Glamouröses Russland - kultura. Russland
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Glamouröses Russland - kultura. Russland
DEZEMBER 6/2008 w w w. k u l t u r a - r u s . d e GLAMOURÖSES RUSSLAND Gastredakteurinnen: Larissa Rudova (Pomona College, California) und Birgit Menzel (Universität Mainz/Germersheim) e d it or ial Russland – in Glamour vereint Larissa Rudova 2 a n alyse Norm und Abweichung: Glamour in der Mode Xenia Gussarowa (Moskau) 4 Glamour als russischer Fernsehzauber Ulrich Schmid (St. Gallen, Schweiz) Die glamourösen Heldinnen der Oksana Robski Larissa Rudova (Claremont, California) Ich wähle Russland – ich wähle Glamour! Olga Mesropova (Ames, Iowa) 10 gla mou r & tv & prosa & p ol it i k a n alyse Der Glamour-Diskurs in Russland Birgit Menzel (Mainz/Germersheim) kultura. Russland-Kulturanalysen Herausgeber: Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Redaktion: Hartmute Trepper M.A., Assistentin: Judith Janiszewski M.A Technische Redaktion: Matthias Neumann Die Meinungen, die in den Russland-Kulturanalysen geäußert werden, geben ausschließlich die Auffassung der AutorInnen wieder. Abdruck und sonstige publizistische Nutzung sind nach Rücksprache mit der Redaktion gestattet. Wir danken für die Förderung durch die Gerda-Henkel-Stiftung. ISSN 1867-0628 © 2008 by kultura | www.kultura-rus.de Forschungsstelle Osteuropa | Publikationsreferat | Klagenfurter Str. 3 | 28359 Bremen fon +49 421 218-3257 | fax 49 421 218-3269 eMail: [email protected] | internet: www.forschungsstelle.uni-bremen.de Forschungsstelle Osteuropa 11 13 16 DEZEMBER RUSSL A N D – IN GLA MOU R 6/2008 VEREINT Larissa Rudova e d it or ial Die russländische Glamour-Kultur nahm unter hier entscheidend, denn Anzeichen für einen höhe- Präsident Wladimir Putin Gestalt an und ist seit ren Lebensstandard gab es zwar überall und viele 2006 eines der beliebtesten Themen in den Medien Menschen konnten sich nun westliche Elektroge- des Landes. Die Faszination für Glamour war so räte, Autos, modische Kleidung, delikates Essen groß, dass viele Kommentatoren von einer neuen und Auslandsreisen leisten, aber die Armut ver- Ideologie sprachen, die das Land seit dem Zusam- schwand nicht, erst recht nicht aus den Provinzen menbruch der UdSSR im Jahr 1991 gesucht habe und aus den ländlichen Gebieten. Während Putins – vielleicht sei Glamour sogar die unter Boris Jel- Regime die Ideologie des Geldes, des Erfolges, der zin gesuchte neue nationale Idee. Eine der bestbe- Unterhaltung und des ostentativen Konsums unter- suchten Diskussionsrunden auf dem internationa- stützte, erschwerte es die Einmischung [der Bür- len Neunten Russischen Wirtschaftsforum in Lon- ger] in die Politik. don 2006 trug den Titel »Luxus als nationale Idee« Die Glamour-Ideologie wurde zur auffälligsten und einer der Teilnehmer, Nikolai Uskow, Heraus- und verlockendsten Neuerung in Putins Russland. geber der russischen GQ, ging soweit zu behaup- Das Wort »Glamour« (russ. glamúr) beschreibt ten, Glamour habe die Politik abgelöst. Er argu- heute eine nach westlichem Vorbild wachsende mentierte, dass es in der Politik nicht länger um die Kultur, die sich um Hochglanzjournale, Prominen- »Links-Rechts-Positionierung« gehe, sondern um ten-Magazine, Haute Couture, die Schönheitsin- die äußere Erscheinung und die Zurschaustellung dustrie und den Luxusgüterkonsum gebildet hat. einer materiellen Kultur, die auf Geld und Macht Ungeachtet des hedonistischen Lebensstils von beruhe. Die Glamour-Idee ist allerdings kein Mono- Russlands neuen Reichen ist Glamour Bestandteil pol der politischen und wirtschaftlichen Eliten – einer neuen Konsumkultur, die in ihrem Wesen also der vermögenden Menschen –, jeder ist einge- »demokratisch« und offen ist für jedermann. Mit laden daran teilzuhaben. Die vorliegende Ausgabe Hilfe eines entsprechend propagierten Konsumver- von kultura untersucht die Machart von Glamour haltens und indirekt mit Hilfe der Medien schafft in Russland, seine Ursprünge, Erscheinungsfor- Glamour die verführerische Vision eines schö- men und gesellschaftlichen Implikationen. nen Lebens. Die Glamour-Kultur hat ihren Ursprung in Putins Die Menschen sind fasziniert vom Lebensstil der Politik, die Russland aus den politischen Turbulen- Neuen Russen. Zunächst hing jenen noch das zen und wirtschaftlichen Problemen der 1990er Image vom ordinären und bösartigen Kriminel- Jahre unter Jelzin herausführen sollte und politi- len mit Goldketten und auffälligem Jackett an, das sche Stabilität sowie kontinuierlichen wirtschaftli- sich dann unter Putin aber zum Image eines hart chen Aufschwung bewirkte. Putins Regime nutzte arbeitenden, gebildeten und stilvollen »Großbür- die Öl- und Gasexporte um die Wirtschaft zu sta- gers« wandelte. Da die Reichen ihre kostspieligen bilisieren, und innerhalb weniger Jahre konnte die Gewohnheiten und ihren Lebensstil vor der Öffent- russische Industrie große Gewinne verzeichnen – lichkeit nicht verstecken, haben die Medien sie zu wenn auch in erster Linie bei den Rohstoffexpor- Objekten der allgemeinen Unterhaltung gemacht. ten. Das Durchschnittseinkommen wuchs und die Der Hunger des Publikums nach Exzessen und Armutsrate sank. Die Mittelklasse wurde größer Exzentrik im Leben der Stars aus Film, Musik, und zum ersten Mal in der Geschichte erfuhren die Medien und Politik und anderer Prominenter ist Russen relativen Wohlstand. Das Wort »relativ« ist kaum zu stillen, hat bereits verschiedene Gla- 2 DEZEMBER e d it or ial 6/2008 mour-Sendungen im Fernsehen inspiriert und den kommentiert das Spiel von Schein und Realität in Anstoß für ein neues literarisches Genre gegeben: »glamourisierten« TV-Formaten. Larissa Rudova den Glamour-Roman. Einige der erfolgreichsten stellt die populären Bestseller-Romane von Oksana Glamour-Sendungen orientierten sich an westli- Robski vor, in denen die glamourösen nicht-berufs- chen Vorbildern wie Star Factory und Dancing tätigen Frauen der Moskauer Rubljowka-Szene die with the Stars. Hauptrolle spielen. Birgit Menzel beschließt die Nicht alle Menschen mögen Glamour. Während Ausgabe mit einem Essay zum Charakter und den Glamour weiterhin die russische Populärkultur Facetten des Glamour-Diskurses in Russland. Sie dominiert, hat er auch eine negative Bedeutung führt vor, wie er die Populärkultur vollständig bekommen, da mit ihm Geld und Macht des Staa- durchdrungen und auch das Interesse der Wis- tes assoziiert werden, der die Menschenrechte ver- senschaft auf sich gezogen hat. nachlässigt und sich nicht um die Schwachen und Armen kümmert. Viele Kritiker der Glamour-Kul- Aus dem Englischen von Judith Janiszewski tur verurteilen dieselbige für die Zerstörung des im russischen kulturellen Erbe verankerten humanistischen Geistes. In den Augen dieser Kritiker ÜBER DIE GASTREDAKTEURINNEN: entfernt Glamour die Menschen vom wirklichen Larissa Rudova unterrichtet Russisch am Pomona Leben und macht sie sozial indifferent. College in Claremont, California. Ihre Forschungs- Die vorliegende kultura-Ausgabe behandelt interessen umfassen die Literatur und Kultur des Schlüsselaspekte der modernen Glamour-Kultur 20. und 21. Jahrhunderts in Russland. Neben in Russland – Opulenz, Glanz, Verführungskraft zahlreichen Artikeln hierzu hat sie zwei Mono- von Glamour, aber auch deren soziale und poli- graphien zu Boris Pasternak veröffentlicht (1994 tische Bedingungen. In ihrem Eröffnungsessay und 1997) und 2008 zusammen mit Marina Balina erforscht Xenia Gussarowa die Beziehung zwi- einen Sammelband zu russischer Kinderliteratur schen Mode, Glamour und sozialer Schichtung herausgegeben. der Gesellschaft und thematisiert das neue Verhältnis zum Körper. Während Politik im Westen Birgit Menzel unterrichtet russische Literatur und noch wenig mit Glamour assoziiert wird, wird sie Kultur an der Universität Mainz/Germersheim. In in jüngster Zeit in Russland zunehmend als zur ihren Forschungen spielen Fragen der Literaturre- Glamour-Welt gehörig inszeniert. Olga Mesropova zeption und -kritik eine zentrale Rolle. Seit 2000 zeigt, wie die Medien ein Glamour-Image von Poli- erschienen Sammelbände zu kulturellen Konstan- tikern aufbauen – jünger, attraktiver, hochglanz- ten in der russischen Kultur, zu Unterhaltungsli- poliert und reich – und wie gesellschaftliche Pro- teratur (mit Stephen Lovell) und zu Okkultismus minenz sich mit Politik schmückt. Ulrich Schmid in Russland und Ostmitteleuropa. ÊÊÊ 3 DEZEMBER NOR M UND A BW E I C H U N G : G L A M O U R I N DER 6/2008 MODE Xenia Gussarowa a n alyse Die glamouröse Mode ist sowohl Zeichen der Globalisierung als auch Symptom innerer Probleme der russländischen Gesellschaft, unter denen ein aus sozialer Ungleichheit resultierender Spannungszustand an erster Stelle steht. Die nicht-privilegierte Mehrheit der Bevölkerung versucht, das Fehlen eigener realer Perspektiven dadurch zu verschleiern, dass sie das äußere Erscheinungsbild der Elite imitiert. So entsteht das Phänomen Glamour für die Massen. Andererseits provoziert der glamouröse Stil als erkennbares Symbol sozialer Ungerechtigkeit nicht geringe Ablehnung. Zugleich ist Glamour-Kritik nicht gender-neutral – Glamour wird vor allem mit den Frauen assoziiert. »Verschiedene Trägertops und Tops mit Bändern, senphänomen steht eine ebenfalls weit verbreitete die im Nacken zusammengebunden werden, sind Glamour-kritische Rhetorik gegenüber. aus der Garderobe eines Glamour-Fräuleins nicht In diesem Sinn darf behauptet werden, dass Gla- wegzudenken. Sie lassen Schultern und Rücken mour eine zentrale Rolle in der aktuellen Kultur frei – die beiden Teile unseres Körpers, die ent- Russlands spielt. Auf Glamour bezieht sich, in der blößt sehr sexy wirken, ohne vulgär auszusehen.« einen oder anderen Weise, ein beträchtlicher Teil So kommentiert der Artikel »Glamour: eine Bedie- der Gesellschaft in seinem Selbstverständnis, vor nungsanleitung« aktuelle Modetrends in einer der allem die jungen Generationen in den Städten. russischen Frauenzeitschriften im Netz. Zu weiteren Attributen eines glamourösen Äußeren zählen »USED TO HAVE A LITTLE…« Highheels, Designertasche, Sonnenbrille und jede Die Einrichtungen, die für die reale und die sym- Menge auffälliger Modeschmuck. Die Grundfar- bolische Produktion von Glamour zuständig sind ben sind Rosa, Weiß und Gold sowie die Metallic- – Boutiquen und Schönheitssalons, Hochglanz- version des gesamten Farbspektrums. Dazu gehö- zeitschriften und Fernsehsendungen –, entstan- ren unbedingt schmückende Details aus Strass, den in Russland gegen Ende der 1990er Jahre und wobei Herzen und Sterne die beliebtesten Orna- gleichzeitig bürgerte sich der Begriff Glamour1 ein. mente sind. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen hierfür So international wie dieser Stil ist auch das Wort formierten sich bereits zu Beginn des Jahrzehnts. Glamour, das Assoziationen an den Glanz Holly- Nach dem Zerfall der Sowjetunion entwickelte sich woods, an unerreichbare Top-Models und and die eine tiefe Kluft zwischen den Teilen der Bevölke- Welt der Hochglanzzeitschriften und exklusiven rung, die in der neuen Situation nicht Fuß fassten Nachtklubs erweckt. In Russland bezieht sich Gla- und in Armut gerieten, und der Klasse der Reichen, mour in der Mode allerdings nicht ausschließlich der erfolgreichen Business-Leute, die nicht selten auf die Stars des Showbusiness oder die Oligar- mit kriminellen Kreisen zusammen. chen und ihre Umgebung. Glamour ist bereits ein Die Verschwendungssucht der neuen Elite wurde echtes »Massenphänomen« geworden, das auch die von den Massenmedien aufgegriffen, mit einem untere Mittelschicht erfasst hat. Die Bezeichnung besonderen Flair ausgestattet und mutierte zur »glamourös« ist eins der am häufigsten verwende- exquisiten Show. Auf diese Weise festigte die ten Adjektive für Kleidung und Accessoires, und Schicht der Privilegierten ihren Status, während das nicht nur in Modezeitschriften, sondern auch das breite Publikum zum Konsum angeregt wurde, in der Alltagssprache. Es kann schmeichelnd oder abwertend gemeint sein. Denn Glamour als Mas- 1 Glamour wird im Russischen französisch, nicht englisch ausgesprochen. 4 DEZEMBER a n alyse 6/2008 um sein äußeres Erscheinungsbild den »glamou- Kluft zwischen der Mittelschicht und den unte- rösen« Vorbildern anzunähern. Dieser Mechanis- ren Bevölkerungsschichten, zwischen den Ein- mus funktioniert auf der ganzen Welt, wobei Gla- wohnern von Moskau und den Menschen in der mour immer wieder dadurch attraktiv wird, dass »Provinz«. Und die Kluft wird tendenziell tiefer, er partiell erreichbar ist: »Man« kann sich einzelne besonders aufgrund des Steuersystems, da für die Attribute der Elite leisten (z. B. Accessoires oder Einkommen aller Bürger ein einheitlicher Steu- bestimmte Parfümerie-Artikel), ohne den Lebens- ersatz gilt. stil als solchen zu übernehmen. Russlands Beson- In dieser Situation kaschiert das Imitieren der derheit besteht darin, dass die Mittelschicht der höheren Schichten die Tatsache, dass Chancen auf »glamourösen« Mode ohne Abstriche verfallen wirkliche soziale Mobilität nicht gegeben sind. ist und in ihr äußeres Erscheinungsbild oft einen Glamouröse Kleidung bedeutet Erfolg; das ver- großen Teil des Grundeinkommens investiert und bessert die Karrierechancen und verhilft zu den nicht nur den Teil, den man »über hat«. notwendigen Kontakten. Zusätzlich haben Frauen Eine Erklärung für dieses Paradox findet sich in die trügerische Option vertikaler Mobilität als Ehe- der dramatischen Weiterentwicklung und Verfesti- frau oder Geliebte eines Vertreters der Elite. Ent- gung der sozialen Spaltung Russlands seit den frü- sprechende Hoffnungen werden von den Massen- hen 1990er Jahren. Zur Kluft zwischen der Lebens- medien genährt, wenn diese regelmäßig Listen der weise der Elite und der Mittelschicht kommt die begehrtesten Junggesellen des Landes veröffent- R AMSAN K ADYROW – L ÖWE IM A RMANI-P ELZ (BIRGIT MENZEL) »Make money – not war«, so lautete der Slogan der neureichen Hedgefonds- Aktionäre auf ihrer Jahresversammlung in England. Sollte er auch auf den jungen Präsidenten Tschetscheniens zutreffen? Ramsan Kadyrow (32) ist seit dem Mord an dem damaligen Präsidenten, seinem Vater Achmat, auf der politischen Bühne und seit 2007 selbst Präsident der Autonomen Republik. Er rühmt sich nicht nur, das zerstörte Grosny wiederaufgebaut und zu neuem Glanz erweckt zu haben, mit Ramsan Kadyrow, hier gekleidet in Louis Vuitton, Alexander McQueen und Ralf Lauren; Quelle: http://club-rf.ru/ r20/news/3705 gleich zwei neuen Kinos namens »Hollywood«. Er findet auch Geschmack am Luxusleben der neurussischen Elite, besonders an schnel- len Autos, Boxkämpfen und – wilden Tieren. Mit den westlichen Aktionären teilt er die Lust am riskanten Spiel. Aber er lebt sie nicht an der zum Casino umfunktionierten Börse aus. Kadyrow demonstriert gern im hauseigenen Zoo mit Löwen und Pumas, wie er, selbst ein Raubtier, seine Gegner »das Kuschen lehrt«. Jüngst posierte der kaukasische Clan-Führer für die Zeitschrift »Icons« als Model für Armani und Louis Vuitton. Der Krieger im James-Bond-Look? Paradoxa gehören zu den erfolgreichsten Marketing-Strategien der Glamour-Industrie. Kadyrow in seinem privaten Zoo; Quelle: http://www.informacia.ru/ 2008/news698.htm 5 DEZEMBER a n alyse 6/2008 lichen, z. B. unverheirateter Banker, Wirtschafts- Möglichkeiten der Unterscheidung auf die ständige Tycoons oder erfolgreicher Filmproduzenten. Suche nach Luxusmarken, die die breite Masse Für die meisten Angehörigen der oberen Schichten noch nicht kennt. in Russland und vor allem die Frauen trifft zu, was Die Massenmedien reagieren umgehend auf alle die Welt-Glamour-Ikone Jennifer Lopez in ihrem Veränderungen im Geschmack der Elite mit »Füh- angeblich autobiografischen Lied »Jenny from the rern« zu den Trends der Saison und Leitfäden wie Block« singt: »Used to have a little, now I have a der schon erwähnten Glamour-»Bedienungsanlei- lot.« Das Lied unterstreicht den Status der Sängerin tung«. Diese Art von Texten erinnert an die Lehr- als self-made woman und zugleich ihre Nähe zum bücher des 19. Jahrhunderts zur Etikette, mit deren »einfachen Volk«, dem sie entstammt. Dieselbe Hilfe sich Menschen aus den mittleren Schichten Formel kann jedoch auch negativ gelesen werden, die Körpersprache und die Manieren der Aristo- analog der russischen Redensart is grjasi v knjasi kratie aneignen konnten. In unserem Fall stellt (wörtl. »aus dem Schmutz zum Adel«). Es handelt Glamour die Norm dar, der zu genügen ein gewis- sich in Russland um neue Eliten, die ihr unglaub- ses Sozialprestige verschafft. Anders als in den liches Vermögen ganz offensichtlich nicht durch äußerst ernsthaften Texten des vorvorigen Jahr- eigene Arbeit erworben haben. Daraus lässt sich hunderts wird das Vorbild heute gelegentlich auch leicht schlussfolgern, sie seien eher durch »Zufall« ironisch betrachtet (»Glamouröses Make-up zeich- an ihrem Platz in der Gesellschaft, es hätte auch net sich durch Tonnen von Gloss auf den Lippen jeder oder jede Andere sein können. In diesem Sinn aus.«), ohne dass seine Autorität dadurch in Frage demonstrieren Menschen aus anderen Schichten gestellt würde. mit ihrem »glamourösen« Erscheinungsbild ihre potentielle Zugehörigkeit zur Klasse der Privile- DIE JÜNGSTE D ESIGNERIN gierten; dass die Realität anders aussieht, ist dann Es wurde bereits deutlich, dass und warum sich offensichtlicher gesellschaftlicher Ungerechtigkeit im Fall der Glamour-Mode die Vorbilder von oben geschuldet. nach unten weitergegeben werden. Der Geschmack Dem symbolischen Anschlag niedererer Schich- der Elite Russlands, die sich an der extravaganten ten auf ihren Status begegnet die Elite mit äußers- Mode und dem wilden Nachtleben von Mailand ter Empfindlichkeit und bemüht sich um zusätzli- orientiert, bestimmt die Präferenzen der Mittel- che Akzentuierung ihrer »Ausgewähltheit«. Hie- schicht, die ihrerseits das Angebot auf dem Markt raus erklärt sich die Bedeutung von Markenna- der Massenproduktion formieren. Eine Forsche- men in der Glamour-Mode, wobei der Name eines rin weist darauf hin, dass »selbst die Jugend- konkreten Designers sich mit der Aura seiner rei- marke Mango in Moskau vor allem Modelle aus chen und berühmten KundInnen »auflädt« und wie der Abendlinie anbietet und zunehmend die Aus- ein magischer Talisman funktioniert. Doch das wahl an unkomplizierter Mode für jeden Tag ein- Prestige konkreter Marken hat eine Industrie bil- schränkt«. liger Imitationen provoziert, die für weite Bevöl- Die Normbildung seitens der oberen Schichten kerungskreise erschwinglich und für einen nicht geschieht jedoch nicht nur durch die Auswahl sti- direkt involvierten Beobachter vom Original oft listischer Vorbilder. Wie schon westliche Stars gar nicht zu unterscheiden sind. Solange die Kenn- vor ihnen, versuchen sich jetzt auch russländi- zeichen des Elitären wesentlich an den Besitz teu- sche Berühmtheiten (SängerInnen, Schauspie- rer Gegenstände gebunden sind, reduzieren sich die lerInnen, Persönlichkeiten der Gesellschaft und DER MODEWELT 6 DEZEMBER a n alyse 6/2008 sogar Fußballspieler) darin, unter ihrem Namen dungstypen, von goldenen Cocktailkleidern bis hin Kleidung, Accessoires und Parfum zu vermark- zu sportlichen Outfits und Büromode. ten. Produkte mit diesen Namen sind erschwing- Mit dem Element art in ihrer Definition schlägt licher als die Lieblingsmarken der Elite; doch der Plastinina vor, Mode als einen Bereich kreati- Name des Stars gibt den Dingen die Attraktivität ver Selbstäußerung zu verstehen. Darin wird sie zurück, die durch ihre Produktion für den Markt von vielen gleichaltrigen jungen Mädchen unter- der breiten Masse gemindert wurde. stützt, die nicht nur ihre Modelle kaufen, sondern In diesem Sinn ist der Fall Kira Plastinina, die mit auch eigene Outfits kreiren. An den Wettbewer- 14 Jahren als »jüngste Designerin der Modewelt« ben zur Straßenkleidung, die in jeder Modesaison anfing, nicht typisch; Kira war bis zum Erschei- von der Webseite be-in.ru ausgeschrieben werden, nen ihrer ersten Kollektion völlig unbekannt. Unty- nehmen erstaunlich viele Mädchen zwischen 14 pisch sind auch ihre und 16 Jahren teil, die Startbedingungen: sich um einen individu- Ihr Vater Sergei ellen Look bemühen. Plastinin gehört zu Und doch verbleiben sie den Gründern eines innerhalb der Glamour- großen Unterneh- Ästhetik 2. mens, das Milch- Die Figur der Teenager- produkte und alko- Designerin verweist auf holfreie Getränke den Mythos von ewiger produziert und im Jugend, der der Gla- erstgenannten Seg- mour-Mode zugrunde ment mehr als ein liegt. Ein reiferes oder Drittel des russlän- sogar noch späteres dischen Marktes versorgt. Mit seinem Geld wurde das Lebensalter ist inkomKira Plastinina, Paris Hilton und die 15-jänrige Moskauerin Karina im selbstgenähten Rock; Fotomontage: X. Gussarowa »Stil-Stu- patibel mit Glamour, der einen unbeschwerten und aktiven Lebens- dio Kira Plastinina« eröffnet, er entwickelte die stil erfordert. Kira gibt die obere Altersgrenze für geschäftliche Basis und organisierte die Werbung. ihre Kundinnen mit 25 Jahren an. Sie selbst und Derzeit gibt es Kira-Plastinina-Läden in 30 Städten ihre Models verkörpern den Typ der Kindfrau. in Russland sowie in der Ukraine und in Kasachs- Kindlichkeit und akzentuierte Sexualität sind die tan. Im Sommer 2008 präsentierte sich die Marke prägenden Charakteristika eines glamourösen in Los Angeles. Stils. Wobei mit den superkurzen Röckchen Asso- »Man hat mich immer wieder gefragt, wie ich mei- ziationen sowohl an Kinderkleidung als auch an nen Stil definiere. Und ich weiß es nicht. Irgendwie Stile der Verführung einhergehen können. In den besonders. Vielleicht so etwas wie art-glamour- Kira-Plastinina-Läden trifft man durchaus Frauen sporty« – diese Selbstbezeichnung spiegelt den mittleren Alters, die sich der Kultur einer glamou- eklektischen Stil von Kiras Kollektionen. Ebenso rösen Jugendlichkeit verschreiben möchten. heterogen ist die Glamour-Mode in Russland als Ganze; sie umfasst ein weites Spektrum an Beklei- 2 htt p://w w w.be-in.r u/st reet fashion/20 08/10/ k arina (03.01.2009) 7 DEZEMBER a n alyse 6/2008 Kira trägt ihre eigenen Kreationen, wobei ihr mour-Garderoben brauchen unbedingt die Atmo- Status als reiche Fabrikantenerbin und die gesell- sphäre von Abendveranstaltungen und Partys, sie schaftlichen Anlässe, zu denen sie sie trägt, ihrer fordern von ihren TrägerInnen, wie »Stars« auf- Marke Glamour verleihen. Zugleich nimmt sie zutreten, und beeinflussen den Kommunikations- sich heraus, den »klassischen« Glamour-Stil auf- stil mit ihrer Umgebung. zumischen, indem sie Stilelemente aus jugendli- Wichtiger noch als die Kleidung ist für ein gla- chen Subkulturen mit einbezieht. In ihrer Herbst/ mouröses Erscheinungsbild ein gepflegter Kör- Winter-Kollektion 2008/09 erkennt man den Ein- per, der von der Kleidung eher unterstrichen als fluss von Skatern und HipHoppern. Für die Früh- bedeckt wird. Ob tiefes Dekolleté, kurzer Rock ling/Sommer-Kollektion 2008 wurden ihre Models oder freie Schultern, freier Bauch und Rücken – der in Moskauer Industriebezirken vor Wänden mit glamouröse Stil basiert auf der Akzentuierung ero- Graffiti fotografiert. Die Akzente urbaner Sub- gener Zonen. Die Pflege von Körper und Gesicht ist kultur-Ästhetik wirken in der glamourösen Mode zuweilen teurer als die komplette Garderobe. Die als zusätzliche Zeichen für Jugend und modernen kann zur Not aus Imitationen teurer Markenarti- Geschmack. kel bestehen, doch die physische Vollkommenheit Interessanterweise wurde die US-amerikanische erfordert echte finanzielle Investitionen. Version von Kira Plastininas Website durchgän- Der schlanke sonnengebräunte Glamour-Körper gig in einem solchen »alternativen« Stil gestaltet; erscheint unverwundbar, immun gegen Zeit und sie enthält expressive Fotomontagen, es dominiert Krankheit; seine Nacktheit fürchtet die Kälte nicht. eine chromatische Farbpalette. Die russische Web- Für den Eindruck ewiger Jugend sorgen verschie- seite ist sehr viel »glamouröser«; weiß-rote Zebra- denste kosmetische Verfahren, besonders populär streifen wirken im Hintergrund, Herzen und Bril- sind Botox-Injektionen, die die Falten verschwin- lanten schmücken das Menü. 3 den lassen. Ihre Wirkung beruht auf der Blockade [Anmerkung der Übersetzerin: Der Artikel gibt von Nervenimpulsen im Bereich der Gesichtsmus- den Stand von Mitte Dezember 2008 wieder. Zum keln. Eine partielle Erstarrung des Gesichts ist der Jahresende schloss der größte Teil der US-ameri- Preis für das Anhalten der Zeit. kanischen KP-Geschäfte (http://www.latimes.com/ news/nationworld/world/la-fi-kpfashion3-2009- GLAMOUR jan03,0,5138453.story)] Der Missbrauch von Kosmetik, Diäten und Sola- AND GLAMOUR-K RITIK rien hat in der Gesellschaft zu ernsthaften mediziNICHT NUR K LEIDUNG nisch begründeten Einwänden gegen den Kult des Glamour ist in der Regel nicht die Eigenschaft ein- glamourösen Körpers geführt. So soll speziell die zelner Gegenstände, sondern Ergebnis ihrer Kom- glamouröse Mode die Gebärfähigkeit der Frauen bination. Gleichzeitig bestimmen einzelne Zeichen beeinträchtigen: Die hochhackigen Schuhe defor- für Sexappeal, Jugend und Sorglosigkeit den Ton mierten das Becken, die kurzen Röcke und kleinen eines Outfits insgesamt. Beispielsweise kann man Tops förderten in der kalten Jahrszeit die Infekti- zu strenger Bürokleidung großen und auffälligen onsgefahr. Und so werden gerade Frauen, die sich Modeschmuck tragen, der selbst in der Arbeits- nicht an den traditionellen weiblichen Rollenvor- sphäre an Feste und Erholung denken lässt. Gla- stellungen orientieren, zur Zielscheibe einer Anti- 3 http://www.kiraplastinina.com (03.01.2009); http://www. kiraplastinina.us/ (06.01.2009) Glamour-Rhetorik, die in manchen Fällen eindeutig sexistisch ist. 8 DEZEMBER a n alyse 6/2008 Hinter den aggressiven Angriffen auf Glamour ländischen Gesellschaft heute, von einem Schwan- verbirgt sich nicht selten ein Zweifel der Angrei- ken zwischen Aktivität und Passivität. Glamour ferInnen am eigenen Status und den eigenen Per- für die Massen ist ein Signal für den Wunsch nach spektiven. In Foren und Blogs findet man Auf- sozialen Veränderungen, und dieser Wunsch ist schluss über die Art des Unbehagens, das spe- gekonnt in die Konsumsphäre umgeleitet worden. ziell Männer im zufälligen Kontakt mit »Glamour- Doch auch die Glamour-Kritik war bisher nicht girls« erleben: Ihnen scheint, dass die Mädchen sie sehr konstruktiv; sie hat sich auf die Formulierung taxieren, als nicht zur ökonomischen Elite gehö- persönlicher Phobien beschränkt, wenig Toleranz rig einstufen und dann »aussortieren«. »Nicht-gla- gezeigt und war nicht zum Dialog bereit. mouröse« Frauen dagegen sind frustriert, weil sie die gepflegteren und selbstbewußteren Glamour- Aus dem Russischen von Hartmute Trepper Frauen als Konkurrentinnen ansehen. Für beide Geschlechter gibt es tendenziell eine enge Beziehung zwischen den AnhängerInnen glamouröser ÜBER DIE AUTORIN: Ästhetik und der Prostitution. Xenia Gussarowa arbeitet an der Russländi- Das Paradox, dass Glamour in weiten Kreisen der schen Geisteswissenschaftlichen Staatsuniversi- Bevölkerung und in den Medien als mainstream tät (RGGU) in Moskau im Spezialgebiet Kultur- behandelt wird, während er aus ästhetischer, ethi- theorie und -geschichte. Ihre Dissertation behan- scher und sogar medizinischer Sicht eher eine delt den Wandel von Hygienestandards und Schön- Abweichung von der »richtigen« Ordnung dar- heitskanons in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts stellt, zeugt von der inneren Instabilität der russ- in Russland. Moskau, Puschkin-Platz: Der »Zauberstab« – Tibetische Medizin »für alle die Sex schätzen«; Foto: B. Menzel 9 DEZEMBER GLA MOU R A L S RU S S I S C H E R 6/2008 F E R N S E H Z AU B E R Ulrich Schmid gla mou r & tv »Bolsche, bolsche glamura! i makijasha, i zentrale selbstreflexive Moment, das der Serie manikjura! Lizo super i super figura!« (Mehr, »Rubljowka live!« zugrunde liegt: Dem Zuschauer mehr Glamour! und Make-up und Maniküre! wird seine eigene Glamoursucht in krankhafter Super Gesicht und super Figur!), trällert die rus- Übersteigerung als perverses Verbrechen vorge- sische Girlgroup Schpilki in ihrem neuesten Video führt. Letztlich ist die Mörderin nichts anderes als mit dem Titel »Glamur«.1 Tanzend und singend ein Opfer des Glamourzaubers, den sie in der iri- mit von der Partie ist auch der Starfriseur Sergei sierenden Todesschönheit der weiblichen Leichen Swerjew, der als Meister der androgynen Selbstin- vergeblich auf Dauer zu stellen sucht. szenierung im russischen Showbusiness gilt. Im Das Moment der Rache spielt indes nicht nur in der albernen Refrain dieses Songs verbirgt sich das Figurenkonstellation, sondern auch in der media- schwierig zu fassende Wesen des russischen Gla- len Kommunikationssituation von »Rubljowka mour, der durch die Hypertrophierung äußerer live!« eine wichtige Rolle. Jede Folge startet mit Reize ein Maximum an Effekt zu erreichen sucht. einer konstruierten Ausgangssituation. Die Prota- Dabei geht es gerade nicht um eine dramatische gonisten müssen dann einen Ausweg aus dem vom Katharsis, sondern um eine kurzfristige Verzaube- Drehbuch geschaffenen Dilemma finden. An ent- rung des Zuschauers. Glamour ist also im Wesent- scheidenden Punkten können die Zuschauer über lichen Blendwerk, das zwar erregt, aber eben nicht Internet und SMS den weiteren Gang der Hand- zu einer ästhetischen Erfahrung führt. Diese Defi- lung beeinflussen. Die Sendung läuft unter dem nition lässt sich auch etymologisch belegen: Gla- treffenden Slogan »Das ist kein Märchen, das ist mour ist laut Oxford English Dictionary eine Ver- das Leben im Reality-Stil«. Mit dem Konzept ballhornung von »grammar«, das in Schottland von »Rubljowka live!« befriedigen die Macher im Sinne von »Zauberspruch, Bann« verwendet verschiedene Bedürfnisse der durchschnittlichen wurde (vgl. »to cast the glamour over one«). Medienkonsumenten: Zum einen erhalten sie Gele- Im Phänomen des Glamour ist ein hohes Sucht- genheit ihren Voyeurismus auszuleben, zum ande- potenzial angelegt. Der Zauberspruch wirkt nur, ren finden sie sich in der komfortablen Situation solange der glitzernde Oberflächenschein intakt wieder, mit ihrem Mobiltelefon auf das Glamour- ist. Deshalb strebt der Glamour immer nach noch leben der Stars der zweiten Garde einwirken zu mehr Glitter, Pelz und Juwelen. Diese Eigenschaft können. Der Fernsehzuschauer spielt also gewis- des Glamour hat die NTV-Serie »Rubljowka live!« sermaßen per Fernbedienung das Schicksal und in einer Staffel mit dem Titel »Glamurnyj manjak« kann sich an den Reichen für seine eigene Unter- (2006) als Krimi gestaltet: Ein Mörder geht um im privilegierung rächen. Moskauer Viertel der Neureichen und killt Frauen, Sorgfältig dosierten Glamour strahlt auch das Star- deren Leichen er als Marilyn Monroe, Cleopatra let Anfisa Tschechowa (geb. 1977) aus. Die vollbu- oder Ophelia verkleidet und mit Blumen bedeckt. sige Moderatorin der mitternächtlichen TNT-Sen- Am Ende der Staffel stellt sich heraus, dass der dung »Sex mit Anfisa Tschechowa« spielt ein raffi- Mörder eine Frau ist, die sich in der geschmück- niertes Spiel mit Design und Sein. In ihrer Selbst- ten Attraktivität ihrer Opfer spiegelte, aber selbst präsentation suggeriert sie dem Zuschauer, er sei als Liebespartnerin abgewiesen wurde. mit einer authentischen Person konfrontiert, die In dieser Handlungskonstruktion zeigt sich das sogar eine moralische Mission erfülle. In einem 1 http://www.russian-imperial.de/video_6896.html Interview behauptet Anfisa Tschechowa keck: »Ich 10 DEZEMBER tv 6/2008 bin kokett, ich bin kapriziös, ich bin stur. Aber ich Woche vor der Kamera eine »abgeklärte, ironi- bin auch ein selbstständiges, unabhängiges, star- sche, manchmal etwas skandalöse, scharfzüngige kes Mädchen. Ein Image zu haben ist gut, aber ich Person«.3 Malinowskaja durchbricht hier eine der bin auch ohne Image etwas wert. Ich habe meine Grundregeln des Glamour: Der Unterschied zwi- eigene Sicht der Dinge. Und ich akzeptiere mich schen strahlendem Sternchen und dem müden All- selbst, wie ich bin. Ich liebe das Leben, Freunde, tags-ich darf eigentlich nicht benannt werden, weil Reisen, Sex. Wenn ich darin über Erfahrung ver- sonst die Zauberwelt des schönen Scheins zusam- füge, weshalb sollte ich sie nicht weitergeben? Viel- menbricht. Das Fernsehen entwirft eine wirkende leicht helfe ich ja damit jemandem, eine Bezie- Wirklichkeit, in der die Moderatorinnen gewisser- hung aufzubauen.«2 Das angeblich wahre Antlitz maßen Abziehbilder der Phantasievorstellungen wird hier zur gestylten Maske der vorgeschobe- der Zuschauer sind. Bei den Glamour-Personen nen Glamour-Person. wird das Innere nach außen gekehrt. Allerdings Dieselbe Spaltung zwischen Realität und Fiktion entspricht das glitzernde Outfit des Glamour-Stars zeichnet auch Mascha Malinowskaja (geb. 1981), nicht dem eigenen Inneren, sondern dem sensati- die bis 2005 auf Mus-TV die Hitparade »10 Sexy« onslüsternen Inneren des Zuschauers. moderierte. 2007 veröffentlichte sie ein Buch mit dem Titel »Männer als Maschinen«. Im Gegen- ÜBER DEN AUTOR: satz zu Anfisa Tschechowa setzt sie allerdings kei- Ulrich Schmid, Professur für Gesellschaft und nen Authentizitätsanspruch zur Verstärkung ihres Kultur Russlands, Universität St. Gallen. For- Glamourfaktors ein, sondern weist in einem Inter- schungsinteressen: Lebensstile, Alltagskultur view deutlich darauf hin, dass sie ihr Ich vor der und Medienwirklichkeit in Russland, Polnischer Kamera in eine fiktive Figur verwandelt, die nichts und ukrainischer Nationalismus, Literaturtheo- mit ihrer wahren Identität zu tun hat. Sie spiele jede rie und Ästhetik. 2 http://rasklad.info/tv/woman/chehova/ 3 http://www.maybe.ru/celebs/index.php?id=37 DIE GL A MOU RÖ SE N H ELDI N N EN DER OK SA NA ROBSK I Larissa Rudova gla mou r & prosa »Glamour ist etwas, das man sehr schön verpa- Überflusses, des ostentativen Konsums, des Nar- cken und als nationalen Traum verkaufen kann« zissmus und der Gleichgültigkeit gegenüber sozia- (Oksana Robski) len und politischen Problemen verkörpert. Indem Oksana Robski (geb. 1968) gehört zur neuen rus- Casual den Geist von Putins Russland einfängt, sischen Elite und wurde mit ihrem ersten Roman erfüllt der Roman drei Aufgaben: Er bedient die Casual (2005, auf deutsch Babuschkas Töchter), Neugier des Publikums auf das Leben der Reichen, der sich zum nationalen Bestseller entwickelte, in er kreiert eine begehrenswerte Fantasiewelt voller den Erfolgshimmel katapultiert. Casual lieferte Luxusobjekte, exotischer Fernreisen und Genuss- die erste detaillierte Beschreibung des Lebensstils sucht und er benutzt Reichtum und Glamour als der neuen Elite und führte einen neuen Figurentyp Quellen der Unterhaltung. Nach anderthalb Jahr- in die russische Literatur ein, den tschelowek gla- zehnten der tschernucha, der trostlosen, auf soziale murny (homo glamourosus), der die Ideologie des Missstände und Gewalt ausgerichteten Literatur, 11 DEZEMBER prosa 6/2008 war das Publikum reif für unterhaltenden, ange- schen Restaurantbesuchen, Wellnessvergnügun- nehmen und leicht zugänglichen Lesestoff, und gen, Luxusreisen, Botox-Sitzungen, Schönheits- Casual, sowie auch Robskis spätere Bücher, bie- operationen und Promiklatsch. Am überzeugends- ten Glamour als Patentrezept für alle großen Fra- ten ist Casual in der Vermittlung der Botschaft, gen des Lebens an. dass Erscheinungsbild und Präsenz in der Öffent- Bisher hat Robski sieben Glamour-Romane ver- lichkeit das A und O sind. Dies wird in Samush öffentlicht, wobei sie einen von ihnen gemeinsam sa millionera (2007, Wie heiratet man einen Mil- mit der Lifestyle-Ikone Ksenija Sobtschak ver- lionär) nochmals hervorgehoben und weiter ver- fasste; des Weiteren veröffentlichte sie ein Koch- stärkt. buch, eine Sammlung von Kurzgeschichten und eine Anleitung zur exklusiven Innenraumdekoration. Ihre belletristischen Werke wurden in 18 Sprachen übersetzt und erreichen in ihrer Heimat eine Auflage von zwei Millionen. Trotz Robskis überwältigendem Erfolg bei den Lesern sind ihre Bücher stets das Ziel negativer Kritik. Die meisten Kritiker beanstanden an ihrem Werk die Abwesenheit moralischer Werte, den Mangel an Professionalität und das Nachahmen amerikanischer AutorInnenen wie beispielsweise Candace Bushnell mit ihrem erfolgreichen Buch Sex and the City. Casual ist zum Manifest des Glamour-Lebens und zur Vorlage für das Glamour-Genre geworden. Die Handlung dreht sich um Frauen, ist unkompliziert Wie heiratet man einen Millionär: die beiden Autorinnen Robski und Sobtschak als Covergirls und trägt autobiographische Züge. Die Ich-Erzäh- Robskis Heldinnen sind gesellschaftlich sehr lerin ist eine junge, hübsche und reiche Frau, die in erfolgreich und in der Regel hängt ihr sozialer einer schicken Villa an der Rubljowka-Chaussee Aufstieg nicht von guter Ausbildung oder berufli- wohnt – einer auch in der Realität elitären Gegend chem Ehrgeiz ab, sondern von ihren schönen Kör- vor Moskau, in der vor allem Manager und Pro- pern, ihrem Sex-Appeal und der Fähigkeit, reiche minente wohnen. Ihr beneidenswertes Leben zer- und einflussreiche Männer zu manipulieren. Diese bricht jedoch, als sie von der Untreue ihres Man- Heldinnen stellen einen neuen Typ in der russi- nes erfährt. Kurz darauf, während sie noch auf schen Literatur dar und in den meisten Fällen wer- Rache sinnt, wird er brutal ermordet und sie bleibt den sie von den Kritikern nicht gemocht. Verhät- mit der neunjährigen Tochter allein zurück. Die schelt und nicht berufstätig entsprechen sie nicht Geschichte zeichnet dann das Bemühen der Hel- der russischen Literaturtradition, die auf sozial din, ihre traumatischen Erfahrungen zu überwin- engagierte, arbeitende Frauen und Mütter setzt den nach, und endet damit, dass sie ihren Traum- und gewöhnlich die nicht berufstätigen weiblichen prinzen trifft. Charaktere für negative Rollen auswählt. In den Robski belebt den Roman mit erfolgreichen und 1990ern Jahren entstanden einige bemerkenswerte erfolglosen Geschäftsunternehmungen der Haupt- berufstätige Heldinnen in Krimis aus Frauenhand. figur, teuren Einkaufsorgien, Kokainpartys, modi- Die eindrucksvollste und originellste unter diesen 12 DEZEMBER prosa 6/2008 Figuren ist Alexandra Marininas Heldin Nastja Lebens von Frauen in Russland erkunden. Kamenskaja, eine unangepasste und wenig femi- Robskis Erfolg bei einer großen Bandbreite von nine Kriminalkommissarin, die ihre beruflichen Lesern und Leserinnen erinnert daran, wie die Verpflichtungen über ihre privaten Belange stellt. russische Gesellschaft sich unter Putin verändert Sie trägt kein Make-up und kleidet sich ausgespro- hat. Ebenso wie zu Breschnews Zeiten findet eine chen geschlechtslos. sozialen Fragen gegenüber gleichgültige, aber poli- Robskis konsumsüchtige und vom Luxus abhän- tisch mobilisierte Bevölkerung heute in der Gla- gige Heldin ist das klare Gegenteil zu Kamenskajas mour-Kultur und im materialistischen Streben ein »vermännlichter« unabhängiger Frau. In der Welt Ventil und überlässt die Politik den einflussreichen des fiktionalen Glamour sind Frauen weder für- Managern und Politikern. Gerade in Anbetracht sorgende Mütter noch gute Hausfrauen, noch sind dieser Losgelöstheit von sozialer Verantwortung sie an irgendetwas außerhalb ihrer eng begrenzten erscheint Robskis Glamour-Literatur vielen russi- Kuschelecke interessiert. Sie können auch nicht auf schen Kritikern als gefährliche Ideologie. eigenen Beinen stehen. Und wenn sie es doch können, stammt ihr Reichtum unweigerlich von Män- Aus dem Englischen von Judith Janiszewski nern. Damit unterstützt die soziale Ausgestaltung der Geschlechterbeziehungen in Robskis Literatur LESETIPPS: die überall in der russischen Gesellschaft anzutref- • Robski, Oksana: Babuschkas Töchter (Casual), fende Frauenfeindlichkeit. Robskis Konstruktion übersetzt von Margret Fieseler, Diana Verlag von Weiblichkeit widerspricht der anderer Autorin- 2006, Taschenbuch. nen wie zum Beispiel Viktorija Tokarjewa, Ljud- • Robski, Oksana: Kalinka, Kalinka (Pro Ljub- mila Petruschewskaja oder Ludmila Ulitzkaja, die off/on), übersetzt von Margret Fieseler, Diana die Vielschichtigkeit des privaten und beruflichen Verlag 2007, Taschenbuch. ICH WÄ H L E RUSSL A N D – I C H WÄ H L E GLA MOU R! Olga Mesropova gla mou r & politik Am Abend des 2. März 2008, als in Russland der kurz der jubelnden Menge von über 20.000 Fans. neue Präsident gewählt wurde und die Wahllokale Medwedew trug Bluejeans und eine Lederjacke noch geöffnet waren, fand vor den Kremlmauern und versicherte den jungen Leuten, er werde den ein Konzert mit dem Titel Ja wybiraju Rossiju! (Ich Weg seines Vorgängers weiter verfolgen, während wähle Russland!) statt. Es wurde von der Jugend- Putin das Publikum aufrief, »sich im Einsatz für organisation Rossija molodaja (Junges Russland) das Wohl aller Bürger unseres großen Mutterlan- veranstaltet und präsentierte prominente Popsän- des zusammen zu schließen«. Als die beiden Poli- ger, Rockgruppen und Stars wie Leonid Agutin, tiker die Bühne verließen, schwenkte die Menge Stas Pecha, Maschina wremeni, Kuba und auch Russlandflaggen und skandierte »Putin! Putin!« die Rockband Lyube, Berichten zufolge die Lieb- mit derselben Begeisterung, mit der sie kurz vor- lingsgruppe von Wladimir Putin. Gegen 23 Uhr her ihre beliebten Popstars gefeiert hatte. zeigten sich auf der Bühne Präsident Putin und der Diese patriotischen Aufrufe von Russlands bei- eindeutige Sieger der Wahl, Dmitri Medwedew, den Spitzenpolitikern während eines Rockkon- 13 DEZEMBER p ol it i k 6/2008 zerts sind in höchstem Maß repräsentativ für eine (Die Geheimnisse der Stars) gebracht, an heraus- neuere Tendenz in Russland, Politik mit öffent- ragender Stelle. lichen Shows und Starkult zu verbinden. In der Während sich Russlands Spitzenpolitiker in ihrer öffentlichen Imagination des Landes verkörpern offiziellen Rolle mit Show und Glamour umgeben, führende Politiker und gesellschaftliche Promi- sind glamouröse Berühmtheiten und Prominente nenz gemeinsam auf glanzvolle Weise Stil, Reich- ihrerseits zum untrennbaren Element der politi- tum, Status, Kraft, Jugendlichkeit und prestige- schen Szene des Landes geworden. In einer merk- trächtigen Konsum. Zwar verkündet Putin, er sei würdigen Mischung aus Luxus und Politik entwirft Valentin Judaschkin, einer der namhaften Couturiers des Landes, Uniformen für das russländische Militär. Gleichzeitig macht die auf Männermode und -stilfragen spezialisierte russische Ausgabe des Gentlemen’s Quarterly auf intellektuell. Sie hat sich den rebellischen Schriftsteller Eduard Limonow und den nonkonformistischen TV-Journalisten Jewgeni Kisseljow eingekauft und plat- 2. März 2008; Quelle: www.kremlin.ru/ eng/photoalbum201116.shtml ziert ihre Kolumnen inmitten schicker Werbung und Ratgeber-Artikel zur persönlichen Weiter- der reichste Mann der Welt, und zwar allein des- entwicklung. halb, weil er »die Emotionen der Nation auf sich Ein anderes Beispiel für die friedliche Koexistenz versammle, die ihm zweimal die Regierung über der Politik und der Glamourwelt der Prominen- das Land anvertraut habe«; doch die russländi- ten liefert die skandalträchtige Gesellschaftslöwin schen Medien diskutieren eifrig die luxuriösen Xenia Sobtschak, Tochter des ehemaligen Bürger- Brioni Anzüge des Ex-Präsidenten, seine exklusi- meisters von St. Petersburg. Um ihre zweifelhafte ven Patek Philippe Uhren und seinen verschwende- Berühmtheit zu veredeln, rief sie eine Jugendbe- risch mit Marmorböden ausgestatteten Privatjet. Putin unterscheidet sich in seiner Inszenierung klar und bewusst von den greisen und unmodischen Führern der Sowjetzeit und der Jelzin-Ära; er steht mit seinen 56 Jahren für, wie es heißt, jugendliche Fitness und Kraft, was auch die kürzlich in Massenauflage herausgebrachte DVD »Judo lernen mit Wladimir Putin« beweist. Außerdem ist Russlands derzeitiger Ministerpräsident in den russ- 21. Februar 2008, Kasan; Quelle: www. kremlin.ru/eng/photoalbum 201116.shtml ländischen Medien tatsächlich auf verschiedenen Fotos mit nacktem Oberkörper zu sehen gewesen wegung mit dem Namen Alle sind frei/Jeder ist – wobei eine Übungsanleitung für alle, die eben- frei ins Leben, deren erklärtes Ziel es ist, für alle falls solche Muskeln haben wollen, gleich mitge- jungen Männer und Frauen in Russland »gleiche 1 liefert wurde. Auch hat er es bis in die Hochglanz- Rechte auf Selbstverwirklichung« durchzusetzen. zeitschrift für Prominentenklatsch Tainy swjosd Die Mitgliedschaft in dieser Organisation gewährt 1 Mehr hierzu in kultura 3 (Oktober) 2007. außerdem freien Zutritt zu einer Reihe mondäner 14 DEZEMBER p ol it i k 6/2008 Nachtclubs sowie Rabatte in Edelkaufhäusern und Politik hatte schon immer etwas mit Spektakel bei ebensolchen Reiseveranstaltern. zu tun. Das Sowjetregime schwelgte in seinen Einige einheimische Kulturkommentatoren halten öffentlichen Schauveranstaltungen; dazu gehör- Glamour eindeutig für die »neue nationale Idee« ten Militärparaden ebenso wie das Lenin-Mauso- im heutigen Russland und diskutieren die Verbin- leum. Im heutigen Russland inszeniert sich – ange- dung von politischer Macht, finanziellem Erfolg heizt durch Ströme von Öldollars – die politische und glamourösem Erscheinungsbild als »Glamour Kaste als Show aus Glamour and prestigeträchti- à la Putin« oder auch als »glamourösen Autori- gem Konsum. Währenddessen kann jeder an der tarismus«. Die Inszenierung von Ideologie, Poli- Hochglanzseite der russländischen Politik teilha- tik und Machtausübung als glamouröses Spekta- ben, indem er/sie das heißeste neue Objekt auf kel befördert nicht nur ein positives öffentliches dem Memorabilienmarkt erwirbt – die Portraits Image von Russlands heutigen Politikern und Oli- von Wladimir Putin und Dmitri Medwedew aus garchen; sie verdrängt auch die Erörterung kon- Swarowski-Kristallen gelegt. troverser oder problematischer Themen aus jeglicher Öffentlichkeit. Aus dem Englischen von Hartmute Trepper Der Schriftsteller, Dichter und Kulturkritiker Lew Rubinstein hat kürzlich »glamour« als eine LESETIPP: bequeme Formel bezeichnet, die dem heutigen Kerstin Holm: Miss Verfassung. Kommentar, FAZ Regime in Russland ermögliche, die »Nicht-Par- vom 16.12.2008: http://www.faz.net/s/Rub5A6DA tizipation« der Bürger voranzutreiben, individu- B001EA2420BAC082C25414D2760/Doc~EB49 elle Trägheit zu fördern und – mit einem Begriff 9141A42D74D569FA564162EB2E235~ATpl~Eco 2 von Guy Debord – zu apolitischer Unterwerfung mmon~Scontent.html unter das »Spektakel des Konsums« zu ermutigen. In einer Folge der Talk-Show Schkola sloslowija ÜBER DIE AUTORIN: (Schule des Lästerns) kommentierte er die Hal- Olga Mesropova ist Assistenzprofessorin für Rus- tung der damaligen russländischen Regierung so: sisch an der Iowa State University. In ihren Veröf- »Unsere Politiker besorgen das Denken und tref- fentlichungen untersucht sie den post-sowjetischen fen Entscheidungen. In der Zwischenzeit könnt ihr Kulturdiskurs in Film, TV, Populärliteratur und – wenn ihr das Geld habt – Urlaub auf den Kanari- -kultur. Sie ist eine der AutorInnen von Kinotalk. schen Inseln machen, und wenn ihr es nicht habt, Russian Cinema for Conversation (Slavica Pub- könnt ihr über andere Leuten lesen, die auf die lishers, 2007) und Herausgeberin (zusammen mit Kanaren fahren.« Seth Graham) des Sammelbands Uncensored? ReInventing Humor and Satire in Post-Soviet Rus- 2 Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels (1967), div. Neuauflagen. sia (im Druck). ÊÊÊ 15 DEZEMBER D E R G L A M O U R -D I S K U R S IN 6/2008 RUSSL A N D Birgit Menzel a n alyse Dieser Artikel bietet eine knappe Analyse des russischen Glamour-Diskurses, wie er in den letzten Jahren in Medien und Populärliteratur kultiviert worden ist. Zunächst werden sieben grundlegende Merkmale genannt, die anschließend an konkreten Beispielen veranschaulicht werden: am russischen Markt für Hochglanzzeitschriften, auf dem weltweite Titel mit einheimischen konkurrieren, und an Andrei Kontschalowskis Film Gljanez (Glamour; Russland 2007), dem ersten Filmportrait des russischen GlamourPhänomens im Kinoformat. Abschließend wird ein Blick auf die erste wissenschaftliche Analyse von Glamour aus Russland geworfen – auf Dmitri Iwanows Buch Glem-Kapitalism (St. Petersburg 2008). Der junge Petersburger Soziologe betrachtet den russischen Glamour als globales Phänomen, auch wenn er sich in seiner Analyse lediglich auf westliches Material stützt. GRUNDLAGEN DES GLAMOUR-DISKURSES neuen russischen Patriotismus. Die Hauptmerk- Der russische Glamour ist zum kulturellen Äqui- male der neuen russischen Glamour-Ideologie, die valent eines unbeschränkt globalisierten Kapitalis- in Hochglanzmagazinen, Fernsehtalkshows und mus geworden. Deshalb ist er eng verbunden mit Populärliteratur propagiert werden, sind: der globalen Weltwirtschaft, der politischen Ent- Ê wicklung und insbesondere mit der Entwicklung Images in Verbindung mit Werten, die als grund- der Medien- und Kommunikationstechnologie im legend verstanden werden – Lebensfreude, Schön- vergangenen Jahrzehnt. Er ist eine Mischung aus heit, Jugend, Gesundheit, Liebe, gespickt mit Lei- ostentativer Selbst-Repräsentation der neuen Elite denschaft und Abenteuer; und einem universellen Kult von Luxus, Mode, Ê exotischen und erotischen Lebensstilen für jeder- und Präsentation bei maximaler Simplifizierung mann, der von den Medien unterstützt wird. In des Inhalts; gleichzeitig gibt es einen Wettbewerb Russland wird der Glamour gespeist durch die um möglichst teure, exotische und aufwändige Sehnsucht nach Wohlstand und einem individu- Produkte, wie. z. B. die Werbung für »Tibetische ellen Lebensstil im Hier und Jetzt. Diese Sehn- Medizin« als heimisches Äquivalent zu »Viagra« sucht ist ebenso wie die post-traumatische Nos- und für »Apis-Therapien« (Bienengift) in Sibirien talgie für die große imperiale russische Vergan- zeigen; genheit nach den chaotischen 1990er Jahren auf- Ê gekommen. Glamour ist zur offiziellen Ideologie Erreichbarkeit, elitärer Distanz und Vertrautheit nach dem Prinzip »Brot und Spiele« geworden, mit dem Gemeinen, Zynismus und Mitgefühl, nicht nur zu einer Taktik. Sie wird von der politi- künstlicher Nachahmung und echten Gefühlen, schen Elite im Kampf um gute Posten benutzt, ins- Beispiele dafür sind die Pop-Aristokratie, die Jeu- besondere von der Putin-Administration. Ökono- nesse doreé des Nachwuchses der neuen Russen mischer Erfolg, Unterhaltung und das aufpolierte und Fashion-Ikonen wie die Fernsehproduzentin Image Russlands in der Welt passen gut zusam- Xenia Sobtschak; men, da sich slawische Gesichtszüge und die Mode Ê aus dem Osten seit dem Fall des Kommunismus sischen Vergangenheit, Glorifizierung der aktuel- auf dem westlichen Schönheitsmarkt gut verkaufen len post-imperialen Renaissance, an der sich sogar lassen. Glamour ist eine Sache des Nationalstolzes die Orthodoxe Kirche mit glamourösen Medien- geworden. Manager sind heute die Designer des auftritten beteiligt, und dem allgemeinen Promi- die kommerzialisierte Förderung bestimmter größtmögliche Raffinierung der Verpackung eine paradoxe Mischung aus Exklusivität und eine Mischung aus patriotischem Kult der rus- 16 DEZEMBER a n alyse 6/2008 nentenkult des Westens; schwul sein) solcher Modetypen wie z. B. David Ê die Lebensentwürfe des Glamour geben vor, das Beckham, vermischt mit dem Kriegerkult des rus- Ideal von »Ganzheit, Harmonie und Ausstrahlung« sischen mushik (des Machotypen). (J. Joyce) zu vermitteln, aber diese drei Werte sind Was die soziale Funktion betrifft, verkörpert Gla- zu vage, als dass sie als Einheit und als Zielvor- mour, verstanden als Konsumkult, in erster Linie stellung verstanden werden. Als Kommunikations- Freiheit und ist ein ambivalentes Phänomen. Mit modell wird das Ideal nur für die eine kleine in- seiner enormen Popularität, insbesondere unter group (tusowka) propa- Frauen, Gla- giert während alle anderen, die nicht zu diesem »Glamour hat zum Ziel, das Leben des Men- altherapeutische Funk- Kreis gehören (die Ver- schen in einer Wolke aus Schmach und Selbst- tion der individuellen lierer, die Schwierigen, verachtung vergehen zu lassen. Ein Zustand, Selbstveredelung, unter- Widerspenstigen, die welcher Ursünde geheißen wird – und in den stützt einen zivilisierten Nonkonformisten usw.) man gelangt, indem man unentwegt Bilder Lebensstil und die befrei- auf aggressive Art und von Schönheit, Erfolg und intellektueller Bril- ende Freude an der Sinn- Weise ausgeschlossen lanz konsumiert. Glamour und Diskurs ver- lichkeit, insbesondere in werden. senken ihre Konsumenten in Elend, Küm- weniger normativen und Materialismus und merlichkeit und Idiotie. Alles Eigenschaf- vertikal mobilen Gesell- äußeres Erscheinungsbild ten, die relativ sind. Doch die Leiden, die schaften. werden als eigener Wert sie hervorrufen, sind echt. Im Erleben von Neben Hochglanzzeit- dargestellt; die Insze- Schmach und Armseligkeit geht ein Men- schriften gehören TV- nierung des Lebens als schenleben dahin.« Serien, Talkshows mit gefährliches Spiel wird »Glamour ist Sex, der sich durch Geld Prominenten, oft zum als erfolgreiches Verhal- artikuliert«. Thema Mode, und Popu- tensmodell und Lebens- Aus: Empire V. Moskau: Eksmo, 2006, S. 91 lärliteratur zu den wich- einstellung präsentiert + 62; dt. Das fünfte Imperium. Ein Vam- tigsten Orten der Kulti- (verkörpert in der Gene- pirroman, übersetzt von Andreas Tretner. vierung von Glamour als ration »Hedgefonds« und München (Sammlung Luchterhand) Januar »dominantem ästheti- im Genuss von Designer- 2009. schem Modus« (Mesro- Ê ÜBER GLAMOUR: erfüllt VIKTOR P ELEWIN mour die positive sozi- pova1). Einige Merkmale Drogen); damit verbunden sind einfache Problemlösungen, die weder des Glamour-Diskurses lassen sich an den jüngs- harte Arbeit noch die Übernahme von Verantwor- ten Entwicklungen auf dem Zeitschriftenmarkt tung erfordern, sowie ein fast religiöser Glaube an veranschaulichen. Ausgleich und Erholung nach jeder Niederlage. Ê Aggressivität als Wert wird für beide Geschlech- GLAMOUR-ZEITSCHRIFTEN ter befürwortet; als Rollenmodelle werden ange- Der seit den 1990er Jahren in Russland erfolgte boten: die Führung erfolgreicher Geschäfte und Wandel von einer Verteilungs- zu einer Konsum- öffentlich zur Schau gestelltes Sexleben (sexssoire gesellschaft, von einer Text- zur Bildkultur, von – nackte Prominente im Internet), der »James- ideologischen Slogans zu Werbeslogans zeigt sich Bond-Lebensstil« als Gegenstück zum westlichen vielleicht nirgends deutlicher als auf dem Zeit- metrosexuellen Image (schwul leben, aber nicht 1 www.kinokultura.com/2008/20r-gloss-om.shtml 17 DEZEMBER a n alyse 6/2008 schriftenmarkt. Mit einem jährlichen Wachstum Die seit 2004 erscheinende russische Ausgabe von 13 % ist dieser Markt einer der dynamisch- von Glamour z. B. wendet sich an die Leserin- sten in der neuen russischen Wirtschaft, mit einem nen, die 80 % ihres Lesepublikums ausmachen Umsatz von 37,5 Mrd. Rubel oder 1,4 Mrd. US- und zwischen 16 und 34 Jahren alt sind, mit einer 2 Dollar allein im Jahr 2006. Um 1990 bescherte Mischung aus westlichem und russischem Pro- die Perestrojka der Intelligenzija ein Überangebot minentenklatsch (glam-diva), Tipps zu Mode, an altehrwürdigen, grauen »dicken Zeitschriften«, Schönheit und Lebensstil, darüber, wie man sich bilderlos und in hohen Auflagen, gefüllt mit neuen ein neues Leben und ein neues Image verschafft Informationen. Heute dagegen sind in den großen oder einen Glamour-Körper und eine Glamour- Städten Unmengen von Kiosken und Bücherti- Psyche erreicht. Die Zeitschrift Glamour verkauft schen, auf denen sich bunte Hochglanzmagazine sich besonders gut dank ihrer »Philosophie« der stapeln. Auch die landesweit älteste Illustrierte vielsagend selektiven Prinzipien, wie »unpatheti- Ogonjok führt inzwischen einen ganz und gar nicht scher Glamour«, »intelligente Ironie ohne Bana- glamourösen Überlebenskampf gegen die brand- litäten«, »provokative Themen ohne Sensations- neuen Marktführerinnen. Mittlerweile gibt es rus- lust« und »Liebe und Sex ohne moralischen Zeige- sische Ausgaben aller renommierten westlichen finger«. Trotz des für den durchschnittlichen rus- Hochglanzjournale, wie Cosmopolitan (erscheint sischen Leser schwindelerregenden Preises (120– seit 1994, jede Ausgabe hat 1,5 Mio. Exemplare 150 Rubel oder 3–4 Euro) werden von Glamour und erreicht 3,8 Mio. Leser), L'étoile, Celebrity 700 000 bis 1,5 Mio. Exemplare pro Monat ver- und Marie Claire. Einige Zeitschriften sehen eher kauft und jede Ausgabe wird von 1,9 bis 2,8 Mio. aus wie Modekataloge, z. B. die 430 Seiten starke Menschen gelesen. monatlich erscheinende russische Ausgabe von Auf dem russischen Markt für Glamour-Journale Glamour. Andere Wochenmagazine wie Hello (spa- gibt es aber nicht nur ausländische Importe. Einhei- nisches Mutterhaus, erscheint seit 2001, 300 000 mische Hochglanzjournale, wie z. B. Domaschni Exemplare) und OK (aus Deutschland stammen- otschag (Der heimische Herd, erscheint seit 1995), des Axel-Springer Produkt, erscheint seit 2006, Domowoi (Zu Hause, erscheint seit 1993), Kara- 150 000 Exemplare für nur 25 Rubel), gehören eher wan istorii (Geschichtenkarawane, erscheint seit zur Regenbogenpresse. Entsprechend wird man in 1998 mit 310 000 Exemplaren) und Sobaka (seit diesen preiswerten Magazinen keine Werbung für 2000) aus St. Petersburg haben zusammen mit Prada oder Dolce & Gabbana finden, sondern für heimischen Prominenten erfolgreich den Markt das britische Billig-Kaufhaus Marks & Spencer. erobert. Die russischen Zeitschriften enthalten Analysten erwarten einen Anstieg des Zeitschrif- im Vergleich zu ihren westlichen Pendants immer tenmarktes bis 2010 um 60 %. Die Zeitschriften noch bis zu 20 % mehr Text, darunter häufig sub- bestehen zu 90 % aus Werbung und erzielen ihren stantiellere Artikel, wie z. B. Gesundheitsinfor- Gewinn nicht über den Verkaufspreis, sondern in mationen oder Berichte über westliche Länder. Sie erster Linie darüber, dass sie der Modeindustrie spiegeln die Neigung zum kulturellen Erbe wider, eine Plattform bieten, auf der diese ihre Werbung zu Familienwerten und der nostalgischen Ästhe- verbreiten kann. tik vorrevolutionärer populärer Zeitschriften. Die meisten Hochglanzjournale wenden sich an ein 2 Die Zahlen in diesem Artikel verdanke ich D. W. Iwanow. Sie stammen von ROSBISNES Konsalting und TNS Gallup Media. weibliches Publikum: sie werden von insgesamt 19,2 % der Frauen gelesen, während lediglich 3,8 % 18 DEZEMBER a n alyse 6/2008 der jungen städtischen männlichen Bevölkerung stellungsregalen angeboten und als Glamour-Billig- die Hefte kauft oder liest. Dennoch wächst auch lektüre (Glamurnoe tschtiwo) beworben. der Markt für neue Zeitschriften, die sich speziell Eine erfolgreiche Marketingstrategie ist die Kom- an männliche Leser wenden. Hier werden mit dem bination widersprüchlicher Bilder, Images und star- westlichen Image des Metrosexuellen neue Bilder ker Metaphern – eine Mischung verschiedener Ele- und Vorstellungen der Männlichkeit eingeführt. mente, wie z. B. Management und Musik, Sex und Marktführer ist die russische Zeitschrift MAXIM Religion oder Business und Revolution, die sich in mit 819 000 Exemplaren, gefolgt vom Playboy mit der normativen sowjetischen Gesellschaft gegen- 620 000 Exemplaren. Erst danach kommen die seitig ausgeschlossen hatten. Ein Beispiel hierfür weltweit bekannten Namen FHM, XXL, GQ (die ist das Posieren des tschetschenischen Präsiden- Internetausgabe der ten Ramsan Kadyrow Letzteren hat 9000 für Luis Vuitton in Abonnenten, zumeist der Internetzeitschrift Top-Manager) und Icons (siehe Kasten). Esquire. Ein anderes Beispiel Ein Merkmal der ist die demonstrative Globalisierung Hässlichkeit im durch Bereich der Printme- Grimassen oder Ent- dien ist der explosi- stellung von Gesich- onsartige Anstieg von tern auf Werbeplaka- Buch- und Zeitschrif- ten, die als skandalöse tentiteln. Das erhöhte Provokation des klas- Erscheinungstempo sischen Schönheitside- entspricht den jüngs- als verkauft wird. ten Entwicklungen, Glamour-Zeitschriften die Dmitiri Iwanow instrumentalisieren als »Trend zu steigen- und nutzen die Sehn- der Innovationsrate« bezeichnet. Der großen Anzahl fast iden- sucht der Menschen Plakat des Films Gljanez (»Glamour«) von Andrei Kontschalowski. nach Farbe, Schönheit und Orientierung. Für tischer Hochglanzmagazine entspricht das infla- einige materialisiert sich der radikale Wandel und tionäre Erscheinen von »Glamour-Romanen« in der Aschenputtel-Effekt funktioniert tatsächlich in verschiedenen Taschenbuchserien in den Jahren der heutigen vertikal mobilen Gesellschaft Russ- 2006 bis 2008, in erster Linie bei den Branchen- lands. So erzählt Anna Politkowskaja von Tanja, monopolisten EKSMO und AST. ihrer ehemaligen Nachbarin aus den düsteren Zei- In den kleinen Buchläden der Metrostationen wer- ten der sowjetischen Stagnation, die sich, als sie ihr den Serien wie Rubljowka, Aschenputtels Rache Jahre später wieder begegnet, als supererfolgreiche 3 (Mest Solushki) oder Gljanez auf besonderen Aus- strahlende Geschäftsfrau neu erfunden hat.4 Hochglanzzeitschriften und Glamour-Romane bie- 3 Rubljowka ist der von Neureichen bevorzugte Wohnort vor Moskau. Gljanez heißt Hochglanz und ist ein Synonym für Glamour. 4 Anna Politkowskaja: In Putins Russland, aus dem Russischen von Hannelore Umbreit, Frankfurt a.M. (Fischer TaBu) 2008. 19 DEZEMBER a n alyse 6/2008 ten Vorbilder und Muster zu neuen Selbstentwür- trie und deren Besessenheit von Geld und Erfolg. fen durch einen Wandel der äußeren Erscheinung Mit kritischem Blick legt er den schon erwähn- und verheißen die Teilhabe an der Welt der Rei- ten Zynismus offen (»Intelligente Menschen lesen chen und Schönen: Exklusivität als Massenange- keine Hochglanzzeitschriften – sie produzieren bot oder, wie es der Journalist Dmitri Gubin aus- sie«, sagt eine Herausgeberin), so wie das Para- drückte, als »Hyperkompensation für die hungrige doxon der skandalträchtigen Hässlichkeit in einer sowjetische Kindheit«. neuen Fashion-Show namens »100 % Shit«. Der Film kann als geglättetes russisches Äquiva- D ER FILM GLJANEZ VON A NDREI lent zum amerikanischen Traum/Albtraum gese- KONTSCHALOWSKI hen werden, wie er in Paul Verhoevens in Las Der Film Gljanez (Hochglanz) ist eine perfekte Vegas spielendem Film »Showgirls« (1995) gezeigt Illustration dieser Hyperkompensation: ein Aschen- wird. Es gibt viele Parallelen: von der jungen Aus- puttel-Märchen über die russische Glamour-Welt reißerin, die mit ihrer harten, freudlosen Kindheit mit Blick auf die dunkle Seite, auf die harte Reali- und ihrer Verletzlichkeit bei stets gesundem prak- tät. Der Film spielt in der Moskauer Modewelt, in tischen Menschenverstand schnell unsere Sym- der die zweite Designer- und Managergeneration pathie gewinnt, bis hin zur Darstellung der bei- der Modemagazine als die heutigen »kleinen Teu- den Divas als klassische Schönheiten. Nicht nur fel« der Dekadenz als auftreten und den Hype mit der russische Film zeigt das unersättliche Streben immer aggressiveren Strategien weiter anstacheln: nach Glamour als Kompensation für eine »hung- Die einstigen Coverfotos aus der Modewelt werden rige (nicht nur sowjetische) Kindheit«. zu sexy Playboy-Montagen und exaltierte FashionShows werden zu einer Art Rocky-Horror-Picture- D MITRI IWANOWS BUCH GLEM -K APITALISM Show, begleitet von der vulgären Sprache des rus- Vor kurzem ist eine erste wissenschaftliche Ana- sischen Rap; Provokation um jeden Preis verkauft lyse aus Russland zum Glamour-Diskurs erschie- sich besser als Professionalität. Wenn die Grenze nen. Der junge Petersburger Soziologe Dmitri Iwa- einmal überschritten ist und Millionen auf dem now stellt eine originelle Theorie des »Glamour- Spiel stehen, werden Fashion-Shows zum Alibi Kapitalismus« vor, den er als globales System ver- für den Sklavenhandel mit Models, die als Prosti- steht, das sich seit den 1990er Jahren ungehindert tuierte und/oder Ehefrauen an russländische und ausbreitet: »eine universell applizierbare ästheti- ausländische Oligarchen verkauft werden. sche Form und zugleich eine Ideologie ohne Ideen Im Mittelpunkt des Films steht die Näherin Galja bei völliger ethischer Indifferenz«. Charakteris- aus dem provinziellen Rostow, die, angetrieben tika des Glamour-Kapitalismus sind »ostentative von der Sehnsucht nach dem großen Geld und wild Leichtigkeit, kompromissloser Optimismus und entschlossen, Karriere zu machen, ihre erbärmli- raffinierte Frechheit«; seine Strategien sind Ran- chen alkoholabhängigen und gewalttätigen Eltern king-Listen und die größtmögliche Raffinierung verlässt und nach Moskau zieht. Da sie zur richti- der Verpackung bei maximaler Simplifizierung gen Zeit am richtigen Ort und bereit ist, den ent- von Inhalt und Erreichbarkeit. Diese Elemente sprechenden Preis zu zahlen, gelingt ihr tatsäch- bestimmen inzwischen nicht nur die audiovisuel- lich der Durchbruch als Supermodel. len Medien, sondern auch den Erfolg in Wirtschaft, Kontschalowskis Film ist ein sarkastisches Por- Politik (Glamour-Demokratie) und sogar in den trait der Exzesse in der russischen Glamour-Indus- Sozialwissenschaften, in denen Eindruck und Aus- 20 DEZEMBER a n alyse 6/2008 sehen mehr gelten als das angeeignete Wissen. kung des beeindruckend umfangreichen Zahlen- Die Voraussetzung für die Glamour-Industrie ist und Faktenmaterials auf westliche Gesellschaften die »Virtualisierung«, d. h. die Simulation von Rea- erklärt der Autor damit, »dass er dem [russischen] lität mithilfe von Bildern, ermöglicht durch die Publikum den Blick dafür öffnen will, dass Gla- neuen Kommunikationstechnologien. Zu zentra- mour nicht ausschließlich ein russländisches Phä- len Leitwerten für Aufstieg und Erfolg in der Welt nomen ist«, wie es der Diskurs in den russischen sind die Kriterien »Luxus, Exotik, Erotik, Rosafär- Medien mit seinen 428 Artikeln in der zentralen bung« und, als Quintessenz, »Blondierung« gewor- Presse allein im Jahr 2007 und mit 1383 Artikeln den. Iwanow appliziert diese fünf Kriterien auf im Internet vermuten lässt. Politik, Wirtschaft und Sozialwissenschaft und zeigt, wie selbst gegenkulturelle Bewegungen Aus dem Englischen von Judith Janiszewski und vom »glamourkapitalistischen« System aufgeso- Birgit Menzel gen werden. »Aus dem glänzend bemalten Mund der Blondinen wird heute die Wahrheit verkün- LESETIPPS: det.« Von dieser These aus werden auch die sti- • Julia Solovieva: Glamour ist mein Business. lisierte Simplifizierung und der (selbst-)ironische Manuskript zu einer Sendung von Deutsch- Gestus des Büchleins als Teil des Konzepts erkenn- landradio Kultur vom 20.2.2007, http://www. bar. Der Autor sieht sich selbst als Übersetzer, der dradio.de/download/63842/ zwischen der beschränkten, aber authentischen • A.V. Iwanow: Glem-kapitalism. Sankt-Peter- Welt der Blondinen und dem Elfenbeinturm der burg (Peterburgskoje Wostokowedenije), 2008 russischen Intelligenzija mit seiner schmal gewor- (russ.) denen Basis vermittelt. Die für die Beschreibung eines globalen Phänomens auffällige Beschrän- • Stephen Gundle: Glamour. A History. Oxford: Oxford University Press, 2008 (engl.) »A NTI-GLAMOUR« (ILJA UTECHIN) Gegen Glamour und damit gegen Pop, Jeunesse dorée, die hippe Klubszene, hohe Absätze, Strass und lange Fingernägel mobilisiert der trendige Anti-Glamour Roman »Duchless« [»Geistlos«; der Titel besteht aus russ. duch (Geist) und engl. -less (ohne)] von Sergei Minajew. Er propagiert die Ablehnung von Glamour als Stil, als Subkultur und Ideologie. Wen mobilisiert er damit? Jene Jugend, die eher einfache und kostengünstige Varianten der Selbstdarstellung bevorzugt als das Prinzip Glamour. Der Roman, dessen Titel sich in das Paradigma der angesagtesten neurussischen Titel wie zum Beispiel Pro ljuboff/on von Oksana Robski (»Über die Liebe« – ebenfalls eine Mischung aus Russisch und Englisch, auf deutsch erschienen als Kalinka, Kalinka) einfügt, verbreitet sich in großer Auflage. Er ist nicht ohne Humor geschrieben, aus einer Welt heraus, die er selbst ablehnt. Er ist in einer Sprache geschrieben, die man sofort erkennt und der Autor benutzt ein erprobtes, gewinnsicheres stilistisches Rezept: er spürt das Irdische und Naturalistische in allen Dingen auf, die gewöhnlich mit Luxus und Schönheit in Verbindung gebracht werden, um dadurch auch die letze Maske abzustreifen. In einem teuren Restaurant übergeben sich die Helden, sie konsumieren eine ungeheure Menge an Alkohol und Drogen, und einige bringen es fertig noch zwischen dem dritten und vierten Joint historiosophische Theorien zu entwickeln. Der expressiv brutale Naturalismus erweist sich als, ja 21 DEZEMBER 6/2008 wie könnte man es nennen, ein wenig »glamourös«. Denn der Glamour bezieht problemlos auch seine Gegensätze mit ein und hat stets die Möglichkeiten des kommerziellen Erfolges im Blick. Mit Glamour lassen sich gut Geschäfte machen, vor allem mit der Vermarktung der Illusion, es ließe sich leicht am glamourösen Leben teilhaben. Dies zielt auf Menschen, die zwar selbst nicht zur Subkultur der Glamour-Welt gehören, die aber bereit sind, tief in die Tasche zu greifen, um das Zugehörigkeitsgefühl zu jener Welt, über die in den Klatschspalten und Hochglanzjournalen geschrieben wird, zu erwerben. VORSCHAU: kultura 1-2009 erscheint Ende Februar 2009 und thematisiert die russische Literatur im Internet. Gastredakteurinnen sind Henrike Schmidt (Berlin) und Ellen Rutten (Cambridge) von http://russian-cyberspace.org. 22