man liebevoll nachfühlend
ergreift, wie sie in Metamorphosen lebt.“ 89 Das Gestalten aus dem Ganzen der Kugel, sie
ohne ihre Einheit aufzugeben, über den organischen Formbildprozess hin zu einer
differenzierten Tiergestalt zu formen und zu verwandeln, erzeugt bei den SuS eine Form der
inneren Ruhe und Harmonie und schafft ein Bewusstsein für die Wirklichkeit des OrganischLebendigen.
88 Auf der Suche nach der sogenannten „Urpflanze“ und dem „Urtier“, forschte J. W. v. Goethe nach einer
gemeinsamen Grundstruktur, auf welche sich die Vielheit der Natur zurückführen läßt. Er dachte an ein
gleiches Grundkonzept, an eine gemeinsame Idee, welche den Pflanzen und den Tieren, so verschieden sie
sich auch darbieten, verbindend zugrunde liegt. In seinem Gedicht über die Metamorphose der Pflanzen
schreibt er: „Alle Gestalten sind ähnlich und keine gleichet der andren, und so deutet das Chor auf ein
geheimes Gesetz, auf ein heiliges Rätsel.“ (1798)
89 Rudolf Steiner, 1991, S. 246 zitiert in Michael Martin, 1991, S. 246.
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Grundsätzlich setzt der Erwerb und die Vertiefung gestalterischer Darstellungskompetenzen
ein kontinuierliches Üben der Arbeitstechniken voraus. Da jede der Übungen als Grund- und
Ausgangsform die Kugel nutzt, werden die Kinder über das wiederholte Üben des
Kugelformens sicherer und selbstbewußter im eigenen Arbeiten, als auch vertrauter im
Umgang mit dem Material. Der wiederholt konzentrierte Vollzug von Wahrnehmen,
Empfinden und Entdecken im Tun, läßt sie im Bei sich-sein den Augenblick freudig erleben,
wo die Hände zunehmend selber wissen, was sie tun müssen. Die dabei zu erlernenden
Fähigkeiten werden intuitiv erfasst und zeigen sich auf der Ebene des Handelns, im
Mitvollziehen, Durchdringen und Verstehen des gesetzmäßigen Wesens der Sache. Jost
Schieren formuliert dies mit folgenden Worten: „Eine Fähigkeit auszuüben bedeutet, dass wir
uns in tätiger Übereinstimmung mit dem Gesetz einer Sache befinden.“ 90 Über die
Unterrichtsinhalte erlangen die SuS die Fähigkeit, aus dem Werdeprozess Formen
empfindend zu verstehen und diese ins Bildnerische umzusetzen.
Sie im Gestaltungsprozess die Gestalt eines Tieres selbst entwickeln und entdecken zu lassen,
fordert ein bewusstes Umgehen mit ihren Vorstellungen; die Suche nach Formen und Bildern
im Aussen zielen auf die Erfassung von Kohärenz und bieten ihnen somit letztendlich eine
sinnvolle Verortung und Orientierung in der Welt 91. Darüberhinaus bietet ähnlich wie im
Spiel der Kinder, das konzentrierte Einsteigen ins plastische Arbeiten den Schülern die
Möglichkeit, über das selbstvergessene Versunkensein im Tun den genussvollen Augenblick
glückhaften bildnerischen Schaffens.
III.4
Frage 3 und 4: Wie tue ich das? Mit welchen Mitteln verwirkliche ich das?
Die gewählten Arbeitsmethoden sind grundsätzlich handlungsorientiert und versuchen in den
SuS durch ein Wechselspiel von Reflexion, Rezeption und Produktion ein ästhetisch90 Jost Schieren, 2010, S. 16.
91 Das Suchen nach Formen und Bildern folgt als ein Abstraktionsvorgang von Imagination; das Abstrahieren
auf wesentliche Formen beinhaltet das Reduzieren der Imagination auf das im Aussen bereits erworbene
Schemata; oder mit den Worten von R. Steiner, „im Herablähmen der Vorstellungen durch die
Wahrnehmungen“ kann die Vorstellung eine Erkenntnis der äußeren Wirklichkeit vermitteln und sich somit
in Beziehung mit ihr setzen. In dem Kunstunterricht der Waldorfpädagogik findet die
„Vorstellungsreduktion“ als didaktische Figur eine zentrale Bedeutung. Hubert Sowa, 2012, S. 90.
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künstlerisches Verhalten zu entwickeln, welches seinen erkundenden Zugang zur Welt
fördern, unterstützen und bereichern soll. Die bildnerischen Mittel, in diesem Fall das
Plastizieren, gehören im Kunstunterricht grundsätzlich auch zum Inhalt, während die zu
verwendeten Materialien, der Ton und die Arbeitstechniken, „aus einem Stück heraus
arbeiten“, gleichzeitig auch medialen Charakter haben.
Die hier vorgestellte Unterrichtsreihe verweist in ihrer Methode insofern auf einen
handlungsorientierten Unterricht92, weil versucht wird, durch das gleichzeitige Ansprechen
von Kopf, Herz und Hand die SuS in ihrer Gesamtpersönlichhkeit zu fördern. Das rationale
Kopfarbeiten plant und beurteilt das sinnlich-ausführende, wirklichkeitsschaffende Arbeiten
der Hände.
Die einzelnen Unterrichtseinheiten sind aufeinander aufbauend konzipiert, wobei das einmal
Erfahrene und Erworbene in der folgenden Stunde wieder aufgenommen, weitergeübt,
vertieft und neu variiert werden kann. Entsprechend dazu vollzieht sich der Lernprozess
Schritt für Schritt.
Im Hinblick auf den Entwicklungsstand der SuS erhält jede Aufgabe entsprechende
Anforderungen und Förderimpulse an das Handwerk und die Gestaltung . Die
Aufgabenstellung reicht vom Formen einer Kugel als Grundform, über das Formen einfacher
Tierformen, wie Maus und Igel, hin zu einer komplexer werdenden Tierform, dem Pinguin.
Die Kugel gilt als das beständige Gestaltungskriterium, von welcher aus in jeder
Unterrichtseinheit das jeweils zu Gestaltende aufgebaut werden soll; als wiederkehrendes
Element verknüpft sie darüberhinaus die einzelnen Unterrichtseinheiten miteinander. Unter
Berücksichtigung des kindlichen, noch kurzatmigeren Wesens der SuS soll jede Aufgabe
innerhalb einer Unterrichtseinheit fertig gestellt werden. Unterschiedliche Vorerfahrungen
spielen keine wesentliche Rolle und differenzierte Kenntnisse von Einzelheiten für das
jeweils zu Gestaltende sind nicht nötig.
92 Im handlungsorientierten Unterricht sollen Kopf- und Handarbeit in einem ausgewogenen Verhältnis sich
gegenseitig fordern und im Hinblick auf den Lernprozess miteinander eine ideale, dialektische Verbindung
eingehen. Das Konzept baut darauf, dass Selbsttätigkeit die unverzichtbare Voraussetzung für
Selbstständigkeit ist; neben dem Wechsel zwischen Führung und Selbsttätigkeit gliedert sich der
didaktische Fahrplan in eine „Einstiegsphase“, „Erarbeitungsphase“ und „Auswertungsphase“. Die
Inszenierungstechniken reichen vom Lehrervortrag als Frontalunterricht zu Gruppenunterricht in kleinen
Gruppen, schriftlichem und praktischem Arbeiten, offenem Unterrichtsgespräch und Gruppenpräsentation.
Vgl. Werner Jank / Hilbert Meyer, 1994, S. 337.
Seite 40 von 77
Das methodische Grundgerüst der einzelnen Stunde zeigt sich in einem strukturierten
Wechselverhältnis von Reflexion, Rezeption und Produktion und gliederte sich wie folgt in
zwei Abschnitte:
1. Unter Berücksichtigung der drei Grundfragen in der Einstiegsphase „Wie führe ich
die Schüler an das Thema heran?“, „Wie wecke ich Interesse?“, „Wie bereite ich sie
vor?“ sollen zum Einstieg und als Vorbereitung für die praktische Arbeit die
Ergebnisse der vorherigen Stunde gemeinsam besprochen und reflektiert werden.
Durch die Ergebnissicherung erhalten die SuS die Gelegenheit, das Erlebte
gedanklich nochmals zu durchdringen, um gestärkt den folgenden Aufgaben
begegnen zu können.
2. Die Erarbeitungsphase, in welcher nach Absprache der jeweiligen Stundenaufgabe an
dem zu erarbeitenden Objekt mit Ruhe gearbeitet werden kann.
Den methodischen Bedürfnissen der SuS nach freier Experimentiermöglichkeit und
gleichzeitiger Hilfestellung und Orientierung an Vorgaben entgegenkommend, soll der
Arbeitsprozess von mir im Wechsel zwischen Führen und Gewährenlassen begleitet werden.
Sie werden von mir mittels Wissensvermittlung, Anregungen, Unterstützung bei Urteils- und
Entscheidungsfindung angewiesen, als auch phasenweise im Suchen und Ausüben ihrer
Experimentierneugierde gelassen. Ein korrigierendes Eingreifen soll nur innerhalb der
eigenen Gestaltungsbemühung helfend gerecht werden.
Das Arbeiten mit Ton erfordert unter anderem den Einsatz von körperlicher Kraft. Da sich die
SuS in diesem Alter noch sehr bewegungsintensiv zeigen, sollen sie ihren Arbeitsplatz selber
wählen. Zur Auswahl steht das Arbeiten stehend oder sitzend am Tisch und das Arbeiten auf
den Knien sitzend vor einem Stuhl. Um im gegenseitigen Betrachten der Arbeiten
voneinander zu lernen und sich gegenseitig helfen zu können, dürfen sie bedingt
umherlaufen. Für das Formen der Kugeln und des Handschmeichlers, für das gemeinsame
Gespräch und das Betrachten der Arbeiten in der Einstiegsphase wähle ich den Stuhlkreis,
um über das gegenseitige Sich-Anschauen eine bessere Kontakt,- und
Kommunikationsmöglichkeit zu schaffen. Eine gemeinsame Abschluss-Reflexionsrunde, ein
Austausch über die eigenen Problemlösungsversuche und über gemachte Erfahrungen soll
die Unterrichtsreihe beenden.
Seite 41 von 77
Neben den SuS bringt auch die Lehrerperson ihre Anlagen und Erfahrungen mit in den
Unterricht ein. In meiner Rolle als Lehrer versuche ich von eigenem intrinsischen Interesse
geleitet, die SuS ermutigend über auftauchende Hürden zu begleiten, sie über Lob und
Würdigung immer wieder neu zu motivieren und auch ein nicht sofortiges Gelingen als eine
positive Erfahrung erleben zu lassen. Das gesamte Unterrichtsgeschehen wird von mir
initiiert und ich versuche sowohl als Moderator, Anreger und Berater die SuS in ihrem
Arbeitsprozess zu begleiten.
Um Unterricht grundsätzlich zu einer fruchtbaren Begegnung zwischen SuS und
Unterrichtsinhalt werden zu lassen, möchte ich die Aufgabe des Lehrers abschließend mit
den Worten von Heinrich Rot formulieren:
„Alle methodische Kunst liegt darin beschlossen, tote Sachverhalte in lebendige Handlungen
rückzuverwandeln, aus denen sie entsprungen sind; Gegenstände in Erfindungen und
Entdeckungen, Werke in Schöpfungen, Pläne in Sorgen, Verträge in Beschlüsse, Lösungen in
Aufgaben, Phänomene in Urphänomene“.
III.5
Frage 5 und 6: An wen vermittele ich das?
Die Eingangsvoraussetzungen und Rahmenbedingungen der Unterrichtsreihe beinhalten
grundsätzlich die Frage nach den soziokulturellen und anthropogenen Voraussetzungen der
SuS. Die Schule als bestehende Konstante, der soziokulturelle Hintergrund der SuS und ihre
damit verbundene individuelle Vorgeprägtheit bilden die Voraussetzungen, unter deren
Berücksichtigung ein guter Unterricht geplant werden muß. Die Unterrichtsvorbereitung ist
also abhängig davon, welche Voraussetzungen innerhalb der Klasse gegeben sind und in
welcher Art von Schule der Unterricht gegeben werden soll.
Die Schule
Die Kölner Gemeinschaftsgrundschule Balthasarstrasse, eine städtische Schule, befindet sich
in einem schönen, alten Schulgebäude aus dem Jahr 1904 und ist seit 2007/2008 eine Offene
Ganztagsschule. Die Schule weist ein breites Spektrum der Zusammenarbeit zwischen
Lehrern, Eltern und Schülern auf. Gemeinsam von einem Schülerrat, einer
Steuerungsgruppe, Klassen- und Schulpflegschaften, einer OGS-Elternvertretung, einem
Seite 42 von 77
Förderverein und einer Schulsozialarbeiterin wird die Arbeit der Lehrer und der
Schuldirektorin unterstützt. In einem festgelegten Schulprogramm sind alle Grundlagen der
Schule formuliert; diese werden aber immer wieder gemeinsam überdacht und weiter
ausgearbeitet.
Als GU Schule (Gemeinsamer Unterricht) bietet sie ein spezielles Förderangebot für
lernbehinderte Kinder, die betreut von zwei Sonderschullehrerinnen, gemeinsam mit den
anderen Kindern in jahrgangsgemischten Lerngruppen unterrichtet werden. Jeweils zwei
Jahrgänge, d.h. Schüler der 1./2. Klasse und Schüler der 3./4. Klasse bilden einen Zug und
werden gemeinsam unterrichtet. Zurzeit gibt es zehn jahrgangsübergreifende Lerngruppen,
die in fünf Zügen aufgeteilt sind. Wechseln die Kinder von der 1./2. in die Klasse 3./4.,
treffen sie auf eine neue Lehrerin, aber auch auf Schüler, die sie bereits aus dem
gemeinsamen Schuljahr in der 1./2. kennen.
Mit dem Ziel des Aufbaus von Selbstständigkeit und selbstgesteuerten Lernens gelten für den
Unterricht, Lern- und Sozialformen, wie Arbeitsplan, Freiarbeit, Projektwochen,
Werkstattarbeit, Gruppenarbeit und Partnerarbeit.
Im musischen Bereich haben die Kinder je nach Interessenslage die Möglichkeit, ein
klassisches Instrument zu lernen und in einem kleinen Orchester mitzuspielen oder im
Balthasar-Chor mitzusingen, welcher gemeinsam mit schauspielinteressierten Kindern
jährlich ein selbst einstudiertes Musical aufführt.
Laut des Lehrplans Kunst für Grundschulen in NRW hat eine 3. und 4. Klasse zwei Stunden
Kunstunterricht pro Woche. Diese gliedern sich in die Bereiche:
•
Räumliches Gestalten
•
farbiges Gestalten
•
grafisches Gestalten
•
textiles Gestalten
•
Gestalten mit technisch-visuellen Medien
•
szenisches Gestalten
•
und die Auseinandersetzung mit Bildern und Objekten.
Am Ende der 4. Klasse werden in Bezug auf die einzelnen Aufgabenbereiche jeweils
Seite 43 von 77
entsprechende Kompetenzerwartungen an die Schüler gestellt.
Meine Beobachtungen und Nachforschungen diesbezüglich haben jedoch gezeigt, dass der
Kunstunterricht dieser Schule sich auf Bilder-Malen und Basteln zu den Jahresfesten
konzentriert. Hinzu kommt, dass das Fach Kunst oft in Kombination mit Musik- Sach- oder
Deutsch unterrichtet wird, bzw. von diesen Inhalten geschluckt wird. Zur Begründung dieser
Misere wird meist eine zu hohe Schüleranzahl genannt oder es herrschen seitens der
Lehrerschaft keinerlei Vorbildung oder Kenntnisse im Fach Kunst; auch ein zu aufwändiges
Materialaufkommen und entsprechende Verunreinigungen als Folgeerscheinung wurden
angeführt, den Kunstunterricht eher „bescheiden“ zu gestalten.
Das Raumangebot der Schule umfasst einen Ruhe- und Bewegungsraum, zwei
Mehrzweckräume, seit einem Jahr eine Holzwerkstatt, eine Bücherei, einen Computerraum,
eine Turnhalle und zwei Schulhöfe mit Sandkasten und einem Baumhaus.
Als Leitmotiv der Schule steht die Ausbildung der Gemeinschaftsfähigkeit; als Zielsetzung
gilt:
•
Selbstständigkeit
•
verantwortliches Verhalten und Handeln
•
Konfliktfähigkeit
•
und gegenseitiges Helfen und Hilfe annehmen.
2011 war die Schule Preisträger beim Schulentwicklungspreis NRW „Gute Gesunde Schule“.
Rahmenbedingungen
Für die Durchführung der Reihe stand uns ein Mehrzweckraum im Keller zur Verfügung,
leider ausschließlich beleuchtet mit künstlichem Licht. Abgesehen von der fehlenden Tafel
diente er überwiegend als Klassen, anstatt als Werkraum. Dies hatte zur Folge, dass nach
jeder Stunde Stühle, Tische und Boden gründlich geputzt werden mussten.
Die Klasse
Die Klasse 3/4 setzt sich zusammen aus 27 SuS, davon 14 Mädchen und 13 Jungen. 14
Kinder sind 3. Klässler und 13 Kinder sind 4. Klässler. Ein(e)n speziell
Seite 44 von 77
förderungsbedürftigen Schüler gibt es in dieser Klasse nicht. Wie die meisten SuS der Schule
leben sie überwiegend in Familien mit einem höheren Bildungsniveau. Nach Angaben der
Lehrerin gilt die Klasse insgesamt als sehr leistungsstark und mehr kognitiv orientiert; sie
gehen meist mit Interesse ans Lernen, zeigen sich aufgeschlossen mit einer ausgeprägten
Neigung zur Diskutierfreudigkeit. Das Miteinander unter ihnen lässt sich als harmonisch und
friedlich beschreiben.
Der Schüler Paul93
Paul ist der einzige Schüler, der mitunter ein leicht auffälliges Verhalten zeigt. Er ist
körperlich und geistig normal entwickelt, hat aber nach Angaben der Lehrerin ein
Konzentrationsproblem. An manchen Tagen fällt es ihm schwer, bei einer Tätigkeit zu
bleiben, er schweift ab und stört seine Mitschüler. Sein familiärer Hintergrund gestaltet sich
schwierig. Die Eltern sind mit drei Kindern und Beruf überfordert, die Mutter ist beruflich
oft über Monate unterwegs, sodass Paul im Alter von neun Jahren bereits sehr viel
Verantwortung zu tragen hat.
Aufgrund des bereits erwähnten eingeschränkten Kunstangebotes lassen sich die
künstlerischen Fähigkeiten und Vorkenntnisse auch dieser Klasse nur auf ein Minimum
einschätzen. Bislang wurde überwiegend gemalt und ausgemalt, gezeichnet oder mit Papier
gebastelt. Plastisches Arbeiten und Handarbeiten, ein haptisches Arbeiten zum Aufbau der
Feinmotorik und Koordinationsfähigkeit wurde bisweilen nicht gefördert.
Unter Punkt II.4 findet sich eine eingehendere Beschreibung zur anthropogenen Entwicklung
der SuS. Ergänzend dazu erleben wir die Kinder zwischen dem 7.- 9. Lebensjahr als
neugierig mit einem Verlangen nach phantasievollen Darstellungen der Dinge. Sie blicken
optimistisch in die Welt und zeigen noch eine ausgeprägte Lernbereitschaft. Nach Rudolf
Steiner erleben die Kinder etwa ab dem 9.-10. Lebensjahr die Zeit des „Rubikon“, eine Zeit
des seelischen Umbruchs. Die bisher noch immer vorherrschende Grundempfindung,
seelisch mit der Welt eine Einheit zu bilden, bricht auf. Naivität und Unbefangenheit
verschwinden langsam, und das Erleben von Distanz zur Umwelt und erste
Einsamkeitsempfindungen verweisen das Kind verstärkt auf ein „Sich-selbst-Erleben“.
93 Aus Datenschutzgründen wurde der Name geändert.
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Fragen nach der biologischen Herkunft und der geistigen Abkunft werden jetzt wichtig 94. Die
SuS begegnen ihrem Umfeld und auch ihrem Lehrer zunehmend kritischer und suchen eine
Bezugsperson, die durch ihre Worte ebenso wahrhaft wirkt, wie durch ihr Handeln. Das Kind
will verehren und will auch spüren, dass seine Verehrung berechtigt ist.
Der Aufbau der unterrichtlichen Vorhaben im Kunstunterricht ist nur bedingt an einen festen
Lehrplan gebunden; vielmehr richtet er sich nach den unterschiedlichen
Entwicklungsbedürfnissen der SuS, die sich nur einfühlend feststellen lassen. Um mir einen
ersten Eindruck von den SuS zu verschaffen, hatte ich, bevor ich die Unterrichtsreihe plante,
einen kurzen Unterrichtsbesuch absolviert. In einem vorangegangenen Gespräch mit der
Lehrerin hatte diese mir bereits signalisiert, dass sie es begrüßen würde, wenn ich mit ihren
SuS plastisch arbeiten würde; sie hätten diesbezüglich keinerlei Vorkenntnisse. In einem
gemeinsamen Gespräch mit den SuS zeigte sich, dass sie alle den Wunsch hatten, mit Ton zu
arbeiten.
94 Stefan Leber, 1993, S. 262.
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IV Durchführung der Unterrichtsreihe
IV.1 Beschreibung der 1. Unterrichtseinheit
11.09.2012, 8.00 bis 9.00 Uhr
Thema
Kugelformen fühlen
Zeitplan
8.00 – 8.05
Einstiegsphase, Begrüßung, allgemeine Vorstellungsrunde, Vorstellung der
Unterrichtsreihe
8.05 - 8.35
Erarbeitungsphase, Ertasten der Kugeln
8.35 - 8.55
Gemeinsames Unterrichtsgespräch
8.55 - 9.00
Kleine Anekdote, Verabschieden
Material
Kugeln verschiedenster Art liegen verborgen unter einer Decke auf einem Tisch in der Mitte
des Stuhlkreises
Stundenziel
Einfühlendes Wahrnehmen von unterschiedlichen Kugelformen
Stundenverlauf
In der Mitte des Raumes stand ein Tisch, beladen mit verdeckten Kugeln und Bällen aus
unterschiedlichen Materialien, verschiedener Größe und Gewicht. Nachdem ich mich und
mein Anliegen vorstellte, folgte eine allgemeine Vorstellungsrunde, bei welcher wir uns über
die jeweiligen, bereits gemachten Erfahrungen mit Ton austauschten.
Unter Berücksichtigung der Voraussetzung, dass die Schüler kaum nennenswerte
Erfahrungen im plastischen Gestalten hatten, versuchte ich als ersten Schritt, über das
Erwecken ihres Formgefühls sie ins Plastische hineinzubringen; die Form der Kugel sollte
von ihnen zunächst rein emotional erfahren werden. Die SuS zeigten Vorfreude und großes
Interesse an meinem Vorhaben und brannten vor Neugierde, wissen zu wollen, was sich unter
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dem Tuch wohl verbergen mag. Ich stellte die Aufgabe, die Kugeln unter dem Tuch im
Ertasten zu erraten.
Ein erster, rein emotionaler Zugang zur Kugelform ermöglicht ein intensiviertes,
einfühlendes Wahrnehmen in diese und ruft über die Neugierde nach zugehörigen inneren
Bildern. Mit diesen verbindet sich die Kraft der Vorstellungstätigkeit und schafft neue
Assoziationen zu scheinbar Bekanntem und Gewohntem. Unter Inanspruchnahme von
Fühlen, Wollen und Denken, waren die SuS aufgerufen, sich im Erleben der Form emotional
und kognitiv mit dieser zu verbinden und gelangten so zu mehr Identifikation mit dieser.
Nachdem wir das Tuch endlich lüfteten, konnte das Formwahrnehmen mit den daran
geknüpften Vorstellungen überprüft werden. Als Ergebnis stellten sie freudig fest, dass fast
alle Kugeln in ihrer Bezeichnung erraten werden konnten.
Um der Kugel als Ur,- und Elementarform mehr Präsenz zu verleihen, sie den SuS noch
näher zu bringen, suchten wir gemeinsam in unserem Alltag und in sämtlichen natürlichen
Bereichen der Erde nach kugeligen Gebilden aller Art. Entdeckt wurden sie in der Natur, in
dem Tier,- und Mineralienreich, in Plantenensystemen und im öffentlichen Raum. „Sie bilden
sich oft da, wo neues Leben entstehen will.“95 Auch am eigenen Körper ließen sich sowohl
die kreisrunden Formen finden als auch Möglichkeiten, selbst durch verschiedenste
Bewegungen mit dem Körper neue Kreise schaffen und bilden zu können.
Zum Abschluss erzählte ich ihnen die kleine Anekdote von Albrecht Dürer, wie er einen
perfekten Kreis aus der freien Hand an die Wand zeichnete. Die Geschichte sollte sie
ermuntern, dies einmal selbst zu versuchen. Die Stunde schloss mit meiner Bitte an die SuS,
bis zur nächsten Stunde noch weitere, nicht genannte runde Formen und Kreise zu entdecken
und zu sammeln.
Um den SuS der zweiten Gruppe das Ergebnis nicht vorweg zu nehmen, wurden die jeweils
entstandenen Arbeiten nach Ablauf der Stunde abgedeckt.
95 Michael Martin, 1991, S. 223.
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IV.2 Beschreibung der 2. Unterrichtseinheit
12.09. und 13.09.2012, jeweils 8.00 bis 9.50 Uhr
Thema
Kugel sehend formen / Kugel blind formen
Zeitplan
8.00 – 8.15
Begrüßung, Reflexion der vorangegangenen Stunde, gemeinsames
Definieren der Kugelform, Materialkunde
8.15 – 8.20
Kurze Pause
8.20 – 8.25
Verteilung von Arbeitsmaterial
8.25 – 9.05
Arbeitsteil weisse Kugel formen
9.05 – 9.45
Arbeitsteil braune Kugel blind formen
9.45 – 9.50
Gemeinsames Aufräumen
Material
Weißer und brauner Ton
Stundenziel
•
Reflexionsrunde, Üben im sach- und partnerbezogenen sprachlichen Handeln
•
Kognitives Erfassen der Kugelform
•
SuS erhalten fachkundige Einblicke in das Material Ton
•
Erste Kontaktaufnahme mit dem Ton, Sensibilisierung der Sinne
•
Kugel formen
•
Erlernen von Techniken
•
Kugel blind formen
•
Konzentriertes Erleben der eigenen Innenwelt
•
Verstärktes Erleben von Urteilsfindung über die Augen, Kognitive urteilen, gegenüber
der Hände, ein emotionales urteilen
Stundenverlauf
Als Einstieg und in Vorbereitung auf das Unterrichtsthema beginnt jede Stunde zunächst mit
einem kleinen theoretischen Teil, einer gemeinsamen Reflexionsrunde. Durch den Wechsel
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von Reflexion und Handlung sollen sie sowohl lernen, aus Erkenntnis zu handeln und ihr
eigenes Handeln zum Gegenstand der Erkenntnis zu machen, als auch ihre Sozial- und
Kommunikationskompetenzen stärken. Über das Gespräch sollen sie lernen, den anderen
Aufmerksamkeit zu schenken, ihnen zuzuhören, ausreden lassen, und ihren eigenen Gefühlen
und Gedanken Ausdruck zu verleihen. Im verbalisieren des Prozesses, erhalten sie die
Gelegenheit das Erfahrene nocheinmal gedanklich zu durchdringen und ergänzend durch die
Augen und Erfahrungen der anderen nochmals anders zu verarbeiten. In der reflexive
Auseinandersetzung mit den entstandenen Arbeiten, sollen sie sich in Toleranz und
Einfühlungsvermögen gegenüber anderer Gestaltlösungen üben; auch die Fähigkeit Urteilen
zu können und die Ergebnisse, gemessen an der Aufgabenstellung objektiv zu beurteilen, soll
entdeckt und gelernt werden. Begleitend habe ich als Lehrerperson versucht das Gespräch
über Impulsgebung anzuregen und die Aussagen zu konzentrieren.
Im Hinblick auf die Aufgabe der vorangegangenen Stunde wurden als Einstieg nochmals die
gesammelten Kugel- und Kreisformen wiederholt und die neu entdeckten Kreisformen
hinzugefügt. Durch das weitere Gespräch sicherten wir die Erkenntnis, dass das Ertasten
verschiedener Oberflächen unterschiedliche Gefühle hervorruft, dass nicht nur die Augen,
sondern auch die Hände „sehen“ können, bzw. dass die Hände die Augen mitunter ersetzen
können.
In Vorbereitung auf das Formen der Kugel betrachteten wir sie als nächsten Schritt noch
eingehender. Während jeder von ihnen eine Holzkugel in seiner Hand haltend fühlte,
versuchten wir, ihr Wesen und ihre charakterlichen Eigenschaften zu beschreiben:
•
Sie hat kein Rechts, kein Links, kein Oben und kein Unten, keine Ecken und Kanten.
•
Sie hat kein Anfang oder Ende, sie ist eine unendliche Form.
•
Sie hat ein vollkommenes Gleichmaß in ihrer Flächenkrümmung und wirkt somit
harmonisch.
•
Sie bildet ein umschlossenes, geborgenes Innen und ein ausgegrenztes Außen.
•
Sie strahlt von einem Punkt gleichmäßig von Innen nach Aussen oder umgekehrt, von
Aussen nach Innen.
•
Um vollkommen zu bleiben, muss sie eigentlich im Raum schweben.
•
Sie berührt den Untergrund nur an einem Punkt und vermittelt dadurch eine gewisse
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Leichtigkeit.
Gut vorbereitet auf die Kugel als plastische Form, konnten wir uns nun der
Erarbeitungsphase, dem Arbeitsteil zuwenden. Bevor die praktische Arbeit begann, sollten
sie zunächst zur Einführung mittels einer kurzen, knappen altersgerechten Materialkunde den
Werkstoff Ton kennen lernen:
„Ton ist eine Erdschicht, ein natürliches Material und ist durch Verwitterung enstanden. Er
besteht aus verschiedenen Mineralien wie Kaolinit, Quarz-, Feldspat und Kalkspat. Vor
vielen Millionen Jahren wurden diese unter Einwirkung von Temperatur, Wasser und Wind
zu feinem Staub zerrieben, welcher sich im Boden ablagerte und sich mit Wasser und
anderen Bodenlösungen verband und den Ton bildete. Er lagert oft tief im Erdboden und
kann nur mit riesigen Maschinen in sog. Tongruben abgebaut werden. Durch einen
entsprechenden Wassergehalt wird er plastisch formbar, während er an der Luft aushärtet.
Der Ton findet in verschiedenen Lebensbereichen eine wichtige Bedeutung. So benutzten ihn
die Menschen bereits in der Steinzeit, um für sich Gefäße herzustellen; diese wurden im Ofen
unter so viel Hitze trocken und hart gebrannt, dass man sie dauerhaft benutzen konnte
(Keramik). In der Medizin wird er in veränderter Form als Heilmittel benutzt. Auch in der
Industrie und Architektur findet er als Baumaterial verschiedenste Verwendung; zusammen
mit Schluff (Feinböden) und Sand wird er zu Lehm, aus welchem der Urbaustoff der
Menschheit, die Ziegel für den Hausbau, hergestellt werden. Oder zusammen mit Kalkstein
wird er als Zement verwendet. Die bildenden Künstler formen aus ihm Skulpturen. Er kommt
vor/es gibt ihn in erdigen Farbtönen, in Weiß, Gelb, Rot, Braun oder Schwarz. Seiner
Eigenschaft entsprechend beginnt er unter der Einwirkung von Wärme zu trocknen. Für den
Arbeitsvorgang bedeutet das, dass die Hände immer wieder leicht nach zu feuchten sind, um
die Arbeit vor Austrocknen und Rissen an der Oberfläche zu bewahren.“
Nachdem die Arbeitsaufgabe „eine Kugel frei aus der Hand heraus arbeiten“ formuliert war,
wurde der weisse Ton verteilt. Da es erfahrungsgemäß Kinder gibt, welche sich gerne
lautstark zieren, den „ekligen“ Ton anzufassen, warf ich jedem SuS aus sicherer Entfernung
einen Klumpen Ton zu. Über die Freude und den Ehrgeiz ihren Klumpen fangen zu dürfen,
ward der „Ekel“ schnell vergessen. Um den SuS eine kleine „Einstiegserleichterung“,
Sicherheit und Vertrauen im Umgang miteinander zu geben und darüberhinaus die
allgemeine Stimmung positiv zu beeinflussen, wiederholten wir dieses kleine Spiel als Ritual
in jeder Stunde.
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Jeder SuS erhielt die Menge Ton, die er mit großmöglicher Oberflächenberührung mit beiden
Händen umschließen konnte. Um mit der Eigengesetzlichkeit des Materials vertraut zu
werden, eine Beziehung herzustellen und die plastischen Formen schon mal „vorzufühlen“,
musste der Ton zunächst ordentlich mit den Handballen und den Fingern durchgeknetet
werden. Um die Aufmerksamkeit ganz bewußt auf ihre Sinne zu lenken, rief ich sie an, das
Material, seine Oberfläche, die kleinen Körnchen zu fühlen, den Ton zu riechen und sein
Gewicht zu spüren. Dass sich der Ton über das Einwirken der eigenen Handtemperatur
erwärmen ließ, unterstrich nochmals zusätzlich das eigene Wahrnehmen.
Um dem Gestaltungsvorgang Struktur und den Kindern Halt und Sicherheit zu geben und in
ihnen das Vertrauen auf ein erreichbares Ergebnis zu wecken, verwies ich sie auf bestimme
Arbeitstechniken. Ich bat sie jeweils mit einer Hand eine Schale zu formen und beide
Schalen im Anschluss so aufeinander zu legen, dass im Handinneren ein Hohlraum entstand.
So spürten und entdeckten sie bereits die Kugel liegend in ihren Händen. Des Weiteren
machte ich ihnen zur Aufgabe, die Kugel aus dem Handinneren „herauszustreicheln“. Zur
Unterstützung weckte ich in ihnen die Vorstellung vom Sandkuchenbauen und
Schneeballformen und der Geste, etwas Liebevolles zu streicheln. Falten, Ritzen und Risse
sollten immer abwechselnd mit den Daumen glattgestrichen und die Kugel dabei immer
wieder gedreht, abgetastet und ausgeglichen werden. Die Handinnenflächen sollten dabei den
Gegendruck aus dem Kugelinneren empfinden. So versuchte ich ihnen mehr Bewußtheit
gegenüber ihren Händen zu verschaffen, sie diese als ihre natürlichen Werkzeuge zu erfahren,
begleitet von den Augen als tastendes Kontrollorgan.
Um auf auftauchende Schwierigkeiten besser reagieren zu können, motivierend dazustehen
und meiner Rolle als Vorbild gerecht zu werden, erarbeitete ich ebenfalls eine Kugel.
Dadurch, dass meine Kugel zunehmend Gestalt annahm, fühlten sie sich zusätzlich in ihrem
Ehrgeiz gepackt, auch so eine Kugel anzufertigen. Um der notwendigen Stärkung ihres
Selbstwertgefühls war mir eine kurze persönliche Ansprache und ein positiv motiviertes
Feedback für jede(n) SuS besonders wichtig.
Auffällig war, dass sie mich immer wieder fragten, wann ihre Kugel denn fertig sei. Ich bat
sie, sich an die Perfektion einer Kugel zu erinnern um so entsprechend selbst bestimmen zu
können, wann die eigene Kugel fertig sein könnte. Über die Selbstprüfung, das sich
wiederholende Reflektieren und das Abwägen der eigenen Arbeit auch Fehler erkennen und
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verändern zu lernen, entdeckten sie in sich den Maßstab für Zufriedenheit; auf dem Weg ihrer
ästhetischen Erfahrungsfähigkeit schulten sie ihr Urteilsvermögen als wichtigen Schritt zur
Selbstständigkeit.
Der Zeitplan gab vor, nach der Hälfte der Stunde die Arbeit zu beenden ,um die nächste
Kugel zu beginnen. Der unterschiedliche Anspruch an die eigene Arbeit zeigte sich, indem
einige von ihnen weiterarbeiten wollten und andere sich mit dem Erreichten zufrieden gaben.
Bemerkt wurde von ihnen, dass das fortwährende Korrigieren, angehalten durch die Augen,
an anderer Stelle wieder zu neuen Unebenheiten führte. Amüsiert zeigten sich alle darüber,
dass eine wirklich perfekte Kugel nicht erreichbar ist, bzw. dass somit die Arbeit an ihr
niemals ein wirkliches Ende finden kann.
Im zweiten Teil der Unterrichtseinheit machte ich den SuS zur Aufgabe, aus der gleichen
Menge Ton eine zweite Kugel, diesmal mit verbundenen Augen, zu formen. Der sich
wiederholende Formvorgang versprach neue Entdeckungen und so machten sie sich mit
Interesse und Begeisterung ans Werk. Für das Blindarbeiten wünschte ich das Sprechen
miteinander einzustellen, um in der Stille konzentriert und mit gerichteter Aufmerksamkeit
nach Innen, werkverbunden die Form finden zu können.
Das rein emotionale Wahrnehmen intensiviert das Fühlen und Reflektieren für das eigene
Formvorstellen und fördert ein Formen aus der inneren Empfindung. „Im
Wahrnehmungsprozess wird immer auf Empfindungen zurückgegriffen, die aus früheren
Erfahrungen stammen und diese werden mit neuen Informationen verglichen und überprüft.“
96
Durch das Formen der ersten Kugel haben die SuS die Kugelform bereits verinnerlicht,
sich zu eigen gemacht, bzw. den Begriff von Kugel erfahren; jetzt können sie intuitiv aus der
im Gedächtnis gespeicherten Erinnerung von Kugelformen die Kugel erarbeiten und diesmal
ihr rein gefühlsmäßiges Urteilen üben. Das erneute Formen, das Tasten, weckt ihre
Empfindung und Imagination von Kugelform, sodaß Kraft dieser zuzüglich der Phantasie,
die „blinde“ Kugel nach dem inneren Bild erarbeitet werden kann. Das emotionale, intuitiv
durchdrungene Formfinden fördert ihre Fähigkeit, zur „inneren Gesetzmäßigkeit des
Gestaltens“ zu kommen. Das Blindarbeiten erprobt die Verlässlichkeit und das Vertrauen in
die eigene Hand und schult die Wahrnehmung von Formen und deren Umsetzung; ein gutes
Ergebnis erfordert ein gelungenes Zusammenspiel von Form,- und Materialwissen. Während
96 Klaus Eid / Michael Langer und Ruprecht Hakon, 2002, S. 54.
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die Hand den Rundungen und Flächen fortwährend nachspürt, nimmt der Bewegungssinn
alle Flächen und Konturen wahr, während der Gleichgewichtssinn für Symmetrie und
Ausgleich sorgt. Ebenso wirkt das Blindarbeiten belebend auf die Augen; in ihren
Bemühungen die ertastete Form mitzuverfolgen, werden sie besonders wach und der
Willensimpuls im Auge läßt sie anschließend wacher hinausblicken. 97
Sich auf den Prozess des blinden Formfindens, auf die Begegnung mit sich selbst
einzulassen, gestaltete sich anfänglich für die SuS schwierig. Bestimmt von ihrer bereits
gemachten Erfahrung des Kugelformens und dieses nun „schon zu können“, zuzüglich der
Neugierde auf das Ergebnis wurde ich bereits nach kurzer Zeit gefragt, ob sie die
Augenbinde abnehmen dürften. Nachdem ich sie jedoch alle zur Weiterarbeit anrief und
langsam die gewünschte Arbeitsruhe einkehrte, zeigte sich, dass sie im Vergleich zur Arbeit
an der ersten Kugel, sich nun viel ruhiger und intensiver ins Kugelformen,- Streicheln,- und
Glätten einlassen konnten; nach Ablauf der Zeit musste ich sie dann mehrmals bitten, die
Arbeit zu beenden. Das Ausblenden optischer Reize intensiviert den emotionalen Zugang
zum Material und erleichtert das intuitive Erspüren im Arbeiten; man erfährt die stoffliche
Eigenart des Materials und die Besonderheit des eigenen Zugriffs darauf, die Art des Dialogs
mit dem Material, den man körperlich-sinnlich und emotional-geistig mit ihm
führt,98ermöglichte ihnen ein fühlendes Selbstwahrnehmen als genussvoll erlebte Gegenwart.
Um zur Freude aller, eine ordentliche und ästhetische Umgebung aufrecht erhalten zu
können, gehört es zur Aufgabe der SuS, die Schulräume sauber und ordentlich zu
hinterlassen. Am Ende jeder Stunde hatten sie ihren Arbeitsplatz zu säubern und ihre
Arbeiten in das Regal zu räumen. Das gemeinschaftliche Aufräumen fördert den
Gemeinschafts- und Ordnungssinn und lehrt sie im eigenverantwortlichen Handeln einen
achtsamen Umgang gegenüber den Materialien und ihrer Umgebung.
Der Schüler Paul
Wie unter Punkt III.1. beschrieben, fällt es dem Schüler schwer, sich mitunter dem
Unterrichtsgeschehen unterzuordnen. Weil er zeitweise störte und versucht war, andere
abzulenken, wurde ihm abseits ein eigener Platz zugewiesen. Das Erleben, dass um ihn
herum mit Freude überall kleine Objekte entstanden, diese ausgetauscht und besprochen
97 Michael Martin, 1991, S. 247.
98 Gert Seele, 1988, S. 29.
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wurden, ließ ihn mitunter seine anfängliche Lustlosigkeit überwinden und am
Unterrichtsgeschehen aktiv teilnehmen. Gewann das Stören dennoch überhand, ließ ich ihn
als geeignete Diszipinarmaßnahme zeitweise eine Runde über den Hof laufen.
IV.3 Beschreibung der 3. Unterrichtseinheit
18.09. und 19.09.2012, jeweils 8.00 bis 9.50 Uhr
Thema
Handschmeichler
Zeitplan
8.00 - 8.30
Begrüßung, Reflexion der vorangegangenen Stunde, Beurteilen und
Auswerten der Kugeln
8.30 – 8.35
Kurze Pause
8.35 – 9.35
Arbeitsteil, Kugel formen, eindrücken, ausbessern
9.35 – 9.45
Handschmeichler untereinander tauschen, Namensfindung
9.45 – 9.50
Gemeinsames Aufräumen
Material
Ton
Stundenziel
•
Reflexionsrunde, Üben im sach- und partnerbezogenen sprachlichen Handeln
•
Verstärktes Erleben des Handinnenraums
•
Eindrücken der Kugel
•
Erstes Erleben der beiden polaren plastischen Grundkräfte Konkav und Konvex
Stundenverlauf
Zum Einstieg wiederholten wir in der gemeinsamen Reflexionsrunde den Ablauf der letzten
Stunde. Dadurch, dass die einfache klare Form einer Kugel ihnen ein Gestalten mit offenen
Augen, als auch blindes Gestalten ermöglichte, konnte die jeweilige Funktion und Aufgabe
der Hände und Augen selbsterfahrend im Vergleich festgestellt werden. Im Betrachten der
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ersten Kugel zeigte sich, dass mit einer Ausnahme alle Kugeln in der Rundung ihrer Form
mehr oder weniger gleich gut gelungen waren. Der Vergleich zeigte, dass zwischen beiden
Kugeln kaum nenneswerte Unterschiede zu sehen waren; eine Ausnahme bildeten drei
„blind“ geformte Kugeln, welche noch deutlich runder waren als die übrigen.
Die Hälfte der SuS schilderte ihre Wahrnehmung während des blind Arbeitens mit folgender
Beobachtung:
“Mit geschlossenen Augen war es einfacher zu arbeiten, ich konnte mich besser
konzentrieren und war mehr bei mir und der Kugel. Die Augen wollten immer
verbessern und verändern, das hat mich gestört und machte alles immer schlimmer“!
Auch waren sich alle einig darüber, dass das Arbeiten mit geschlossenen Augen „viel
schöner“ gewesen sei.
Erstaunt darüber, wie gut Hände wahrnehmen und sehen können, erklärte ich ihnen, dass
Augen und Hände sich je eigene Urteile bilden können. Das Miteinander von Rundungen
und Höhlungen, von Material und Oberfläche wird mehr durch das Tasten der Hände
empfunden, während Linien, Statik, Proportionen und Farben von den Augen beurteilt
werden. Über das Wegfallen von kontrollierendem Bewerten und Vor-Urteilen der Augen,
erlebten sie, dass ein rein vom Gefühl geleitetes Arbeiten und Wahrnehmen mitunter sogar zu
besseren Ergebnissen führen kann. Die Wahrnehmung des Gelingens, das sich aus der Hand
ergibt, steht hier einem Misstrauen des Bewusstseins gegenüber. Das Arbeiten, von den
Urteilen des Visuellen befreit, ein reines Erleben von Form ohne ein verstandesmäßiges
Zutun, ermöglichte ihnen im tätigen Erkennen einen „Blockaden-freien“-Zugang zu dem
eigenen emotionalen-intuitiven Selbst-Ausdruck.
Ohne im Vorfeld mit den SuS über unser nächstes Vorhaben zu sprechen, ließ ich sie als
ersten Schritt erneut eine Kugel formen, worin sie sich nun zunehmend geschickter zeigten.
Auch hier, in dem für sie neuen künstlerischem Gebiet machten sie die Erfahrung, dass
wiederholtes Üben zu zunehmendem Geschick führt. Die Freude über den spür- und
sichtbaren Erwerb der eigenen Handlungskompetenz ließ jetzt auch die eher zögerlich
arbeitenden SuS forscher und sicherer im Arbeiten auftreten.
Die „fertige“ Kugel ruhte, den Handinnenraum ganz ausfüllend, in einer Hand.
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Mit dem zweiten Schritt erhielten sie die Aufgabe, möglichst mit geschlossenen Augen und
gelenkter Aufmerksamkeit auf Daumen, Fingerpolster und Handinnenfläche die Finger so
weit in die Kugel langsam einzudrücken, bis für diese eine ruhende, angenehme Position
gefunden wurde. Diese Übung zeigte erstmals ein unterschiedliches Verhalten zwischen den
Mädchen und Jungen. Während die Jungen tendenziell forscher und kräftiger zudrückten, der
Fokus mehr beim Machen lag, waren die Mädchen eher vorsichtig mit der Suche nach einer
sich gut anfühlenden Position für ihre Finger beschäftigt; war diese gefunden, ging es ans
Glattstreichen und Ausbessern. Unterdessen hatten die Jungen eine zweite Kugel geformt um
nochmals, diesmal konzentrierter und besonnener, zudrücken zu dürfen. Ein reger, freudiger
Austausch über das eigenen Erleben und das Fühlen begleitete die Entdeckung des
Handinnenraums. Hatte jed(e)r seine Formen gefunden, ließ ich sie, um das Erleben noch ein
wenig zu verinnerlichen, mit gelenkter Aufmerksamkeit auf die Hand und das Gefühl noch
einige Minuten still im Kreis sitzen.
Um im Anschluss aus dem entstandenen Negativ des Handinnenraums ein kleines
ansehnliches Objekt werden zu lassen, wurden zum Abschluss noch die aufgetretenen
Spreißel der Handform angepasst und entsprechend glattgestrichen. Sofort tauschten sie
freudig die fertigen Objekte untereinander aus und versuchten sie sich gegenseitig
anzupassen; dass sich keinerlei exakte Übereinstimmungen finden ließen, verdeutlichte ihnen
die Einzigartigkeit ihrer Hand und verwies sie darin auf ihre Individualität.
Diese kleine Übung ließ die SuS die einzelne Bereiche der Hand noch eindringlicher erfassen
und zielte weniger auf das Ergebnis als vielmehr auf das eigene plastische Erleben im Tun
und dessen Begegnung mit dem Material und den Formen. Unter Einsatz der eigenen
körperlichen Kraft erlebten sie ein erstes unmittelbares formendes Geschehen und dessen
Wirkung in Ton. So wie mit Hilfe der eigenen Kraft und dem Willen folgend, der Ton mit der
Hand als Werkzeug gedrückt und geformt wird, so drückt auch eine Kraft, bildlich
gesprochen, von Innen nach Aussen und zeigt im Ton gespannte Oberflächen. Diese erste
entschiedene Geste des Gestalters, hinterlässt eine bestimmte Form, die wiederum
Rückschlüsse auf den Gestaltenden zulässt. Mittels dieses ersten Gestaltungsaktes erfuhren
sie im Kleinen eine erstes Wirken von plastischen Formen.
In der sich anschließenden Reflexionsrunde, betrachteten und beschrieben wir die beiden
entscheidenden Formelemente und damit die zwei grundlegenden Begriffe des plastischen
Gestaltens; Rundungen und Wölbungen (Konvex) fühlen sich weich und angenehm an,
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lassen das Aussen eher abprallen, während Einbuchtungen (Konkav) mehr schwierig
anzufassen sind, dafür aber eher an-ziehend wirken.
Die starke Identifizierung der SuS mit dem Objekt zeigte sich in ihrem Wunsch, dem kleinen
Objekt einen gemeinsamen Namen geben zu wollen; wir einigten uns auf
„Handschmeichler“, weil es sich „so schön anfühlt“ und somit der Hand und dem eigenen
Gefühl schmeichelt.
Eine weitere Nutzung und damit ein nächstes sinnstiftendes Element fand das Objekt in
seiner Möglichkeit, das Wachsen und Verändern der eigenen Hände zu messen und
festzustellen. Innerhalb eines Jahres wird die Hand sich bereits so verändert haben, dass sich
das „Schmeichelnde“ des kleinen Objektes nicht mehr fühlen lässt.
IV.4 Beschreibung der 4. Unterrichtseinheit
25.09. und 26. 09.2012, jeweils 8.00 bis 9.50 Uhr
Thema
Eine Maus / Igel formen
Zeitplan
8.00 - 8.20
Begrüßung, Reflexion der vorangegangenen Stunde, Beurteilen des
Handschmeichlers, Erfahrungen austauschen
8.20 - 9.00
Arbeitsteil, Mäuse und Igel formen
9.00 - 9.05
Kurze Pause
9.05 - 9.40
Arbeitsteil, Mäuse und Igel formen
9.40 - 9.50
Gemeinsames Aufräumen
Material
Ton / Holzstäbchen
Stundenziel
•
Reflexionsrunde, Üben im sach- und partnerbezogenen sprachlichen Handeln
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•
Üben der Feinmotorik
•
Weiterentwickeln der Kugel über das Oval zur Eiform
•
Üben des Vorstellungsvermögens, Tierform eigenständig entdecken
•
Erste Grunderfahrung der Genese
•
Üben sich in kooperativen Arbeitsformen, indem sie sich gegenseitig Helfen
Stundenverlauf
Zum Einstieg ließ ich die Schüler den Ablauf und den Inhalt der vergangenen Stunde
nochmals gedanklich wiederholen und durchdringen.
Für die kommende Stunde stellte ich ihnen die Aufgabe, ausgehend von einer Kugel, ein
kleines Tier zu formen, wobei das Wesentliche des Tieres ohne überflüssige Details
dargestellt werden sollte. Ohne die Gattung des Tieres zu nennen, sollten sie die Form eines
möglichen Tieres im plastischen Vorgehen weitgehend selbst entdecken. Die wichtigsten
Verhaltensweisen bestehen dabei im Versuchen, Entdecken, Auswählen, Bestimmen,
Verbinden und Bestimmen von Handlungen und Begriffen. Als kleine optische
Orientierungshilfe für den Formfindeprozess zeichnete ich für sie die zu erarbeitenden
Grundformen in ihrer Entwicklung zum Tier, in der jeweiligen Stunde an die Tafel.
Aufgrund der gewölbten Flächen einer abgeschlossenen Kugelgestalt entstehen meist
rundliche Tiere; die Kugel als Grundform ließ ich sie über ein Oval weiter verwandeln, bis
sie allmählich in eine Richtung spitzer, tropfenförmiger wurde und schließlich an ein Ei
erinnerte, an dessen Spitze eine kleine Schnauze geformt werden konnte.
Während bislang beim Kugelformen hauptsächlich der Handinnenraum tätig werden durfte,
erforderte die Hauptarbeit jetzt zunehmend die Feinmotorik der Fingerspitzen,
währenddessen begleitend auch die Beobachtung eine wesentliche Rolle spielte. Im
Wechselspiel zwischen Tun und Schauen entsteht aus dem Erinnern und neu Ausprobieren
allmählich die Gestalt; nicht ihre begriffliche Vorstellung, sondern das innere Erleben der
Formbildung führte sie dabei zur Gestaltung des Tieres. Schöpfend aus dem Wissen der
bereits gemachten Erfahrung im Umgang mit Materialeigenschaft und Formvermögen,
arbeiteten sie intuitiv, ganz aus den eigenen Sinnen und dem eigenen Körpergefühl heraus.
Aus der Kugel herausarbeitend, formverändernd die Gestalt zu finden, schulte ihr
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Vorstellungsvermögen und forderte ihr kreatives Potenzial.
Die eigene, persönliche Triebkraft, das Wünschen und Hoffen auf ein gelungenes Ergebnis,
trieb sie an und wurde in der objektiven Form der Tiergestalt sichtbar. Das Gefühl während
des Formens, angetrieben von dem Willen, das Tier fertig zu stellen, mündet im Denken mit
der Auseinandersetzung über Frage nach einer möglichen Lösung. Die Sinne ansprechend
wurden gemeinsam Kopf, Herz, Hand gefordert.
Schnell hatten die ersten Schüler die Form der Maus und die des Igels entdeckt und fragten
nach der Gestaltung der Ohren und des Schwanzes. Beides wurde an entsprechender Stelle
aus der Gesamtmasse geformt. Als gestalterisches Hilfsmittel ließ ich einzig ein
Holzstäbchen zu um die Löcher für Augen und Stacheln anzudeuten. Ein mitgebrachtes Foto
oder Gummitier hätte zum einen diesen Prozess des eigenen Formfindens gehemmt und zum
anderen in ihnen einen Konflikt zwischen dem inneren vorgestellten Bild und dem optischen
Eindruck erzeugt.
Den Arbeitsprozess unterstützte ich, indem ich sie immer wieder motivierte dranzubleiben,
sich einzulassen und sich auf Augen, Hände und Gefühl zu konzentrieren. Nur wo tatsächlich
die Notwendigkeit bestand, griff ich helfend ein und rief ansonsten dazu auf, sich auch
gegenseitig zu helfen.
Deutlich zeigte sich, dass die stärkeren SuS formal die Richtung wiesen; war erst ein
ausdrucksstarkes, in seiner Form gelungenes Tier gefunden, wurde dies gerne und schnell
von den anderen SuS kopiert. Dies machte deutlich, das einige Schüler noch stark über das
Nachmachen von Vorhandenem versuchten, ihr Tier zu formen.
Da die Aufgabenstellung, eine Maus oder einen Igel zu formen für alle SuS mit ihren
Möglichkeiten gut umsetzbar war, waren sie nach den ersten erfolgreichen Ergebnissen in
ihrem Eigenwillen gestärkt und selbstmotiviert wiederholt ein nächstes Tier zu formen. Mit
jeder neuen Ausführung erlebten sie sich zunehmend kompetenter, bauten eine emotionale
Verbindung zu den Tieren auf, was zu einer Ansammlung von ganzen Mäuse- und
Igelfamilien führte. Dies zeigte deutlich ihre eigenen inneren Vorstellungsbilder und das
ihrem Alter entsprechendem Bedürfnis nach „Begegnung und Gegenüberstellung“. Über ihr
emotionales Verbundensein zeigten sie Verantwortung gegenüber ihrer Arbeit und ihres
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Werkstücks.
Die gefühlte Notwendigkeit, darüberhinaus die kleinen „Familien“ noch mit modelliertem
Essen und Alltagsutensilien auszustatten, läßt sich auf die für das Alter typischen Phase des
„einfühlenden Orientierungsstrebens“ zurück führen. Die grosse „Ausschmückfreudigkeit“
zeugt von einer nun eher sachbezogenen Wirklichkeitsauffassung; nach Arno Förtsch löst im
Alter zwischen sechs- bis acht Jahren eine eher detaillierte, realitätsbezogenere Auffassung
von den Dingen die Phase des ganzheitlichen, intuitiven Erlebens ab 99.
Nach dem gemeinsamen Aufräumen verabschiedeten sich einige SuS zum Abschied mit
Streicheleinheiten bei ihren Tieren. Dieser gegenseitige Austausch bedeutet eine Form der
Achtung und Wertschätzung gegenüber der eigenen Arbeit und dem Tier und erzeugt für die
SuS zugleich Sinnhaftigkeit und ein Stück weit Aneignung von Welt.
IV.5 Beschreibung der 5. Unterrichtseinheit
01.10. und 02.10.2012, jeweils 8.00 bis 9.50 Uhr
Thema
Pinguin formen
Zeitplan
8.00 - 8.20
Begrüßung, Reflexion der vorangegangenen Stunde, Beurteilen und
Auswerten der Tiere
8.20 - 9.00
Arbeitsteil Pinguin formen
9.00 - 9.05
Kurze Pause
9.05 - 9.45
Arbeitsteil Pinguin formen
8.45 - 8.50
Gemeinsames Aufräumen
Material
Ton
Stundenziel
•
Reflexionsrunde, Üben im sach- und partnerbezogenen sprachlichen Handeln
99 Arno Förtsch, 1933, in Stefan Becker, 2003, S. 62.
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•
Gesprächsaustausch über den Pinguin, Versuchen, sich in das Tier einzufühlen
•
Üben der Feinmotorik
•
Weiterentwickeln der Kugel zu einem Zylinder
•
Unter Anleitung den Pinguin formen
•
Statische Herausforderung meisternSinn für Symmetrie entdecken
•
Üben sich in kooperativen Arbeitsformen, indem sie sich gegenseitig Helfen
Stundenverlauf
Zur Begründung für die Wahl des Pinguins möchte ich folgendes anführen. Jeder Klasse der
Schule wurde als ein Identifikationsmerkmal ein Tier zugeordnet; die hier genannten SuS
gehören der Pinguinklasse an. Bilder von Pinguinen hängen an den Wänden und Bücher über
diese stehen zur Verfügung. Da seit Beginn ihrer Schulzeit der Pinguin sie begleitet, sie sich
also bereits ein Stück weit mit ihm identifiziert fühlen, äusserten sie in Folge den Wunsch,
einen eigenen Pinguin formen zu dürfen.
In unserer gemeinsamen Reflexionsrunde ließ ich die SuS zum einen von ihren Erfahrungen
und Schwierigkeiten der vergangenen Stunde berichten und zum anderen die für sie
besonders gut gelungenen Tiere mit Begründung auswählen. Bei eingehender Betrachtung
aller Tiere sammelten wir folgende Punkte als Bewertungskriterien für ein gelungenes Tier:
Proportionen, Gleichgewicht, Symmetrie, Ausdrucksstärke und die Gestaltung einer Ganzheit
aus verschiedenen Ansichten. Nicht eine möglichst naturalistische Darstellung war mir
primär wichtig, sondern vielmehr die charakterlichen Züge, das Gestalttypische des Tieres zu
erfassen und hervor zu heben.
Auch aus didaktischer Sicht ließ sich in die Reihenfolge der Elementarformen von Kugel, Ei,
Oval die Gestalt des Pinguins mit der Säule als Grundform gut integrieren. Des Weiteren ließ
sich mit seiner Gestaltung auch der nächst folgende Lernschritt, von der mehr horizontalliegenden hin zu einer aufrecht stehenden Figur gut erüben.
Zum Einstieg und zur Vorbereitung auf das Thema, ließ ich die SuS kleine Geschichten über
den Pinguin austauschen, sein Gestalttypisches aufzählen und sie selbst im Pinguingang
durch den Raum „watscheln“. Das sich Einfühlen in die charakterlichen Züge, das Erleben
seines typischen Wesens, erzeugt vorbereitend eine eigene begriffliche Vorstellung, ein
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inneres Bild auch als Impuls zur Verwirklichung dessen. Zur Unterstützung für die
Gestaltfindung, zeichnete ich in stark vereinfachter Form einen Pinguin an die Wand.
Um ihnen eine Orientierung zu bieten und ihnen über das Nachmachen einen Moment der
Beruhigung und Festigung zu geben, formte ich ebenfalls gemeinsam mit ihnen einen
Pinguin. Vormachen galt hier als Methode.
Mit Rücksicht auf ihre eingeschränkten plastischen Erfahrungen entschied ich mich für eine
stark vereinfachte Pinguinform; ich versuchte entsprechend ihren inneren Bildern eine
altersgemäße Gestaltung zu finden, welche das Wesentliche des Tieres darstellte. Das
Nachmachen versteht sich hier mehr als Mit- oder Nachvollzug, in welchem sie durch die
Begegnung von inneren und äusseren Bildern, im Aneignen von Techniken Form- und
Bildsprache entdeckend lernten.
Die Arbeit begann mit dem Formen einer Kugel, welche später hin zu einer kleinen kräftigen
Säule flachgedrückt wurde. Ein Ende zogen wir zu einem kleinen kugelartigem Kopf mit
Schnabel, aus dem anderen Ende formten wir die Füße und den Schwanz. Die beiden Flügel
„wuchsen“ seitlich, rechts und links aus dem Körper. Da wir uns gemeinsam Schritt für
Schritt die Gestalt erarbeiteten, bestimmte der langsamste Schüler das Arbeitstempo der
Gruppe. Mitunter zeigten sich die verschiedenen Fähigkeiten der SuS; einige konnten
besonders gut den Schnabel formen, anderen gelangen die Füße besser. Auch hier ließ ich sie
sich untereinander helfen und griff nur dort ein wo es mir notwendig schien. Im Korrigieren
der Arbeiten versuchte ich nur innerhalb ihrer der persönlichen Gestaltungsmöglichkeit des
jeweiligen Schülers helfend einzugreifen. Grundsätzlich bildete die Zeichnung an der Wand
und mein Mitgestalten für sie ein Regulativ, an welchem sie sich messen konnten; dennoch
war es mir innerhalb dessen ebenso wichtig, sie ihre eigene Gestaltungsform finden zu
lassen, bzw. sie darin zu unterstützen.
Fortwährend hielt ich sie immer wieder zu dem Versuch an, die Figur als Ganzes, alle Seiten
gleichzeitig im Auge zu behalten. Gerne verloren sie sich im Vorgang an irgendeinem Detail,
worunter andere Bereiche dann vernachlässigt wurden. Wurde so z.B. der Schnabel oder der
Flügel zu dünn geformt, brach er ab. Das eigene Kontrollieren und Korrigieren der Arbeit
gepaart mit dem sinnlich-einfühlendem Herantasten an die Gesetzmäßigkeiten des Formens
und des Materials, bildete hier die Grundlage des Lernvorganges. Ein permanentes Abwägen,
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Vergleichen und Kontrollieren der Ergebnisse lässt das Denken der Kinder zwischen rational
Gedachtem und intuitiv Erspürtem pendeln; im Wechselspiel zwischen bildnerischem und
begrifflichem Denken versucht sich darüberhinaus das „Eigene“ zu zeigen.
Die Frage, ob das Entstandene so gut und wann was fertig sei, tauchte auch hier immer
wieder auf; ich rief sie an, auf das eigene Schöpferische zu vertrauen und Kraft ihres
geschulten Urteilsvermögens zu versuchen, sich die Fragen selbst zu beantworten.
Die größte Herausforderung zeigte sich in der Statik der kleinen Figur. Die beiden Füßchen
und die Schwanzspitze miteinander so zu koordinieren, dass der Pinguin zum Stehen kam, er
von allen Seiten betrachtet werden konnte, forderte ein lösungsorientiertes Denken und
schulte im Raumwahrnehmen ihren Gleichgewichtssinn.
In Anbetracht der Komplexität der Aufgabe war es diesmal keinem Schüler möglich, weitere
Ausstattungen für den Pinguin herzustellen. Auch das vorab genannte charakteristische
Merkmahl der glatten Haut wurde von keinem SuS berücksichtigt. Der Vorgang bedeutete für
jeden ein ernsthaftes Ringen mit dem Material und dem eigenen Können, welches durch
sichtbar schöne Ergebnisse belohnt wurde.
IV.6 Beschreibung der 6. Unterrichtseinheit
04.10.2012, 8.00 bis 9.50 Uhr
Thema
Anmalen der Tiere, Gemeinsame Reflexionsrunde zur Unterrichtsreihe
Zeitplan
8.00 - 8.05
Begrüßung, Arbeitsmaterial verteilen
8.05 – 8.15
Reflexion der vorangegangenen Stunde, Beurteilen und Auswerten des
Pinguins
8.15 – 9.05
Arbeitsteil, Pinguin anmalen
9.05 – 9.10
Kurze Pause
9.10 – 9.35
Gemeinsame Reflexionsrunde der gesamtem Unterrichtseinheiten
9.35 – 9.45
Gemeinsames Aufräumen
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9.45 – 9.50
Verabschieden
Material
Gouachefarben, Pinsel, Wassergläser
Stundenziel
•
Farbfindung, Farben mischen
•
Differenzierte Pinselführung, Farbauftrag
•
Lernen sich Arbeitsmaterialien zu teilen
•
Reflexionsrunde, Üben im sach- und partnerbezogenen sprachlichen Handeln
•
Üben in der Urteilsfindung, lernen sinnlich und emotional Erlebtes sprachlich zum
Ausdruck zu bringen
Stundenverlauf
Um sich die Arbeitsmaterialien besser teilen zu können, setzte ich alle SuS gemeinsam an
einen großen Tisch. Ich ließ sie selbstständig die Farbgebung für den Pinguin bestimmen.
Um sie das Farbmischen üben zu lassen, stellte ich ihnen bewußt kein Orange zur Verfügung;
ein schönes Orange für den Schnabel und die Füße musste gefunden werden. Das Wetteifern
um den gelungensten Orangeton hatte zur Folge, dass fast alle vom Ehrgeiz gepackt mit
Freude die Farben mischten. Untereinander wurden dann die schönsten Orangetöne
getauscht, sodass schließlich jedem SuS ein Orange zur Verfügung stand.
Um den Pinguin anzumalen, mussten sie sich erneut intensiv auf ihn einlassen; erst die
jeweilige Farbe und der entsprechend dafür ausgewählte Bereich bestimmte wesentlich die
einzelnen Körperpartien und damit die Individualität des Tieres.
Den fertigen Pinguinen wurden Namen erteilt und im eigenen Zuhause Standorte reserviert.
Das abschließende gemeinsame reflexive Betrachten beinhaltete den Austausch über das
Arbeiten mit dem Ton als Werkstoff, die verschiedenen Schwierigkeitsgrade im Formfinden
und das Interesse und die Freude an der jeweiligen Arbeit.
Ein kleiner Auszug: „Was hat euch, am meisten Spass gemacht“?
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Die Kugel...
„weil sie einfach so schön ist.“
„weil sie so beruhigend wirkte.“
„weil wir mit geschlossenen Augen arbeiten durften.“
Der Handschmeichler...
„weil er sich so schön für die ganze Hand anfühlte.“
„weil ich damit in Zukunft meine Handgröße messen kann.“
Die Maus...
„weil sie am einfachsten war.“
„weil das so schnell ging und ich dann viele davon machen durfte.“
Der Igel...
„weil wir mit einem Zahnstocher arbeiten durften.“
Der Pinguin...
„weil er am schwersten war.“
„weil wir da am meisten machen durften.“
„weil da am meisten zu sehen ist, er sieht am echtesten aus.“
Als Kritikpunkt wurde von vier SuS bemängelt, dass keine Zeit zur Verfügung stand um eine
eigene, ausgedachte Arbeit anfertigen zu können. Bis auf zwei Jungen waren die SuS mit den
Ergebnissen sehr zufrieden und baten alle inständigst auf eine Fortführung des Unterrichts.
Zum Abschluss bedankte ich mich lobend bei ihnen für die gemeinsam verbrachte Zeit.
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V
Reflexion und Evaluation der Reihe
Die Reflexion folgt in Anlehnung an die von Jank Meyer genannten Gütekriterien von gutem
Unterricht100 und bildet als greifbare Bestandsaufnahme eine Grundlage für weitere
Unterrichtskonzepte. Sie bezieht sich auf die Übereinstimmung von Unterrichtskonzeption
und tatsächlichem Handlungsverlauf. Sowohl die positiven als auch die negativen Ergebnisse
des Selbstreflektierens bieten Erkenntnisse, welche für zukünftiges Handeln genutzt werden
können.
Insofern die angestrebten Ziele überprüfbar sind, werden sie unter dem Grad ihrer Erreichung
bewertet. Die entstandenen Arbeitsergebnisse dokumentieren die vollzogenen Prozesse und
die Leistungen.
Aufgrund einer länger andauernden Erkrankung der Klassenlehrerin, bezieht sich das
Reflektieren und Evaluieren ausschließlich auf die Aussagen der SuS.
V.1
Übereinstimmung von Konzeption und Verlauf
Unterrichtsklima / Individuelles Fördern
Das mitgebrachte Interesse auf beiden Seiten und die Begeisterung für die Unterrichtsinhalte
und das Arbeiten mit Ton erzeugte im Laufe des gesamten Unterrichts durchweg ein positives
Arbeitsklima. Der Aufruf und die Möglichkeit, sich gegenseitig zu helfen, lehrte sie neben
eigenverantwortlichem Arbeiten, ein respektvolles und verantwortliches Umgehen im
Miteinander. Aufgrund ihres überwiegend selbstständigen Arbeitens fand ich genügend Zeit,
unterstützend und helfend einzugreifen. Begleitet von immer wieder positiv motivierenden
Worten, konnte ich entsprechend meiner Anforderungen jeder(m) SuS Anteilnahme,
Zuwendung und Wertschätzung zukommen lassen, was letztendlich ein gelungnes und somit
gesundes Arbeitsklima mitverantwortete.
100 Jank Meyer, www.peterkoester.de/download.php?file=610b2b444303&req, recherchiert am 01.05.2013.
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Struktur
Entsprechend meiner Unterrichtsplanung zeigte der Unterrichtsverlauf über die Einstiegsund Arbeitsphase eine klare Struktur. Dass die SuS grob informiert darüber waren, was in der
jeweiligen Stunde auf sie zu kam, stimmte sie grundsätzlich ruhiger und wirkte ordnend.
Nicht geplant aber positiv ergänzend bereicherte das „Ton-Verteil-Ritual“ jede
Unterrichtsstunde mit einer erfreulichen Portion Humor und Lockerheit. Das der
Raumsituation geschuldete gemeinsame Aufräumen am Ende jeder Stunde ritualisierte sich
und bildete die Abschlussphase einer jeden Stunde.
Zeiteinteilung
In die für jede Unterrichtseinheit zur Verfügung gestellten 110 Minuten (abzüglich der fünf
Minuten Pause) ließ sich das Unterrichtsvorhaben sehr gut integrieren. Die nach der Halbzeit
veranschlagte fünf Minuten Pause wurde von den SuS bis auf sehr wenige Ausnahmen nicht
wahrgenommen. Demzufolge konnte ich am Ende einer Stunde zügig arbeitende SuS,
mitunter etwas früher in die nächste Pause verabschieden.
Das gemeinsame Reflektieren der Arbeitsprozesse und der Ergebnisse an den Anfang der
Unterrichtsreihe zu stellen, wirkte insofern auch positiv auf das Unterrichtsgeschehen, als
dass die sich anschließende restliche Zeit, in Ruhe und Entspanntheit für den Arbeitsteil
verwandt werden konnte. Auch möglichen unvorhergesehenen Vorkommnissen hätte man so
zeitlich noch begegnen können. Grundsätzlich halte ich für den Kunstunterricht 90-110
Minuten Unterrichtszeit für optimal, um jedem Schüler die Chance geben zu können, sein
motorisches, intellektuelles, emotionales und soziales Potential umfassend entwickeln zu
können.
Kommunkationsebene
Für die gemeinsamen Gesprächsrunden galten die der Klasse verbindlich aufgestellten
Gesprächsregeln über gegenseitige Rücksichtnahme, Respekt und Höflichkeit. Mitunter
zeigte sich für einige SuS, dass das Einhalten der Regeln noch einiger Übung bedarf;
möglicherweise lässt sich dies auch auf die für sie ungewohnte Unterrichtsform
zurückführen.
Methodenebene
Grundsätzlich muss die Methodenvielfalt mit einer stimmigen Kombination von Ziel- und
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Inhaltsentscheidungen verknüpft werden. In dieser Unterrichtsreihe bildetet das Arbeiten mit
dem Ton als durchgängiges Handlungsmuster, gleichzeitig Inhalt und Ziel.
Der Wechsel zwischen der gewählten Kreisform für das Gespräch und dem Rückzug auf den
eigenen Arbeitsplatz ermöglichte den SuS ein „Miteinander“ und „Für-Sich-Sein“ als zwei zu
empfehlende Sozialformen für einen guten Kunstunterricht. Gemessen an den Erfahrungen
und Arbeiten der Mitschüler, konnten gemeinsam Umsetzungsmöglichkeiten und
Handlungsschritte genannt werden um das eigene Arbeiten zu optimieren.
Schüleraufmerksamkeit, Mitarbeit
Bis auf Ausnahme von Paul zeigten alle SuS während des gesamten Unterrichtsablaufs
grundsätzlich eine sehr engagierte und freudige Arbeitshaltung. Diese Tatsache führe ich
unter anderem auf folgende Faktoren zurück: Da der Unterricht jeweils morgens in den
ersten beiden Stunden stattfand, begegneten die SuS dem Unterricht frisch ausgeruht und
noch mit ganzer Aufmerksamkeit; des Weiteren hegten sie bereits schon seid längerem den
Wunsch, mit Ton arbeiten zu dürfen. Neben der beruhigenden und harmonisierenden
Wirkung des Tons begünstigte dies die gesamte Arbeitsatmosphäre und stimmte die Mitarbeit
und das Lernverhalten durchweg positiv. Mit Ausnahme von Paul waren insofern
Disziplinarmaßnahmen kaum nötig.
Die Zeit des Rubikon zeigte sich bei den 4. Klässlern deutlich; sie arbeiteten insgesamt
unruhiger, unkonzentrierter und benötigten mehr Hilfe. Das vermeintliche „Fertigsein mit der
Arbeit“, der schnell erreichte Grad an Zufriedenheit und Glücksgefühl ist beispielhaft für die
SuS in diesem Alter. Weniger voreingenommen, zeigen sie noch wenig „Ich-Rigidität“,
lassen mehr zu und sind schnell über die eigene Leistung am Ende überrascht und zufrieden.
Dies führte mitunter zu voreiligem versuchtem Abbrechen der Arbeitsprozesse. Persönliche
Tiefpunkte und div. Motivationseinbrüche, erzeugt durch eine im Arbeiten gefühlte
Diskrepanz zwischen Vorgestelltem und Wirklichkeit, behinderte ebenso das kontinuierliche
Arbeiten.
„Wie helfe ich den SuS aus ihrem Tief?“ „Wie schaffe ich es, sie zur Weiterarbeit zu
bewegen?“ Über Nachfragen, Anregen, Aufmuntern oder auch nonverbale Gesten versuchte
ich ihnen darin unterstützend zu begegnen. Sie immer wieder zur Selbstüberwindung und
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zum kontinuierlichem Arbeiten anzuhalten, erfuhr ich als eine echte Aufgabe und betrachte
dies als eine große Herausforderung, sowohl für den Lehrer als auch für die SuS.
„Machen“, „Sehen“ und „Sagen“ bildeten als Einheit die drei Tätigkeiten ihrer Mitarbeit.
Durch Übung, Anspornen, Anerkennung, Beobachten bei den Anderen und gemeinsames
Reflektieren, vollzog sich das Lerngeschehen.
V.2
Evaluation der Ziele
Im Hinblick einer salutogenetischen Zielsetzung diente der Arbeitsprozess zum einen als
Grundlage und Möglichkeit der Ich-Bildung und zum anderen dem Prozess des inneren
Wachstums zur Steigerung des Selbstwertes und der Selbstbildung (vgl. II.2). Die
Unterrichtsreihe zielte nicht primär auf das Resultat, sondern auf das zu Erfahrende, was die
SuS im Arbeitsprozess willentlich übend zu entwickeln versuchten.
Was als implizite Zielsetzung angeregt, gefördert und veranlagt wurde, kann insofern nur
bedingt überprüft werden, als dass sich die Ergebnisse vielmehr zukünftig an der
Entwicklung ihrer Gesamtpersönlichkeit und ihres Handelns ablesen lassen.
Die Vielzahl der entstandenen Tierfamilien und der Wunsch, innerhalb der Schule als auch
ausserschulisch weiterhin mit Ton plastizieren zu dürfen, verweisen auf
•
eine großen Freude am plastischen Arbeiten,
•
auf eine Form der Wertschätzung gegenüber der eigenen Arbeit,
•
und auf ein zunehmendes Vertrauen in diese und damit verbunden auch auf ein
Vertrauen in die eigene schöpferische Kraft und in sich.
Das Erkunden und Deuten des Materials, das Spüren und Erfahren von fremder und eigener
Körperlichkeit stieß einen Lernprozess in Gang, welcher Bewegung, Sinneswahrnehmung
und Erkenntnis effektiv miteinander verknüpfte und somit den SuS die Möglichkeit gab, das
Arbeitsvorgehen in Übereinstimmung mit sich selbst und der Welt sinnhaft zu erleben.
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In Bezug auf die expliziten Ziele lässt sich die Steigerung ihrer technischen und
gestalterischen Kompetenzen und Fähigkeiten anhand der Ergebnisse, bzw. der daran
erkennbaren Gestaltqualitäten ablesen. Mit Hilfe von viel Übung und Anstrengung steigerten
sich ihre motorischen Fähigkeiten, sodass jedes nächste Tier wiederum formvollendeter
erschien und es somit jeder(m) SuS gelang, selbstständig einen stehenden Pinguin zu formen
und ihm über die Formbildekraft der eigenen Hände sein Temperament und damit eine
persönliche Eigenart zu verleihen.
Über die regelmäßigen Reflexionsrunden ließen sich ihre Kommunikationskompetenzen
grundsätzlich stärken, dennoch vollzog sich das für sie ungewohnte allgemeine Sprechen
über Gefühle und Wahrnehmungen eher schleppend; nur ein kontinuierliches Üben
desselben, vermag es ihrem Fühlen und Erleben Ausdruck zu verleihen und dies ihnen
dauerhaft zu erleichtern.
Dem Begriff von Bildung unter Punkt III.2 möchte ich ergänzend hinzufügen, dass das
kognitiv, volitiv und emotional Erfahren und Gelernte dieser Unterrichtsreihe
zusammengefasst einen Bildungsbegriff beschreibt, welcher Wolfgang Klafki wie folgt
formuliert:
„Bildung ist eine kategoriale Bildung in dem Doppelsinn, dass sich dem Menschen
eine Wirklichkeit 'kategorial' erschlossen hat und das eben damit er selbst - dank der
selbstvollzogenen 'kategorialen' Einsichten, Erfahrungen, Erlebnisse - für diese
Wirklichkeit erschlossen worden ist.“ 101
101 Klafkis „kategorialer“ Begriff von Bildung, beinhaltet die Einheit und den Zusammenschluss einer
materialen objektbezogene Seite des Gelernten, als auch einer formalen subjektiven Seite des Lernenden.
Als „doppelte Erschließung der Wirklichkeit“ werden wir im eigenen Erleben oder im Erleben Anderer
unmittelbar der Einheit eines subjektiven (formalen) und eines objektiven (materialen) Momentes gewahr.
Werner Jank / Hilbert Meyer, 1994, S. 143, und
studsem.rp.lonet2.de/f07/.ws_gen/2/Infotext/Bildungstheorie%20_ausf%FChrlich.pdf, recherchiert am
16.06.2013
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V.3
Selbstreflexion
Die vielen positiven Stimmen der SuS und ihr nachhaltiges Interesse an einer dringend
gewünschten Fortführung des Unterrichts freuen mich sehr und weisen insbesondere darauf
hin, dass ich den SuS dieses Unterrichtsfach erschließen konnte und meine Aufgabe und das
Ziel, sie für das plastische Arbeiten mit Ton zu begeistern, erreicht habe.
Insofern wünsche für die Zukunft und hoffe ich gleichzeitig, mit dieser Unterrichtsreihe den
Lehrplan Kunst der Grundschulen sinnvoll erweitert und ergänzt haben zu können.
Als Kritikpunkt und Möglichkeit einer Verbesserung der Unterrichtsinhalte möchte ich
Folgendes hinzufügen: Ebenso wie die konvexe Form gehört als Pendant auch die konkave
Form mit zu den Grundformen des plastischen Gestaltens; als Einheit bilden sie die Kugel.
Insofern sollte den SuS ergänzend zu dem „genussvollen“ Erleben der konvexen Form
ausführlicher als geschehen, das Formerleben des Konkaven nahe gebracht werden. Ebenso
wie sich die konvexe Form zuvor in dem Handinnenraum erfahren ließ, lässt sich das
Konkave ebenfalls als Form in der Hand finden und erleben. Um eine einfache, schöne
konkave Form zu erhalten, würde man wiederum eine Kugel formen und diese bis hin zu der
Form einer Schale eindrücken und ausformen. Auch zeitlich ließe sich die Übung in diese
Einheit noch gut eingliedern.
Aus zeitlichen Gründen und mangelndem Interesse seitens der Lehrerin kam es leider zu
keiner Präsentation der Arbeiten; auch weil die letzte Stunde kurz vor den Herbstferien lag,
gab ich dem eindringlichem Bitten nach, die Tiere unbedingt mit in die Ferien nehmen zu
dürfen. Grundsätzlich halte ich es aber für unbedingt notwendig, die entstanden Arbeiten in
Form einer kleinen Ausstellung zu präsentieren. Zur Stärkung ihres Selbstwertes und ihrer
Individualität erhalten sie somit auf angemessene Weise eine Form der Wertschätzung
gegenüber ihrer Arbeit und damit gegenüber sich Selbst.
Zum Abschluss möchte ich noch auf einen letzten Punkt aufmerksam machen, der sich mir
insbesondere während des Gestaltens der Pinguine eröffnete. Als eines der zentralen
Anliegen von gutem Kunstunterricht verstehe ich es, den SuS über das künstlerische Arbeiten
zu ihrem persönlichen Ausdruck zu verhelfen. Im Hinblick darauf sollen die zu erlernenden
gestalterischen Prinzipien, Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten sie in ihrem ästhetischen
Ausdrucksvermögen unterstützen; diese angewandt, können mitunter aber auch
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einschränkend wirken und die SuS in ihren eigenen Gestaltungszielen behindern (vgl. II.1).
D.h. das künstlerische Arbeiten mit Anspruch auf einen freien Ausdruck einerseits und die
Pädagogik mit Anspruch auf einen didaktisch-methodischen Umgang mit Kunst andererseits,
stehen sich insofern im Kunstunterricht „provokant“ gegenüber.
Die Aufgabe, entsprechend der eigenen Gestaltungsgesetzen in den Arbeitsprozess der SuS
fordernd und ordnend einzugreifen, sie zu führen und ihnen gleichzeitig den Raum für ihre
individuelle Entfaltung, für die Entwicklung ihrer Gestaltungsabsichten zu lassen, erlebe ich
als eine Art Gradwanderung und betrachte diese zukünftig als eine der entscheidenden
Herausforderung für meine Arbeit als Kunstlehrerin.
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VI Schlussreflexion
Kugeln, Handschmeichler, Tiere, Werke, deren Bildung den Werkschaffenden selbst bilden,
erstreben eine von Jochen Krautz postulierte „personale Kunstpädagogik“, (vgl. II.1) welche
versucht, die SuS in seiner Ganzheit anzusprechen. Um den vielfältigen Herausforderungen
einer Kultur gerecht werden zu können, in welcher es zunehmend mehr um Geschwindigkeit
und Erfolg als um das „Wozu“ und „Warum“ geht, sollten zum Aufbau von
Persönlichkeitsmerkmalen insbesondere den Grund- und Basiskompetenzen (vgl. auch
„Schlüsselqualifikationen“ unter II.1)
mehr Bedeutung und Gewichtung verliehen werden.
Eine geschulte Wahrnehmungsfähigkeit, eine gesunde Leibergreifung und ein lebendiges,
vom Willen und Gefühl durchdrungenes Denken ermöglichen den SuS nicht nur den
Anforderungen der Welt zu begegnen, sondern sie in der vertrauensvollen Begegnung mit
dem Wir, gemeinsam schöpferisch mitzugestalten.
So schafft das Plastizieren nicht nur Grundlagen für Welterkenntnis und -aneignung, sondern
erweitert Verstehens- und Interpretationsfähigkeiten für die ästhetische Erscheinungen und
Vorgänge in der Welt.
Insofern hoffe ich mit dieser Unterrichtsreihe bei den SuS altersadäquate
Entwicklungsprozesse angeregt zu haben, welche ihnen begleitend auf dem Weg ins Leben
die Möglichkeiten bieten, ihre individuelle Gestalt ihrem Wesen nach im besten Sinne
vollkommen entwickeln zu können.
Abschließend bleibt zu hoffen (als auch zu fordern), dass das Plastizieren zukünftig auch an
den Grundschulen als ein fester Bestandteil des Kunstunterrichtes verankert werden kann;
denn die persönliche Erfahrung des Greifens, das allem Begreifen vorausgeht, lässt sich auch
zukünftig weder durch Medien noch durch den Computer ersetzen.
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Literatur
Becker, Stefan: Plastisches Gestalten mit Kindern und Jugendlichen. Auer, 2003.
Billmayer, Franz: Nachgefragt. Kopaed, 2009.
Die Grundschulzeitschrift, Nr. 257, 2012.
Eid, Klaus / Langer, Michael / Hakon, Ruprecht: Grundlagen des Kunstunterrichts, eine
Einführung in die kunstdidaktische Theorie und Praxis. Schöningh, 2002.
Hartlaub, Gustav: Der Genius im Kinde. 2. Auflage. F. Hirt, 1930.
Jank, Werner, Meyer, Hilbert: Didaktische Modelle. 3. Auflage. Cornelsen Scriptor, 1994.
Klöckner, Karl: Handbuch der Kunst- und Werkerziehung. Bd. 2. 3. Auflage. Rembrand
GmbH Berlin, 1969.
Krautz, Jochen: Kunst, Pädagogik, Verantwortung. 1. Auflage. Athena, 2010.
Leber, Stefan: Die Menschenkunde der Waldorfpädagogik. Freies Geistesleben, 1993.
Martin, Michael: Der künstlerisch-handwerkliche Unterricht in der Waldorfschule. Freies
Geistesleben, 1991.
Peez, Georg: Ästhetische Bildung. Kopaed, 2005
Peez, Georg: Einführung in die Kunstpädagogik. 3. Auflage. W. Kohlhammer, 2008.
Richter, Tobias: Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele - vom Lehrplan der
Waldorfschule. 2. Auflage. Freies Geistesleben, 2006.
Rist Georg / Schneider, Peter: Die Hiberniaschule. Rowolt Taschenbuch, 1977.
Schieren, Jost: Die Veranlagung intuitiver Fähigkeiten in der Pädagogik. RoSE, (Research
on Steiner Education) Nr. 1. Januar 2010.
Schieren, Jost: Anschauende Urteilskraft. Parerga,1998.
Schieren, Jost, Reader: Imagination. 2012.
Selle, Gert: Gebrauch der Sinne. Rowohlt Taschenbuch GmbH, 1993.
Sowa, Hubert: Grundlagen der Kunstpädagogik. Band 5. Pädagogischen Hochschule
Ludwigsburg, 2011.
Sowa, Hubert: Bildung zur Imagination, Bd. 1. Athena, 2012.
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Steiner, Rudolf: 2. Vortrag. 4. Oktober, 1922. GA 217.
Steiner, Rudolf: 2. Vortrag. 6. September, 1919. GA 295.
Steiner, Rudolf: Vortrag, 8. August, 1920. GA 199.
Steiner, Rudolf: 905. GA 93a.
Steiner, Rudolf: 12. Vortrag. August, 1923. GA 307.
Steiner, Rudolf: Die Erziehung des Kindes / Die Methodik des Lehrens. 2. Auflage. Freies
Geistesleben, 1965.
Steiner, Rudolf: Vom Lehrplan der freien Waldorfschule. Stuttgard, 1919.
Stockmeyer, E. A. Karl: Angaben Rudolf Steiners für den Waldorfschulunterricht. 6.
Auflage. Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen Stuttgard,
2001.
Usche Clausen, Anke / Riedel, Martin: Plastisches Gestalten. Bd. 2. 2. Auflage. J. Ch.
Mellinger GmbH Stuttgart, 1979.
Werkstattbriefe, 2. Auflage. Arbeitskreis der Werklehrer im Bund der Freien Waldorfschulen,
2009.
Wieland, Elke / Keßler, Wolfgang: Plastische Gestalten in der Kunsttherapie. Modernes
lernen, 2005.
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Abbildungsverzeichnis
Die folgenden Abbildungen sind exemplarisch ausgesucht und beschreiben in
chronologischer Abfolge von Seite 1 – 11 die Unterrichtsreihe.
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