Friedrich von Schiller Wilhelm Tell

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Friedrich von Schiller Wilhelm Tell
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Friedrich von Schiller
Wilhelm Tell
Der Tellstoff bis zu Schillers Drama
Die sagenhafte Gestalt des Tell hat im Laufe der Jahrhunderte immer wieder eine
wechselnde Gestalt angenommen und ist ein Musterbeispiel dafür, wie sich wandelnde
geistige Strömungen einer Geschichte zum einen ständig einen neuen Zuschnitt geben, zum
anderen aber auch ihre ursprüngliche Fassung fast gänzlich verdunkeln können. Es ist
deshalb nicht leicht, den Verlauf der geschichtlichen und literarischen Tradition des Tellstoffs
bis zu Schillers Drama und darüber hinaus bis in die Moderne nachzuzeichnen. Hinzu
kommt, dass vom ersten Zeugnis an bis zu Schillers Drama stets zwei Handlungen
miteinander verknüpft sind:
• das Schicksal des Meisterschützen Tell und
• die Geschichte von der Schweizerischen Eidgenossenschaft.
Heute dürfte jedenfalls feststehen, dass die Geschichte des Wilhelm Tell in wesentlichen
Teilen einem internationalen Sagenstoff angehört. Es bleibt jedoch zu fragen, weshalb
ausgerechnet Tell sich als Schweizer Nationalheld durchgesetzt hat.
Zu einem sehr alten und internationalen Traditionsgut gehört die Sage von dem Schützen,
der durch einen Herrscher zum (Apfel-)Schuss gezwungen wird und sich hinterher durch
einen Pfeilschuss an seinem Bedrücker rächt. Es finden davon sowohl Spuren im Orient wie
in der abendländischen Sagenüberlieferung: Eigil, der in der germanischen „Thidrek-Saga"
durch König Nidung zum Meisterschuss gezwungen wird, oder die englischen
Balladenhelden William of Cloudesly und Robin Hood.
Die Fassung des dänischen Geschichtsschreibers Saxo Grammaticus1 (12. Jahrhundert) in
seiner „Historia Danorum Regum Heroumque" („Geschichte der Könige und Helden der
dänen“) kommt der uns bekannten Gestalt des Wilhelm Tell am nächsten. Es wird dort
berichtet, dass Tok(k)o, der sich seiner Treffsicherheit mit dem Bogen gerühmt hatte, auf
Befehl des Königs Harald Blaatand (Blauzahn) mit seinem Prahlen ernst machen und
seinem Sohn einen Apfel vom Kopf schießen musste. Er nahm, obwohl der erste Schuss
entscheiden sollte, drei Pfeile aus seinem Köcher. Nach dem erfolgreichen Treffer wurde er
vom König nach dem Zweck der beiden anderen Pfeile gefragt. Wenn sein Kind verletzt
worden wäre, hätten die beiden zusätzlichen Pfeile dem König gegolten, gab er zur Antwort.
Nachdem er auch auf einer halsbrecherischen Fahrt im Schneeschuhlaufen auch seine
Geschicklichkeit bewiesen hatte, schloss er sich einem Aufstand von Haralds Sohn Sweno an
und erschoss den König im Wald.
Als im 15. Jahrhundert das Interesse der Schweizer nach der eigenen Herkunft erwachte
und sich die Überzeugung von der nordischen Abstammung im Bewusstsein festsetzte,
gewann diese Sagenfassung besonderes Interesse (s. diese Reminiszenz in der Rütli –
Szene).
1
Gesta Danorum 10.7.1
Nec silentio implicandum, quod sequitur. Toko quidam, aliquamdiu regis stipendia meritus, officiis,
quibus commilitonum studia superabat, complures virtutum suarum hostes effecerat. Hic forte,
sermone inter convivas temulentius habito, tam copioso se sagittandi usu callere jactabat , ut
pomum quantumcumque exiguum baculo e distantia superpositum prima spiculi directione feriret .
Quae vox , primum obtrectantium auribus excepta , regis etiam auditum attigit. Sed mox principis
improbitas patris fiduciam ad filii periculum transtulit , dulcissimum vitae ejus pignus baculi loco
statui imperans, cui nisi promissionis auctor primo sagittae conatu pomum impositum excussisset ,
proprio capite inanis jactantiae poenas lueret . Urgebat imperium regis militem majora promissis
edere , alienae obtrectationis insidiis parum sobriae vocis jactum carpentibus . Itaque ex dictis
etiam non dictorum effectui obligabatur , evenitque, ut conatus suos ad id, quod minus
praesumebat, erigeret, et, quod parum professione coluerat, plenius experientia celebraret. Neque
enim solida virtus, tametsi detractionum laqueis implicata, justam animi fiduciam abjicere potuit.
Quin etiam eo certius, quo difficilius, experimentum accepit.
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In dem „WEISSEN BUCH" von Sarnen2 (1470-1472), das
neben Kopien wichtiger Verträge und Dokumente auch eine
Entstehungsgeschichte der Eidgenossenschaft bis ins 15.
Jahrhundert enthält, bleibt die Tell-Geschichte lediglich eine
Episode unter anderen (neben dem Schicksal Baumgartens,
Stauffachers und Melchtals). Die Befreiungstradition ist
gleichmäßig auf alle drei Waldstätte verteilt. Aus jedem
der drei Gebiete wird eine charakteristische Episode erzählt.
Die Sage von Tok(k)o ist aber ziemlich getreu in die neue
Örtlichkeit verpflanzt: nach Verweigerung des Grußes vor
dem Hut vollbringt der Held nun auch die zweite Tat, indem
er anstelle des Schneeschuhlaufens als Steuermann auf dem
Vierwaldstätter See das Boot des Landvogts durch das
Unwetter bringt, entflieht und seinen Bedrücker im Zuge
eines allgemeinen Aufstand erschießt. Der Chronist des
„Weißen Buches" steht ganz offensichtlich in der Tradition des
15. Jahrhunderts, die Schweden (Goten oder Hunnen) zu
Ahnen seines Bergvolkes zu machen (s. Schillers „Tell",
Der Rütli – Schwur
Rütliszene, II, 2, V. 1160 ff.). Zudem wird deutlich, dass der
Stich von Veith
Verfasser mit den Humanisten das allgemeine Bestreben teilt,
auf antike Stoffe zurückzugreifen und diese als Paradigma zur
Kompilation einzubeziehen. So hat ihm als antikes Erzählmodell die Geschichte des L.
Iunius Brutus, der zusammen mit Tarquinius Collatinus erster Konsul der Republik Rom
wurde, nachdem sie den letzten König, Tarquinius Superbus, vertrieben hatten, Pate
gestanden. Aber die Verbindung des römischen Konsuls mit dem nordischen Recken ist dem
Chronisten nicht ganz gelungen: die urspüngliche Prahlsucht des Meisterschützen und die
listige Verstellungskunst des antiken Freiheitshelden führen zu Widersprüchen im Charakter
Tells.
Das zweite fassbare Zeugnis, das den Befreiungskampf der Waldstätte in Verbindung mit
dem Schützen Wilhelm Tell schildert, ist das BUNDESLIED3 (1471). In den Strophen 3-7
wird dessen Geschichte in balladenhafter Kürze geschildert. Das Lied umfasst insgesamt 29
Strophen, wobei allerdings verschiedene formale und inhaltliche Merkmale (sprunghafte
Handlung, knappe Rede und Gegenrede etc.) der ersten neun Strophen die Vermutung
nahelegen, dass es sich hierbei um Teile eines älteren, nicht erhaltenen Tellenliedes
germanischer Herkunft handelt, das dem Bundeslied von einem unbekannten Verfasser
eingearbeitet wurde. Dies wird aber vor allem an der Gestalt des Tell selbst deutlich: er ist
ein unerschrockener, kühner Empörer, der sich, dem nordischen Tok(k)o gleich, dem
Herrscher direkt stellt. Der unmittelbare Anlass zum Befehl des ungewöhnlichen Schusses
scheint auch hier das Prahlen des Meisterschützen gewesen zu sein. Es fehlen hier noch die
durch Schillers Bearbeitung bekannten Motive, dass Tell dem Hut den Gruß verweigert, dass
er aus dem Schiff flüchtet und daraufhin den Landvogt erschießt. Nach der Aussage dieses
Bundesliedes wird dem Kanton Uri eine besondere Bedeutung in der
Befreiungsgeschichte der Schweiz zugewiesen. Das Lied verfolgt offensichtlich eine
politische Tendenz. Die nordische Sage wird geographisch in Uri neu lokalisiert und in den
entsprechenden historischen Zusammenhang gebracht. Wesentliche Teile der uns heute
bekannten Fassung der Tellsage fehlen allerdings darin.
Als dritte Hauptquelle für die Tellsgeschichte kann man die Chronik von Melchior Russ (Er
selber datiert sie auf das Jahr 1482) betrachten. Russ erwähnt das Tellenlied. Er beschreibt
ein neues Ereignis aus der Tell-Erzählung:
Tell habe sich auf dem Rütli bei seinen Landsleuten über den Apfelschuss und die grobe
2
Das „Weisse Buch von Sarnen" ist ein Urkundenbuch, das im Staatsarchiv des Kantons Obwalden
aufbewahrt wird. Es wurde vom Landschreiber Hans Schriber um 1470-1472 verfasst oder vielmehr
nach einer älteren Vorlage, die um 1420 entstanden sein dürfte, neue redigiert (Bruno Meyer,
„Weisses Buch und Wilhelm Tell", 1985, 3. Auflage, S. 21.
3
Nach http://www.tellmuseum.ch/deutsch/gesch_d.htm ist das „Alte Tellenlied, um 1477 nach dem
Burgunderkrieg entstanden. Es besinge das Werden und Wachsen der jungen Eidgenossenschaft.
Von Tell erzähle es nur den Apfelschuss, die Drohung des Vogtes für den Fall, dass der
Meisterschütze nicht treffen sollte und die Antwort Tells auf die Frage nach dem 2. Pfeil.
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Behandlung durch den Vogt beklagt. Er sei gefangen genommen und auf der Seefahrt ans
Ruder gestellt worden. Er habe den Sprung auf die Platte getan und von dort aus
den Vogt erschossen.
Man findet diese Erzählung auch auf einigen alten Stichen bildlich festgehalten.
Das „URNER TELLENSPIEL" (1512/1513), die erste dramatische Gestaltung des
Stoffes, stellt Tell, abweichend von der Geschichtsschreibung, zusammen mit Melchtal und
Stauffacher, als einen der drei Bundesgründer dar. Der unbekannte Dichter hat sowohl aus
dem Bundeslied als auch aus bereits bestehenden volkstümlichen Überlieferungen
geschöpft. Seine genaue Kenntnis der Urner Geographie lässt auch erkennen, weshalb im
Tell die Rolle des Freiheitshelden und des Bundesgründers zusammenfallen: der Dichter will
die hervorragende Rolle von Uri beim Zustandekommen des Bundes betonen.
Literaturgeschichtlich interessant ist das „TELLENSPIEL" auch deshalb, weil es das älteste
bekannte politische Drama der deutschen Literatur überhaupt ist.
Die geschichtliche Existenz des Schützen Tell wird heute kaum noch angenommen.
Vor allem die mit jeder Fassung wechselnden Namen weisen deutlich darauf hin, dass die
Figur des Tell aus der internationalen Sagenwelt kommt. Doch bleibt die Frage, weshalb die
Tellfigur ausgerechnet am Ende des 15. Jahrhunderts als Freiheitsheld in der historischen
Überlieferung auftritt.
Die Antwort liegt wohl in den geschichtlichen Verhältnissen. Die Eidgenossen, die sich
seit dem 13. Jahrhundert immer mehr als gefürchtetes Kriegs- und Söldnervolk hervorgetan
hatten, errangen im 15. Jahrhundert auf dem Schlachtfeld solche Erfolge, dass das Land zu
einem ausschlaggebenden Faktor im europäischen Kräftespiel wurde. Wohl am
berühmtesten sind die Siege gegen den mächtigen Burgunderherzog Karl den Kühnen
geworden (1476 Grandson, Murten; 1477 Nancy), der seinen Plan, ein Reich zu gründen,
mit dem Leben bezahlen musste. Diese politische Entwicklung förderte das
Zusammengehörigkeitsgefühl der inzwischen auch gebietsmäßig erweiterten
Eidgenossenschaft. Es bildete sich ein Nationalgefühl heraus, das sich in einer
selbstbewussten Schilderung der Staatsgeschichte niederschlug. Hier fand also die nordische
Wandersage in ihrer humanistischen Ausschmückung ihren
Platz, der Meisterschütze wurde zum schweizerischen
Freiheitshelden Wilhelm Tell.
Auch in dem „CHRONICON HELVETICUM" des Ägidius
Tschudi, das um die Mitte des 16. Jahrhunderts entstanden
ist, ist Tell einer der Mitverschworenen. Insofern bleibt der
Verfasser in der chronikalischen Tradition. Die Darstellung
des Ägidius Tschudi ist - zusammen mit dem Werk von Joh.
v. Müller - zur Hauptquelle für Schiller geworden. Daraus
hat er etliche Passagen wörtlich übernommen.
Die zahlreichen Drucke von Bundeslied und Tellenspiel
zeigen, dass der Stoff im 16. Jahrhundert sehr beliebt
gewesen ist. Im darauffolgenden Jahrhundert treten dann
kaum erwähnenswerte Neubearbeitungen mehr auf.
Erst als der schweizerische Patriotismus in der ersten Hälfte
des 18. Jahrhunderts eine Renaissance erlebte, entstanden
auch wieder neue Telldramen. SAMUEL HENZIS 1748
erschienenes Spiel „GRISLER OU L'AMBITION PUNIE"
In der hohlen Gasse
zeigt eine neue Variation des politischen Telldramas. Dass
Illustration von H. Schmidt
das Stück in französischer Sprache geschrieben ist, erklärt
sich aus der kulturgeographischen Stellung Berns: es liegt an
der Grenze zwischen französisch- und deutschsprachigem Raum. In der Gestaltung Henzis
wird Tell als Anhänger einer Umsturzpartei in Bern aus der Stadt vertrieben, durfte wieder
zurückkehren und wurde später hingerichtet.
Ganz aus patriotischer Sicht geschrieben sind die Schauspiele des berühmten Zürcher
Literaturkritikers und Professors für Vaterländische Geschichte JOHANN JAKOB BODMER.
Aus einem Zyklus vaterländischer Dramen sind „WILHELM TELL ODER DER
GEFÄHRLICHE SCHUSS" und „GESSLERS TOD ODER DAS ERLEGTE RAUBTIER" (beide
1775) zu nennen. In Anlehnung an Shakespeare spaltete Bodmer den geschichtlichen Stoff
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in mehrere Episoden auf. Sein Versuch, Shakespeare nachzuahmen, wirkt besonders
befremdlich, wenn Tell in der Begegnung mit Gessler zuerst versucht, die Rolle des Narren
in derb einfältiger Weise zu spielen.
Die geistigen und politischen Umwälzungen,
die sich in Frankreich in der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts vollzogen und
schließlich zur Französischen Revolution
führten, beeinflussten auch das kulturelle
Leben der umliegenden Länder. Der
französische Philosoph Jean Jaques
Rousseau hatte das Schlagwort geprägt, das
allenthalben begeistert aufgegriffen wurde:
„Zurück zur Natur". Dieser neue Sinn für die
Ursprünglichkeit und Einfachheit der Natur
führte zu schwelenden Konflikten im Protest
gegen alte Standesformen und im Anspruch
Rütliwiese (UR) am Vierwaldstättersee
auf neue geistige und politische Rechte des
einzelnen Menschen. Gleichzeitig kam ein
neues kritisches Verständnis für die Geschichte auf, eine an historischer Objektivität
ausgerichtete Geschichtsschreibung.
Als 1760 ein anonymes Büchlein (des Pfarrers Freudenberger aus Ligerz am Bieler See) mit
dem Titel „DER WILHELM TELL. EIN DÄNISCHES MÄHRGEN ..." erschien, welches die
bis heute andauernde Streitfrage stellte, ob es sich bei Wilhelm Tell tatsächlich um eine
historische Persönlichkeit gehandelt habe, geriet er unter den Beschuss der
nationalbewussten Schweizer. Sein Büchlein wurde in mehreren Kantonen amtlich
konfisziert.
Das Werk des Schweizers JOHANNES VON MÜLLER „GESCHICHTE DER
SCHWEIZERISCHEN EIDGENOSSENSCHAFT" (1786) wurde für Schiller, neben Tschudis
Chronik, zur wichtigsten Quelle für seine Tell-Bearbeitung. Die genaue Darstellung vieler
Einzelheiten, die Johannes von Müller mit dem Geschichtsbewusstsein seiner Zeit prüfte,
machte dieses Werk für Schiller, der nie in der Schweiz gewesen ist, besonders wertvoll. Der
Autor verfolgt, nach eigenen Angaben in der Einleitung, eine doppelte Absicht.
• Die Geschichte der alten Eidgenossen soll zeigen, wie in der Vorzeit die Menschen einfach
und naturverbunden lebten und die Verteidigung der Freiheit des Bürgers als etwas
Selbstverständliches betrachten. Diese alten Tugenden möchte der Autor seinen
Zeitgenossen als einen Spiegel vor Augen halten.
• Andererseits will er aber auch mit sorgfältiger Prüfung von Quellen und Zeugnissen ein
möglichst unparteiisches und objektives Bild der Schweizer Geschichte entwerfen.
Im Bestreben, die Vorzeit zu verherrlichen und zugleich mit kritischem Sinn zu sichten,
gerät der Chronist des 18. Jahrhunderts in Konflikt mit sich selbst. Tell wird zu einem
"Jüngling", einem verantwortungsvollen Großbauern, seine Tat wird nach den Maßstäben
der Zeit moralisch gerechtfertigt. Andererseits erlaubt das Bemühen um historische
Korrektheit dem Autor nicht, die Apfelschussszene in seinen Bericht aufzunehmen, da sie
ihm zu sagenhaft erscheint. Das Geschichtswerk erlebte einen großen Erfolg, wohl nicht
zuletzt deshalb, weil es die alte Eidgenossenschaft verherrlichte, die wenige Jahre später mit der Besetzung der Schweiz durch französische Truppen - für immer unterging.