Johann Wolfangang Goethe: Willkommen und Abschied als Prosa

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Johann Wolfangang Goethe: Willkommen und Abschied als Prosa
Johann Wolfgang Goethe: Willkommen und Abschied als Prosa-Text
Ich schwang mich auf mein Pferd, ehe ich überhaupt darüber nachdachte, preschte ich mit
ihm in die rabenschwarze Nacht. Mein Herz schlug mir bis zum Halse, klopfte aufgeregt in
meiner Brust. Drängte mich dazu, immer schneller zu reiten, mein Pferd zur Höchstform
anzutreiben. Ich konnte es kaum erwarten meine Liebste endlich wieder zu sehen, sie in
meine Arme zu schließen und fest umfangen zu halten, bis zum nächsten Tage.
In der Ferne trohnten die Berge eingehüllt in ein schwarzes Kleid der Nacht, die Wege
gesäumt von Eichen im Nebelgewand, drohend wie Riesen standen sie da. Hunderte, tausende
Augen folgten mir, starrten mich aus den Gebüschen an, schienen mich mit ihren Blicken
voller Finsternis verschlingen zu wollen.
Dennoch war es nicht gänzlich dunkel, ein zaghafter Schein des Mondes erhellte meinen
Weg, lichtete die feuchten Nebelschwaden der Nacht. Der Wind pfiff mir eisig entgegen, ließ
mich frösteln. Aber dennoch behielt ich das Tempo bei, steuerte auf unseren Treffpunkt zu.
Selbst die Schatten der Nacht, die sich als Ungeheuer erhoben, konnten meinen Entschluss
nicht ins Wanken bringen, meinen Mut nicht ersticken. Denn mein Herz brannte, schlug
feurig gegen meine Brust, fieberte dem Treffen entgegen.
Endlich dann, nach Stunden, gar Tagen der Einsamkeit, erblickte ich ihr Gesicht und mein
Herz schlug nur für sie, allein für sie. Ihre zarte Röte, die sich auf ihre Wangen legte, als sie
mich erblickte. Diese ausdrucksstarken Augen voller Liebe, die allein mir galt!
Ich sprang von meinem treuen Pferde, eilte meiner Liebsten entgegen und schloss sie zärtlich
in meine Arme, drückte ihr einen saften, federleichten Kuss auf die rosigen Lippen, die vor
Kälte etwas blass waren, hielt sie fest bei mir, wollte sie nimmer gehen lassen.
Und doch war diese Zeit so kurz, verging wie im Fluge. Schon wenige Augenblicke später, so
kam es mir vor, wurde der Wald in ein feuriges Rot der aufgehenden Sonne getaucht.
Schmerz erfüllte mein Herz, als ich die ersten Sonnenstrahlen erblickte. Der Abschied
schnürte mir die Kehle zu. Waren mir doch nur so wenige Momente mit ihr vergönnt, so
wenige kostbare Momente der Zweisamkeit.
Schweren Herzens ließ ich sie stehen, lief zu meinem getreuen Pferde, blickte noch einmal zu
ihr. Sie sah mich nicht an, blickte zu Boden, dennoch wusste ich, dass sie weinte, sie der
Abschied genauso quälte wie mich, ja vielleicht noch schlimmer. Mein Herz sehnte sich
danach, sie wieder in meine Arme zu schließen und ihre Tränen hinfort zu küssen, doch die
Zeit eilte mit großen Schritten voran. Ich musste fort.
Mit einem letzten Blick auf meine Liebe schwang ich mich aufs Pferd und ritt langsamen
Schrittes davon. Die nassen Blicke aus ihren großen traurigen Augen auf meinem Rücken
spürend, wie sie mir folgten bis sie mich nicht mehr sehen konnte.
Seufzend trieb ich mein Pferd an, versuchte den betäubenden Schmerz aus meiner Brust zu
verbannen. Wie schön es auch war zu lieben und wie schön es auch war geliebt zu werden, so
war doch jener Abschied umso schmerzvoller, denn es war die erste Liebe.
Anna-Lina Döring, Klasse 10d

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