- Stefan Mueller

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- Stefan Mueller
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KULTUR
MONTAG, 26. AUGUST 2002
Ein gefundenes Fressen
Symmetrien
in Andeutungen
Zu gut konstruiert? Zoë Jennys neuer Roman «Ein schnelles Leben»
Für Zoë Jennys neues Buch
scheint es keinen Massstab zu
geben: die Kritiker schlugen einmütig mit dem Zweihänder zu.
Manch ein Leser dürfte zu einem andern Urteil kommen.
n einem der vielen Asterix-Bände, er
handelt von den Olympischen Spielen, taucht ein römischer Legionär
auf, ein Koloss mit finstrer Miene:
«Schlagdraufundschluss» mit Namen.
Dieser Mann hat mit Zoë Jennys jüngstem Roman «Ein schnelles Leben»
nichts zu tun. Der Name des Legionärs
passt indes zu den «Ereignissen» in den
Medien der letzten Tage. Als hätten einige Kritiker nur darauf gewartet, das
Buch zu verreissen – gar die Autorin zu
vernichten: «Nicht nur bei Jennys Romanfiguren wünscht man sich mehr
Substanz, man wünscht sie sich auch
bei der Autorin», schrieb Regula Freuler in der «SonntagsZeitung». Und der
spektive. Tatsächlich hat Zoë Jenny eine
moderne Version von «Romeo und Julia» vorgelegt. Eine Geschichte, in der
sich Ausländerfeindlichkeit und Erwachsenwerden kreuzen, bei der die
meisten Ereignisse voraussehbar sind;
so voraussehbar, wie wir das auch aus
erfolgreichen Kinoproduktionen kennen.
Die Liebesgeschichte von Ayse, einer
jungen Türkin aus wohlhabendem
Haus, und Christian, dessen Freunde
der rechtsradikalen Szene angehören,
ist mit vielen bekannten Bildern und
Metaphern ausgeschmückt – und liest
sich gerade deswegen ausnehmend
flüssig. Nein, allzu innovativ ist das
nicht, aber gut gemacht. Und wäre das
Pathos diesem Buch nicht immanent,
man würde der Geschichte Sterilität
vorwerfen. Zu gut konstruiert? Zu
leicht? Mainstream halt, erfolgversprechend also – wer in aller Welt hat denn
etwas anderes erwartet?
Am Massstab guter U-Literatur gemessen besteht «Ein schnelles Leben»
allemal, ja, man kann sich sogar die
hypothetische Frage stellen, welch ein
Jenny ist jung, noch
immer, sieht gut aus –
und ist reich geworden
Am Massstab guter
U-Literatur gemessen
besteht der Roman
Schriftsteller Feridun Zaimoglu fragte
sich (und die Leser) in «Facts»: «Wann
endlich werden aus den Frolleinwundern erwachsene Frauen?»
Sie ist jung, noch immer, sieht gut aus
– und reich ist sie geworden, die Zoë
Jenny! Das kann nicht mit rechten Dingen zugegangen sein, mit Literatur hat
das nichts zu tun . . . oder? Wenn eine
Autorin noch vor Erscheinen ihres neuen Buches «versenkt» wird, dann war
das Schiffchen wohl zu bunt. Für die einen ist das ein lustiges Spiel: Man stellt
jemand ganz hoch auf das Podest und
ruft der Menge zu: «Schaut nur, wie
toll! Grossartig, einmalig, unvergleichlich» usw. So jemanden zu gegebenem
Zeitpunkt wieder vom Sockel zu stos-
F OTO : K EY STO N E
Jubelgeschrei ausgebrochen wäre,
wenn dieses Buch unter anderem Namen mit einem ebenso hübschen Gesicht dazu erschienen wäre: «atmosphärisch!», «leicht und lustvoll», «aktuell, tragisch – glänzend gemacht!».
Das letzte Wort hat aber auch im Fall
Zoë Jenny die Leserschaft. Gut möglich, dass Sie schon ein besseres Buch
gelesen haben, ganz bestimmt aber haben Sie auch schon viele schlechtere
gelesen – wetten!?
«Ein schnelles Leben»? Eine «SoapOpera»?, ein «Konstrukt mit klebrigen
Nahtstellen»?, eine «ärgerliche Angelegenheit»?, eine «sentimentale Klamotte»? Das trifft alles zu – je nach Per-
Zoë Jenny: Ein schnelles Leben. Roman.
Aufbau-Verlag, Berlin 2002. 165 S.,
Fr. 30.60. – Lesung: Buchvernissage mit
Zoë Jenny im Theater Stadelhofen, Zürich.
Di, 3. September, 20.15 Uhr.
MARKUS BUNDI
I
Zoë Jenny Die Kritik hat gesprochen, jetzt kommen die Leser.
sen ist eine Lust – die grosse Fallhöhe
ermöglicht einen hörbaren (medialen)
Aufschrei. Kurz: Anhaltende Jubelgesänge, bis alle eingestimmt haben, danach Schlagdraufundschluss.
Der «grinsende Joker» hat gut lachen
59. Filmfestspiele Venedig Direktor Moritz de Hadeln setzt auf europäisches und amerikanisches Kino
Erstaunlich, was der erst im
März dieses Jahres ins Amt
gewählte Mostra-Direktor Moritz
de Hadeln in Venedig zustande
gebracht hat. Neben einem
maximalen Star-Aufgebot sind
an den 59. Filmfestspielen auch
riskantere Werke willkommen.
zia 59») wird eine wahre Flutwelle an
Stars am Lido angespült: Nicole Kidman macht einmal mehr ihre Aufwartung («The Hours»). Tom Hanks
kommt mit «American Beauty»-Regisseur Sam Mendes («Road to Perdition»). Catherine Deneuve («Au plus
près du Paradis») und Julianne Moore
(«Far from Heaven») stehen ebenfalls
auf der Gästeliste. Und zur lange erwarteten Frida-Kahlo-Verfilmung von Julie
Taymor, der als Eröffnungsfilm programmiert ist, werden Salma Hayek
und Antonio Banderas erwartet.
HANS JÜRG ZINSLI
N
och im Frühling dieses Jahres
war die Mostra ein Schiff ohne
Steuermann. Nachdem Direktor Alberto Barbera Anfang Jahr aus
Protest gegen die immer aufsässigere
Regierung Berlusconi den Bettel hingeschmissen hatte, wähnte man die 59.
Filmfestspiele am Rande des Abgrunds.
Umso grösser die Überraschung, als
im März der Schweizer Moritz de Hadeln, langjähriger Berlinale- und zuvor
Locarno-Direktor, das Zepter am Lido
übernahm. Italien war baff, Frankreich
lachte sich ins Fäustchen, und
Deutschland hielt mit Häme nicht zurück und mokierte sich über den «grinsenden Joker», der als «Zirkusdirektor
für Berlusconi» amten sollte. Etwas
vorschnell, wie sich zeigen sollte.
Die Kritiker Lügen gestraft
Zum ersten Mal in der 59-jährigen
Geschichte der Mostra steht ihr ein
Nicht-Italiener vor. Moritz de Hadeln
ist ein Mann, dem man ausgezeichnete
Managerqualitäten nachsagt, was der
chaotisch organisierten Mostra nur gut
tun kann. Er ist aber auch ein tapsiges
«Schlossgespenst», das nach 22 Jahren
in Berlin unsanft abgesägt wurde und
Eröffnungsfilm «Frida» von Julie Taymor.
dem man in Sachen italienisches Kino
wenig zutraute. Jedoch: in letzterem
Punkt hat de Hadeln seine Kritiker bereits Lügen gestraft. Mit «Between
Strangers» hat er einen Film von Sophia Lorens Sohn Edoardo Ponti (mit
der Mama in der Hauptrolle) eingeladen; erstmals nach zwanzig Jahren soll
die Filmdiva wieder nach Venedig kommen. Zudem figurieren im offiziellen
Wettbewerb drei italienische Filme, die
Retrospektive ist Michelangelo Antonioni zugedacht. Die italienische Volksseele ist beruhigt.
Sehen lassen kann sich aber auch,
was de Hadeln in nur vier Monaten für
die drei Programm-Schwergewichte
aus dem Boden gestampft hat. Von Abbau ist nichts zu spüren, im Gegenteil:
F OTO : I M AG E - N E T
der Schweizer hat den erst letztes Jahr
ins Leben gerufenen Zweitwettbewerb
namens «Cinema del Presente»
zur hochkarätigen «Contocorrente»Schau aufgewertet und mit Werken von
Steven Soderbergh («Full Frontal»),
Lukas Moodysson («Lilja 4-ever») und
Claire Denis («Vendredi Soir») bestückt.
Eine Flutwelle an Stars
Die klingenden Namen sind indes
mit ein Grund, dass das asiatische Kino
dieses Jahr nur schwach, das südamerikanische Kino gar nicht vertreten ist.
De Hadeln setzt – im Gegensatz zu seinem Vorgänger Barbera – vermehrt auf
europäisches und amerikanisches Kino. Im offiziellen Wettbewerb («Vene-
Kollektives zum 11. September
Dass de Hadeln nicht nur auf Stars
setzt, sondern auch riskanteren Werken
gegenüber aufgeschlossen ist, beweist
er mit der Programmierung von zwei
überlangen Kollektivarbeiten: der Film
«Ten Minutes Older – The Cello» versammelt Beiträge von acht namhaften
westlichen Regisseuren (darunter Bernardo Bertulucci und Jean-Luc Godard), während sich in «11'09''01, September 11» Filmemacher wie Ken Loach, Mira Nair oder Sean Penn mit der
New Yorker Tragödie auseinander setzten. Die beiden Episodenfilme dürften
in ihrer grenzübergreifenden Symbolik
einmalig dastehen.
Mit zwei Trümpfen ist auch die
Schweiz am Lido vertreten: Bruno
Ganz spielt im Wettbewerbsfilm «La
forza del passato» von Piergiorgio Gay,
und der Dokumentarfilm «B comme
Béjart» des Lausanner Filmemachers
Marcel Schüpbach ist in der Sektion
«Eventi Speciali» programmiert.
59. Filmfestspiele Venedig: 29. August
bis 8. September.
Musikalische Begegnungen
Französisches in Lenzburg
DOMINIK SCHNETZER
D
ie «Chaconne des Scaramouches, Trivelins et Arlequins»
mochte vielleicht bei dem einen
oder anderen Einstellungen aus Gérard
Corbiaus Film «Le Roi danse» in Erinnerung rufen. Die Musik Jean Baptiste
Lullys jedenfalls verlangt nach Bildern:
Szenisches, der Pomp des höfischen
Dekors, die schillernden Akteure, tanzend die musikalischen Symmetrien
andeutend, gehören ins klanglich eröffnete Assoziationsfeld. Die «Chaconne»
kam unter anderen Nummern aus «Le
bourgeois gentilhomme», eine so genannte «Comédie-ballet», die als
fruchtbares Resultat der Zusammenarbeit von Lully und Molière entstanden
war, im Rahmen der Musikalischen Begegnungen Lenzburg aber als rein musikalische Darbietung aufs Parkett.
Das Kammerorchester 65 unter Cristoforo Spagnuolo reflektierte den szenischen Fokus in der Ouvertüre. Die
luftig-leuchtenden Akzente der Streicher, der rauschende Puls und die tänzerischen Elemente waren musikalisch
wohlgeformt, trugen Glanz und Farbe
gegen aussen. Eine Stimmigkeit, die
sich aber als wenig solide entpuppte.
Die Parameter kohärierten nur textuell,
im Kern blieb vieles unangetastet. Eine
gewisse Unverbindlichkeit in der strukturellen Verdeutlichung sowie Überlagerungen im dialogischen Ausdruck
waren unvermeidliche Äusserungen.
Konzentriert wurde der Klangkörper
von Stefan Müller am Cembalo. Auch
bei Francis Poulencs «Suite Française»
war der Cembalist expressiver Bezugspunkt, der mit klaren Linien und formaler Präzision Unstimmigkeiten des
Orchesters auffing, zwischendurch
auch Trägheiten auflöste. Formales verdeutlichen konnte Müller schliesslich
an der Orgel. Die sechs Stücke aus dem
«Livre d’Orgue» des Organisten Nicolas de Grigny zeugen von satztechnischer Strenge, aber auch von feinsinniger Ausdruckskunst, zu der sich Müller
hörbar hingezogen fühlte. Strukturklarheit schien jedoch vordergründig,
sogar bei Jehan Alains «Deuxieme Fantaisie»; die Musiksprache des 20. Jahrhunderts zeitigend klanglich verworrener, beklemmender, doch in der Symmetrie der Traditionen klar verankert.
Müller brachte die einnehmende Kraft,
die schon aus der Exposition strahlt,
auf den Punkt. Zwei Themen; das erste
davon gregorianisch einfach, das andere dämonischer, rauschender, gefolgt
von einer Durchführung von erschütternder Prägnanz, die mit der Wiederaufnahme und Verwebung der Themen
schliesst. All das kam eindeutig zur Geltung, als Übergang zu Poulencs g-mollKonzert für Orgel, Streichorchester
und Pauken, in welchem auch die Musiker unter Spagnuolo den Gehalt der
Partitur ausloteten, Innerlichkeit preisgaben, sich von Synergien leiten liessen
und das Geben und Nehmen von Orgel
und Orchester bis zum Schlussakkord
ausreizten.
IN KÜRZE
Gestorben Bond-Regisseur
Peter R. Hunt
Peter R. Hunt, der Regisseur einer ausgesprochenen Rarität unter den James-Bond-Filmen, ist tot. Der gebürtige Londoner starb im Alter von 77 Jahren in seinem Haus in Santa Monica
(Kalifornien). Hunt drehte 1969 den
Streifen «On Her Majesty’s Secret Service» mit George Lazenby als 007. (sda)
Ausgezeichnet Bruno Ganz
erhält Ehrenmedaille
Bruno Ganz erhält die Goldene Ehrenmedaille des Zürcher Regierungsrats.
Mit der Auszeichnung soll die Arbeit
des 61-Jährigen als Bühnen- und Filmschauspieler gewürdigt werden. Bekannt gemacht wurde die Preisverleihung gestern anlässlich der Zürcher
Premiere des Dokumentarfilms «Bruno
Ganz – Behind Me» von Norbert Wiedmer. (sda)