Flegel - Das Glück, angemacht zu werden

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Flegel - Das Glück, angemacht zu werden
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Flegel - Das Glück, angemacht zu werden.
Hallo Laura, Tag Phillip! Ich muß Euch schnell eine Geschichte erzählen
und wenn Ihr groß seid, könnt Ihr mir mal sagen, was Ihr davon haltet.
Also, gestern fuhr ich durch Wengern spazieren. Da kamen zwei kleine
Mädchen auf mich zu. Wie alt mögen sie gewesen sein? Na, beide etwa 10.
Eine
sprang
vor
meinen
Rollstuhl
und
krähte
ganz
fröhlich:
"Entschuldigung, könnse uns sagen, wieviel Uhr es ist?" Ich habe ja, wie Ihr
wißt, eine Uhr an meinem Kilometerzähler. Auf diese zeigte ich und sagte:
"Halb Vier!" Die Beiden zogen fröhlich vondannen. Das Mädchen, das mich
nach der Zeit fragte, rief noch etwas hinter mir her: "Dankeschön! Aber das
könnse sich am Arsch stecken!"
Furchtbar! - Woll? Auch mir fiel die Kinnlade herunter. Solche patzige
Göre! Während ich weiter durch die Straßen fuhr, kam ich ins Grübeln: Was
regst Du dich auf?, dachte ich. Dieser Schnodderton ist doch heute ganz
normal. So furtzen sich Kinder doch auch untereinander an. Und die meisten
stecken das irgendwie weg.
Ich müßte doch vielmehr beleidigt sein, wenn dieses Mädchen mich nicht
angemacht hätte. Wenn sie "Dankeschön" gesagt, und den unanständigen
Rest nur gedacht, oder hinter meinem Rücken gefeixt hätte. Es hätte
Hemmungen gehabt, mir diese schlimmen Worte, die sie in diesem
Augenblick unbedingt loswerden wollte, an den Kopf zu knallen. Weil sie
gedacht hätte: Diesem kranken Mann kann man das nicht sagen; der wird
bestimmt ganz traurig und weint vielleicht, wenn ich so 'was sage.
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Seht mal, Phillip und Laura, die hätten mir nicht zugetraut, genauso wie ihre
Spielkameraden oder andere Menschen etwas Pampiges einzustecken. Weil
ich im Rollstuhl sitze, hätten sie mich schonen oder vielleicht schützen
wollen. Versteht Ihr? Sie hätten meinen können, ich bin ein anderer
Mensch!
Aber das will ich ja gar nicht sein. Ich will ja so fröhlich und albern sein,
wie Ihr Beiden.
Als wir heute Nachmittag im Eis-Restaurant lauten Quatsch gemacht haben,
ich den Löwen spielte und immer Eure Finger fressen wollte, da habt Ihr ja
auch nicht mehr daran gedacht, daß ich in einem Rollstuhl sitze. Dich Laura,
habe ich im Selbermacher-Markt und Dich Phillip im Supermarkt in
Bochum durch die Gegend kutschiert. Könnt Ihr Euch noch daran erinnern?
War das nicht aufregend, wie Ihr auf meinem Rollstuhl durch die Regalreihen geflitzt seid? Da habt Ihr doch auch nicht gedacht: Schade, daß der
Onkel Helmut kranke Beine hat! Tut ihm das auch nicht weh, wenn ich auch
noch darauf sitze?
Seht Ihr! Dieses freche Mädchen hat total übersehen oder vielleicht vergessen, daß ich behindert bin. Es hat sich so lustig verhalten, wie Ihr im Eiscafe. Es war so frech, wie Philipp zu Dir, Laura, als er Dich unter dem Tisch
getreten hat. Wie nun mal Kinder sind, zu anderen Kindern; ganz normal!
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Und darum - als ich zuhause ankam - war ich gar nicht mehr beleidigt über
das freche Biest! Soll ich Euch 'mal 'was sagen, Phillip, Laura? Ich war
richtig stolz darauf, daß die Kleine so schön rotzfrech zu mir war.
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