Kolloquium Literatur und Schule, 04.11.03 Nick McDonell: Zwölf
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Kolloquium Literatur und Schule, 04.11.03 Nick McDonell: Zwölf
Kolloquium Literatur und Schule, 04.11.03 Nick McDonell: Zwölf. Köln: KIWI 2002. € 7.90 Im Anschluss an eine zögerlich beginnende, dann aber doch recht ausführliche Vorleserunde waren die Äußerungen im Blitzlicht eher beschreibend als unmittelbar wertend. Die Story sei „schnell erzählt“, die Lektüre sei faszinierend und packend gewesen. Das Buch, obgleich es literarisch nicht durchgängig überzeuge, biete dichte Szene und eindeutige und prägnante Bilder, dabei sei es auch desillusionierend. Das brutale Ende der Geschichte fanden die einen faszinierend, die anderen eher schockierend. „Zwölf“ erzählt die Geschichte des New Yorker Dealers Mike White. Er gehört, wie seine Kundschaft, ins Milieu verwöhnter weißer Highschool-Kids superreicher Eltern. Im Gegensatz zu seinen Kunden ist White Mike clean. Wo diese sich in Drogen-Exzesse stürzen, bleibt er beobachtend außen vor. Perspektiven hat er allerdings so wenig wie sie. In zumeist kurzen Kapiteln, die wie knappe Szenen aus Videoclips hintereinander geschnitten sind, wird uns ein umfangreiches Tableau von Personen präsentiert. In deren Leben wechseln Drogen, Liebe, Lifestyle-Gerede und Gewalt einander ab und überlagern sich. Es gibt keine Werte, keine Ziele, keine Inhalte. Das Credo heißt haben wollen. Die Geschichte, situiert in der Zeit „zwischen den Jahren“, läuft auf eine gigantische Party zum Jahreswechsel zu, die mit der neuen Drogen „Zwölf“ zelebriert werden soll. Diese Party, die alle zusammenführt, endet mit dem Amok-Lauf eines Jugendlichen, dem alle außer White Mike zum Opfer fallen. Im Gespräch hat uns die Perspektivlosigkeit der Schilderung immer wieder beschäftigt. Die Jugendlichen kennzeichnet der Überdruss an allem. Chancen, die sich für Beziehungen auftun, werden nicht genutzt. Vielmehr gebrauchen die Kids ihre Intelligenz, um Beziehungen zu zerstören. Nichts kann entstehen. Dabei sind die einzelnen Figuren durchaus unterschiedlich in dieses Kosmos eingebunden. White Mike, der Dealer, schien den einen sehr weit entfernt und kaum zugehörig. In der Darstellung seiner Einsamkeit sei eine starke literarische Stilisierung zu erkennen, die im Ganzen unglaubwürdig sei. Dieser Sicht wurde im Verlauf des Gesprächs verschiedentlich widersprochen. Immerhin, so der Einwand, erfahren wir etwas über seine Geschichte, den Tod der Mutter, und auch etwas über seine Motivation einerseits zu dealen und andererseits völlig abstinent zu leben, nämlich Macht zu haben, wenn anderen im Alkohol- oder Drogenrausch sind. Die Figur sei, so wurde argumentiert, geradezu paradigmatisch für die Leere, die uns entgegentrete, nämlich kalt durchschauend, nichts mehr suchend, an nichts mehr glaubend. Als eine Art Gegenpol zu White Mike erschien uns Jessica. Bei ihr fehlt jegliche Reflexion, jeglicher Horizont. Alles ist gezeichnet von brutaler Gewalt und einer obszönen, weil völlig entfremdeten Sexualität, verpackt in die noch kindliche Kuscheltierwelt einer Pubertierenden. Mit Ausnahme von Hunter sind alle Figuren durch diese Sinnleere gekennzeichnet. Blanker Materialismus, der alles Metaphysische außen vor lasse, trete uns entgegen. Darin sei der Text totalitär, weil es keine Ausnahme von diesem Lebensgefühl gebe: So schlecht ist die Welt, scheint er zu sagen, und das ist in gewisser Weise auch kitschig. Überhaupt habe die Machart des Textes etwas von einer „schnüffelnden Kamera“ und ziele stark auf Affekte. Kritisch wurde am Ende des Gesprächs auf das Nachwort verwiesen, in dem wir erfahren, dass White Mike weit entfernt im alten Europa nachdem alle Tod sind doch noch eine Perspektive zu entwickeln scheint. Das schien uns denn doch allzu messianisch und hat uns den Text nicht glaubwürdiger gemacht. Ein Text für die Schule? Das Interesse zu erfahren, wie 16-, 17-Jährige diesen Text lesen, war groß. Vermutet wurde, dass die Jugendlichen sich selbst so perspektivlos nicht beschreiben würden. Vermutet wurde auch, dass man von Elternseite wohl mit Einspruch zu rechnen habe. Trotz aller Einwände empfehlen wir das Buch. Im Kontext anderer Adoleszenzromane kann ein Zugriff auf diese Art von Erfahrungsschilderung gelingen, indem die Texte sich gegenseitig erhellen. hw