Die Ärztin Jenny De la Torre

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Die Ärztin Jenny De la Torre
Verschiedenes
KV-Blatt 01.2013
Zehnjähriges Stiftungsjubiläum
Die Ärztin Jenny De la Torre – eine, die nicht
genug kriegen kann?
„Jenny De la Torre? Die kann nie genug
kriegen“, hat der frühere Berliner Ärzte­
kammerpräsident Ellis Huber dereinst über „Deutschlands berühmteste
Obdachlosenärztin“ (O-Ton eines
Boule­vard-Blattes) gesagt. Und das war
keineswegs despektierlich gemeint, war
nicht Neid über wohlwollende Schlagzeilen, sondern Anerkennung für deren
Arbeit. Meinte Ungeduld und Unzufriedenheit einer Ärztin, die sich seit Jahrzehnten der ärztlichen Obdachlosenversorgung verschrieben hat und die
immer mehr wollte als nur die medizinische Sicht auf Patienten, die auf der
Straße leben. „Mit Arznei- und Verbandwechsel ist es hier nicht getan“, hat sie
einmal gesagt und: „Ich kann doch den
Leuten nicht sagen, dass ich nur für
ihre medizinische Versorgung zuständig bin.“
Das war 1999. Damals konnte Jenny
De la Torre freilich kaum mehr tun.
Ihre Praxis bestand aus zwei kleinen
Räumen im zugigen, dunklen Untergeschoss des Berliner Ostbahnhofs.
Damit hat sie sich nie abgefunden. Ihrer
Ungeduld war es zu danken, dass sie
schließlich größere Räume im benachbarten Postgebäude beziehen konnte.
Eine Kleiderkammer, eine Wärmestube
und Duschen gab es nun – und eine
Ahnung davon, was diese Frau antrieb:
die medizinische Obdachlosenversorgung aus schmuddeligen Ecken herausholen, Menschen, die auf der Straße
leben, nicht einfach als Fälle abtun, sondern ihnen wenigstens hier und jetzt
etwas von ihrer Würde zurückgeben.
Viele Jahre hat sie es gemeinsam mit
der Ärztekammer-Tochtergesellschaft
MUT gGmbH getan, dann auf eigene
Faust, weil die Stundenzahl ihrer
Stelle damals reduziert wurde. Dieser Tage gab es wieder Schlagzeilen
um sie: „Zehn Jahre Jenny De-la-TorreStiftung“ hieß es im Dezember letzten Jahres. Eine eigene Stiftung und
seit 2006 ein ganzes Haus, in dem all
das für die medizinische und soziale
Obdach­losenbetreuung zur Verfügung
steht, was gebraucht wird. Mehr Möglichkeiten, als sie jemals zuvor für ihre
Arbeit gehabt hat.
Die Stiftungssatzung beschreibt die
Ausgangslage nüchtern: „Obdach­
losigkeit ist in Berlin zum sozialen
­Problem geworden. Nach offiziellen
Angaben leben rund 10.000 Menschen
ohne festen Wohnsitz in der Hauptstadt.
Die Dunkelziffer ist um vieles höher. Mit
zunehmender Dauer der Obdachlosigkeit verschlimmert sich der Gesundheitszustand von mittellosen Bürgern
ohne festen Wohnsitz dramatisch. Die
Notwendigkeit einer niedrigschwelligen,
bedürfnisnahen und unbürokratischen
medizinischen Versorgung dieser Menschen ist heute unbestritten.“
In einer der Festreden zum zehnjährigen Bestehen der „Jenny-De-la-TorreStiftung“ ist vor diesem Hintergrund
auch von Maßstäben die Rede, die die
aus Peru stammende, jetzt 58-jährige
Ärztin gesetzt hat. Große Worte? Wer
Jenny De la Torre kennt, weiß, dass sie
die nicht mag. Aber sie hat auch dazugelernt: Man muss sich bemerkbar
machen, um etwas zu erreichen. Und
da hilft auch die Macht der Medien,
wie etwa eine Reportage in der ZEIT, in
der Jenny De la Torre zur „Ärztin der
­Ungeduschten“ erhoben wurde.
Foto: Schlitt
Von Reinhold Schlitt
Dinge tun, mit denen der Staat längst
überfordert ist
So sehen es auch die anderen Hilfsorganisationen, ihr ehemaliger Arbeitgeber MUT gGmbH ebenso wie die Diakonie oder der Caritasverband, die sich
um wohnungslose Menschen kümmern.
Sie übernehmen Aufgaben, mit denen
der Staat längst überfordert ist. Und
irgendwie schaffen sie es immer wieder,
auch Ärzte, Zahnärzte und Psychologen
für wenig Geld in ihre Arbeit einzubinden, mal mehr, mal weniger erfolgreich.
Erfolg heißt hier schon Regelmäßigkeit
– und wenn es gut geht, auch die Überführung von Patienten in die normale,
reguläre Versorgung einer Arzt- oder
Zahnarztpraxis.
Ihre Konzepte sind anspruchsvoll, werden an festen Standorten der Obdachlosenpraxen umgesetzt oder auch in der
aufsuchenden Betreuung, etwa mit dem
Caritas-Arztmobil oder dem Kälte­bus
der Diakonie: Mit einem medizinischen,
sozialen und psychologischen Versorgungsangebot soll der Not von Obdachlosen begegnet und der Versuch unternommen werden, sie an eine geregelte
Versorgung heranzuführen; ein wichtiger Baustein für die weitere Reintegration, wie die Fachleute sagen.
Ärztin, Sozialarbeiterin und „Apothekerin“ im Dienste obdachloser Patienten –
so kennen sie viele: Dr. Jenny De la Torre,
hier im Gesundheitszentrum Pflugstraße
(Archivfoto).
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Verschiedenes
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Fortsetzung von Seite 33­
Das Wohlwollen der Medien
So war es beim Umzug vom Ostbahnhof in das benachbarte alte Post­
gebäude und das ist ihr auch mit dem
Domizil in der Pflugstraße in Mitte
gelungen. Und wohl nicht zufällig ist
2006 der Rundfunk Berlin-Brandenburg
(RBB) auf ihr damals neues Projekt in
der Pflugstraße aufmerksam geworden. In der quotenträchtigen Sendereihe „96 Stunden“ sollten rechtzeitig
vor dem Kälteeinbruch viele Fenster in
dem Gebäude ersetzt oder repariert
und eine Zahnarztpraxis eingerichtet
werden. Eine Aktion, die das Projekt in
der Nachbarschaft bekannter machte
und sowieso half, die finanzielle Last
des Ein- und Umbaus zu minimieren.
Dass die Unterstützer und Spender bis
weit über die Grenzen des RBB-Sendegebiets hinaus auf das Projekt aufmerksam wurden, freute besonders. So gab
es Beifall für einen Spender aus Quedlinburg in Sachsen-Anhalt, der einen
Zahnarzt-Behandlungsstuhl, Dentaltechnik und ein Röntgengerät zur Verfügung stellte, während Tischler-Azubis
eines Oberstufenzentrums Fenster­
rahmen schliffen und lackierten.
Heute arbeiten verschiedene Fachärzte,
ein Zahnarzt, ein Psychologe und ein
Jurist mit, es gibt eine Kleiderkammer
und einen ansprechenden Raum, in
dem warme Getränke und kleine Mahlzeiten angeboten werden. Der Betrieb
wird durch ehrenamtliche Helferinnen
und Helfer aufrechterhalten. Anders
wäre das Haus auch gar nicht zu finanzieren, denn die Stiftung lebt fast nur
von Spenden und Sonderzuweisungen.
Und wenn Jenny De la Torre mal wieder
mit einem Preis geehrt wird, dann fließt
auch dieses Geld in die Arbeit ihres
Gesundheitszentrums. Im Oktober 2011
wurde sie beispielsweise für ihr damals
16-jähriges Engagement in der Obdachlosenbetreuung mit dem CharityAward
von Springer-Medizin ausgezeichnet,
verbunden mit einem Medienpaket im
Wert von 100.000 Euro und einem Barscheck über 50.000 Euro. Geld, das hilft,
die anspruchsvolle Arbeit zu finanzie-
ren. Aber für die Ärztin ist es manchmal auch mehr: „Die Verleihung solcher
Preise an unsere Stiftung ist eine Geste
der Gesellschaft, dass bürgerliches
Engagement anerkannt wird.“
Wofür es sich lohnt, an der eigenen
Genesung mitzuarbeiten
Das medizinische und soziale Angebot der Hilfsorganisatio­nen hat sich
in Berlin und im Umland bei Menschen, die auf der Straße leben, zwar
schon lange herumgesprochen. Doch
das allein ist für die Ärzte und Sozialarbeiter kein Garant, dass sie es auch
wahrnehmen – allzumal das Angebot
der medizinischen Hilfe. Bereits vor
12 Jahren zitierte das Deutsche Ärzteblatt Jenny De la Torre: „Diese Menschen haben Angst vor Ärzten und weißen Kitteln, sie wollen nicht mehr zu
uns. Also müssen wir auf sie zugehen.“
Zu oft hätten Obdachlose schlechte
Erfahrungen gemacht, seien gedemütigt worden und spürten, in „normalen“
Arztpraxen nicht gern gesehen zu sein.
Doch was wiegt schwerer? Ein ramponiertes Selbstbewusstsein oder das
Schamgefühl, das Menschen nicht deswegen ablegen, weil sie auf der Straße
leben? Sooft man mit der Ärztin spricht:
Immer und immer wieder kommt sie
darauf zurück, will sie für diese besondere Situation sensibilisieren. Übrigens
auch vor Medizin­studenten im 5. und
6. Semester an der Berliner HumboldtUniversität. Mitarbeiterinnen des dortigen Instituts für Sozialmedizin und
Epidemio­logie hatten damals, 1998, die
Idee, die Studenten mit der Obdachlosenärztin zusammenzubringen. So
sollten die angehenden Ärzte etwas
über jene Patien­tengruppen erfahren,
die durch ihre extremen Lebensbedingungen schneller als andere Menschen
erkranken. „Den Studenten wurden
dabei Krankheitsbilder vorgestellt, die
unter den Paradefällen in der Uniklinik
so gut wie nicht vorkommen“, wurde
die stellvertretende Lehrbeauftragte des
Instituts, Jaqueline Müller-Nordhorn,
damals zitiert. Die Seminare fanden
freitagnachmittags in der damaligen
Praxis von De la Torre am Ostbahnhof
statt.
Damals wie heute gilt für Jenny De la
Torre: „Wir müssen gemeinsam nach
Punkten und Zielen suchen, an denen
sich der Patient festhalten kann. Es
muss etwas geben, für das es sich lohnt,
die Genesung selbst zu wollen und an
ihr mitzuarbeiten.“
Der Weg der Jenny De la Torre
Jenny De la Torre widmete sich erstmals 1992/1993 in Not geratenen schwangeren Frauen. Ab 1994 war sie dann zunächst nebenamtlich, später ganztags in der
Obdachlosenpraxis der MUT gGmbH der Berliner Ärztekammer tätig. Sie arbeitete u. a. als Ärztin in der Obdachlosenpraxis im Ostbahnhof, die 1999 in das direkt
neben dem Ostbahnhof gelegene alte Postgebäude umzog, wo es größere Räume
und bessere Betreuungsmöglichkeiten für Menschen ohne festen Wohnsitz gab.
2002 gründete sie die damals aus Spenden und Preisgeldern finanzierte „Jenny-dela-Torre-Stiftung“, die sich auch heute noch überwiegend aus Spenden finanziert.
Über die Stiftung bezog sie 2006 in der Pflugstraße in Mitte ein Haus, in dem sie
das Gesundheitszentrum der Stiftung mit Arzt- und Zahnarztpraxis, Suppenküche,
Kleiderkammer, Duschen usw. einrichtete.
Sie erhielt für ihre medizinische und soziale Betreuung von Menschen ohne festen
Wohnsitz zahlreiche Förderpreise sowie 1997 auch das Bundesverdienstkreuz.
Medien in Berlin kürten sie 2006 zur Berlinerin des Jahres.
red/-litt