Drei Revolutionen und ihr Widerschein in Rathenow

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Drei Revolutionen und ihr Widerschein in Rathenow
Dieter Seeger
Drei Revolutionen
und ihr Widerschein
in Rathenow
Eine Spiegelung der Ereignisse in der Provinz:
- Die bürgerlich-demokratische Revolution
1848/49
- Die Novemberrevolution 1918/19
- Die antifaschistisch-demokratische
Umwälzung ab 1945
In einer Diskussion mit Mitgliedern des Rathenower Geschichtsvereins trat man mir mit der
These entgegen, im März 1848 wäre gar keine Revolution gewesen, da sie ja nicht
erfolgreich war.
Ben Hecht (1894-1964), Journalist der „Chicago Daily News“, wurde zur Beobachtung der
revolutionären Ereignisse 1918 nach Berlin entsandt und befand diese als „Revolution im
Wasserglas“.
Bürgerliche Geschichtsdeuter behaupten seit eh und je, die antifaschistisch-demokratische
Umwälzung in Ostdeutschland wäre nie und nimmer eine Revolution gewesen, höchstens
eine „auf zoffjetischen Bajonetten“, also doch keine.
Klar, „Revolutionen als Lokomotiven der Geschichte“ sind bei den Herrschenden nie beliebt.
Folglich wird negiert, diskreditiert, verleumdet, abgestritten. Sehen wir uns die jeweiligen
Vorgänge in unserer Heimatstadt an. Lassen wir Zeitzeugen sprechen. Machen wir uns also
ein Bild.
Die bürgerlich-demokratische Revolution 1848/49
Quellen:
Mertens
Franke/Schmeil
Krumsteller
Engelbert Wusterwitz
Joachim Freimuth
Illustrierte Weltgeschichte, undatiert
Realienbuch, 1912
Geschichtsbuch für die deutsche Jugend, 1930
Märkische Chronik, zitiert in Walter Spechts „Mein Havelland“, 1934
Die Auswirkungen der Revolution 1848/49 in Rathenow;
nach Eduard Dunckers Rathenower Chronik,
Heimatkalender 1965
Seit dem Vormärz und erst recht im Frühjahr 1848 gärt es überall. Von Frankreich aus schlägt
die Welle der Revolution in das übrige Europa, auch nach Deutschland. Die unerträglichen
gesellschaftlichen Widersprüche drängen zu einer Lösung, aber die Feudalklasse ist unwillig
und unfähig zu Veränderungen zugunsten des Bürgertums und erst gar nicht zu Verbesserungen
der Lage der arbeitenden Klasse.
Der Barrikadenkampf im März in Berlin ist bekannt. Das aufrüttelnde Beispiel der Kämpfer am
Beispiel des jungen Ernst Zinna, der unter den Kugeln der königlichen Grenadiere starb,
begeistert das Volk. Der Ausspruch des „Kartätschenprinzen“, des künftigen deutschen Kaisers,
„Gegen Demokraten helfen nur Soldaten“ empört die Massen. Aber die Genugtuung, dass der
König seinen Hut vor den auf dem Schlossplatz aufgebahrten toten Revolutionären ziehen muß,
stärkt Bourgeoisie und Proletariat.
Die Revolution erfasst die märkische Kleinstadt Rathenow
Wie in vielen anderen deutschen Städten litt auch in Rathenow das Wirtschaftsleben unter der
seit 1847 herrschenden Wirtschaftskrise. Als unter dem Einfluß der revolutionären Ereignisse
die Arbeiter stärker mit ihren Forderungen nach Arbeit und sozialer Sicherheit hervortraten,
versuchte der Magistrat sie durch Notstandsarbeiten ruhig zu stellen. Der lange geplante Bau
der Chaussee nach Brandenburg über Bamme, Mützlitz wurde begonnen. Bisher hatte der
märkische Adel das verhindert, denn die Gutsbesitzer waren an überregionalen
Verkehrsstrukturen nicht interessiert und wollten ihren bestimmenden Einfluß auf alles
öffentliche Geschehen erhalten. Der Baubeginn war am 8. Mai 1848, und 1856 war die
Landstraße fertig.
Aber zurück zum März: Joachim Freimuth schreibt:
„Der Kaufmann Eduard Borchert als Augenzeuge der schweren Kämpfe am 18. März in
Berlin überbrachte einen Tag später die Kunde
nach Rathenow. Er berichtete in allen
Einzelheiten über seine Erlebnisse und fand
gespannte Aufmerksamkeit, besonders unter
den Handwerkern, Kleinbürgern und Arbeitern.
Heftigen Widerwillen der Bevölkerung der
Stadt
rief
das
Verhalten
des
westhavelländischen Kreistages hervor, der am
20. März auf Veranlassung der ihn
dominierenden Gutsbesitzer bei einem Diner im
„Deutschen Haus“ dem König und seinem
‚tapfer kämpfenden Heer’ einen Toast ausbrachte. Dabei hatten die preußischen Soldaten längst
unter dem Druck der Revolutionäre Berlin räumen müssen. Rathenower Bürger, die es sich
finanziell leisten konnten, fuhren nach Berlin, um sich von den Ereignissen zu überzeugen. Sie
kamen tief beeindruckt zurück. Als am 22. März unter großer Anteilnahme der Bevölkerung
die gefallenen Barrikadenkämpfer im Friedrichshain beigesetzt wurden, war im Trauergefolge
auch der ehemalige Bürgermeister Schulz.“ (Adolf Friedrich Ferdinand Schultze war
Bürgermeister von 1830 bis 1843).
Am 16. und 24. April 1848 finden Volksversammlungen auf dem Alten Turnplatz statt. Der
liegt nordöstlich vor der Stadt (am heutigen Friedrich-Ebert-Ring, gegenüber der Jahnschule)
und ist der Ort für solche Zwecke. Die Forderungen lauten: Demokratie, Einheit Deutschlands,
Erhöhung der Löhne, Herabsetzung des Brotpreises (dazu Abschaffung der Mahlsteuer) und
weiteres. Die Versammlung verläuft ungestört, da die 1. und 2. Schwadron des Brandenburger
Kürassierregiments, die in Rathenow in Garnison liegen, abwesend sind und von der Reaktion
nicht gegen die Demonstranten eingesetzt werden können.
Ein Ergebnis der ersten Versammlung ist die Errichtung einer Bürgerwehr zum „Schutz der
öffentlichen Ruhe“. Ein Zwölferkomitee übernimmt am 19. April diese Aufgabe: Bürgermeister
Johann Heinrich Gustav Fischer, Hauptmann George, Gastwirt Giesler, Seifensieder
Hollefreund, Zimmerpolier Krahnast, Knopfmacher August Mertens, Kaufmann Mixius,
Stadtgerichtsdirektor Paalzow, Brauereibesitzer Rogge, Schuhmachermeister Schmidt,
Gutsbesitzer Titschkau und Kaufmann Wallstab. Am 25. April fordert der Magistrat zum
freiwilligen Beitritt auf. Und der Kommandeur Friedrich Rogge, der Brauereibesitzer,
befiehlt für Sonntag, den 30. April, um 6 Uhr Exerzieren mit Waffen an der Reitbahn in der
Schützenstraße (Puschkinstraße). Später werden im Schützenhaus Schießübungen abgehalten.
„Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“?
Im Mai 1848 werden durch den Magistrat die Statuten „Entwurf einer Verfassung der
Bürgerwehr zu Rathenow“ mit 52 Paragraphen beschlossen. Darin ist die Dienstpflicht jedes
Bürgers bis 60 Jahre festgelegt. Organisiert ist die Wehr in einem Bataillon mit sechs
Kompanien; sie entsprechen den Stadtbezirken. Die Wehrmänner wählen ihre Führer für ein
Jahr. Die Führerversammlung und ein Ehrengericht sollen die Disziplin garantieren. Strafen für
Vergehen gegen die Statuten werden festgelegt: Geldstrafe (ein Silbergroschen),
Strafexerzieren, Ordonnanzdienst, Ausschluß aus der Wehr.
Die Aufgabe besteht im „Schutz der öffentlichen Ruhe“.
Es zeigt sich deutlich die unterschiedliche Interessenlage: Hier das besitzende Bürgertum, da
die Kleinbürger und Handwerker. Die Arbeiter sind für beide nur eine Randgruppe. Also ist die
Bürgerwehr zwar ein Instrument der Demokraten, aber nicht zur Verteidigung von
Errungenschaften der Revolution, sondern der Interessen der Großbourgeoisie. Und trotzdem
ist sie für die Demokraten ein wichtiger Machtfaktor.
Natürlich sind die Widersprüche nicht gelöst, die Forderungen vom April nicht erfüllt. So gärt
es im Mai unter den Zimmer- und Maurergesellen, sie fordern höhere Löhne. Die
Bauunternehmer reagieren nicht. Da stürmen am späten Abend des 14. August die Gesellen das
Haus des Maurermeisters Wiese. Sie werfen die Fensterscheiben ein und verprügeln Wiese und
seine Schwester. Bürgermeister Fischer wird aus dem Bett geholt und eilt zum Ort des
Geschehens. Da sind die Tumulte jedoch schon beendet. Er alarmiert am nächsten Tag die
Bürgerwehr, aber die Verhandlungen und die schließlich friedliche Einigung zwischen
Meistern und Gesellen sind bereits erfolgt. Auch die Elementarlehrer der Stadt und der
Umgebung „beantragen“ nun eine Gehaltserhöhung.
Bürgermeister Johann Heinrich Gustav Fischer ist ein überzeugter Anhänger der
bürgerlichen Revolution und der bald zusammentretenden Frankfurter Nationalversammlung.
Er fordert vor der Stadtverordnetenversammlung, zur Behebung der Not unter der Bevölkerung
von den reichen Bürgern der Stadt mit einem jährlichen Einkommen von über 300 Reichstalern
eine besondere Einkommenssteuer zu erheben. Die Mehrheit der Stadtverordneten lehnt jedoch
ab. Aber immerhin: Der Magistrat sendet unter Fischers Einfluß eine Adresse an die preußische
Nationalversammlung, den Vereinigten Landtag, in der er gegen die Vertreibung dieses
gewählten Organs aus Berlin protestiert und Maßnahmen zum Widerstand gegen die
Gewaltpolitik des Königs fordert. Fischer wird damit zum Feindbild der Konservativen, also
der Großbourgeoisie, der Monarchisten und ihrer Staatsgewalt. Später verleumdet der
kaisertreue Heimatforscher Walter Specht den Bürgermeister Fischer, der (so Specht)
„hauptsächlich die Hetze gegen die Regierung leitete“.
Die Nationalversammlung ermöglichte mit ihrer
schwachen und kompromissbereiten Politik ein Erstarken
der Kräfte der Reaktion. Das „Ministerium“, also die
königliche Regierung, hatte deren Sitzung am 9.
November „vertagt“ und die Nationalversammlung
kurzerhand nach Brandenburg an der Havel verlegt. Sie
degradierte sie so zur Bedeutungslosigkeit. Gleichzeitig
rief der König General Wrangel – das Militär hatte nach
den Märzkämpfen aus Berlin abziehen müssen – zurück.
Der berüchtigte General mit seiner starken Truppenmacht flankierte die Vertreibung der
preußischen Nationalversammlung. (Karikatur: „Die Wrangelsche Straßenkehrmaschine“, Vossi-sche
Zeitung)
Und es gibt ein unter den einfachen Leuten in ganz Europa Empörung auslösendes Ereignis:
Die Ermordung Robert Blums. Der in Köln geborene Sohn eines Fassbinders, der
autodidaktisch hoch gebildete Proletariersohn, war als offizieller Vertreter der
Nationalversammlung ins revolutionäre Wien gesandt worden. Er stellt sich in Konsequenz
seiner Einsicht dem bewaffneten Kampf gegen die Konterrevolution. Deren Führer
Windischgrätz und Schwarzenberg lassen den gefangenen Blum am 9. November 1848
erschießen.
(Abb. Zeitgenöss. Darstellung: Ermordung Blums)
Ein Proteststurm erhebt sich nach dem
Meuchelmord. Wir können wohl mit Fug und
Recht davon ausgehen, dass er auch die
Rathenower Arbeiter und Kleinbürger und
manchen Bürgerlichen erregt und ihr Handeln in
den folgenden Tagen bestimmt. Zwei
Volksversammlungen finden statt, in denen
heftige Kritik an den Maßnahmen der
Regierung geübt wird. Die Situation ist brisant.
Und jetzt kommt die Rathenower Garnison ins Spiel.
Der Rathenower Aufruhr
Am 14. November 1848 erhält Rittmeister von Kotze den Befehl, die beiden Kürassierschwadronen nach Brandenburg zu führen und die dortigen Schwadronen, die nach Potsdam
beordert wurden, zu ersetzen. Die Demokraten sind alarmiert, sie vermuten, dass die Truppen
in Berlin den Bürgerprotest unterdrücken sollen. In der Stadt bilden sich überall große
Menschenmengen, die spontan fordern, den Ausmarsch zu verhindern, damit die Soldaten nicht gegen die Brüder in Berlin eingesetzt werden können. Der Garnisonkommandant
fordert den Magistrat auf, die Bürger zu beruhigen. Einige, unter ihnen auch der Fabrikant
Eduard Duncker, wollen diese Forderung durchsetzen, aber sie werden von der Bevölkerung
verhöhnt, bedroht und nach Hause geschickt. Rittmeister von Kotze ist ratlos.
Wie verhält sich die Rathenower Bürgerwehr? Der Kommandeur Rogge ist abwesend,
Bürgermeister Fischer ist verreist. Der Bürgerwehr-Hauptmann Conrad will den Ausmarsch
verhindern. Er verhandelt mit dem Kämmerer Mielatz, dem stellvertretenden Bürgermeister;
der lehnt ab. Nun beraten sich die Bürger in den Bierstuben der Brauerei Conrad. Sie
beschließen, dass der Tambour Grund in der Altstadt und die Leute des Stadtmusikus in der
Neustadt Alarm schlagen sollen.
In dieser Situation greift der königliche Landrat für die Gegner der Revolution ein. Er
versammelt rasch den Magistrat und drängt ihn zur Forderung nach Abtreten der Bürgerwehr,
„um einen Zusammenstoß mit dem Militär zu verhüten“. Aber die 6. Kompanie gehorcht nicht.
Sie besetzt in der Neustadt das Berliner Tor (Berliner Ecke Goethestraße), das Brandenburger
Tor (Ende Brandenburger, Anfang Gr. Milower Straße) und das Weinbergtor (das Torhaus auf
dem Friedhof), um ein Ausrücken des Militärs zu verhindern.
Im Neustädtischen Rathaus, Berliner Ecke Schleusenstraße, befanden sich die Kommandantur und auch
das Offizierskasino
Die befehlsgemäß um 11 Uhr aufmarschierten Kürassiere werden von den Einwohnern mit
Steinen und Dreck beworfen, Pferde durch Piken- und Bajonettstiche scheu gemacht. Auf den
von aufgebrachten Bürgern umringten Rittmeister wird vor dem Offizierskasino (Ecke
Schleusenplatz) ein Gewehr abgefeuert, ohne dass der Schuss sich löst. Die Soldaten versuchen
nun in chaotischer Unordnung, durch das verbarrikadierte Berliner Tor zu entkommen –
vergeblich. Ein Trupp stürmt zum Brandenburger Tor. Nur ein Teil von ihnen gelangt auf die
Landstraße, ehe die Bürgerwehr die Torflügel verrammelt. Die abgeschnittenen Kürassiere
versuchen von außen vergebens, das Tor aufzubrechen. Rittmeister von Kotze sammelt seine
Truppe auf dem altstädtischen Marktplatz. In geschlossener Formation brechen die Berittenen
durch das Büngersche Gehöft (Mittelstraße 1a und 2) über die Zollmauer aus.
Einen Tag später, am 15. November, kommt – als wäre nichts geschehen – eine Kommission
von Gardeoffizieren in die Stadt, um die Unterbringung von 550 Rekruten zur Ausbildung
vorzubereiten. Die Stimmung in der Bevölkerung ist nach den Vorgängen des Vortages so
aufgebracht, dass sich kaum einer zur Aufnahme bereit findet. Die Offiziere ziehen
unverrichteterdinge ab. Vierzig Rathenower, die eine Einberufung zur Landwehr erhalten haben,
werden durch die Bevölkerung öffentlich aufgefordert, sich nicht zu stellen, um nicht zur
Unterdrückung der revolutionären Unruhen missbraucht zu werden. Bürgermeister Fischer
widersetzt sich denn auch in einer Botschaft an den König und übt öffentlich Kritik an König
und Regierung. Allerdings ist die Botschaft zwiespältig: Der König wird beschworen, den
Vorfällen des 14. November keine Bedeutung beizumessen. Ganz offenbar werden hier die
Interessen des besitzenden Bürgertums bedient: Der König soll die Garnison in Rathenow
belassen. Der preußische König ist jedoch über die Rathenower Vorfälle „sehr erbittert“ und
befiehlt den Abzug der Garnison aus der Stadt. Die „Kreuzzeitung“, eigentlich „Neue
Preußische Zeitung“, das führende Blatt der Herrschenden, bemerkt unter Schilderung der
Ereignisse vom 14. November, „dass Rathenow eine der schlechtest gesinnten Städte der
Monarchie ist“.
Der Rathenower Aufruhr hat Folgen. Die an ihm „Schuldigen“ werden ein Jahr später, am
17. November 1849, angeklagt. Das Kammergericht verhandelt am 11. und 12. März 1850 in
Brandenburg gegen 32 teils angesehene Bürger Rathenows. 27 Angeklagte werden zu
Zuchthaus- und Gefängnisstrafen verurteilt. Unter ihnen 13 Bürgerwehrmänner, die wegen der
Alarmierung als Urheber der Unruhe angeklagt waren.
13 Bürger erhalten je drei Jahre Zuchthaus:
Böttcher Meier
Ökonom Titschkau
Zimmerpolier Schneider
Schneider Müller
Tuchmacher Taubenspeck
Aufkäufer Döbelin
Knopfmacher Mertens
Arbeiter Tritschler
Maler Egerling
Arbeiter Paetsch
Tuchscherer Thomas
Sattler Stuhde
Geometer Kissing
Zwei Jahre Festung:
Schreiber Behrens
Kaufmann Keisler
Maurer Wisch
Zimmermann Biese
Acht Monate Gefängnis:
Maler Barmann
Sechs Monate Gefängnis:
Arbeiter Kempf
Arbeiter Walther
Arbeiter Erdmann Gutjahr
Arbeiter Holzbauer
Maurer Müller
Maurer Garz
Zwei Monate Gefängnis:
Kissing jun.
Zwei Verurteilte sind namentlich nicht mehr bekannt.
Es sind Terrorurteile. Sie erregen wegen ihrer Härte allgemeines Aufsehen. Magistrat und
Stadtverordnete reichen ein Gnadengesuch ein, das der König in aller Schärfe ablehnt; sein
Unwille gegen Rathenow hat sich noch verstärkt. Angesichts der drohenden Haltung der
Bevölkerung sieht sich die Stadtverordnetenversammlung gezwungen, den Angehörigen der
Verurteilten Unterstützung zu zahlen, um wenigstens deren nackte Not abzuwenden.
Zurück ins Jahr 1849 – 9 Monate nach dem Aufruhr:
Am Nachmittag des 14. August 1849 wird durch Stafette die Landwehr, ein königstreues
Instrument, einberufen. Eine Deputation der Bürgerwehr (das Instrument der Demokraten)
überreicht dem Landrat „einen in starken Ausdrücken gehaltenen Einspruch“ gegen die
Einberufung. Aber die Bürgerwehr ist schon gespalten: 33 andere Bürgerwehrmänner legen
dagegen Verwahrung ein. Die Führung der Bürgerwehr (die Demokraten) fordern auf Plakaten
dazu auf, das Ausrücken der Landwehr zu verhindern, damit sie nicht an den Brennpunkten
gegen die verbliebenen Revolutionäre eingesetzt werden kann. Daraufhin lässt der Landrat die
Bürgerwehr durch den Bürgermeister darauf hinweisen, dass sie nach ihren Pflichten „Gesetz
und Ordnung zu schützen“ und daher das Ausrücken der Landwehr zu schützen und zu sichern
habe. Positionen und Kräfteverhältnis in Rathenow werden sichtbar, aber sicher ist sich die
Konterrevolution noch längst nicht. In Erinnerung an den 14. November 1848 nunmehr
vorsichtig geworden, lässt der Landrat am folgenden Tag die königlichen Kassen durch die
Bürgerwehr schützen – so ist diese durch den Befehl gebunden und kann nichts gegen das
Ausrücken der Landwehr unternehmen.
Fischer, der Kopf der Demokraten, soll entmachtet werden
Das Bürgermeisteramt ist ein Wahlamt. Der Landrat, ein königlicher Beamter, hatte schon nach
dem Rathenower Aufruhr vom 14. November gegen Fischer eine Disziplinar-untersuchung
eingeleitet. Damit nahmen die Auseinandersetzungen zwischen Demokraten und
Konterrevolutionären sichtbar zu. Außerdem hatte der König höchstselbst eingegriffen. Er hatte
zur Strafe die Garnison aus Rathenow abgezogen. Die Stadtverordneten-versammlung will
darum am 31. Januar 1849 eine Deputation an das Kriegsministerium und den König schicken,
um wieder zwei Schwadronen Kürassiere in die Stadt zu bekommen – ein wichtiger
Wirtschaftsfaktor für die Bourgeoisie der Stadt. Fischer tritt in einer großen Rede dagegen auf.
Der Stadtverordnete Gärtner Bölcke erklärt daraufhin dem Bürgermeister, kein Vertrauen mehr
zu ihm zu haben. Fischer verlässt aus Protest die Sitzung. Ein Tumult setzt ein: Die Gegner der
Demokraten begleiten Fischers Auszug mit Beifall und Bravorufen, die Demokraten (nach
Specht die „Arbeiterpartei“) entfachen Protest, so dass die Versammlung gesprengt wird.
Abends ziehen etwa 30 Arbeiter vor Bölckes Haus am Eingang der Kleinen Milower Straße
und bewerfen es mit Steinen. Die Bürgerwehr (!) wird eingesetzt, um Bölcke und die in seinem
Haus befindliche Forstkasse zu schützen. Aber der Tumult ist da schon vorbei.
Zwei Tage später, am 2. Februar 1849, veranstalten die Demokraten einen abendlichen
Fackelzug zur Wohnung Fischers (Berliner Straße 4, Ecke Brandenburger Straße), um ihm
Sympathie und Unterstützung zu signalisieren. Der Bürgermeister dankt und hält eine Rede, die
sicherlich die revolutionären Ziele bekräftigt und vor der Gefahr durch die Gegenkräfte warnt.
So ziehen die Demonstranten anschließend zu konterrevolutionären Bürgern, veranstalten dort
die so genannte Katzenmusik (Lärm und Schmähungen) und werfen Fenster ein. Die
Bürgerwehr wird von den Anti-Fischer-Leuten im Magistrat zur Zerstreuung der Menge
eingesetzt.
Trotzdem scheint Fischers Position gefestigt, da es der Konterrevolution nicht gelingt, die
Bürgerwehr als ihr Instrument zu benutzen. Specht begründet das damit, dass „die rechtlich
Gesinnten darin durch Herumtreiber, Arbeiter, Gesellen und Leute, die nichts zu verlieren
hatten und darum einen starken Terror ausüben konnten, verdrängt wurden“.
Die Berliner Regierung verhält sich dazu passiv. Die Magistratsmitglieder jedoch geben eine
Erklärung ab, „dass sie in Ehren nicht länger mit dem Bürgermeister zusammenarbeiten
könnten“. Nun hat der Landrat eine Handhabe. Er führt Beschwerde beim Minister von
Manteuffel, der den gewählten Bürgermeister am 1. März 1849 seines Amtes enthebt. Eine
gerichtliche Verurteilung kann zwar nicht angestrebt werden, da Fischer in den Tagen des
Aufruhrs nicht in der Stadt war. Aber das letzte Hindernis im Staatsapparat – hier der örtlichen
kommunalen Verwaltung – ist nun beseitigt, der Weg zum Bündnis der die bürgerliche
Revolution preisgebenden Bourgeoisie mit Adel und Monarchie ist frei. Ein sichtbarer Beweis
dafür findet sich im Juli 1849. 22 Rathenower Wahlmänner versammeln sich in Gärtner Bölckes
Gewächshäusern. Der Ziegeleibesitzer Johann Friedrich Meuß, „einer der Hauptführer der
Conservativen in Rathenow“, ist dabei. Sie geben ihre Stimme Otto von Bismarck1 für die
zweite Kammer des Preußischen Landtages. Hier beginnt also dessen politische Laufbahn zum
späteren „Eisernen Kanzler“. Die Rathenower Demokraten halten jedoch gar nichts von dem
reaktionären Junker Bismarck. Als er in der Kalesche des Rittergutsbesitzers von Stechow am
„Deutschen Haus“ vorfährt, wird er mit Steinen beworfen und am linken Arm verletzt. Aber
das hält die Reaktion nicht auf. Die schon erwähnten Urteile von Brandenburg (März 1850)
runden das Bild der gescheiterten bürgerlichen Revolution ab.
Nach der Entmachtung und Vertreibung Fischers schreiten die Rathenower Großbürger zur Tat.
Am 14. Dezember 1849 geben sie General Wrangel, dem starken Mann des schwachen Königs,
eine demütige Vorstellung in Gestalt eines üppigen Gastmahls. Und Wrangel verschließt sich
nicht länger den Argumenten „zum Schutz der Bevölkerung“. Die Garnison kommt als Standort
des 3. Brandenburgischen Husarenregiments zurück. Dahinter aber steckt: Meuß hatte sich nach
seinem „vergeblichen Bittgang“ zu Wrangel Ende 1848 dann direkt bei Bismarck dafür
verwandt – Hinterzimmerpolitik.
Alle Demokraten werden nun stigmatisiert. Selbst Kantor Wolff, Organist in der St. MarienAndreas-Kirche, wird noch nach seinem Tod (1851) als Sympathisant der Revolution
diskriminiert. Über Fischers Verbleib nach der Amtsenthebung ist nichts bekannt.
Die Hoffnungen und der Einsatz der Rathenower Arbeiter während der revolutionären
Geschehnisse bleiben unerfüllt. Sie sind die Verlierer der Revolution, da das Bürgertum seine
Verbündeten im Stich läßt und sich auf die Seite der eben geschlagenen reaktionären Kräfte
schlägt, während das Kleinbürgertum uneinig, unentschlossen und schwankend ist. Aber die
industrielle Entwicklung im optischen Gewerbe – 1846 war in der optischen Industrieanstalt
von Eduard Duncker/Emil Busch die erste Dampfmaschine in Betrieb genommen worden – läßt
auch die Arbeiterklasse wachsen und stärker werden. Die weltweite Krise 1857-1859 verschärft
die gesellschaftlichen Widersprüche. Die Arbeiter wehren sich zunächst mit Arbeitskämpfen
um höhere Löhne gegen das fortschreitende Elend der Ausgebeuteten. Als die nächste große
Wirtschaftskrise schon 1873 folgt (bis 1896), spitzt sich die Lage weiter zu. Die Herrschenden
wollen mit Verboten jegliche politische Betätigung der Unterdrückten verhindern. Vom
Bismarckschen Sozialistengesetz jedoch eher politisiert und aktiviert als mundtot gemacht,
wird 1889 im Gasthof „Grüne Linde“ in Neufriedrichsdorf die erste selbständige
Arbeiterorganisation Rathenows gegründet – der Ortsverein der Sozialisti-schen Arbeiterpartei
Deutschlands (ab 1890 Sozialdemokratische Partei Deutschlands).
Die Novemberrevolution 1918/19
Aus der Geschichte der Rathenower Arbeiterbewegung
1
Was Bismarck von den Menschen hält, für die er Politik zu machen vorgibt, belegt der überlieferte Ausspruch:
„Je weniger die Leute davon wissen, wie Würste und Politik gemacht werden, desto besser schlafen sie.“
Quellen (Auswahl):
Dem 40. Jahrestag der Deutschen Novemberrevolution gewidmet; Herausgeber:
Kommission der Kreisleitung der SED zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung; 1958
Rathenower Zeitung; Ausgaben 1929
Der sozialdemokratische Wahlverein – in Rathenow 1889, also während der Zeit des
Sozialistengesetzes (1878-90), gebildet – prägte durch intensive Aktivitäten der Mitglieder den
Kampf für die Arbeiterinteressen. Am Beginn des Jahrhunderts stand die zahlenmäßig
wachsende Sozialdemokratie der Stadt auf dem Boden der II. Internationale und ihrer
Beschlüsse von Stuttgart 1907. Jedoch bemächtigten sich (etwa ab 1907) zunehmend Partei„Rechte“ der Führung. Direkten Anteil daran hatte Eduard Bernstein, der in Rathenow
Schulungsabende mit SPD-Mitgliedern, vor allem aber mit Funktionären, abhielt. Er vertrat die
Theorie vom friedlichen Hineinwachsen in den Sozialismus.
Diese Idee wurde durch die kapitalistischen Unternehmer der sich rasch entwickelnden optische
Industrie begünstigt. Die großen Profite von Emil Busch AG, Nitsche & Günther und der vielen
anderen mittleren optischen Betriebe ermöglichte es ihnen, stärker als anderswo einzelnen
Gruppen von Arbeitern besondere Begünstigungen zu gewähren (z.B. den „Goldarbeitern“ im
Gegensatz zu den „Rotenburgern“), sie also zu korrumpieren. Das wirkte sich – wie beabsichtigt
– zersetzend auf die einheitliche Kraft der Arbeiterklasse aus. Revisionistische und
opportunistische Auffassungen fanden ihre Anhänger, Klassenkampf schien überholt und
überflüssig.
Gegen den imperialistischen Krieg
Die Anti-Kriegs-Beschlüsse der II. Internationale in Basel 1912 gingen 1914 im
nationalistischen Taumel verloren. „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch
Deutsche“, verkündete Kaiser Wilhelm II., und die SPD-Reichstagsfraktion bewilligte die
Kriegskredite. Die Rathenower Führung der SPD billigte diese Politik, obwohl sie wenige Tage
vor Kriegsausbruch auf einer Kundgebung das Bekenntnis zu Basel beteuert hatte. Die
klassenbewußten Arbeiter dachten ganz anders. August Klopprogge suchte am 3. August 1914
den Vorsitzenden des Metallarbeiterverbandes in Rathenow, den SPD-Mann Karl Priefert, auf
und stellte ihm die Frage: „Genosse Priefert, wird die Führung der Sozialdemokratie und der
Gewerkschaften nun entsprechend den Beschlüsse von Stuttgart und Basel handeln?“ (Bei
Kriegsausbruch war ein Generalstreik in allen beteiligten Ländern vereinbart.) Priefert
entgegnete: „Ja willst du, dass wir von der russischen Dampfwalze überrollt werden?“ Natürlich
organisierte die SPD keine Aktionen gegen den Krieg.
Nach Karl Liebknechts mutigem Auftritt im Reichstag (Ablehnung weiterer Kriegskredite am
2. Dezember 1914) stellten sich die Linken in der SPD an die Spitze des Kampfes gegen den
Krieg und das zunehmende Elend der Arbeiterfamilien als dessen direkte Folge. Auch in
Rathenow und durch Rathenower SPD-Genossen, die der Krieg in alle Winde verstreut hatte,
wurde der Kampf aufgenommen. Karl Gehrmann und August Klopprogge verbreiteten unter
den Soldaten Flugschriften, die über den Charakter des Raubkrieges aufklärten. Arbeiterfrauen
des sozialdemokratischen Ortsvereins sammelten Unterschriften gegen den imperialistischen
Krieg.
Spartakus und USPD
Unter dem Druck der wachsenden Massenbewegung gegen den Krieg und angesichts der durch
den Parteivorstand der SPD betriebenen Ausschlüsse revolutionärer Mitglieder bildete sich die
Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD). Die Linken der am 1. Januar
1916 gegründeten „Internationalen Spartakusgruppe“ schlossen sich der USPD an. Auch in
Rathenow trennte sich der revolutionäre SPD-Flügel von den Reformisten; Otto Weber, Karl
Gehrmann, August Klopprogge und Friedrich Herrmann gründeten 1917 die Spartakusgruppe.
Sie organisierten sogleich die Flugblattverteilung in Rathenow und Premnitz.
Karl Gehrmann war gleichzeitig Obmann der Spartakusgruppe im
Zeppelin-Luftschiffhafen Berlin-Staaken. Er gehörte zu den
Organisatoren des Munitionsarbeiterstreiks im Januar 1918. Die Gruppe
wollte auch die Munitionsfabriken Premnitz und Gapel für den Streik
gewinnen, aber die Flugblätter fielen in die Hände der kaiserlichen
Polizei, und der Einfluß rechter Sozialdemokraten verhinderte in den
Fabriken den Streik. Jedoch beteiligten sich im gesamten Reich 2,5
Millionen Arbeiter im Sommer am Streik der schlesischen und
sächsischen Bergarbeiter, der Textil- und Hüttenarbeiter in Bayern und
der Metallarbeiter im Ruhrgebiet gegen Krieg, Not und Elend, für einen
sofortigen Frieden und den Sturz der Monarchie. Der Spartakusbund rief
von seiner Reichskonferenz am 7. Oktober 1918 zum revolutionären
Kampf auf. Die SPD-Führung lehnte die Revolution ab, die USPD-Führer betrieben eine
unentschiedene Politik. Aber die Revolution war nicht aufzuhalten, sie begann am 3. November
mit dem Aufstand der Matrosen von Kiel und erfasste am 9. November das ganze Reich.
Die revolutionären Ereignisse in Rathenow
In Rathenow nahmen die revolutionären Ereignisse mit einer Kundgebung auf dem Alten
Turnplatz (am Friedrich-Ebert-Ring) ihren Anfang. Karl Priefert, der dem rechten Flügel der
SPD angehörte, sprach. „Genossen, es ist heute wieder eine Lust zu leben. Das Kind, das heute
geboren wird, trägt rote Haare.“ Diese „Pointe“ zitierte der Mitbegründer und 1. Vor-sitzende
des Ortkartells der Rathenower Reichs-, Staats- und Kommunalbeamten (gegründet am
18.1.1919) 10 Jahre später in der „Rathenower Zeitung“ vom 4.1.1929. Nach seinen Worten
wäre damit „Klarheit über das geschaffen, was im Freistaat Rathenow werden sollte. Die
Sozialdemokratie war innerhalb dieses Gebietes der Machtfaktor geworden. Und deren
Verfassungsurkunde war für’s erste das Erfurter Programm.“ Wenn’s das man gewesen wäre!
Arbeiter- und Soldatenräte
Fakt war, dass am 11. und 12. November 1918 in Rathenow ein Arbeiter- und Soldatenrat
gebildet wurde. Initiatoren waren Karl Gehrmann und Otto Weber seitens Spartakus,
hauptsächlich aber waren in ihm SPD-Funktionäre vertreten. Sie nahmen das Offizierskasino
(Bahnhofstraße Ecke Dunckerstraße/jetzt Berliner Str.) als Sitz und Standort in Beschlag und
hissten die rote Fahne. Franz Laege berichtet:
„Bei Ausbruch der Revolution befand ich mich für einige Tage in Urlaub. Am 10. 11. wurde
ich als Vertreter der Urlauber durch den Genossen Möhring in den Arbeiter- und Soldatenrat
berufen und einige Tage später von den anderen Urlaubern bestätigt. Meine Wahrnehmungen
am Ort bezüglich des Verhaltens der Reaktion waren so, dass man sagen konnte, die
Herrschaften hatten sich in die Mauselöcher verkrochen.
Der Arbeiter- und Soldatenrat wurde
gebildet aus Funktionären der Arbeiterbewegung, die zum größten Teil der
SPD angehörten, nur ein kleiner Teil
gehörte der Spartakusbewegung an. Um
für Ruhe und Ordnung zu sorgen,
wurden ca. 40 Mann aus den Reihen der
Arbeiterschaft ausgewählt, die für die
Bewachung, insbesondere der Waffen,
eingesetzt wurden.
Sitz des Arbeiter- und Soldatenrates: Das Offizierskasino
An und für sich hatte die Reaktion nicht gewagt, irgendwie hervorzutreten. Beim Rückzug der
Truppen aus dem Felde ist mir folgendes in Erinnerung: Es war in der zweiten Novemberhälfte,
als eines Tages ein Trupp von ca. 30 Mann (ehemalige Zietenhusaren) und einigen Offizieren
das Offizierskasino stürmen wollten. Ihre Absicht bestand darin, die rote Fahne von unserer
Tagungsstätte herunterzuholen und uns aus dem Hause zu verjagen. Der noch amtierende
Oberbürgermeister Lindner versuchte, mit einem Blumenstrauß bewaffnet die Truppe zu
begrüßen. Die Truppe setzte vor dem Kasino ab und drohte in das Haus einzudringen. Der
Genosse (Ludwig, D.S.) Hassenflug und meine Wenigkeit griffen sofort zum Karabiner, und
durch gütiges Zureden einiger Genossen nahm die Truppe von der Erstürmung Abstand.
Zu den Aufgaben des Arbeiter- und Soldatenrates gehörte die Kontrolle des Staatsappa-rates,
die Betreuung der zurückkehrenden Soldaten sowie die Versorgung der Bevölkerung mit
lebensnotwendigen Gütern.“
Ernste Versäumnisse und Fehler der Revolutionäre werden deutlich: Der Staatsapparat blieb
unbehelligt; man wollte lediglich kontrollieren. Die Führungsstruktur in der Kaserne
Bahnhofstraße blieb unangetastet, man ließ die Offiziere gewähren. Von der Entmachtung der
Herrschenden – also der Rathenower Industriellen und der Großagrarier auf dem Lande – war
gar nicht zu reden. Das Fehlen einer kampfstarken revolutionären Partei war unübersehbar,
denn die SPD war nicht bereit dazu. Friedrich Eberts „Ich hasse die Revolution wie die Pest“ ist
überliefert.
Die Arbeiter- und Soldatenräte konnten ihre Rolle als potentielle Machtorgane des
revolutionären Volkes nicht wahrnehmen. Der geschilderte Einfluß opportunistischer SPDFührer führte dazu, dass die anfängliche Aktionseinheit unterlaufen und die öffentliche Gewalt
aus den Händen gegeben wurde. Der Reichsrätekongreß bildete zwar am 20. Dezember 1918
noch einen „Zentralrat der Sozialistischen Republik Deutschland“, übertrug jedoch die
künftige Macht an die am 19. Januar 1919 zu wählende Nationalversammlung – und
entmachtete sich damit selbst. Die Arbeiter- und Soldatenräte spielten keine Rolle mehr und
lösten sich im November 1919 auf.
Die Revolution hatte Deutschland aus dem imperialistischen Krieg herausgelöst. In Rathenow
erklärten sich die Mannschaften der Minenwerferkompanie mit den Arbeitern solidarisch. Die
Soldaten dieser Einheit brachten damit ihre Bereitschaft zum Ausdruck, die Revolution zu
unterstützen. Die Spartakisten waren im Arbeiter- und Soldatenrat ihre wahren Vertreter. Aber
dort wurde der Einfluß der Reformisten immer stärker. Der Kampf um die Ziele der Revolution
drohte zu versanden.
Darum verlangten Karl Gehrmann und andere auf einer Sitzung des im Stadtverordnetensaal
(Berliner Str. 1) tagenden Arbeiter- und Soldatenrates die Bewaffnung der Arbeiter.
Karl Priefert lehnte diese Forderung ab mit der Begründung,
das sei nicht notwendig. Sein Gleichnis des Kindes mit
roten Haaren hatte er offenbar längst vergessen; er stellte
sich auf die Seite der restaurativen Kräfte, also der Reaktion.
Priefert verkörperte die opportunistische Linie, die in der
wohl über 1.000 Mitglieder umfassenden SPD der Stadt die
Mehrheit hatte. Die Linke war genötigt, sich organisatorisch von der SPD abzunabeln. Spartakus rief zur
Gründung der Kommunistischen Partei.
Tagungsort des A.u.S.-Rates im Rathaus
KPD-Gründung
Zum Gründungsparteitag der KPD (30. Dezember 1918 bis 1. Januar 1919) entsandte die
Rathenower Spartakusgruppe Richard Manke, Karl Gehrmann und Friedrich Huxdorf. Am 9.
Januar 1919 wurde von Karl Gehrmann, Otto Weber, F. Huxdorf, R. Manke und anderen die
örtliche Kommunistische Partei Deutschlands gegründet. Die überwiegende Mehrheit der
USPD-Mitglieder ging den Schritt in die KP. Ein kleiner Teil kehrte später in die SPD zurück.
Die Sozialdemokratische Partei hatte sich vom Spartakusbund und den Kommunisten scharf
distanziert. Das wollte sie deutlich machen und veranstaltete am 12. Januar eine Kundgebung.
Es sprach der SPD-Genosse Peus. Er trat gegen die Politik der Spartakisten auf, also gegen die
revolutionären Kräfte der Arbeiterklasse in Rathenow. Die Ortsgruppe der KPD entfaltete
dagegen eine rege Aufklärungsarbeit unter der Bevölkerung der Stadt und des Kreisgebietes.
(Die Mitgliederzahl der KPD ist nicht bekannt; 1931 gehörten ihr in Rathenow etwa 80
Mitglieder an.)
Konterrevolutionäre Soldaten (hier in Berlin)
Über die weiteren revolutionären Ereignisse und Kämpfe berichtet Franz Laege: „An einem
Sonnabend im Frühjahr 1919 (es kann nur vor Beendigung der Januarkämpfe in Berlin gewesen
sein; D.S.) kam es zu einem Zusammenstoß zwischen Soldaten der Reichswehr und den ‚roten’
Matrosen vor dem Waldschloß (damals noch Restauration „Zur Erholung“; D.S.). Ein Matrose
wurde hierbei erschossen. Acht Mann der Reichswehr versuchten nun in das Waldschloß
einzudringen, um eine Veranstaltung der Bevölkerung zu stören. Die Soldaten wurden
aufgefordert, ihre Waffen abzulegen, dann stehe einem Eintritt nichts im Wege. Ungeachtet
dieser Aufforderung drangen die Soldaten bewaffnet in den Saal ein. Sofort wurden sie von den
Anwesenden vertrieben und bis zum damaligen ‚Cafe Rheingold’ (an der Ecke Bahnhofstraße;
D.S.) zurück gejagt. Nach einer Stunde erschienen dieselben Soldaten mit scharfer Munition
und schossen in den Saal. Hierbei wurde der Genosse (Friedrich, D.S.) Kapphammel durch
einen Schuß in die Lunge verwundet. Die Veranstaltung flog an diesem Abend auf. Am
nächsten Tag, Sonntag, wurden sämtliche Soldaten und Offiziere, soweit sie sich auf den
Straßen sehen ließen, von der Zivilbevölkerung entwaffnet. Die Soldaten und Offiziere
erhielten daraufhin sechs Wochen Ausgehverbot.“
Die Schilderung zeigt die Brisanz der ersten Revolutionsmonate. Es gab keine gefestigten
Machtstrukturen. Der Arbeiter- und Soldatenrat agierte mit Forderungen, Appellen und
Überzeugungsarbeit auf Versammlungen und Kundgebungen, die SPD verhielt sich abwartend,
die Reaktion wagte sich immer dreister vor.
(Die Berliner Ereignisse im Januar 1919, als die Revolution abgewürgt wurde, spiegelte die
Rathenower reaktionäre Presse wider – siehe ab Seite 17.)
Im April 1919 fanden Wahlen zum Arbeiterrat statt (der den A+S-Rat ablöste), auch er verfolgte
keine konsequent revolutionäre Linie. Das wird klar, betrachtet man die gewählten Mitglieder
aus der opportunistischen SPD und sogar des Beamtenkartells.
Die Beurteilung und Haltung zur Revolution seitens der bürgerlichen und monarchistischen
Kräfte der Stadt werden deutlich, wenn man spätere Auslassungen des schon erwähnten
Vorsitzenden des Beamtenbundes, Engel, liest. Er schrieb in der „Rathenower Zeitung“ vom
4.1. und 5.1.1929 im Rückblick „10 Jahre Rathenower Beamtenschaft“: „Die Optikstadt lebte
nach dem 6. November 1918 als Land und Stadt für sich. Zug- und Telefonverkehr waren
unterbrochen, Zeitungen blieben aus. Wir waren von der Außenwelt wie abgeschnitten und
stillten unser Verlangen nach Gewissheit über das, was ist oder wird, durch gegenseitige
Mitteilungen. … Wunschgedanken, die Erscheinungen des Massenwahns in schweren Zeiten,
kursierten als Parolen vom Bahnhofsviertel bis zum Haveltor. Schließlich stand die Stadt unter
dem Schutz des Arbeiter- und Soldatenrates, der für die Nacht Soldaten durch die Stadt
patrouillieren ließ. Mit aufgepflanztem Seitengewehr. Und auf dem Offizierskasino wehte die
rote Fahne. Herr Geheimrat: Was war das überhaupt für eine Institution, der Arbeiter- und
Soldatenrat? Woher nahm er sein Recht?“
Engel beklagt in diesem Artikel, dass den Beamten der Dienstherr abhanden gekommen war.
Auf den Kaiser vereidigt, verstand er nach dessen Sturz die Welt nicht. Wem waren sie denn
nun verpflichtet? Der neuen Macht, die noch nicht einmal klar definierbar war – dann würden
sie doch ihren Eid brechen. Versagten sie sich aber einer neuen Staatsmacht, wäre das auch
wieder Untreue! So riefen er, Ilse Seyda und der Lehrer Wilhelm Wepner zur Versammlung
aller Beamten, die aber zunächst scheiterte. Offenbar hatte jeder Angst um seine Existenz, wenn
er sich zu früh festlegte. Aber da kamen ihnen schon am 10. November 1918 die
„sozialistischen Volksbeauftragten“ in Berlin mit ihren Erlaß über die Sicherstellung der
Beamtenrechte zu Hilfe. (Der Erlaß war von dem in Göttlin geborenen Wilhelm Flügel
entworfen worden; Flügel war später der Vorsitzende des Beamtenbundes in Deutschland.) Also
wurde am 18. Januar 1919 das Ortskartell der Rathenower Reichs-, Staats- und
Kommunalbeamten gegründet. Es waren etwa 1.000 Mitglieder einschließlich der Angestellten
und Arbeiter aus den Dienststellen.
Die Konterrevolution
Nach der Niederlage der Revolutionäre bei den Januarkämpfen 1919 in Berlin ging die
Reaktion Anfang 1920 zum Angriff über. Kapp und General Lüttwitz inszenierten ihren
Konterrevolutionäre Soldaten im Berliner Zentrum
Putsch als Versuch zur Errichtung einer Militärdiktatur. Er begann am 13. März 1920 und
wurde durch den Generalstreik und die bewaffnete Abwehr der einig handelnden Arbeiter am
17. März beendet. Die Anführer flohen ins Ausland. Über die Ereignisse in Rathenow berichtete
Gustav Meier:
„Am Vorabend des Kapp-Putsches fuhr ich zur Hochzeit meines ältesten Sohnes nach einem
Dorf in der Nähe von Stendal. Der Berliner Morgenzug läuft ein und ihm entsteigt der
inzwischen zum Stadtrat beförderte Genosse Karl Priefert. Er fragt mich: ‚Wo willst du hin?’
Meine Antwort lautet: ‚Ich fahre nach Stendal.’ Darauf antwortet der Genosse Priefert: ‚Bleib
zu Hause, du kommst nicht wieder zurück.’ Wir fuhren dennoch zur Hochzeit. Am Abend beim
Tanz ertönt plötzlich in der Saaltür der Ruf: ‚Es geht kein Zug mehr!’ Nun hieß es für die
Rückfahrt zu rüsten, und nach eineinhalbstündigem Fußmarsch erreichten wir Stendal. Auf dem
Wege zum Bahnhof, inmitten der Stadt, wurden schon Maschinengewehre, Gewehre,
Handgranaten und Munition an die Arbeiter ausgegeben. Am Bahnhof angekommen, erfuhren
wir zunächst, dass der Verkehr eingestellt ist. … Als wir in Rathenow ankamen, waren mehrere
Genossen am Bahnhof, welche uns sofort zum Volksgarten (dem späteren Sportpalast; D.S.)
schickten. Der Garten des Lokals war bereits bis auf den letzten Platz besetzt. Während der
Versammlung wurde beschlossen, eine Delegation zur Kaserne zu schicken, um mit den
Offizieren zu verhandeln. Nach längerem Hin und Her wurde uns die vorläufige Neutralität der
in Rathenow stationierten Truppenteile zugesagt. Es kam dann auch während des KappPutsches zu keinen bewaffneten Auseinandersetzungen in Rathenow.“ Hervorzuheben ist, dass
es während des Putsches in Rathenow teilweise zu Kontakten und sogar Verbindungen
zwischen Angehörigen der Reichswehr und Arbeitern kam.
Hier ist ein interessantes Detail einzufügen:
Eine der wichtigsten konterrevolutionären Einheiten unter Kapp/Lüttwitz war die Marinebrigade Ehrhardt. Kapitän Ehrhardt hatte seine Freischärler auf den brandenburgischen
Gütern in Berlin-Nähe als „Landarbeiter“ untergebracht. Hier fanden Ausbildung und
Vorbereitung auf den Militärputsch statt. Es deutet einiges darauf hin, dass einer der Standorte
das Gut Kleßen war. Das wäre eingehend zu erforschen, denn in der Folge kommt Ehrhardt
weiter mit Gut Kleßen in Verbindung. Im Rathenower Heimatkalender 2010 wird Ehrhardt als
Käufer des Gutes benannt, das er offensichtlich von Graf von Bredow erworben hat. Von
Bredow war 1929 NSDAP-Kreisleiter anstelle von Fritz Krause geworden, der als erster NaziAbgeordneter in den Westhavelländischen Kreistag gewählt wurde.
Die „Westhavelländische Tageszeitung“ vom 28. Juni 1933 meldete: „Kapitän Ehrhardt
bekennt sich zur NSDAP“, das habe er der SS-Reichsführung mitgeteilt. Er wäre „persönlich
in die NSDAP eingetreten“ und „hat sich mit seinem Wehrverband Brigade Ehrhardt dem
Reichsführer SS unterstellt“.
Eine folgerichtige Entwicklung der Demokratiefeinde, die sich mit ihrem Kampflied
„Hakenkreuz am Stahlhelm, schwarz-weiß-rotes Band…“ früh als Faschisten bekannt hatten.
Herr Engel vom Beamtenbund berichtet über das „Frühjahr 1920 zur Zeit der Spartakustreibereien“.
„Man sprach von der Überleitung der Fabriken usw. in das Eigentum der Belegschaften und der
Verwaltung der Unternehmen durch die Betriebsräte: Schulze & Bartels sowie Rapsch sollten
enteignet worden sein.“ Am Sonnabend, dem 27. März 1920, wäre mittags 1 Uhr eine
„Versammlung der Kommunisten und Spartakisten“ auf dem Stadthofplatz abgehalten worden.
Nach Schluß der Kundgebung würde das Rathaus gestürmt und das gesamte Geld der Stadt
beschlagnahmt, lauteten die wilden Gerüchte. Nun wurden Handgranaten und
Maschinengewehre zum Schutz des Rathauses bereitgestellt. Zwecks Leerung der Stadtkasse
zahlte man die Gehälter vorzeitig aus, damit den Spartakisten bloß nichts in die Hände fiele.
Am Sonnabendnachmittag wurde Dienst für alle Beamten angesetzt. Eine Polizeistaffel brachte
man heimlich bei einem Bürger am Stadthofplatz unter, damit sie alle Aktionen beobachten und
eventuell einschreiten konnte.
Um 13 Uhr waren etwa 700 Menschen auf dem Stadthofplatz versammelt, meldeten die
getarnten Polizisten zum Rathaus: Reden würden gehalten, lang und ausführlich, die Menge
bleibe friedlich. Um 15 Uhr erreicht das Gerücht von 20.000 Menschen, die auf das Rathaus zu
marschieren, die Verteidiger. Gefechtsbereitschaft wird hergestellt. Das Kommando führen ein
Hofdruckereibesitzer (das ist Walter Babenzien), ein Gerichtsassessor, ein Manufakturist und
ein Direktor. Das schwere Maschinengewehr wird von einem Oberförster bedient, zwei Eimer
Wasser zum Kühlen des Laufs stehen bereit. Das SMG ist auf die Schleusenbrücke gerichtet.
Aber die erwarteten Rathausstürmer kommen nicht, denn die Leute gehen nach der
Kundgebung nach Hause. Der befürchtete Kampf ums Rathaus fällt aus.
Eine Anmerkung zu Dr. Walter Babenzien: Er wurde mit der „Westhavelländischen
Tageszeitung“ (als Mitbesitzer) einer der frühen Unterstützer der Nazipartei, der Redakteur
Gustav Bieck gehörte 1926 zu den Gründern der NSDAP Rathenow. Rechtanwalt Babenzien
wurde Leiter der Rechtsstelle der NSDAP-Kreisleitung.
Die revolutionären Kämpfe in Deutschland und anderen europäischen Staaten dauerten an, die
junge Sowjetmacht in Russland musste sich in den Interventionskriegen ihrer Feinde erwehren.
Während der Kämpfe der Roten Armee gegen Truppenteile der polnischen Armee vor
Warschau 1920 wurden Teile der sowjetrussischen Armee auf deutsches Gebiet abgedrängt und
interniert. Die Offiziere und Soldaten kamen in das Lager Havelberg. Die Genossen der KPDOrtsgruppe sammelten unter der Bevölkerung Lebensmittel und Kleidungsstücke für die
Internierten. Zwölf KPD-Genossen brachten die Spenden nach Havelberg und verteilten sie.
Auch die nach dem Sturz der Räte-Regierung in Ungarn 1919 nach Deutschland geflohenen
Emigranten erhielten Unterstützung. Einige von ihnen kamen nach Rathenow und fanden durch
die Hilfe der KPD-Ortsgruppe Arbeit. Die sozialdemokratische Reichsregierung wies sie
jedoch aus, sie mussten in Sowjetrussland Zuflucht suchen. Dem Protest gegen die Verhaftung
des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten der ungarischen Räte-republik, Bela
Kun, durch die deutschen Behörden schlossen sich die Rathenower Linken und
sympathisierende Bürger an – die Reichsregierung musste ihn freilassen.
Bela Kun, 1919
Soziale Kämpfe 1923
Nach der völkerrechtswidrigen Besetzung des Ruhrgebietes durch französische Truppen 1923
kam es zu solidarischer Hilfe der Rathenower Arbeiter. Auf Einladung der Genossen weilten
im Frühjahr Kinder von Ruhr-Bergarbeitern vier bis sechs Wochen zur Erholung in der Stadt.
Doch zur gleichen Zeit gab es in Rathenow alarmierende Zeichen: Die ersten Hakenkreuzschmierereien tauchten im öffentlichen Raum auf! Die schwarze Farbe, klagte
Oberbürgermeister Lindner vor dem Magistrat am 20. Januar 1923, ließe sich schwer entfernen.
Und: Man solle doch „das Parteiengezänk“ angesichts der Lage sein lassen, „alle Deutschen
müßten doch jetzt fest zusammenstehen“! Lieber sollte man sich über Hilfe für das besetzte
Gebiet verständigen. Hakenkreuze? Da drängt sich der Verdacht einer Verbindung zu Ehrhardt
und Gut Kleßen geradezu auf!
1923 spitzten sich die gesellschaftlichen Widerprüche zu. Die Inflation verschärfte die Not der
Werktätigen und besonders der Arbeitslosen. Elend und Hunger kennzeichnete die Lage weiter
Teile des Volkes. Der Widerstand gegen die Herrschenden wuchs. In Rathenow kam es zu
Lohnkämpfen in der Emil Busch AG; einer der führenden Köpfe war dabei der optische
Arbeiter Otto Seeger, SPD-Mitglied und Betriebsrat. Er wurde später gefeuert und auf die
schwarze Liste gesetzt, so dass er bis in die Nazizeit in keinem optischen Betrieb mehr Arbeit
fand – Konsequenz war eine Scheinselbständigkeit als Einrunder, als Zulieferer für die großen
Firmen, in einem sogenannten Waschküchenbetrieb in der Brandenburger Str.4.
Die Rathenower Kommunisten organisierten 1923 eine Arbeitslosendemonstration. Die SPDFührung lehnte jegliche Unterstützung für diese Protestaktion ab. Walter Gansow berichtet:
„Diese Demonstration nahm ihren Anfang auf dem Marktplatz. Als der Demonstrationszug sich
dem Apollo-Theater näherte, stürzte sich eine bewaffnete Gruppe von Reichswehr-soldaten auf
uns mit dem Ziel, die demonstrierenden Arbeiter auseinander zu jagen. Ich selbst flüchtete in
die Jägerstraße und wurde von einigen Reichswehrsoldaten verfolgt und mit Gummiknüppeln
geschlagen. Der Führer dieser Bewaffneten war von Manteuffel, der dem Vorgehen gegen die
Arbeiter mit einem höhnischen Grinsen zugesehen hat.“ Die Brutalität der Reichswehr machte
auch vor dem schwerbeschädigten Max Behrend nicht halt. Er wurde im Vorraum des ApolloTheaters (Standort in der Berliner Straße, etwa beim Kulturhaus; D.S.) niedergeschlagen. Nach
dieser Erwerbslosendemonstration wurde über die Stadt Rathe-now ein achttägiger
Belagerungszustand verhängt.
Eine Anmerkung zu Manteuffel:
Hasso von Manteuffel war 1918 Rittmeister und Führer der 4. Eskadron im Husaren-regiment
3 „von Zieten“ und im späteren Kavallerieregiment 17 der Reichswehr in Rathenow. Er spielte
in der faschistischen Wehrmacht, zuletzt als Kommandeur der 3. Panzerarmee, eine wichtige
Rolle. In der Endphase des Krieges, im April 1945, floh der General mit 300.000 Mann (die
Zahl ist zu bezweifeln!) in britische Gefangenschaft, „weil seine Truppe nicht in der Lage war,
den Vormarsch der sowjetischen Armee nördlich Berlins zu verhindern“!! 1959 wurde er in der
BRD wegen Totschlags zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, da er verantwortlich war für die
Hinrichtung eines kriegsmüden deutschen Soldaten im Jahre 1944. Er betätigte sich als
Politiker der FDP und in rechten Parteien.
Soweit die Dokumente und Zeitzeugen zur Novemberrevolution 1918 und der revolutionären
Nachkriegskrise in Rathenow. In den folgenden Jahren der relativen Stabilisierung des
kapitalistischen Systems ebbte der Klassenkampf nicht ab. Lohnkämpfe fanden permanent statt,
um den sich stark fühlenden Rathenower Unternehmern Zugeständnisse abzutrotzen. Auch in
den kommunalen Körperschaften wurde zäh um soziale Projekte gestritten, wobei die
revolutionären Linken als Abgeordnete Einfluß auf Entscheidungen zu nehmen versuchten, die
die Lage der Arbeiter und Arbeitslosen verbessern konnten. Dabei übernahmen die
Kommunisten die Rolle des sozialen Korrektivs zur ausgeprägten opportunistischen Praxis der
Rathenower Sozialdemokraten.
*
Die Rolle der lokalen Zeitung während der Revolution
Die rechtskonservative “Rathenower Zeitung” prägte die öffentliche Meinung. Sie unterstützte
vorbehaltlos die Konterrevolution.
Die Zeitung brachte jedoch keine Berichte aus der Region.
In der Ausgabe vom Freitag, dem 10. Januar 1919, berichtete die “Rathenower Zeitung” (RZ) von den
Januarkämpfen in Berlin unter der Überschrift
“Immer noch spartakistische Schießereien”:
“Der Bürgerrat von Groß-Berlin fordert die Bürger und Arbeiter auf, sofort in die republikanische
Volkswehr einzutreten. Jeder waffenfähige Mann solle sich umge-hend beim Regiment Reinhard in der
Kaserne des 4. Garde-Regiments zu Fuß oder bei der Gardekavallerie-Division in Dahlem melden.”
Im Einverständnis mit dem Oberkommandierenden Noske, heißt es. Und dann zitiert und kommentiert
die RZ andere Pressestimmen:
“Die “Freiheit” ist natürlich sehr enttäuscht über die Bildung
dieser Freiwilligentruppen, die sie mit dem Schimpfnamen
“Weiße Garde” versieht und fordert die Arbeiter auf, diesem
Lockruf nicht zu folgen, sondern sich zur Abwehr gegen die
Weiße Garde zusammenzuscharen.”
“Die
“Rote
Fahne”
stellt
die
Bildung
von
Freiwilligentruppenteilen als Beweis dafür dar, daß die
Garnisontruppen von Berlin sich nicht bereiterklärt hätten, für
die Regierung zu kämpfen.”
“Nach der “Post” ist der bisherige Kommandeur der
Marinedivision, Dorrenbach, geflüchtet und soll von den
Matrosen verhaftet werden, wenn er angetroffen wird.”
“Die Entlassung Eichorns vom Vollzugsrat anerkannt”, lautet
die Schlagzeile, die die weiteren Machtkämpfe zwischen
Ebert-Scheidemann und den Revolutionären schildert:
“Das gestrige Extrablatt des “Vorwärts” meldete: Der
Vollzugsrat hat gestern mit 12 gegen 2 Stimmen entschieden,
daß Eichhorn zu Recht entlassen worden sei. ... Der
Vollzugsrat forderte die Rückgabe des “Vorwärts” an seinen
rechtmäßigen Besitzer.”
Anmerkung:
Die genannten Truppen der Gardeeinheiten, die Garnisontruppen, sind der konterrevolutionäre Arm der
Ebert-Scheidemann gegen die Bestrebungen der Linken, die Revolution mit dem Ziel einer Räterepublik
fortzusetzen. Aus ihren Reihen kommen fünf Tage später die Mörder von Liebknecht und Luxemburg.
Die Volksmarinedivision (Gründung am 11.11.1918) ist als revolutionäre Einheit nach Berlin gekommen
und ist der eigentliche bewaffnete Arm der Revolution, dessen sich aber die SPD unter dem
maßgeblichen Einfluß Gustav Noskes entledigen wollte, als sie die Revolution für beendet erklärten und
die Wahlen zur Nationalversammlung als Vollendung ihrer bürgerlichen Politik bezeichneten. Die EbertRegierung hatte einen geheimen Pakt mit der Obersten Heeresleitung unter Groener geschlossen und
setzte bei der “Blutweihnacht” diese Truppen gegen die Matrosen ein. Bis dahin war die Revolution
unblutig verlaufen.
Der Berliner Polizeipräsident Eichhorn, USPD, wurde durch den Vollzugsrat – die SPD hatte hier
Mehrheiten – am 4. Januar 1919 abgesetzt, weil er zu den linken Revolutionären gehörte. Daraufhin
riefen die KPD, die USPD (deren Vertreter den Vollzugsrat aus Protest gegen die Ebertregierung
verlassen hatten) und die Revo-lutionären Obleute (der Gewerkschaft) zur Protestdemonstration am 5.
Januar auf, die 500.000 Teilnehmer hatte. Die Demo mündete in den bewaffneten Aufstand. Die
Revolutionäre stürmten das Zeitungsviertel und besetzten die Redaktion der SPD-Zeitung “Vorwärts”,
das Sprachrohr der sozialdemokratischen Konterrevolutionäre.
Über die bewaffneten Kämpfe, die vom 5. bis 12. Januar 1919 andauerten, wird von der “Rathenower
Zeitung” am 10. Januar im Rückblick berichtet.
Unter “Die Kämpfe am Mittwoch” heißt es, daß die Spartakusleute ein Geschütz in der Dorotheenstraße
in Stellung gebracht hätten. Die Gegend der Marschallbrücke sei mit Maschinengewehren bestrichen
worden. Auch an der Ecke Dorotheenstraße gab es lebhafte Schießerei. Ein besonders heftiger
Kugelwechsel fand zwischen der Luisenstraße und dem Schiffbauerdamm statt. Den Mittelpunkt einer
langandauernden Schießerei bildete die Ecke Kochstraße-Ullsteinisches Verlagshaus. Es gab Tote und
Verwundete.
Die “Tägliche Rundschau” wird zitiert: “Immer und immer wieder versuchten die revolutionären
Arbeiter den Durchbruch zur Reichskanzlei zu erzwingen.”
Die “Rathenower Zeitung” bringt mittlerweile Vokabeln wie “bolschewistische Truppen” (gemeint ist
Spartakus) ins Spiel und behauptet, “russische Truppen” würden zugunsten Spartakus eingreifen!
Am Sonnabend, dem 11. Januar 1919, gibt es Siegesmeldungen der Konterrevolution:
“Eichhorn angeblich geflohen:
Die USPD hat Polizeipräsident Eichhorn gestern dringend angehalten, von seinem Amt freiwillig
zurückzutreten, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden.”
Die “Neue Zeit” “hörte, daß Eichorn nach Dänemark entflohen sei”, so wird zitiert.
“Sieg der Regierungstruppen in Spandau:
Der Angriff auf das Rathaus, der heute früh 7 Uhr mit einem kurzen Bombardement eröffnet wurde, war
von den darin hausenden Bolschewisten geahnt. Zu ihrer Unterstützung waren von außerhalb
zahlreiche Matrosen, oder wenigstens Subjekte in Matrosenuniform, eingetroffen, die sich mit ihnen im
Rathaus einnisteten. Kurz nach 7 Uhr begann die Beschießung des Rathauses. Nach 8 Uhr wurde das
Rathaus gestürmt und durchsucht. ... Einzelkämpfe im Rathaus ... Besatzung gefangenge-nommen.
Einer der Führer der Bolschewisten, der Gärtnereibesitzer Pieser, wurde auf dem Posthof standrechtlich
erschossen, während der erste Vorsitzende des Soldatenrates, von Lesewski, zunächst gefangen
mitgeführt wurde.”
Die Kämpfe hätten 6 Tote gefordert.
Über die revolutionären Kämpfe in anderen Regionen Deutschlands wird gemeldet:
“Vor dem Generalstreik im Ruhrrevier:
Elberfeld, 10. Januar: (Bei der) ... Versammlung von Spartakusanhängern wurde beschlossen, den
Generalstreik im ganzen Ruhrkohlengebiet zu proklamieren, um dadurch die Regierung EbertScheidemann zum Rücktritt zu zwingen.”
“Blutige Zusammenstöße in Düsseldorf”:
Gewehrfeuer, sogar Maschinengewehre würden von Spartakus eingesetzt. Es gäbe Verletzte. “Die
Stadt Düsseldorf wird zur Zeit von der Spartakusgruppe beherrscht.”
“Blutvergießen in Dresden”:
Es habe 20 bis 30 Tote gegeben. “Der Anstifter des ganzen Unheils, der ‘sächsische Liebknecht’ Mühle,
ist endlich verhaftet worden. Die Kommunisten hatten ein Flugblatt losgelassen, worin sie dazu
auffordern, die Nationalwahl zu verhindern. Mühle wurde verhaftet, außerdem noch einige andere
Kommunistenhäuptlinge.”
Am 15. Januar, als der Januaraufstand Spartakus’ abgewürgt war, tobte der weiße Mob durch die
Hauptstadt. Schon zuvor hatten sie plakatiert: “Schlagt ihre Führer tot! Tötet Liebknecht, tötet
Luxemburg!” Nun hatten sich brave Bürger gefunden, die sie denunzierten und den
Konterrevolutionären auslieferten. Und die brachten sie um. Die Vorgänge und die Täter sind lange
bekannt, aber die Parteinahme der “Rathenower Zeitung” für die Mörder und die Verfälschung der
Tatsachen sind schon lesenswert.
Zwei Tage nach den Morden, am 17. Januar 1919, schreibt die Zeitung:
“Karl Liebknecht auf der Flucht erschossen, Rosa Luxemburg von der empörten Menge gelyncht”:
Sie wurden “durch Militärpersonen verhaftet. ... Er und Rosa Luxemburg wurden ... zum Edenhotel am
Zoologischen Garten, in dem sich das Militärkommando befindet, gebracht. ... Bei dem Transport nach
Moabit machte Liebknecht einen Fluchtversuch und wurde dabei erschossen. Rosa Luxemburg wurde
in dem Augenblick, wo sie das Edenhotel unter Bewachung verließ, von der Menge geschlagen und auf
der Weiterfahrt von einem unbekannten Mann durch einen Schuß getötet.”
Dann greift man auf die Agenturmeldung des W.-Telegrafen-Büros zurück: “Die Menge erkannte die
Gefangene ..., riß sie aus dem Wagen heraus und mißhandelte sie fürchterlich. Es war nicht möglich,
ihr Hilfe zu bringen. Es heißt, sie sei erschossen worden. Der Wagen, in dem die Luxemburg
transportiert wurde, wurde leer am Kanal aufgefunden.Von dem Verbleib der Leiche hat man keine
Kenntnis.”
*
Nun konnte bürgerliche Demokratie gespielt werden. Es wurde gewählt.
Der Ausgang der Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919, an denen sich die KPD von
vornherein nicht beteiligte, war ein Ergebnis der Mord- und Boykotthetze gegen die Linken, die
“Spartakisten”, die “Bolschwisten”. Der brave Bürger ließ sich von der Ebert-Scheidemann-Parole und
der Noske-Praxis (der erklärtermaßen den “Bluthund” spielte) leiten: “Ruhe ist die erste Bürgerpflicht”.
Man wählte die “gemäßigten Mehrheitssozialisten”, die SPD.
Die Ergebnisse in unserer Region meldet die “Rathenower Zeitung” vom 22. Januar 1919):
Die antifaschistisch-demokratische Umwälzung im
Osten Deutschlands nach 1945
Eine notwendige Vorbemerkung:
Die bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49 war gescheitert. Die Novemberrevolution 1918/19 war
im Versuch, die unvollendete Revolution 1848/49 zum Erfolg zu führen, in der sozialdemokratischen Verkündung
der Republik stecken geblieben. Die Versuche der revolutionären Linken, sie über die Berliner Januarkämpfe 1919,
mit der Roten Ruhrarmee, mit den Arbeiterregierungen in Sachsen und Thüringen und mit dem Hamburger
Aufstand als sozialistische Revolution fortzuführen, waren nach den erbitterten Kämpfen schließlich im Herbst
1923 erstickt.
1945 war eine völlig neue Situation entstanden.
Zwölf Jahre zuvor hatte die herrschende Klasse sich zwecks Machterhalt mit den Hitlerfaschisten zusammengetan,
denen unumschränkte Befugnisse übertragen und gerade unter den Bedingungen der Terrorherrschaft
Maximalprofite eingefahren. Den ihnen beim Werben um die Unterstützung des Großkapitals durch Hitler
persönlich angekündigten Krieg zur Neuaufteilung der Welt billigten die Finanz- und Industriekapitalisten, brachte
er doch besonders in der Rüstungsindustrie Höchstgewinne. Nun aber war der II. Weltkrieg mit der vernichtenden
eigenen Niederlage beendet, die Sowjetunion und ihre westlichen Alliierten hatten das „Dritte
Reich“ niedergerungen, Europa und Deutschland vom Faschismus befreit.
Deutschland lag am Boden. Das Militär vernichtet, die Bevölkerung ausgeblutet, die Betriebe und Verkehrswege
zerstört, die Städte verwüstet, die Landwirtschaft verödet. Die kapitalistische Klasse war zutiefst diskreditiert.
Wer überlebt hatte, erkannte spät seine Mitläuferschaft oder Mittäterschaft. Die Menschen waren angesichts des
Grauens, das Deutsche in der Welt angerichtet hatten, bereit zu gesellschaftlichen Veränderungen: Zuerst „Nie
wieder Krieg!“, bald auch „Nie wieder Faschismus!“ Die Minderheit derer, die dem Nazismus Widerstand geleistet
hatten, mußte nun die Führungsrolle übernehmen. Die sowjetische Besatzungsmacht – Vertreter eines
sozialistischen Landes – gab ihnen Handlungsspielraum und Unterstützung.
Das fand in den westlichen Besatzungszonen nicht statt. Die Klasseninteressen der US-Amerikaner, der Briten und
der Franzosen – Vertreter kapitalistischer Länder – setzten andere Prioritäten. Sie tasteten die kapitalistische
Gesellschaftsordnung nicht an.
Die antifaschistisch-demokratische Umwälzung – also Revolution – wurde mit Reformen vollzogen:
Die demokratische Bodenreform: Enteignung des Großgrundbesitzes. „Junkerland in Bauernhand“;
Die demokratische Schulreform: Brechung des Bildungsmonopols, Chancengleichheit für Arbeiterkinder und
die Landjugend, demokratische Einheitsschule;
Die Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher: Entmachtung des Großkapitals, Schaffung eines
nichtkapitalistischen Sektors in der Industrie;
Die demokratische Verwaltungsreform: Schaffung demokratischer Strukturen in einer volksnahen staatlichen
und kommunalen Verwaltung;
Die demokratische Justizreform: Zerschlagung der Nazijustiz, demokratische Erneuerung der Rechtsstruktur,
Aufbau einer Volksjustiz.
Im Folgenden werden die Anfänge der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung in unserer Region dargestellt.
(Auszüge aus der Broschüre „Verfolgung, Widerstand, Befreiung, Neuanfang“, erschienen 2005 zum 60. Jahrestag
der Befreiung)
Der schwere Neuanfang
Nach der Befreiung herrschte Besatzungsrecht, das heißt die sowjetische Kommandantur in Rathenow (in der
jetzigen Rotbuchenallee) übernahm auf der Basis von Befehlen der Sowjetischen Militäradministration in Berlin
– eingebunden im Alliierten Kontrollrat – die Verwaltungsfunktionen. Der erste Stadtkommandant, Oberstleutnant
Slepzow, setzte Deutsche ein, die das Vertrauen der Besatzungsmacht hatten: Karl Gehrmann, der Mitbegründer
der KPD 1918/19, wurde zum Landrat für das Westhavelland ernannt, Arthur Neumann (KPD) war zunächst sein
Stellvertreter und wurde dann von Paul Szillat (SPD) abgelöst. Neumann war Bürgermeister von Rathenow, bis
Szillat diese Aufgabe als Oberbürgermeister übernahm. Die Deutschen in den Verwaltungen setzten die Befehle
der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) mit Verordnungen um. (*46)
Verordnung Nr.1
der Stadt- und Landverwaltung Rathenow vom 10. Mai 1945
1. Aufrechterhaltung der Ordnung und normaler Lebensbedingungen der Bevölkerung
2. Organisation der Lebensmittelverteilung, des Handels und der Wohnungsfrage
3. Gründung von Krankenhäusern zur Betreuung der Stadtbewohner und aller
anderen bevölkerten Orte
4. Wiederherstellung der kommunalen Wirtschaft und gewerblicher Betriebe ... (*47)
Angesichts der samt ihrer Infrastruktur
weitgehend zerstörten Stadt, der Not der
Bevölkerung und des Mangels an Lebensmitteln
und allem Notwendigen eine schier unlösbare
Aufgabenstellung.
Aufbauund
Verkehrsaufgaben erhielt Willi Wagner
(parteilos).
Die
Sicherung
der
Brennstoffversorgung
übernahmen
die
Kohlenhändler Schwarz und Fürstenberg
(beide parteilos). (*48)
Die eingesetzten Verwaltungen bestanden aus
Kommunisten, Sozialdemokraten und Parteilosen,
die
nicht
mit
den
Nazis
zusammengearbeitet hatten. Sie mußten die
Wasser-, Strom- und Lebensmittelversorgung organisieren, die Trümmer von den Straßen räumen lassen und
Unterkünfte für die Bevölkerung beschaffen: Von 2.435 Häusern waren 65% unbewohnbar; die Rathenower
Bevölkerung zählte mit den zusätzlichen Flüchtlingen über 40.000 Personen. Außerdem mußte die Ordnung
wiederhergestellt werden, und dafür brauchte man vertrauenswürdige neue Polizisten anstelle der Nazipolizei. Die
Betriebe mußten zur Produktions-aufnahme hergerichtet werden. Die Bekämpfung von Seuchen und
Massenimpfungen gegen Ruhr und Typhus waren dringend. Kulturelle Aufgaben von der Wiederaufnahme des
Schulunterrichts (ab 1. Oktober 1945 wurde wieder unterrichtet) bis hin zu Veranstaltungen waren wichtig. (*49)
Die von der sowjetischen Kommandantur mit Kommandant Slepzow und seinem Stab (Politoffizier
Chodakowski, Kultur- und Schuloffizier Oberleutnant Leyner) eingesetzten Deutschen leisteten ihre schwere
Arbeit bis zur ersten Kommunalwahl im Frühjahr 1946 (*50) Man nannte sie später „Aktivisten der ersten Stunde”.
Die „mutigen Menschen, die vor der Macht des Faschismus nicht zurückschreckten” (Freimuth) und die lebend
das terroristische „Dritte Reich” überstanden hatten, wirkten für die neue Gesellschaft, die nach dem
verbrecherischen Hitlerregime geschaffen werden mußte. Darin bestand auch in der Bevölkerung wachsende
Übereinstimmung.
Rathenower Antifaschisten – „Aktivisten der ersten Stunde“ (Aufn. 1958)
Die ersten Maßnahmen galten der Linderung der Not. Es herrschten Hunger und Obdachlosigkeit, die Solidarität
der einfachen Menschen mußte erst wiedererweckt werden. Idealistischer Einsatz für materielle Sicherungen war
nötig. Der kam selbstverständlich von denen, die aktiv die Nazis bekämpft hatten, aber auch von den
desillusionierten Menschen, die den Nazis gefolgt waren und nun wiedergutmachen wollten.
Gemeinsam mit der Kommandantur erreichte die Stadt- und Landverwaltung Rathenow, daß unmittelbar nach dem
Ende der Kämpfe erste Lebensmittelrationen ausgegeben wurden. Die Bäcker - wie zum Beispiel Schwarzlose in
der Kleinen Hagenstraße - hatten von der Kommandantur Mehl erhalten. Nun gab es Brot: 200 Gramm pro Kopf
und Tag. Natürlich „zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel”. Jeder sucht nach Eßbarem, auch unter den
Trümmern und in den verlassenen Häusern und Wohnungen, da die Geflüchteten erst langsam zurückkamen.
Manche hatten im Heeresverpflegungsamt (im Norden der Stadt) bei den Plünderungen Lebensmittel erbeutet,
mancherorts (z.B. in Stechow) waren vor der nahenden Front noch Vorräte (Schmalzfleischkonserven) verteilt
worden. Die meisten Menschen hungerten. Eine tiefe Depression breitete sich aus. Kriminalität - Stehlen zum
Lebenserhalt - war normal. Wie konnte das Leben weitergehen?
Ende Mai/Anfang Juni verbreitete sich durch Mundpropaganda (oder war es ein öffentlicher Aushang?) die
Nachricht, daß es eine Filmvorführung gibt. Der Kulturoffizier hatte im einzig verbliebenen Kino „Bellevue“ einen
Projektor in den Mittelgang stellen lassen. Durch das zerschossene Dach kam Sonnenlicht, die Leinwand ließ nur
wenig erkennen. Es war Nachmittag, denn abends war Sperrstunde, also Ausgehverbot. Die Soldaten spielten eine
Filmrolle ab, danach kam die Pause zum Wechsel. Der Film war natürlich in russischer Sprache, die die paar
Dutzend Kinogänger – meist Jugendliche und Kinder – nicht verstanden. Aber die Handlung war schrecklich und
verständlich genug. Es ging um Kampf und Tod der sowjetischen Partisanin Soja Kosmodemjanskaja, die im ersten
Kriegsjahr gefangen, gefoltert und öffentlich erhängt wurde. Ein gezielt eingesetzter Film, der tiefe Folgen hatte:
Von Zurückweisung als Propaganda bis zur entsetzten Frage „Das haben deutsche Soldaten getan?“.
Besonders die Jugendlichen waren nach dem Verlust ihrer Nazi-”Ideale” entwurzelt, sie brauchten Hoffnung und
Ziele. Das war die Aufgabe der sich formierenden antifaschistischen Parteien, die im Juni 1945 zugelassen wurden.
Jugendarbeit
Die KPD Rathenow beauftragte mit Genehmigung des damaligen sowjetischen Stadtkommandanten Katsch
Martin Krüger und Willi Osterburg mit der Bildung eines antifaschistischen Jugendausschusses. Am 20.
Oktober 1945 fand ein erstes Jugendtreffen im Heim der Jahnschule mit 85 Jugendlichen statt. Beim zweiten
Heimabend wurde dann der Jugendausschuß vorgestellt, dem Mitglieder der KPD, der SPD und der CDU
(ebenfalls inzwischen zugelassen) angehörten. Ältere Genossen der beiden Arbeiterparteien unterstützten die
Jugendarbeit und arbeiteten mit: Fritz und Willi Wendt, Erich Giese, Ella Peters, Herbert Döblin, Gustav
Wieprecht jun., Otto Früngel und andere; auch Hausmeister Paul Ziem war aktiv. Als erste Aufgaben
übernahmen die Jugendlichen Ernteeinsätze zur restlosen Einbringung der Kartoffel- und Hackfruchternte als
Voraussetzung für die Bekämpfung des Hungers. Sie enttrümmerten in der Ruinenlandschaft Rathenows, sie
schlugen Holz zur Brennstoffversorgung ein und halfen beim Bahn- und Brückenbau, die Zerstörungen zu
beseitigen. Dem Jugendausschuß gelang es, 300 Jugendliche in den Betrieben und Verwaltungen in Arbeit zu
bringen. Er regte an, die Kinderspeisung zu organisieren und übernahm deren Betreuung im Waisenheim
Schleusenstraße. Das war ein Teil der Aktion „Rettet das Kind!”, und in diesem Sinne begann der Jugendausschuß
seine Arbeit - gemeinsam mit den antifaschistischen Parteien, dem gerade entstandenen Frauenausschuß, den
Ausschüssen der Arbeiterwohlfahrt und den Komitees der Opfer des Faschismus. In sieben
Weihnachtsveranstaltungen, die im Saal von Nitsche&Günther (dem späteren Speisesaal des VEB ROW)
stattfanden, wurden 7.500 Kinder bis 14 Jahre mit selbstgebackenen Honigkuchen aus selbst gekochtem
Zuckerrübensirup, mit Spielzeug und Kleidungsstücken beschert. Die Antifa-Jugend gestaltete die Feier mit
Liedern, dem Märchen „Hänsel und Gretel”, Volkstänzen und einem Puppentanz zu einem Erlebnis für die Kinder.
Zu den aktivsten Jugendlichen gehörten damals Ilse Alex, Helga Krüger, Helga Kellermann, Gisela Kleve,
Manfred Huck, Horst Kleinstäuber, Walter Dobberkau, Helga Braekow, Inge und Waltraud Piorkowski,
Manfred Schwarzer und andere. Um die Gewinnung von Neulehrern bemühte sich besonders Werner Früngel.
Die Abteilung Volksbildung der Stadtverwaltung unter Stadtrat Otto Weber, einem kommunistischen
Widerstandskämpfer, hatte am 20. August 1945 mit der Bekanntmachung Nr. 11 die Lehrerwerbung eingeleitet.
Die Antifa-Jugend warb besonders unter den jugendlichen Kriegsheimkehrern, die zum großen Teil nicht einmal
einen Beruf erlernt hatten, deren Elan aber erweckt war. Sie sollten die Nazilehrer ersetzen, die nicht durch die
Entnazifizierungskommissionen entlastet wurden. Es waren gewaltige Aufgaben, mit denen sich die bewußten
Jugendlichen konfrontiert sahen. Sie bewältigten sie mit der wachsenden Erfahrung, nicht alles, aber viel mehr
leisten zu können, als sie sich jemals zugetraut hatten.
Aus der Antifa-Jugend entwickelte sich Anfang 1946 die Freie Deutsche Jugend, die dann auch Träger des Sports
wurde. Die FDJ erwarb das Wassersportheim, das sich im Verfall befand, und baute es als Sportheim und
Jugendherberge aus.1946 bauten die Jugendlichen im Gebäude der Emil Busch AG (Bergstraße Ecke
Fabrikenstraße) Räume im Erdgeschoß zum Jugendheim um, in dem in einem Saal und Nebenräumen alle
Veranstaltungen der beiden FDJ-Ortsgruppen Nord und Süd stattfanden. Erster FDJ-Kreisvorsitzender war Willi
Osterburg. (*51)
Die untere Etage wurde das Rathenower Jugendheim der FDJ
In Neue Schleuse erhielt Ernst Meier den Auftrag zur Organisierung der Jugendarbeit. Dort wurde Ende 1945 mit
etwa 30 bis dahin schon aktiven Jugendlichen als organisatorische Form der Antifa-Jugendausschuß gegründet.
Auch hier entstand aus diesen Anfängen die FDJ, die ihrerseits 1946/47 Träger der Sportgemeinschaft Neue
Schleuse wurde.
Frauenarbeit
Niemand trägt die Lasten eines Krieges schwerer als die Frauen. Sie standen 1945 allein mit ihren Kindern. Die
Männer waren gefallen oder in Gefangenschaft. Auf ihnen lastete die Sorge ums Überleben der Familien. Sie
brauchten Zuspruch und Hilfe.
In Rathenow wurden Gertrud Grothe, Anna Götsch und Gertrud Klicks von der KPD beauftragt, einen
antifaschistischen kommunalen Frauenausschuß zu gründen. Emma Sydow, vor 1933 Landtagsabgeordnete,
unterstützte sie trotz ihres hohen Alters. Anna Götsch betrachtete die Aufgabe ganz praktisch, nämlich als
Organisation solidarischer Hilfe. Sie richtete in einem Gebäude der Emil Busch AG eine Nähstube ein. 40 bis 50
Frauen halfen ehrenamtlich - also ohne Bezahlung - in der Nähstube oder zu Hause an der eigenen Maschine. Die
Kommandantur stellte einen großen Posten Wehrmachtsuniformen zur Verfügung. Die Frauen arbeiteten sie um
zu Kinderbekleidung, Mänteln, Joppen usw. für 400 Kinder, die damit zu den erwähnten Weihnachtsfeiern beschert
wurden. Eine Umsiedlerin zeigte den Frauen das Verfahren zur Herstellung von Strohschuhen, die dann für
Bedürftige angefertigt wurden. Wanda Bradler und Gertrud Klicks arbeiteten in der Stadtverwaltung beim
Wohnungswesen mit, um die Obdachlosigkeit zu beseitigen. (*52)
Franz Archuth organisierte 1945 in Neue Schleuse die Bildung des antifaschistisch-demokratischen
Frauenausschusses. Innerhalb weniger Wochen fanden sich 60 bis 70 Frauen als Mitglieder. Anna Gehrmann
und Frida Bahlow organisierten die Frauenarbeit auf dem Lande. Liesel Kurth unterstützte sie. Später ging aus
den Frauenausschüssen der Demokratische Frauenbund Deutschlands hervor.
Die Bodenreform
Die landwirtschaftliche Struktur des Havellandes war bis 1945 geprägt durch den Großgrundbesitz zumeist adliger
Gutsbesitzer, der „ostelbischen Junker“, und den alt-eingesessenen Großbauern. Sie bewirtschafteten den
überwiegenden Teil der landwirtschaftlichen Nutzfläche des Kreises. Es gab wenige Großbauern (mit über 100 ha
Grundbesitz), aber überall auch Landwirte mit Klein- und Kleinstbetrieben. Die Saat war im letzten Kriegsjahr
zwar noch ausgebracht worden, war aber teilweise vernichtet durch den Vormarsch der sowjetischen Truppen,
durch die Gefechte und die fliehenden Wehrmachtseinheiten. Vor der herannahenden Front der Roten Armee
flohen die meisten Gutsbesitzer in ganzen Wagenkolonnen mit Wertgegenständen, Kleidung bis hin zu teuren
Möbeln. Zurück ließen sie ihre Verwalter oder Inspektoren mit der Verantwortung für das verbliebene gutsherrliche
Eigentum. Grund für die Flucht war die Angst, als Parteigänger oder Nutznießer der Nazis unter einer zu
erwartenden kommunistischen Besatzung zur Verantwortung gezogen zu werden. Nun stand die Ernte auf dem
Halm, und die Bevölkerung hungerte. Es gab also viele Gründe, schnell und wirksam zu handeln.
Am 3. September 1945 wurde der Aufruf zur Bodenreform in der Provinz Brandenburg veröffentlicht, am 6.
September erließ die Provinzialverwaltung die Verordnung dazu. Eine historische Aufgabe stand bevor:
„Junkerland in Bauernhand!” Zwei Fakten machten das Vorhaben dringend: Die Großgrundbesitzer hatten mit
Sack und Pack ihre Besitztümer verlassen, die Verantwortung zum Handeln war den verbliebenen Landarbeitern
und auswärtigen Helfern zu übertragen. Zum Zweiten waren Millionen Flüchtlinge und in zweiter Welle
Ausgesiedelte aus den östlichen Reichsgebieten sowie aus der Tschechoslowakei ins Land geströmt, die weder
Bleibe noch Arbeit hatten, zum großen Teil aber Bauern und Landarbeiter waren. Sie und die landlosen oder
landarmen Bauern und Tagelöhner der sowjetischen Besatzungszone sollten Land erhalten, sich selbst und die
Stadtbevölkerung ernähren. Die beiden Arbeiterparteien hatten eine Bodenreform immer in ihrem Programm; jetzt
konnte sie umgesetzt werden und damit das Bündnis mit den werktätigen Bauern gefestigt werden. (In den
Westzonen gab es ebenfalls den Ansatz zu einer entsprechenden Bodenreform, die aber am Widerstand der
Besatzungsmächte und der erstarkenden bürgerlichen Parteien scheiterte.)
Im Kreis Rathenow-Westhavelland wurden durch die gebildeten Bodenreformkommissionen 107
Großgrundbesitzer enteignet und damit 23.428 ha Boden überführt. Es wurden in den Dörfern 1.323
Neubauernwirtschaften sowie 3 Volksgüter (für Saatzuchtproduktion) geschaffen. Dazu kamen etwa 1000
Kleinstbetriebe mit Parzellen bis 0,5 ha, also mehr für gärtnerische Bewirtschaftung. 400 landarme Bauern
erhielten zusätzliches Land. 523 Umsiedler bekamen insgesamt 5.153 ha und dazu ein Grundstück zum Bau eines
Gehöftes. Damit wurden Existenzmöglichkeiten für heimatlos gewordene Pommern, Schlesier, Ostpreußen,
Sudetendeutsche, Bessarabier und andere geschaffen, um sie sofort zu integrieren. Der Anfang war trotzdem
schwer genug - zunächst ohne Vieh, Maschinen oder Werkzeuge. (Laut Stadtchronik betrug der Viehbestand am
1.1.1946: 112 Pferde, 91 Stück Rindvieh, 27 Schweine, 24 Schafe, 21 Ziegen, 217 Stück Hausgeflügel.) (*53)
Damit konnte die Bevölkerung nicht ernährt werden. Es herrschte Mangel an Vieh, da es zum Teil einfach
aufgegessen wurde, zu einem anderen Teil als Reparationen beschlagnahmt und in die Sowjetunion transportiert
wurde. Die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) mußte über die größten Schwierigkeiten
hinweghelfen.
Industrieeler Neuanfang
Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) erließ grundlegende Befehle zur Beschlagnahme
des Eigentums des faschistischen Staates und der Naziaktivisten und Kriegsverbrecher. Das betraf vor allem die
Rüstungsbetriebe und die Schlüsselindustrie. In Sachsen wurde 1946 durch Volksentscheid die endgültige
Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher legalisiert, das Ergebnis wurde in den anderen ostdeutschen Ländern
übernommen. In den Kreis- und Stadtverwaltungen wurden Sequesterkommissionen gebildet, die von der SMAD
kontrollierte wurden. (Sequester: Behördlich einstweilen eingesetzter Besitzer, Verwahrer oder Verwalter einer
Sache. )
Die wirtschaftlichen Machtpositionen der den Hitlerstaat stützenden und durch den II. Weltkrieg Maximalprofite
erzielenden Konzerne und Großbetriebe wurden auch in Rathenow und dem Havelland gebrochen: Die
Rüstungsbetriebe IG Farben - Werk Premnitz, ARADO-Flugzeugwerke Heidefeld, Emil Busch AG Rathenow,
Nitzsche & Günther Rathenow, Firma Baumgart Mögelin und andere. Die SMAD übergab das sequestierte
Eigentum – mit Ausnahme der zur Demontage (für Reparationen) vorgesehenen Betriebe wie die Emil Busch AG
– in die Hände der kommunalen Verwaltungen, die es als Treuhänder übernahmen.
Die Arbeiter begannen selbständig und zunächst ohne Lohn, die zerstörten Rathenower Betriebe nach brauchbaren
oder reparaturfähigen Maschinen abzusuchen. Sie setzten die Fertigung einfacher Bedarfsartikel für die
Bevölkerung in Gang. In den unzerstörten Fabriken stellten die Arbeiter die bisherige Rüstungsproduktion auf
zivile Güter um. Das Landratsamt und die Stadtverwaltung (Sequester) beauftragten zuverlässige Leute mit der
Leitung der Produktionsvorbereitungen, so z.B. die Genossen Scharnbeck und Gansow im Heidefelder Betrieb
des Naziaktivisten Baumgart, wo dann statt Rüstungsgütern Lampen, elektrische Geräte, Schraubstöcke,
Kugellager, Holzbearbeitungsmaschinen und Drehmaschinen für kommunale Betriebe und den Handel gefertigt
wurden.
Nach einem halben Jahr Enttrümmern, Aufräumungsarbeiten und Herrichten von Maschinen produzierte auch der
Rathenower optische Betrieb Nitzsche & Günther (später ROW) wieder. Begonnen hatten nach dem Aufruf der
Stadtverwaltung elf Männer und eine Frau mit dem ersten Arbeitseinsatz. Immer weitere kamen dazu (im
November 38, Dezember schon 51 Menschen), so daß die Belegschaft Anfang März 1946 bereits 85 Beschäftigte
zählte. Damit wurde aber die Massenarbeitslosigkeit nur geringfügig abgebaut; erst mit dem Aufbau und der
Erweiterung anderer Betriebe in Rathenow und dem Westhavelland wurde (etwa um 1950) Vollbeschäftigung
erreicht. Zu den „Aktivistinnen der ersten Stunde” in den ROW gehörten die Kolleginnen Kemnitz und
Jachmann. Die Produktion umfaßte anfangs Brillenfassungen und -gläser, später Trichinenmikroskope,
Kinoprojektionsobjektive, Spaltbildoptiken und Taschenaugenspiegel. Im Dezember 1945 konnte durch den Erlös
der Produktion erstmals Lohn in Höhe von 0,60 bis 0,70 Reichsmark pro Stunde gezahlt werden.
Im Oktober 1945 ging in Premnitz die Kunstseidenanlage wieder in Betrieb. Die Aktivkohle-Anlage nahm zum
gleichen Zeitpunkt in bescheidenem Umfang die Produktion von Medizinal- und Industriekohle auf. Im Sommer
1946 konnte auch die Schwefelkohlenstoff-Anlage behelfsmäßig in Betrieb genommen werden. (*54)
Die Beispiele mögen genügen. Zu den aktiv im Aufbau nach dem Krieg Engagierten gehören unter anderen
Gertrud Klicks, Arthur Bey, Karl Köpke, Paul Grade, Paul Hebs, Arthur Neumann, Franz Archuth, Paul
Herold, Dietrich Wagschal, Gustav Wieprecht, August Zielske und Karl Gehrmann. Diese Liste ist
unvollständig.
In Freiheit uneins - im KZ vereint
Lehren und Konsequenzen aus Niederlage und Leid
Kommunisten und Sozialdemokraten saßen unter dem faschistischen Terror gemeinsam in Konzentrationslagern
und Zuchthäusern. Sie, die - zuvor förmlich verfeindet - die Machtübernahme durch die Nazis nicht verhindern
konnten, wurden gemeinsam deren Opfer. Was hatten sie sich gegenseitig vorzuwerfen?
Die Kommunisten warfen den Sozialdemokraten die Burgfriedenspolitik der SPD mit den Herrschenden unter
dem Kaiser sowohl vor als auch im I. Weltkrieg vor. Sie verziehen ihnen nicht, die Novemberrevolution verraten
und blutig abgewürgt zu haben. Sie warfen ihnen vor, den revolutionären Weg der SPD verlassen zu haben und
den parlamentarischen Kampf („mit dem Stimmzettel”) als einzige Lösung zu verfolgen. Sie prangerten den
Revisionismus und Opportunismus der SPD-Führung und die Unterstützung der Wahl Hindenburgs zum
Reichspräsidenten an, der als Steigbügelhalter Hitlers galt. Sie nahmen der SPD übel, nicht in letzter Stunde in
Aktionseinheit mit der KPD den Faschismus verhindert zu haben.
Die Sozialdemokraten warfen den Kommunisten vor, aus der inneren Zerrissenheit der SPD mit der
Spartakusgruppe/Spartakusbund die Führung der Parteilinken übernommen zu haben, sich organisatorisch aus der
Partei gelöst zu haben und später große Teile der USPD in die KPD gezogen zu haben. Sie erhoben den Vorwurf,
nur auf die Revolution zu setzen und den parlamentarischen Kampf zuerst abgelehnt und später vernachlässigt zu
haben. Sie prangerten an, daß die KPD sich nicht nach den „demokratischen Spielregeln” verhielt und
revolutionäre Gewalt vorzog, z.B. bei den Kämpfen der Novemberrevolution 1918/19 und in der revolutio- nären
Nachkriegskrise bis 1923. Sie warfen ihnen vor, das Rätesystem (=Sowjets) nach russischem Muster in
Deutschland anzustreben, entgegen nationalen Traditionen. Sie verziehen ihnen nicht, daß sie die SPD als
Arbeiterverräter und sogar als Sozialfaschisten beschimpften.
Hinter den Gittern entstand in der Notgemeinschaft der Geprügelten und Gedemütigten die Erkenntnis, daß - wenn
man da jemals wieder herauskäme - die Kräfte der Arbeiterklasse gemeinsam kämpfen müßten, um eine
Wiederholung unmöglich zu machen. Gemeinsames Handeln in Aktionseinheit von Mitgliedern der KPD und der
SPD gab es bereits in antifaschistischen Widerstandsgruppen. Den Schritt zu einer einheitlichen Partei als Lehre
und Konsequenz zu gehen, war mutig. Die Rathenower Kommunisten und Sozialdemokraten beschritten den Weg
zunächst als Auseinandersetzung mit der eigenen jüngsten Vergangenheit im Sinne auch des Buchenwaldschwurs
der Überlebenden „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“ Zunächst in ihren eigenen, dann in gemeinsamen
Mitgliederversammlungen. Die erste gemeinsame fand - nach vielen Beratungen und Konferenzen aller Ebenen in Rathenow am 7. März 1946 im Speiseraum von Nitzsche & Günther (den späteren ROW) statt. Sie bahnte den
letzten Schritt zur Vereinigung an.
Im gesamten Kreis Westhavelland vereinten sich zur gleichen Zeit 74 Ortsgruppen der KPD (1.824 Mitglieder)
mit 47 Ortsgruppen der SPD (1.330 Mitglieder).
Am 24. März 1946 wurde die Vereinigung auf Kreisebene in einer Kreisdelegiertenkon-ferenz im Kino
„Bellevue” vor dem Haveltor vollzogen. Paritätische Vorsitzende wurden Otto Seeger (KPD) aus Plaue bei
Brandenburg und Kurt Bradler (SPD).
Die Vereinigung beider Parteien vollzog sich von unten nach oben und fand ihren Abschluß im
Vereinigungsparteitag vom 21./22. April 1946 in Berlin. (*55)
Der historisch notwendige und richtige Schritt der Bündelung aller sozialistischen Kräfte ergab gute
Voraussetzungen für eine demokratische, später sozialistische Gesellschaftsentwicklung. Wie sie genutzt wurde
und woran sie scheiterte, haben wir früheren SED-Mitglieder zu verantworten.
Im Folgenden wird versucht, vom Ende her Gründe für das Scheitern zu benennen.
„Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn:
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn!”
Die realsozialistische Vision ist gescheitert. Die da mit so viel Mut und Einsatz bis zur Selbstaufgabe für das Ziel
einer ausbeutungsfreien Gesellschaft antraten, fanden zu viel Widerstände. Der erbitterte Kampf gegen das Neue
im Osten wurde natürlich von den entmachteten Klassenkräften und ihren Anhängern im Innern und den immer
noch herrschenden Klassenkräften und ihren Eliten am Rhein geführt. Aber auch Schumachers SPD-Gefolgsleute
kämpften mit allen Mitteln z. B. gegen die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien. Dazu kam die Konsolidierung
stalinistischer Politikmethoden in der SED gegen Ende der 40-er Jahre als (auf Dauer untaugliche) Antwort auf
den von Churchill in den USA proklamierten Kalten Krieg („Fulton-Rede“ vom 5.3.1946; 1950 modifiziert in der
Truman-Doktrin vom „roll back“ des Kommunismus.) Dieser internationale Klassenkampf wurde durch die
Bundesregierung verschärft, indem Adenauer z.B. im „Rheinischen Merkur“ vom 20.6.1952 verkündete: „Es gibt
nur ein Deutschland, das Deutsche Bundesrepublik heißt, und was östlich der Elbe und Werra liegt, sind unerlöste
Provinzen. Die Aufgabe … (heißt) … nicht Wiedervereinigung … sondern Befreiung des Verlorenen.“ Der in
Westberlin gebildete „Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands“ hatte bereits im März
1952 ein „Sofortprogramm für Überleitungsmaßnahmen im Fall der Machtergreifung in der sowjetischen
Zone“ vorgelegt. Das war eine reale Gefahrensituation.
Zur Abwehr äußerer und innerer Feinde benötigte die junge DDR Militär und Geheimdienst, doch bald schon
wurde aus berechtigter Wachsamkeit verletzendes Mißtrauen. Jede politische oder ökonomische Niederlage und dafür sorgten außer den eigenen Fehlern und Fehlentscheidungen die westdeutschen Kapitalisten und ihre
radikal antikommunistischen Regierungen bis zum Niedergang der DDR - wurde mit der Verschärfung der
Maßnahmen zur Staatssicherheit beantwortet. Daher gelang es der SED - der den Staat dominierenden Partei –
zunehmend weniger, das Arbeitermilieu zu integrieren, also in das sozialistische Experiment wahrhaft
einzubeziehen. Wandlungsprozesse gab es nur partiell oder an der Oberfläche. Die Enttäuschung der einst
begeistert in eine neue Gesellschaft Aufgebrochenen nahm zu. Die Rationalität wirtschaftlicher Planung Voraussetzung der im letzten DDR-Abschnitt versuchten „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik” - scheiterte
eben auch an der nur „informellen Autonomie der Arbeiterschaft”, die - neben der unbeweglichen zentralen
Planung - auch durch die Aushandlungsprozesse bei Norm und Lohn (durch die Brigaden: „Ständige
Produktionsberatung”) letztendlich an den Rand des ökonomischen Repro-duktionsrisikos führte.
Innovationsschwäche war ebenso eine Folge wie das Tappen in die Hartwährungs-Schuldenfalle. (*56)
Es gab weitere Ursachen des Scheiterns der DDR, neben den ökonomischen gesellschaftliche. Hier seien nur
genannt: Die Unehrlichkeit von Funktionären und Leitern, die als einzige die Wahrheit zu kennen vorgaben – also
die Selbsttäuschung über die Realität; das Unmündighalten der Menschen mittels undurchschaubaren Agierens
von SED und staatlichen Institutionen; das Vorenthalten von Reisemöglichkeiten in die BRD und das westliche
Ausland; die unter Verschluß genommenen, alarmierenden Umweltdaten; die geradezu lächerliche Manie der
totalen Überwachung von Menschen und Ereignissen – also das zerstörende Mißtrauen.
Das Scheitern unseres Gesellschaftsentwurfs war auch das Scheitern Einzelner. Die
Stalinisierung machte aus Genossen Feinde. Exemplarisch stehen dafür das Schicksal von Paul Szillat (18881958) und Otto Weber (1889-1971).
Paul Szillat, der Rathenower Oberbürgermeister, von Beruf Feinmechaniker, seit 1910 SPD-Mitglied und
nach der Novemberrevolution Stadtverordneter in Berlin, hatte bereits 1932 ein Oberbürgermeisteramt inne - in
Brandenburg/Havel. Im preußischen Landtag trat er am 18. Mai 1933 als Fraktionsvorsitzender (und letzter SPDAbgeordneter) ans Rednerpult und begründete im Namen seiner Partei die Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes
für Preußen - worauf ihn der NSDAP-Abgeordnete Kube anbrüllte: „Sie haben es noch nicht begriffen, daß Ihre
Aufgabe zweierlei enthält: sich zu schämen und zu schweigen.” Szillat schwieg nicht, wurde im Juni 1933
verhaftet und in das KZ Oranienburg gebracht, von den dortigen SA-Schlägern mit Gejohle empfangen und
mißhandelt. Anfang August 1933 aus dem KZ entlassen, stand er fortan unter Polizeiaufsicht. Dennoch hielt er
mit Parteifreunden heimlich Verbindung und half verfolgten Genossen.
Nach der Befreiung vom Faschismus ernannte ihn die sowjetische Besatzungsmacht zunächst zum
stellvertretenden Landrat des Kreises Westhavelland,
dann zum Oberbürgermeister von Rathenow. Als
stellvertretender
Vorsitzender
des
SPDBezirksverbandes Brandenburg trat er, u.a. mit
Friedrich Ebert, Spiegel und Schöpflin, im Frühjahr
1946 für den Zusammenschluß beider Arbeiterparteien ein. Auf dem Vereinigungsparteitag selbst
wurde er in den SED-Parteivorstand gewählt. Im
Oktober 1946 errang er bei der Wahl ein Mandat im
brandenburgischen Landtag.
( Abb.: Paul Szillat auf einer Maikundgebung um
1948)
Szillat war ein Mann, der es gewohnt war,
ungeschminkt seine Meinung kundzutun. So kritisierte er ohne Scheu Übergriffe sowjetischer Stellen beim Aufbau
von Selbst-verwaltungsorganen, beklagte im Mai 1947 die andauernden Demontagen der Besat-zungsmacht, die
zu einer dramatischen Verschlechterung der Versorgungslage und damit der Stimmung der Bevölkerung
Ostdeutschlands führten. Mehrfach kritisierte er auch Stagnationserscheinungen innerhalb der SED. Als
unmöglich empfand er, daß „ein Teil unserer Genossen, und zwar beiderseitig, sich noch nicht daran gewöhnen
kann, sich gegenseitig als Parteigenossen zu betrachten, sondern immer noch die kleinliche Frage aufwirft ,Wo hat
Deine Wiege gestanden?’” Im September 1948 wurde die Zentrale Parteikontrollkommission gebildet, von der er
verlangte, daß nicht nur solche Genossen vertreten sein sollten, „die ideologische Kenntnisse der Partei besitzen,
sondern auch solche Umgangsformen haben, daß sie bei den Genossen ... nicht den Eindruck erwecken, als kämen
Kriminalkommissare.” Das waren unerhörte Worte. Doch Szillat wehrte sich vergeblich gegen die Umwandlung
der SED in eine „Partei neuen Typs” und blieb zuletzt ein einsamer Mahner im Parteivorstand.
Anfang Juni 1950, schreibt Andreas Herbst, bestätigte man ihm eine gute kommunalpolitische Arbeit, bemängelte
aber seine politische Einstellung, „da er sich noch nicht entschieden von der alten Linie der Sozialdemokratie vor
1933 gelöst hat.” Er sollte durch intensive Parteischulung auf den richtigen Kurs geführt werden. Der SEDKreisvorstand Rathenow-Westhavelland urteilte schärfer: „Genosse Szillat ist ein Genosse, der seine
Verwaltungsarbeit vor die der Partei stellt... Bei der Abstimmung im Sekretariat über die Teilnahme am
KPdSU(B)-Zirkel führender Genossen enthielt er sich der Stimme. ... Seine Entwicklung ist abgeschlossen und
entspricht einem Genossen mit starken Tendenzen zum Sozial-demokratismus.”
Die politische Verurteilung führte zu direkten Angriffen in der „Märkischen Volksstimme” am 22. Juni 1950:
„Objektivismus und Sozialdemokratismus in Rathenow”. Am nächsten Tag sollte das Stadtparlament zur
turnusmäßigen Sitzung zusammentreten. Das wurde verhindert. Die „Rathenower Nachrichten – Informationsblatt
des Stadtkreises Rathenow“ schoben am 24.(!) Juni 1950 eine Meldung ein: „Aus verwaltungstechnischen
Gründen wird die auf Freitag, den 23. Juni 1950 angesetzte Stadtverordneten-Versammlung vertagt.“ Das hatte die
SED bewirkt, um Szillat am Wochenende auf der Kreisdelegiertenkonferenz der SED (24./25. Juni 1950) zu
demontieren. Die Grußadresse der Stadt an die Konferenz wurde wie üblich in den „Rathenower
Nachrichten“ veröffentlicht, aber schon nicht mehr vom Oberbürgermeister unterzeichnet, sondern mit
„Stadtverwaltung Rathenow“.
Die politische Hinrichtung Paul Szillats vollzog die SED-Kreisdelegiertenkonferenz Rathenow-Westhavelland
unter dem Motto „Kompromißlose Kritik stärkt die Partei”. Die Redner verurteilten das parteischädigende
Verhalten, eine optische Arbeiterin übernahm die Rolle der Antragstellerin: Ausschlußverfahren. Vorsichtige
Kritiker in der SED wurden mit inquisitorischen Fragen ruhig gestellt.
Nun sollte der Rathenower Oberbürgermeister kriminalisiert werden, um ihn als Stadtoberhaupt auszuschalten.
Am 27. Juni 1950 (fast auf den Tag genau 17 Jahre nach seiner Verschleppung ins KZ) wurde Paul Szillat
zusammen mit seinem Sohn Hans und anderen Kommunalfunktionären verhaftet wegen „schwerer
Wirtschaftsvergehen“. Nachgeschoben wurde der Vorwurf, Szillat hätte Goldreserven der Rathenower Optischen
Werke der sowjetischen Besatzungsmacht vorenthalten. Der brandenburgische Landtag hob die Immunität des 62Jährigen auf.
Anfang November 1950 wurden „wegen umfangreicher politischer Schädlingsarbeit, Agenten- und
Sabotagetätigkeit oder deren Unterstützung” folgende Genossen aus der SED ausgeschlossen: Paul und Hans
Szillat, Willi Weidland, Willi Häusler, Hermann Lübke, Wilhelm Winter, Heinz Ramlow, Georg Kroschinski,
Oswald Leuchner, Peter Ames, Otto Sommer und Karl Renzihausen.
Ein Jahr später, am 13. November 1951, erfolgte die Verurteilung von Paul und Hans Szillat zu acht bzw. vier
Jahren Zuchthaus. Der Prozeß war nicht öffentlich, die Presse berichtete nicht. Offensichtlich, weil alle Vorwürfe
an den Haaren herbeigezogen waren wie auch die Behauptung, Hans Szillat hätte versucht, Gold-Doublé in einem
Juweliergeschäft am Westberliner Bahnhof Zoo zu verkaufen. Der Belastungszeuge, der dies im Prozeß behauptet
hatte und damit die Anklage stützte, wurde später von der Ehefrau Szillats in Lübeck ermittelt und 1955 vom
Hamburger Landgericht wegen Meineides verurteilt.
Ende April 1956 erließ DDR-Präsident Wilhelm Pieck eine Amnestie. Paul Szillat wurde entlassen und verließ
die DDR, den Staat auch seiner früheren Hoffnung. Enttäuscht und zutiefst verletzt ging er nach Westberlin, wo er
knapp anderthalb Jahre später, im Januar 1958, verstarb.
1990 wurde er gemeinsam mit seinem Sohn durch die Schiedskommission des Rathenower PDS-Kreisvorstandes
politisch rehabilitiert. Die Schuld der SED konnte damit nicht abgetragen werden. Aber wir ehemaligen SEDMitglieder gestanden unsere Scham ein. Eines der Mitglieder der Schiedskommission war Willi Osterburg, damals
in der Stadtverwaltung unter Paul Szillat der Rathenower Kämmerer. Ihn hatte man vor der Aktion gegen den
Oberbürgermeister auf eine Parteischule geschickt. Als Entlastungszeuge, der er indirekt hätte sein können, wollte
man ihn beim Prozeß nicht haben. Er sorgte mit Heinz Schirrholz und anderen Genossen dafür, mit diesem bösen
Kapitel SED-Politik rückhaltlos abzurechnen. Hans Szillat nahm die Entschuldigung entgegen.
Die Kassation des Zuchthausurteils erfolgte im April 1992. (*57)
Quellen:
*46 „Im Kampf geboren – ein Beitrag zur Geschichte der Arbeiterbewegung im Kreis
Rathenow“ , herausgegeben von der Kreiskommission zur Erforschung der örtlichen
Arbeiterbewegung bei der Kreisleitung der SED Rathenow, Oktober 1976; S. 11
*47 Ebd. S. 11
*48 Dank Euch, Ihr Sowjetsoldaten!“, herausgegeben von der Kreiskommission zur
Erforschung der örtlichen Arbeiterbewegung bei der Kreisleitung der SED Rathenow
1975; S. 19
*49 Ebd. S. 21; Im Kampf geboren S. 19, 29 und 54, Rath. Heimatkalender 1973, S. 113
*50 Im Kampf geboren S. 11
*51 Ebd. S. 43
*52 Ebd. S. 50
*53 Ebd. S. 58/59
*54 Ebd. S. 65; Dank Euch... S. 21
*55 Im Kampf geboren S. 31
*56 Nach „Die vergessene Autonomie der Arbeiter. Eine Studie zum frühen Scheitern der
DDR am Beispiel der Neptun-Werft“, Karl Dietz Verlag
*57 Nach Andreas Herbst in „Neues Deutschland“ vom 10./11.11.2001
Otto Weber,
der einzige Rathenower Reichstagsabgeordnete während der Weimarer
Republik (1919-1933), war ein Arbeiter. Seine Lebensumstände – Armut und Ausbeutung –
hatten zu einer unerschütterlichen sozialistischen, kommunistischen Überzeugung geführt.
Warum wurde er dann in der DDR über die Jahrzehnte totgeschwiegen? Sehen wir uns sein
bewegtes Leben an.
Am 17. Februar 1889 wird Otto Weber in einer Rathenower Arbeiterfamilie geboren. Der
Volksschule folgt eine optische Lehre. Schon 1906 schließt er sich der Gewerkschaft an, und
1907 wird er – 18-jährig – Mitglied der SPD. Nach seiner Lehre arbeitet er in Berlin und ab
1914 kurze Zeit in Paris.
In Paris erlebt er den Ausbruch des I. Weltkrieges und wird als Angehöriger eines Feindstaates
interniert. Wegen einer hartnäckigen Krankheit schiebt man ihn in die Schweiz ab, die ihn 1917
nach Deutschland „austauscht“.
Otto Weber arbeitet als Hornarbeiter in einem der vielen Rathenower optischen Betriebe, d. h.
er fertigt Brillenfassungen aus Schildplatt. Der revolutionäre Heißsporn schließt sich dem
Spartakusbund an, den die mit der Burgfriedenspolitik der SPD-Führung unzufriedenen
Sozialdemokraten bilden. Hier trifft er auf Karl Gehrmann, mit dem er lange Zeit gemeinsam
im politischen Kampf stehen wird. Mit dem Beginn der Novemberrevolution 1918 gehören
beide zum Rathenower Arbeiter- und Soldatenrat, und 1919 gründen sie die örtliche KPD.
1924 wird Weber zum Stadtverordneten gewählt. Natürlich werden die Kommunisten von allen
anderen Parteien angefeindet – von den konservativen sowieso, und von der sozialdemokratischen als „Spalter“ und „Radikalinskis“ auch. Manches Redegefecht, von dem die
damaligen Zeitungen berichten, soll sie in der Öffentlichkeit herabsetzen. Sie sollen ins
gesellschaftliche Abseits gestellt werden. Man will sie als unglaubwürdig abstempeln. Aber das
gelingt nicht, von Wahl zu Wahl gewinnen sie mehr Stimmen.
In der Kommunistischen Partei toben jedoch Richtungskämpfe. 1925 wird das „Thälmann-sche
ZK“ gebildet, das bedeutet die Ausrichtung der Partei nach Moskauer Muster. Fast die gesamte
Ortsgruppe der Rathenower KPD gehört der linken Parteiopposition an. Aber Karl Gehrmann
schwenkt schon bald zur ZK-Mehrheit (Thälmann) über, so leitet Otto Weber die linke
Opposition.
Weber, der seit 1925 auch Mitglied des brandenburgischen Provinzialausschusses ist und ein
Jahr zuvor erfolglos für den Reichstag kandidiert hatte, rückt im Januar 1928 für einen
verstorbenen Abgeordneten ins höchste Parlament nach. In der KPD-Fraktion gehören vierzehn
Mandatsträger zur Gruppe der linken Kommunisten. Sie gelten als „Abweichler“. Das KPDZentralkomitee ersucht deshalb Otto Weber, sein Mandat niederzulegen. Der folgt der
Aufforderung nicht und wird im Februar 1928 aus der Partei ausgeschlossen. Den anderen der
Gruppe ergeht es ebenso, wenn sie nicht schon selbst aus der Kommunistischen Partei
ausgetreten sind.
Die 14 Linken sind nun fraktionslos. Sie organisieren sich reichsweit im April 1928 im
„Leninbund“. Otto Weber ist Mitbegründer und leitet in den folgenden Jahren die starke
Gruppe dieses Bundes in Rathenow. Seine politische Tätigkeit wird von der Politischen Polizei
mit Misstrauen beobachtet. Noch 1928 – der Reichstag wurde im Mai neu gewählt, Weber ist
ausgeschieden – wird er wegen Landfriedensbruchs angeklagt und zu 6 Monaten Gefängnis
verurteilt. Er war der verantwortliche Anmelder einer Demonstration gegen den Aufmarsch des
militaristischen „Stahlhelm“ in Rathenow, bei der es zu Ausschreitungen gekommen war. Nur
auf Grund einer Amnestie braucht er die Strafe nicht zu verbüßen.
Otto Weber wirkt weiter als Stadtverordneter. Im Leninbund/Linke Kommunisten und mit der
KPD gemeinsam kämpft er gegen den heraufziehenden Faschismus – ohne Erfolg. Sofort nach
der „Machtergreifung“ der Hitlerfaschisten am 30. Januar 1933 treffen die Leninbündler mit
Genossen der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) – einer linken Abspal-tung
der SPD – zusammen, um den Widerstand gegen die Nazis zu organisieren. Otto Weber nimmt
an einer illegalen Konferenz in Berlin mit etwa 20 Genossen, darunter Kurt Deutsch und
Heinrich Winkler, teil. In der Folgezeit bringen Kuriere Flugblätter nach Rathenow. Als
Deckadresse dient Otto Leppins Schneiderwerkstatt im F.-Ebert-Ring IV/4. Von hier aus wird
das eingehende Material an die Genossen zur Verteilung weitergegeben.
Zur Landtagswahl am 5. März 1933 kandidiert Otto Weber im hiesigen Wahlkreis auf dem
KPD-Listenplatz 1. Die KPD gewinnt trotz erbarmungsloser Verfolgung in Rathenow fast 1000
Stimmen mehr als zuvor – aber er wird das gewonnene Mandat nicht mehr wahrnehmen können.
Denn seit die Herrschenden Hitler am 30. Januar die Reichskanzlerschaft übertragen hatten,
tobt der offene Staatsterror. Am letzten Februartag 1933, unmittelbar nach der Reichstagsbrandprovokation, rollt die erste Verhaftungswelle. Otto Weber und weitere 13 kommunistische Funktionäre werden von der flugs gebildeten „Hilfspolizei“ aus SA, SS und
„Stahlhelm“ verhaftet. Im Polizeigefängnis, Berliner Str. 1-2, werden sie vier Monate gefangen
gehalten. Unter Folterungen zur Erpressung von „Geständnissen“; sogar mit einer
Scheinerschießung, versuchen die Faschisten, sie klein zu kriegen. Demütigungen und immer
wieder Prügel – die „Roten“ sind nicht zu brechen. Im Juni werden sie
„versuchsweise“ entlassen. Da sie ihre politische Arbeit fortsetzen und die KPD-Mitglieder neu
organisieren, wird die (vermutete) Leitung wieder verhaftet und in das seit dem Sommer
bestehende KZ Oranienburg verschleppt. Otto Weber kommt – aus unbekannten Gründen –
mit kurzer Haft im März davon.
Aber schon im April 1934 schlägt die Geheime Staatspolizei (Gestapo) zu: Festnahme, Einlieferung ins Amtsgerichtsgefängnis Rathenow, Anklage wegen Vorbereitung zum Hoch-verrat.
Seine Widerstandsgruppe hat Flugblätter angefertigt und verteilt. Der General-staatsanwalt
beim Kammergericht Berlin beschuldigt Otto Weber, dem Mitangeklagten Gustav Thiecke „um
die Jahreswende 1933/34 auf der Straße ein kleines Päckchen über-geben“ zu haben, in
welchem sich das „aus 8 Blättern bestehende Programm einer illegalen kommunistischen
Druckschrift ‚Rote Blätter’“ befunden habe. Viel mehr ist der Fünfergruppe nicht nachzuweisen.
Im August 1934 wird das Urteil gesprochen. Noch steht nicht die Todesstrafe auf Vorbereitung
zum Hochverrat; das folgt erst später. Otto Weber erhält 2 Jahre Gefängnis, die
„Rädelsführer“ Emil Schultze und Otto Rosin 3 bzw. 2 ½ Jahre Zuchthaus, Julius Hagenau und
Gustav Thiecke 2 bzw. 2 ¼ Jahre Gefängnis. Paul Nickel wird freigesprochen.
Nach seiner Entlassung 1936 arbeitet Weber in der Rathenower Optikbude von Willi Köppen
in der Jahnstr.10/11. Er klärt seine Kollegen über die Verbrechen der Nazis auf, sucht
Gleichgesinnte, debattiert mit aller Vorsicht über Wege zur Beendigung der faschistischen
Herrschaft, betreibt im Krieg Rundfunkagitation (Verbreitung der Nachrichten des Moskauer
Rundfunks und Radio London) und unterstützt u. a. französische Kriegsgefangene und
Zwangsarbeiter. Einem von ihnen verhilft er, wie sein Genosse Hermann Schmidt berichtet, zur
Flucht.
Als die Deutsche Wehrmacht unter den Schlägen der Sowjetarmee zurückgedrängt wird, soll
der „Ostwall“ sie aufhalten. Auch Otto Weber wird zur Zwangsarbeit gezogen und muß von
Juli bis Oktober 1944 Erdarbeiten verrichten; vermutlich an der Oder. Ihre Niederlage können
die Faschisten nicht verhindern.
Nach der Befreiung vom Hitlerfaschismus ernennt der sowjetische Stadtkommandant Otto
Weber zum Stadtrat und Leiter des Dezernats für Volksbildung. Er ist Vorsitzender des AntifaAusschusses und wird nach der Zulassung der Parteien im Juni 1945 zum Pol.-Leiter der
Rathenower KPD gewählt. Im April 1946 wird er bei der Vereinigung mit der SPD KoVorsitzender des paritätisch besetzten SED-Vorstandes der Stadt.
Im Oktober 1948 jedoch schließt das SED-Landesschiedsgericht Otto Weber „wegen starker
sektiererischer Tendenzen“ aus der Partei aus, da er sich zur Politik des Leninbundes von vor
1933 bekannte. Weber hatte sich gegen die Entwicklung zur „Partei neuen Typus“ gewandt. Als
„Trotzkist“ wirft man ihm „arbeiterfeindliche Einstellung“, „Opportunismus“ und
„Sowjetfeindlichkeit“ vor. Karl Gehrmanns Verwendung für Otto Weber durch eine positive
Stellungnahme bleibt wirkungslos. Weber wird alle Funktionen und sein Amt als Stadtrat los.
Seine politische Arbeit leistet der 59-Jährige nunmehr in der Vereinigung der Verfolgten des
Naziregimes (VVN). Er sammelt Material und schreibt über den antifaschistischen Wider-stand
in Rathenow/Westhavelland. 1965 erhält er die Medaille „Kämpfer gegen den Faschismus“,
aber sein Name kommt in den Veröffentlichungen nicht vor, sein Gesicht ist heute unbekannt.
Als Otto Weber 1971 in Rathenow stirbt, verwehrt ihm die SED die letzte Ehre. Auf dem
städtischen Friedhof gibt es einen Ehrenhain für die antifaschistischen Kämpfer, Gedenksteine
tragen deren Namen – aber Weber fehlt. Es ist an der Zeit, die Namen antifaschistischer
Persönlichkeiten nachzutragen, wie Otto Weber, Paul Szillat, August Froehlich.
Die aufgelassene Grabstelle Otto Webers auf dem Städtischen Friedhof
Quellen:
- Online-Datenbank: Reichstagsabgeordnete der Weimarer Republik http://www.zhfs
uni-koeln.de/biorab
- Reichstagshandbuch III. Wahlperiode 1924 Berlin 1925
- Verhandlungen des Reichstages, III. Wahlperiode 1924, Bände 394 und 422
- Deutsche Kommunisten, Biographisches Handbuch 1918 bis 1945; K. Dietz Verlag
- Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus, eine biographische Dokumentation, Düsseldorf 1994
- Mitglieder der Nationalversammlung und des Reichstages der Weimarer Republik, Gedenkbücher im Bundestag, Band III
- VVN-Unterlagen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs
- „Dem 40. Jahrestag der deutschen Novemberrevolution gewidmet“, Kommission
der Kreisleitung der SED Rathenow zur Erforschung der Geschichte der
Arbeiterbewegung 1958
- „Rathenower Zeitung“ vom 19.1.1929 u. a.