Felix Mendelssohn Bartholdys Oratorium „Paulus“

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Felix Mendelssohn Bartholdys Oratorium „Paulus“
 Felix Mendelssohn Bartholdys Oratorium „Paulus“: musikalisches Monument und lebendiges persönliches Bekenntnis Wohl niemand hätte vor ein paar Jahren geglaubt, dass der nunmehr 100 Jahre alte Celler Stadtkirchturm eines Tages wieder ein komplettes Geläut beherbergen würde. Doch erst der Guss der Friedensglocke, die heute zu den größten Glocken in Deutschland zählt, hat es möglich gemacht, dass unser Geläut den Menschen nun wieder das vollständige Anfangsmotiv eines bekannten Liedes zurufen kann: „Wachet auf, ruft uns die Stimme!“ Stehen wir dabei unter dem Stadtkirchturm, erleben wir eine scheinbar vom Himmel herabströmende aufrüttelnde Klangflut, die geradezu körperlich spürbar ist: „Wachet auf! Folgt Christus nach!“ Wie muss es erst dem Apostel Paulus ergangen sein, der in seinen jungen Jahren als eifriger Christenverfolger gefürchtet war und dabei auch den grausamen Märtyrertod des griechischen Christen Stephanus miterlebte. Auf einer seiner Verfolgungsreisen widerfährt ihm ein unfassbares „Wach auf!“‐Erlebnis. Ein greller Blitz, die Stimme des sich ihm offenbarenden auferstandenen Christus, dann drei Tage Blindheit, Beten und Fasten – der gesetzestreue Pharisäer „Saulus“ wandelt sich zum „Paulus“, der sich nun der Gnade Gottes bewusst wird und erkennt, wie Gott der Unzulänglichkeit des Menschen in seinem Sohn Jesus begegnet. So ist es nur konsequent, dass der Komponist Felix Mendelssohn Bartholdy den Choral „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ seinem Oratorium über „Paulus“ voranstellt – in einer sich gewaltig steigernden Ouvertüre, die bald deutlich macht, welche emotional tiefgehende und monumentale Komposition den Hörer erwartet. Mehr noch: Hinter dem „Wachet auf“ steht auch das persönliche Bekenntnis des Komponisten zum protestantischen Christentum vor dem Hintergrund seines Lebens, das gekennzeichnet war vom Spannungsfeld zwischen der eigenen jüdischen Verwurzelung und dem christlichen Glauben. Die Familie des am 3. Februar 1809 in Hamburg geborenen Musikers gehörte zur deutsch‐jüdischen Aristokratie. Die eskalierenden Ausschreitungen gegen jüdische Mitbürger 1819 besiegelten den Entschluss der Eltern, die vier Kinder protestantisch taufen und christlich erziehen zu lassen, um ihnen so den Weg ins deutsche Bürgertum zu ebnen. Dennoch setzte sich der gläubige Christ Felix Mendelssohn Zeit seines Lebens mit seiner jüdischen Abstammung auseinander. Hervorragende Lehrer wie z. B. Carl Friedrich Zelter, Leiter der Berliner Singakademie, brachten Felix und auch seine Schwester Fanny früh mit der Musik Bachs und Händels in Kontakt. Im Alter von nur 20 Jahren führte Mendelssohn an der Berliner Singakademie die in Vergessenheit geratene Matthäus‐Passion von Johann Sebastian Bach mit überwältigendem Erfolg auf und leitete damit eine Bach‐Renaissance ein, der wir letztlich die heutige Pflege und Kenntnis der Musik Bachs verdanken. Seite 1 von 2 1831 kam der junge Mendelssohn nach einer längeren Bildungsreise durch Italien nach Frankfurt. Dort regte ihn der Leiter des örtlichen Cäcilien‐Vereins, Johann Nepomuk Schelble, zur Komposition eines Oratoriums über den Apostel Paulus an. Am Entwurf des fast ausschließlich auf Texte der Bibel zurückgehenden Librettos wirkten neben dem bibelfesten Komponisten auch der Dessauer Theologe Julius Schubring und der Berliner Musikkritiker Adolf Bernhard Marx mit. Zum überwiegenden Teil fußt der Text auf Passagen aus der Apostelgeschichte, ergänzt durch weitere passende Verse aus dem neuen Testament sowie aus den Psalmen. Über fast zwei Jahre erstreckte sich die Entstehungszeit des „Paulus“. Der selbstkritische Komponist tat sich offenbar recht schwer mit seinem anspruchsvollen Vorhaben. Das Oratorium besteht aus zwei Teilen mit sieben Szenen aus dem Leben des Paulus. Während im ersten Teil die Steinigung des Stephanus und die Bekehrung des Saulus nach seiner Vision zu einem Missionar und Apostel Jesu im Mittelpunkt steht, schildert der zweite Teil sein Wirken gemeinsam mit dem Gehilfen Barnabas, seine eigene Verfolgung und den Abschied des Paulus von der Gemeinde in Ephesus. In Anlehnung an die Bachschen Passionen umfasst das Werk Rezitative im Sinne des traditionellen Erzählers, Arien als betrachtende Elemente und teilweise aktiv am Handlungsgeschehen beteiligte Chöre nach dem Vorbild Bachs. In Fachkreisen war diese musikalische Konzeption in Form des Rückgriffs auf barocke Formenstrenge nicht unumstritten, trotz der Verbindung mit romantischer Gefühlswärme und Ausdruckskraft. Doch letztlich wirkte kein anderes Werk dem nach Haydns „Jahreszeiten“ einsetzenden Niedergang der oratorischen Kompositionsform entschiedener entgegen als der „Paulus“. Konsequent fügte Mendelssohn auch Choräle, die die biblische Aussage bekräftigen, in das Oratorium ein. Deren Texte und Melodien waren in den protestantischen Teilen Deutschlands durchaus gebräuchlich. Damit verdeutlichte er seine Auffassung des romantischen Oratoriums als eine bekennende Predigt – auch im Konzertsaal. Ganz bewusst holte er das biblische Geschehen aus der objektiven Distanz heraus und legte den Schwerpunkt dabei auf lyrische und betrachtende Elemente, durchbrochen von einigen dramatischen Szenen (wie z. B. die Steinigung des Stephanus). Die Uraufführung des Werkes fand zu Pfingsten 1836 beim 18. Niederrheinischen Musikfest in Düsseldorf unter der Leitung des Komponisten statt. Sie geriet zum herausragenden Ereignis jener Tage. Mit wahrem Feuereifer waren Chor und Orchester – es wirkten 356 Sänger sowie 172 Instrumentalisten mit – an ihre Aufgabe gegangen. Nur über die „etwas ledern und gleichgültig“ abgesungenen Paulus‐Arien, über einen „Heidenapostel im Schlafrock“ hatte sich der damals 27‐
jährige Komponist insgeheim geärgert. Bald schon trat das Oratorium seinen Siegeszug durch die Musikzentren Europas und Amerikas an. „…without dispute the greatest modern musical effort!“ – so urteilte 1844 ein begeisterter englischer Musikkritiker. Auch in Celle wurde das Werk sehr bald nach seiner Veröffentlichung durch den damals bedeutenden Komponisten und Stadtkirchenorganisten Heinrich Wilhelm Stolze und seinem Singverein zur Aufführung gebracht. KMD Martin Winkler Celle, Februar 2014 Seite 2 von 2 

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