Woll`n Sie mich umbringen, Sie Armleuchter?!

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Woll`n Sie mich umbringen, Sie Armleuchter?!
„Woll’n Sie mich umbringen, Sie Armleuchter?!“,
schnauzte Horst den armen Werner an, der sich gleich
über die Lampenreste beugte und vor allem die Halterung untersuchte. Kopfschüttelnd richtete er sich langsam wieder auf.
„Unmöglich, so was gibt’s nicht!“, murmelte Werner
vor sich hin, und dann zu Horst: „Ich hab‘ keine Erklärung, tut mir Leid. Die Dinger sind absolut sicher. Noch
nie ist eins runtergekommen. Sieht aus, als ob ...“
„Als ob was ...?!“, brüllte Horst voller Ungeduld.
Werner wandte sich wieder der Lampe zu und deutete
auf die Halterung. „Ich weiß, es hört sich verrückt an
und ist eigentlich unmöglich. Aber an dieser Klemme
hier ist offensichtlich manipuliert worden.“
„Woll’n Sie etwa behaupten, da wäre einer raufgestiegen, um mir das Ding auf den Schädel zu knallen?!“,
tobte der Regisseur.
„Ich will gar nichts behaupten“, konterte Werner gefasst. „Nur so viel – das Ding ist wie alle anderen vor
rund zwei Jahren fachgerecht montiert worden und
hängt seitdem sicher und ohne Zwischenfall da oben an
seinem Platz. Ich kann mir das mit der Klemme beim
besten Willen nicht erklären. Ich ...“
„Dass mir heute Nacht sämtliche Scheinwerfer überprüft werden, und zwar gründlich!“, unterbrach ihn
Horst ruppig und zeigte mit dem Finger auf ihn. „Sie
sind mir dafür verantwortlich! Ich will nicht, dass wir
womöglich noch ‘nen halben Drehtag verlieren – wegen
einer Beerdigung.“
Dann stand er auf.
„Räumt das Zeug hier weg! – Fünf Minuten Pause!“,
rief er und verließ – immer noch sichtlich erregt und die
Tür hinter sich zuknallend – den Raum.
„‘Nen Doppelten!“, rief Horst der Bedienung zu,
kaum dass er die Studiokantine betreten hatte.
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„Cognac oder Grappa?“, fragte die Frau höflich, denn
sie kannte seine Trinkgewohnheiten.
„Jubi ... aber eiskalt!“
Die Bedienung, ein draller Hausfrauentyp in den
Fünfzigern, stellte das Glas vor ihn auf die Theke, während er einen kurzen Blick in den Raum warf, um zu
sehen, ob noch jemand da war. Aber er war allein. Dann
drehte er sich um und starrte auf das Glas. Es war leer.
„Soll das ‘n Witz sein? Jubi, hab‘ ich gesagt. Doppelt!“
Horst fühlte sich veräppelt.
„Aber ich habe doch grade eingeschenkt“, wunderte
sich die Frau. Doch sogleich überzog ein breites Lächeln ihr rundes Gesicht. „Ah, ich verstehe – noch einen! Hier ... bitte schön!“
Horst hob das Glas, betrachtete es kurz misstrauisch
und goss den Schnaps in sich hinein. Er war etwas irritiert. Hatte er nun einen oder zwei? – Quatsch! Das war
einer. Basta!
„Und jetzt noch einen, bitte!“
Er schüttete den Zweiten ebenfalls in sich hinein und
wandte sich zum Gehen. „Schreiben Sie die beiden auf
meine Rechnung!“, rief er ihr noch zu und ging zur Tür.
„Aber natürlich!“, lachte die Frau. „Drei Doppelte für
Herrn Becker.“
Horst hatte das nicht mehr mitbekommen. Die Sache
mit der verdammten Lampe ging ihm nicht aus dem
Kopf. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.
Wieder im Studio hastete er auf direktem Wege zu seinem Arbeitsplatz. Nur ja keine Zeit verlieren. Auf dem
Weg dorthin musste er plötzlich stolpern, konnte sich
nicht auf den Beinen halten und klatschte der Länge
nach bäuchlings auf den Boden.
Diejenigen, die den Vorfall beobachtet hatten, wären
am liebsten mit lautem Gelächter herausgeplatzt. Zu
komisch war das Bild des flach auf dem Boden liegen29
den Regisseurs. Aber der Respekt vor dem Meister hielt
sie zurück. So war hier und da nur ein unterdrücktes
Kichern zu hören.
Nach einem Moment peinlicher Verwirrung brachte
sich Horst mühsam wieder auf die Beine, lief ein paar
Schritte zurück und suchte den Boden ab – dort, wo es
passiert war. Aber er konnte die Ursache seines Stolperns nicht finden, kein Kabel, kein Werkzeugkasten –
gar nichts. Aber er war sich doch ganz sicher, dass er
über irgendetwas gestolpert war.
„Ok“, hatte sich Horst beruhigt, nachdem er seinen
Platz wieder eingenommen hatte, „dann drehen wir die
Szene gleich Montag als Erstes nach. Und jetzt weiter
mit der 85.“ Und zu Peter: „Sieh zu, dass deine ...“, er
beherrschte sich, „... dass deine Empfehlung Montagfrüh
auf der Matte steht, sonst kann sie den Job vergessen!“
Pause: andere Szene, anderes Licht, andere Kameraposition. Horst nutzte die Unterbrechung, um auch die letzten Tropfen aus der Flasche zu schütteln. Dann sah er
sich um, als wenn er jemand Bestimmten aus dem hektisch agierenden Haufen herauspicken wollte.
„He, du da ... ja du! Hol mir noch ‘ne Flasche von
dem Zeug hier!“
Der Duda, das war ich – Nick Wagner. Ich war so etwas wie der Letzte hier. Eigentlich war ich froh, endlich
diese Praktikantenstelle bekommen zu haben, nach den
zahlreichen vergeblichen Bewerbungen. Wahrscheinlich
war ich denen mit meinen fast fünfundzwanzig Jahren
für ein Praktikum schon zu alt. Mein Lebenslauf, den
ich jedes Mal mit einreichte, war ja auch eher der eines
Zugvogels und Lebenskünstlers als der eines strebsamen
Berufsanfängers. Das Abitur hatte ich geschmissen.
Immerhin hatte ich mir mit letzter Mühe noch die
Hochschulreife gerettet, sodass ich auf die Filmhoch30
schule hinarbeiten konnte. Das war mir wichtig, und
dafür war ich auch bereit, ausnahmsweise mal zu arbeiten – wenn man das, womit ich hier die Zeit absaß,
überhaupt so nennen konnte. Auch war ich um ständige
Präsenz bemüht und hatte bisher noch keinen Tag gefehlt – mit Ausnahme von vorgestern, da lag ich sterbenskrank im Bett.
Ich genoss meine Zeit hier. Ich hatte keine Verantwortung, hatte die Fähigkeit, anstrengenden Arbeiten
geschickt auszuweichen, und bekam doch alles mit, was
ich mitbekommen wollte. Ein interessierter Zuschauer
also ... mal wie heute hier im Studio oder beim Casting
oder beim Schnitt. Ich musste nur meine sechs Monate
durchbringen, ohne negativ aufzufallen.
Beim Schnitt saß ich besonders gern. Ich fand es immer beeindruckend, wie die Cutterin beim Ausmustern
der Bildszenen mit angelegtem Ton am Avid agierte:
Vorwärtsgang normal – die Akteure bewegten sich und
sprachen in Echtzeit, dann Slow Motion, oder kurz –
Slomo: Alle Bewegungen glitten in Zeitlupe dahin, die
Geräusche und Sprachen waren langsam und um Oktaven tiefer ... dann im Schnellgang rückwärts: extreme
Slapstickbewegungen und die Sprache wie Onkel Dagobert bei einem Wutanfall. Das Spielen mit der Zeit war
es, was mich so faszinierte. Sozusagen per Knopfdruck
bestimmte ich, ob sich ein Mensch oder eine Szene
normal, extrem schnell oder extrem langsam bewegte.
Besonders bei Slomoabläufen integrierte meine Phantasie mich selbst in die Szene hinein und zwar als ein in
Echtzeit agierender Teilnehmer innerhalb der extrem
langsam ablaufenden Umgebung. Schon als Kind hatte
mich das Phänomen Zeit fasziniert und meine Phantasie
angeregt. Mein Onkel hatte ein kleines Trickfilmatelier,
und jedes Mal, wenn ich ihn besuchte, durfte ich mich
neben ihn an den Schneidetisch setzen, wo er irgendeine
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Trickfilmszene kritisch begutachtete, ob der Bewegungsablauf im Ausdruck in Ordnung und rund war.
Eventuellen Fehlern konnte er nur auf den Grund gehen, indem er den Film einbildweise ablaufen ließ, also
nicht wie im Kino mit vierundzwanzig Bildern pro Sekunde, sondern eben vierundzwanzigmal langsamer.
So stellte ich mir schon damals vor, wie aufregend es
sein müsse, in diese Welt des extrem Langsamen eindringen und an ihr teilnehmen zu können. Ich genoss
die Vorstellung, wie ich als ein im Normaltempo Agierender meine in Slomo ablaufende Umgebung beherrschen würde.
Inzwischen hatte ich die neue Flasche aus der Kantine
geholt, wo Horst Becker ein Depot von einigen Dutzend angelegt hatte. Auf dem Weg zurück ins Studio
warf ich einen Blick auf das Etikett. Trittenheimer Apotheke. Kabinett. 8 % Alkohol. Na gut, dachte ich, immerhin ein leichter Wein mit nur geringen Neben- und
Nachwirkungen. Vom Wein verstand ich etwas. Auch
mein Vater bevorzugte diese leichten, fruchtigen MoselRieslinge. Und jedesmal, wenn er nach dem Abendessen
die zweite Flasche öffnete, meinte er vorsichtshalber
und herunterspielend erklären zu müssen, dass dieser
Wein ja kaum Alkohol hätte. Ich gönnte es ihm, denn er
erfreut sich noch heute bester Gesundheit. Auch hatte
er – dem Brauch der Vorväter folgend – von jedem
Geburtsjahrgang seiner Kinder einen ausreichenden
Flaschenvorrat angelegt, um dann z. B. bei späteren
Geburtstagen damit anstoßen zu können. Natürlich
musste er gelegentlich probieren, ob die Haltbarkeit
noch gewährleistet war. Und so kam es, dass im Laufe
der Zeit nur noch wenige Flaschen ihrer eigentlichen
Zweckbestimmung zugeführt werden konnten.
„Ihr Wein, Herr Becker!“, sagte ich artig und übergab
ihm die Flasche. Er riss sie mir wortlos aus der Hand,
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goss sich sofort ein Glas ein und schüttete es hinunter,
als hätte er stundenlang in praller Sonne Tennis gespielt.
Sein roter Kopf sah jedenfalls so aus. Dann klatschte er
in die Hände – für jedermann das unüberhörbare Signal
zum Dreh der nächsten Einstellung. Wir, das heißt die
anderen, drehten die Szene 85. Dann noch die 86 bis 90,
dazwischen einen Happen vom Catering, und endlich –
so kurz nach neun, das heißt nach zwölf Stunden im
Studio – verkündete der Regisseur erbarmungsvoll den
Drehschluss. Und Tschüss bis Montag.
Ich war wohl der Einzige, der sofort hätte gehen können. Jeder musste noch irgendetwas zu Ende bringen,
Eintragungen machen, Film aus der Cassette holen,
Lichtequipment zusammenpacken, abschminken und so
weiter. Aber ich wollte noch auf Güler warten. Sie war
dort für Script und Continuity zuständig. Ihre Aufgabe
bestand unter anderem darin, peinlichst darauf zu achten, dass die Anschlüsse von der einen zur nächsten
Einstellung stimmten. Zum Beispiel, dass ein Darsteller,
der das Glas in der rechten Hand hielt, es nach dem
Schnitt auch mit der rechten Hand abstellte und nicht
mit der linken. Oder dass einer, der links vom Senator
stand, im Gegenschnitt rechts von ihm im Bild war. Bei
unter großem Zeitdruck und daher oft schlampig runtergedrehten TV-Serien amerikanischer Prägung konnte
man häufig solche Continuity-Fehler ausmachen, wenn
man genau darauf achtete und nicht von der Handlung
abgelenkt war. Häufiges Beispiel: Da zündet sich einer
‘ne Zigarette an und – Schnitt – die Zigarette ist bereits
halb zuende geraucht.
Nach einiger Zeit war Güler fertig und wir verließen
das Studiogebäude. Wir gingen oft zusammen, denn wir
verstanden uns ganz gut und hatten ein Stück lang den
gleichen Weg, sie zur U-Bahn, ich zu meinem Apparte-
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ment – ein viel zu hoch gegriffenes Wort für das, worin
ich hauste.
Güler war ein nicht unattraktiver, irgendwie exotisch
wirkender Typ – klein, lange schwarze Haare und schöne große mandelförmige Augen. Ihre türkische Familie
lebte auch in der Stadt und war – wie sie mal erwähnte –
sehr traditionell eingestellt. Das war auch der Grund,
warum ich keine tiefergehende Beziehung mit ihr anstrebte, obwohl wir eigentlich ganz gut zusammen passten und uns wohl auch mochten. Mein Freund hatte mir
mal erzählt, wie nachhaltig unangenehm die männlichen
Verwandten eines türkischen Mädchens werden können,
wenn man in einer heißen Liebesnacht Versprechungen
ablässt, an die man sich am nächsten Morgen nicht
mehr erinnern mag. Diesen Stress wollte ich mir ersparen.
Es war noch nicht ganz dunkel und so beschlossen
wir, eine Abkürzung zu nehmen, um vielleicht noch Zeit
für ein gemeinsames Bier zu haben. Der Weg führte
durch einen bei Tag romantischen und bei gutem Wetter immer gut besuchten Park, der aber jetzt schon der
Nachtruhe überlassen war. Ein letzter Dackel wurde
Gassi geführt, ein Penner hatte auf einer Bank sein
Nachtlager aufgeschlagen – dann waren wir allein.
Güler würde diesen Weg nie allein gehen, aber meinen
Fähigkeiten als Beschützer schien sie zu vertrauen, wobei sie diese offenbar maßlos überschätzte. Ich war zwar
groß und sah wohl auch ganz kräftig aus. Aber ich war
beileibe keine Kämpfernatur und bin immer jeder Gewalt ausgewichen, ja ich verabscheute sie. Und sportlich
würde ich höchstens in der Disziplin Seitensprung einigermaßen erfolgreich sein können oder – besser gesagt
– wollen.
Es war still geworden im Park – und dunkel. Nur von
weitem hörten wir ein Gegröle, offenbar Folge irgend34
eines Alkoholexzesses. Das Grölen kam langsam näher.
Wir beschleunigten unsere Schritte. Im Licht der übernächsten Laterne tauchten plötzlich vier Gestalten auf,
Skinheads – die Vereinsfahne und Bierdosen schwenkend und noch einigermaßen sicher auf den Beinen.
Einer hatte einen Baseballschläger über seine Schulter
gelegt. Sie grölten irgendwelche Schlachtrufe.
Na klar, fiel es mir ein. Heute war Hansa Rostock bei
den Bayern. Das ging fünf zu null in die Hose. Da
musste Frust abgelassen werden.
Die Typen kamen näher und ich bekam ein mulmiges
Gefühl. Güler hatte Angst, sie umklammerte meinen
Arm. In das Gegröle mischten sich Naziparolen. Wie
ich das hasste! Ich war schon immer stocksauer, wenn
so einpaar irregeleitete Typen mit ihrer braunen Scheiße
den Ruf der ganzen Bevölkerung da drüben besudelten.
Inzwischen waren wir fast auf gleicher Höhe und
konnten ihre Gestalten im Schein der Laterne genau
erkennen. Umkehren war nicht mehr drin. Wenn sie
aggressiv wären, könnten sie uns – zumindest Güler –
leicht einholen. Also beschloss ich, möglichst cool und
sie nicht beachtend vorbeizugehen – in der Hoffnung,
sie wären zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
„Hey, du Arsch!“, brüllte der mit dem Baseballschläger, offenbar der Wortführer, zu uns herüber.
„Lass deine dreckigen Finger von der Kanakenbraut!“
Und ein anderer: „Die gehört uns!“
In ihrer dreckigen Lache hörte ich so etwas wie: „Platt
machen!“
Der mit dem Baseballschläger war zuerst bei uns, die
anderen folgten. In meiner grenzenlosen Angst schossen mir mehrere Strategien durch den Kopf. Flucht?
Zwecklos. Gegenwehr? Keine Chance bei eins zu vier.
Ich entschloss mich zur letzten Strategie – Deeskalation.
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