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Teil A • Film 2: Reizende Gase. Gesundheits- und Umweltschutz im Büro
DAS SICK-BUILDING-SYNDROM
SYMPTOME, URSACHEN,
HEILUNGS- UND
HANDLUNGSMÖGLICHKEITEN
ANDREAS BEYER, UMWELTMEDIZINER,
UMWELTMEDIZINISCHE AMBULANZ BERLIN-STEGLITZ
Gründe für die Frequentierung der Beratungsstelle
In unserer Arbeit machen Frage- und Problemstellungen aus dem Arbeitsbereich 7-10 % aus. Es gibt aber darüber hinaus eine Reihe von Patienten, die
nicht primär zu uns kommen wegen einer Belastung am Arbeitsplatz, wo wir
im Rahmen des umweltmedizinischen Untersuchungsganges dann aber doch
sehen: Eigentlich liegt das Problem im Arbeits- und nicht im Wohnbereich.
Zusammenhang Arbeits- und Umweltmedizin
rbeitsplatz und Arbeitsplatzsitutation sind eigentlich die Domäne der Arbeitsmedizin. Daneben hat sich die Umweltmedizin mit ihren Beratungsstellen entwickelt, deren Schwerpunkt auf Untersuchungen im Zusammenhang mit Belastungen im Wohnbereich liegt. Zwischen beiden Fachdisziplinen
gibt es aber viele Überschneidungen. So können z.B. gesundheitliche Probleme durch
Belastungen am Arbeitsplatz und im häuslichen Bereich ausgelöst sein, oder Patienten kommen und
meinen, ihre Beschwerden resultieren aus Problemen im Privatbereich. Letztlich stellt sich aber im
Rahmen der Untersuchung heraus, dass es um ein arbeitsplatzbedingtes Problem geht. Manchmal haben Patienten auch Scheu, sich direkt am Arbeitsplatz an Vorgesetzte, den dortigen Arbeitsmedizinischen Dienst oder den zuständigen Ingenieur zu wenden.
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Von der rechtlichen Seite her können von Umweltmedizinischen Ambulanzen keine Untersuchungen am Arbeitsplatz vorgenommen werden, wenn hierfür nicht das Einverständnis des Arbeitgebers
vorliegt. Es besteht eigentlich nur die Möglichkeit, wenn dieses nicht gegeben wird, eine Beratung im
ersten Zugriff durchzuführen mit der Empfehlung, sich an die zuständigen Stellen, dann aber besser
informiert, zu wenden.
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Patienten in der Umweltmedizin mit arbeitsmedizinischem Bezug
Wir sehen nicht selten Patienten, die stellvertretend kommen für eine ganze Gruppe, die unter bestimmten Beschwerden leidet. Es geht hierbei in der Regel nicht um definierte Krankheiten, wie ein
Asthma bronchiale oder ein Diabetes, sondern um unspezifische Symptome. Unspezifisch deshalb, weil
man nicht sagen kann: Dieses Symptom weist auf eine bestimmte Krankheit hin. Beispielhaft seien
Störungen der Leistungsfähigkeit, der Konzentration und Kopfschmerzen, die nicht eine klassische Migräne als Hintergrund haben, genannt.
Ein Teil dieser Menschen beschreibt dann in der Beratungssituation, dass sich beispielsweise ihr
Arbeitsplatz örtlich verändert hat, dass dieser in ein neues Gebäude verlagert worden ist, wo Renovierungsarbeiten erfolgt sind, oder dass sie aus einem Gebäude, was konventionell gelüftet wurde, in ein
Gebäude mit einer Klimaanlage umziehen mußten.
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In diesem ersten Gespräch können wir in der Regel erst einmal nur versuchen, abzustecken:
Wie ist die Situation am Arbeitsplatz?
Wie ist die Situation im häuslichen Bereich?
Wie ist die „psychologische Situation” am Arbeitsplatz?
Danach ist mit den Betroffenen zu besprechen, welche Schritte gemacht werden müssen, damit vor
Ort geprüft werden kann: Ist es ein individuelles Problem oder handelt es sich um ein Gruppenphänomen so wie das „Sick-Building-Syndrom” definiert ist. Wobei der Begriff „Sick-Building” die Situation
nur ungenau umschreibt. Denn es geht ja eigentlich nicht um kranke Gebäude, sondern um Menschen,
die in Gebäuden Beschwerden haben, die durch Einflußfaktoren ganz unterschiedlicher Art ausgelöst
worden sind.
Der erste Analyse-Schritt
enn die Bereitschaft des Arbeitgebers vorliegt, seine Einrichtung einer Untersuchung durch
eine Umweltmedizinische Ambulanz unterziehen zu lassen, ist der erste Schritt, dass man vor
Ort geht und mit den Beschäftigten spricht: Wer hat Beschwerden? An welchen Arbeitsplätzen traten die Beschwerden auf? Und welcher Art sind die Beschwerden?
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Man muß schauen, ob nur einzelne betroffen sind oder ob es sich um ein Gruppenphänomen handelt. Dies ist manchmal nicht ganz einfach, da man hierbei eine Vielzahl von Einflußfaktoren berücksichtigen und kritisch werten muß.
Betriebliche Einflußfaktoren
Chemische Einflußfaktoren sind beispielsweise Ausdünstungen aus Farben, Klebern und Lacken
nach Renovierungen. Auch werden u.U. biologische Faktoren wie Schimmelpilze oder andere Krankheitserreger durch Klimaanlagen in Arbeitsräume getragen, die bei dafür disponierten Menschen Beschwerden insbesondere der Atmungsorgane auszulösen vermögen. Weiter können physikalische Faktoren von Bedeutung sein, wie niederfrequenter Schall aus Klimaanlagen oder Vibrationen. Als besonderer Problembereich sind Bildschirm-Arbeitsplätze zu nennen (Art des Sitzens, Belastung der Augen,
wie lange wird vor dem Bildschirm gearbeitet, wieweit werden arbeitsmedizinische Empfehlungen für
Unterbrechungen der Arbeit zur körperlichen Bewegung zwischendurch eingehalten oder nicht?).
Weiter kann es sich auch um Arbeitsplätze handeln, an denen geraucht wird oder an denen ein
ungünstiges Betriebsklima herrscht.
Folgeschritte
Im ersten Zugriff kann man nur versuchen zu erfassen, welche Beschwerden aufgetreten, welche
Arbeitsplätze (Räume oder Gebäudeteile) offenbar betroffen sind und welche Vorstellungen von den
Beschäftigten geäußert werden in bezug auf die Ursachen ihrer Beschwerden. Normalerweise wird wenn man den Verdacht hat, es geht hierbei nicht um Einzelpersonen, sondern um eine Gruppe - in
einem Arbeitsbereich versucht, sich mit Hilfe von Befragungsinstrumentarien, wie Fragebögen, erst
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einmal ein Bild zu machen: Wer ist betroffen und wie ist er betroffen? Diese werden ausgewertet und
idealtypischerweise - das passiert natürlich nicht in allen Betrieben - mit den Betroffenen besprochen.
ann erfolgt von unserer Seite in einem nächsten Schritt die Begehung. Dabei schaut man sehr
genau, welche Büroräume oder welche Fabrikbereiche bzw. welche Betriebseinheiten sind als
mögliche Expositionsorte bei der Befragung angegeben worden? Wer arbeitet dort (berufliche
Qualifikation)? Welche Symptome sind aufgetreten? Leiden zum Beispiel viele Beschäftigte unter Beschwerden von seiten der Atmungsorgane oder unter Augenreizungen, unter Kopfschmerz, Konzentrationsstörungen etc. und lassen sich diese Symptome bei der Inaugenscheinnahme in Zusammenhang
bringen mit potentiellen Schadstoffquellen oder gesundheitsrelevanten biologischen sowie physikalischen Einflußfaktoren?
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Auf dieser Stufe der Bearbeitung findet also eine Analyse statt, bei der man nun genau umgekehrt
vorgeht. Hatte man sich bisher mit den Beschwerden der Betroffenen beschäftigt, so erfolgt jetzt die
Beschäftigung mit dem Gebäude (den möglichen Ursachen): Was ist an diesem Ort? Gibt es Auffälligkeiten in bezug auf die Raumausstattung, in bezug auf Licht, Lärm oder in bezug auf Zugluft?
Ganz wichtig ist dabei, raumklimatische Verhältnisse zu erfassen, also: Wie feucht und wie
warm ist der Raum? Ist er für denjenigen, der sich hier bis zu 8 Stunden und länger aufhalten
FOLIE
muß, behaglich? Hat er einen gewissen Komfort in bezug auf diese Faktoren oder muß davon
ausgegangen werden, dass beispielsweise eine Konzentrationsstörung dadurch bedingt ist, dass
der Raum zu warm, zu feucht oder zu laut ist?
Wenn ein konkreter Verdacht nach den Begehungen geäußert werden kann, sollte versucht werden, diesen durch Untersuchungen zu objektivieren. Beispielsweise durch Messung von leicht flüchtigen Chemikalien in der Innenraumluft. Häufig gilt es zu klären, ob eine Klimaanlage verkeimt ist oder
ob sie Geräuschphänomene verursacht, die sich störend auf den Arbeitsablauf auswirken. Werden beispielsweise Substanzen, die gegen Verkeimung - also Biozide - dem Befeuchterwasser zugesetzt oder
die als Korrosionsschutzmittel eingesetzt worden sind, in den Arbeitsraum emittiert, so können diese
unter Umständen Beschwerden verursachen.
Also ein ganzes Bündel von Fragen muß an dieser Stelle geklärt und dann mit dem Betrieb und
dem Betroffenen besprochen werden. Dabei kommt es darauf an, die erhobenen Befunde zu wichten
und zu prüfen, ob ein Zusammenhang im Sinne eines Sick-Building-Syndroms bestehen kann oder
nicht.
In einem vierten Schritt sollte es dann darum gehen - und das ist gar nicht selten - dass man für
einzelne Betroffene streng individualmedizinisch schaut: Was sind die Ursachen ihrer Probleme? Ist es
eigentlich der Arbeitsplatz oder sind zugrundeliegende Erkrankungen bis dato nicht erkannt worden
und werden im Rahmen eines solchen Untersuchungsganges jetzt erst deutlich? Hierbei handelt es
sich um eine völlig andere Situation, als wenn ich feststelle: Es ist ein Gruppenphänomen, bei dem an
sich gesunde Menschen auf eine ungesunde, unnormale Situation an ihrem Arbeitsplatz mit Beschwerden reagieren.
Problem der Ursachen-Findung – Praxisbeispiel 1 –
ir haben vor einigen Jahren Untersuchungen in einem Betrieb gemacht, der über sehr viele
Büroarbeitsplätze verfügt, daneben aber auch andere Arbeitsplätze beispielsweise im Bereich
einer Druckerei hatte und wo von den Mitarbeitern vielfältige Beschwerden, die für ein SickBuilding-Syndrom typisch sind, angegeben worden waren. (Insbesondere Reizungen der Atemwege,
der Augen. Einzelne klagten über abnorme Müdigkeit, Konzentrationsstörungen, Lethargie. Andere
wiederum klagten über ein sehr starkes Augenbrennen). Die Gruppe der Betroffenen hatte sich dort an
einen Ingenieur gewandt, der daraufhin mit einem sehr simplen Verfahren - einer Screening-Methode
- Formaldehyd gemessen hat und dabei feststellte: „Wir liegen in einem Bereich, der viel zu hoch ist”.
Für ihn war im Grunde der Fall damit schon abgeschlossen. Es ging, als wir eingeschaltet wurden, eigentlich nur noch darum, zu klären, wo die Quellen für diese Schadstoffbelastung sind. Da uns die bisherige Analytik zu ungenau erschien, war einer der ersten Schritte - und das ist untypisch gegenüber
dem Vorgehen, was ich gerade in dem Stufenschema beschrieben habe - dass wir diese Messung mit
einer verfeinerten Methode wiederholten und dabei feststellten, dass die Formaldehydkonzentrationen
überhaupt nicht erhöht waren, sondern in einem Bereich lagen, wie sie überall zu finden sind, d.h.,
auch unterhalb der Schwelle, wo besonders empfindliche Personen bereits zu reagieren beginnen. Also standen wir am Punkt 0 und mußten versuchen herauszubekommen, worum es sich in diesem Gebäude eigentlich handelt.
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Daraufhin führte unsere Ambulanz eine Fragebogenaktion bei allen Mitarbeitern durch. Von den
ungefähr 120 dort Beschäftigten haben uns dabei in etwa die Hälfte geantwortet. Von dieser Hälfte
wiederum gab ein Teil, der ungefähr 10-20 % der Gesamtbelegschaft entsprach, Beschwerden in dem
obengenannten Sinne an.
Bei der weiteren Analyse zeigte sich, dass gar nicht der gesamte Betrieb, sondern nur bestimmte
Etagen und dort auch nur bestimmte Büroräume betroffen waren.
Daraufhin wurde das Gebäude zusammen mit dem Ingenieur und weiteren Beteiligten begangen
und versucht herauszufinden: Sind Schadstoffe die Ursache der Beschwerden oder gibt es andere Belastungsquellen? Wir wurden aber dabei nicht pfündig, denn die Situation war ähnlich wie in typischen Büroräumen; es gab keine besonderen Quellen und keine besonderen gefahrenträchtigen Arbeitsvorgänge.
araufhin haben wir Messungen in diesen Büroräumen gemacht, um zu sehen, ob vielleicht im
Rahmen einer Renovierung, die ungefähr 11/2 Jahre zurücklag, hier bestimmte Kleber, Lacke und
ähnliches eingebracht worden sind, die unspezifische gesundheitliche Beeinträchtigungen hervorrufen können. Nachdem auch diese Untersuchungen zu keiner Klärung führten, wurden die Mitarbeiter noch einmal nach einem etwas anderen Muster sehr genau befragt und dabei herausgefunden,
dass es nicht nur einen bis dato schon bekannten jahreszeitlichen Gang gab dergestalt, dass in den
Wintermonaten die Beschwerden stärker als in den Sommermonaten waren, sondern, dass bei einzelnen Arbeitsabläufen Räume (Arbeitsplätze), die besonders betroffen waren, über das Maß hinaus, was
die Arbeitsstättenverordnung vorsieht, von Mitarbeitern frequentiert worden waren, d.h., sich zuviele
Personen im Verhältnis zur Raumgröße daselbst aufhielten. Dieses auf die Situation im Winter übertragen bedeutete: Schlechte Luft bei obendrein schlechten Lüftungsbedingungen und zu trockenen und
zu warmen Räumen. Zusätzlich auffällig war auch, dass Arbeitsplätze, die besonders betroffen schienen, über eine nicht unerhebliche Zahl von Topfpflanzen verfügten, deren Erde in der Mehrzahl der
Fälle verschimmelt war.
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Als Ergebnis dieser Recherche hatte man nun eine ganze Reihe von Anhaltspunkten, mit denen
man sich auseinandersetzen konnte und mußte:
Konkrete Gegenmaßnahmen
Wir haben als erstes etwas ganz Unspektakuläres gemacht, nämlich mit den dort Tätigen wegen
der lufthygienisch unbefriedigenden Situation darüber gesprochen, wie man die Luftfeuchte erhöhen
kann bzw. wie man richtig lüftet. Damit konnten wir eine gewisse Besserung erzielen, nicht aber die
Lösung des Problems.
Bei der weiteren differenzierten Bearbeitung im Sinne einer Stufe 4 - nämlich der Beschäftigung
mit einzelnen Betroffenen - zeigte sich, dass eine ganze Reihe von Personen die allergisch bedingte
Beschwerden der Atmungsorgane, also relevante Vorerkrankungen, hatten. Es gab andere, bei denen
man sagen konnte: Unter diesen Bedingungen, bei ihrer Vorerkrankung, sind deren Beschwerden, die
obendrein an anderen Orten ausgebrochen waren und auch aktuell bestanden, verstärkt worden. Also
war die Situation am Arbeitsplatz hier nicht Auslöser, sondern nur ein verstärkendes Moment.
Zusammenhang Privat- und Arbeitsbereich
– Praxisbeispiel 2 –
Wir hatten einmal eine Patientin, die mit typischen Beschwerden, wie sie bei einer Inhalationsallergie auftreten, schon einmal Anfang der 70er Jahre in der ehemaligen DDR konfrontiert war und diese später selbst in Zusammenhang brachte mit der Einführung der Coca-Cola; der Ost-Coca-Cola muß
man sagen, die ja ein Produkt war, das der übermächtigen Konkurrenz aus dem Westen entgegengesetzt wurde und wie diese bestimmte Farbstoffe enthielt.
Die Frau hat diesen Zusammenhang hergestellt, weil sie das Getränk nach etwa einem Jahr vollkommen gemieden hatte und damals dadurch wieder weitgehend beschwerdefrei geworden war. Zu
dem Zeitpunkt der Grenzöffnung in Deutschland kam sie aber offenbar wieder mit Stoffen in der Nahrung in Verbindung, die bei ihr ähnliche Beschwerden wie damals die Coca-Cola auslösten. Daraufhin
hat sie sich eingehend über Lebensmittelunverträglichkeiten belesen und Kontakt aufgenommen zu
Allergologen, die sich mit diesem Problem beschäftigen und dann für sich selbst die Diagnose gestellt:
Ich habe eine Überempfindlichkeit auf bestimmte Nahrungsbestandteile, Farbstoffe etc.
Durch Veränderung des Nahrungsverhaltens konnte sie eine gewisse Besserung, nicht aber eine
vollständige Beschwerdefreiheit erzielen. Was persistierte, waren Reizungen der Schleimhäute von
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Augen und Nase. Deshalb kam sie mit der Frage zu uns: „Was kann ich noch machen?
Ich lebe gesund. Ich habe all das, was ich erkannt habe, umgesetzt, und trotzdem
kriege ich hier keine Lösung.”
Wir haben bei ihr in sehr umfänglicher Art die Anamnese erhoben
und dass, was sie von seiten ihres Verdachts auf Nahrungsmittelüberempfindlichkeit gesagt hat, genau nachrecherchiert, sie z.B. bezüglich ihres Nahrungsverhaltens Tagebuch führen lassen und gewannen im Ergebnis den Eindruck, dass es exogene Komponenten neben der Lebensmittelunverträglichkeit geben müßte, die
die Schleimhäute reizen.
Nun war die Frage, wo und wodurch wird die Patientin exponiert? So wie die Frau uns ihre Beschwerden geschildert hat,
war unser Verdacht, dass eine Quelle für eine Formaldehydbelastung vorhanden sein müßte. Wir haben daraufhin sowohl den
Arbeitsplatz als auch die Wohnung untersuchen lassen, und es
fand sich zum einen im Wohnbereich eine gewisse Erhöhung der
Formaldehydkonzentration, die aber nur fraglich gesundheitsrelevant war. Zum anderen konnten an ihrem Arbeitsplatz Formaldehydkonzentrationen ermittelt werden, bei denen wir regelhaft Beschwerden auch bei Menschen sehen, die nicht speziell empfindlich
auf diese Umweltchemikalie reagieren.
In Verbindung mit dem Arbeitsmedizinischen Dienst der Fabrik wurde der
Arbeitsplatz umgestaltet. Die Patientin ist seitdem weitgehend beschwerdefrei.
Interessant an dem Fall ist, dass hier zwei Probleme aufeinanderstoßen. Es besteht eine
Überempfindlichkeitsreaktion auf Nahrungsbestandteile, die zum Zeitpunkt, wo die Patientin uns aufsuchte, noch nicht ausreichend untersucht worden war. Die Patientin hatte aber einen Teil ihres Problems auf dem geschilderten Weg bereits selbst gelöst und war gar nicht darauf gekommen, dass exogene Komponenten für ihre Restsymptomatik, die sie selbst nicht in den Griff kriegen konnte, verantwortlich sein könnten.
Kennzeichen des Sick-Building-Syndroms
! typische Reaktionen
eim Sick-Building-Syndrom - wenn man es nach den Kriterien, wie sie entwickelt worden sind,
definiert – geht es primär um keine Einzelfalldiagnosen, sondern um eine Gruppendiagnostik.
Bei der Frage, wieviel der an einem Arbeitsplatz Tätigen betroffen sein müssen, gehen die Aussagen auseinander; zumindestens aber muß die Zahl höher sein als die der sogenannten Empfindlichen, die ohne, dass Belastungen am Arbeitsplatz oder in den sonstigen Lebensbereichen vorliegen,
ein bestimmtes Spektrum von unspezifischen Gesundheitsstörungen aufweisen.
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Zu den Kriterien für eine Beurteilung, ob es sich um ein Sick-Building-Syndrom handeln könnte,
gehört neben diesen gruppendiagnostischen Aspekten, dass Beschwerden an den Schleimhäuten
von Augen, Nase, Rachen, wie Austrocknung, Jucken, Niesreiz, Hypersekretion auftreten. AußerFOLIE
dem ist die Haut als Organ ein wesentlicher Bereich, der mit Rötung, Jucken, Austrocknung betroffen sein kann, als weitere Symptome sind Müdigkeit, Konzentrationsstörung, Schwindel, Kreislaufschwäche und Kopfschmerz, der nicht klar einem Migränegeschehen oder einer Veränderung von
seiten der Augen oder im HNO-ärztlichen Bereich zugeordnet werden kann, zu nennen.
! Untypische Reaktionen
sind definierte Erkrankungen der Atmungsorgane oder des Magen-Darm-Traktes. Daneben ist differenzialdiagnostisch gegenüber anderen Krankheitsbildern abzugrenzen, ob die Beschwerden dauerhaft bestehen, oder wie typisch für das Sick-Building-Syndrom, sich am Wochenende bzw. nach Verlassen des Gebäudes relativ rasch bessern und abklingen.
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Abgrenzung gegenüber anderen Erkrankungen
Das SBS ist abzugrenzen von der Building-Related-Illness, d.h. von einer Erkrankung, die mit Gebäuden und besonderen Arbeitsplatzsituationen zusammenhängen kann, wie beispielsweise das Befeuchterfieber bzw. die Befeuchterlunge. Also Arbeitsplätzen, wo eine besondere Belastung auftritt, die
letztlich unter Umständen einmündet in eine allergisch bedingte Veränderung der Atmungsorgane,
insbesondere aber auch in Erkrankungen, die heute wie die exogen-allergische Alveolitis als Berufskrankheit anerkannt sind.
Ein solches Krankheitsgeschehen muß völlig anders betrachtet werden, als wenn, wie beim SickBuilding-Syndrom, Betroffene unter unspezifischen Beschwerden leiden, die sie nicht klar zuordnen
können und wenn sie im Gespräch mit anderen, die sich regelhaft im selben Gebäude aufhalten, feststellen: Die haben ja ganz ähnliche Symptome, d.h., sich nach dem Schneeballprinzip herausstellt,
dass hier eine ganze Gruppe betroffen ist. In diesem Augenblick wird heute zunehmend, wenn es sich
um Arbeitsplätze handelt, von den Betrieben selbst eine Klärung angestrebt, da der Bekanntheitsgrad
der „Gebäudekrankheit” oder wie immer man sie nennen will, doch sehr stark zugenommen hat.
Rückschlußmöglichkeiten von Krankheitssymptomen auf Probleme der
Büroinnenraumluft
Primär ist kein Rückschluß möglich.
ielmehr kann nur festgestellt werden: Es sind Symptome bei Betroffenen vorhanden, die ganz unterschiedliche Ursachen haben können, wie eine Schimmelpilzbelastung des Innenraumes, Chemikalien, die aus diversen Einrichtungsgegenständen ausdampfen, Holzschutzmittel etc. Es gibt natürlich Befunde, die
in eine bestimmte Richtung deuten können, wie z.B. eine starke Verschimmelung
am Arbeitsplatz, eine erhebliche Staubbelastung oder eine große Hitze oder starke
Vibrationengeräusche sowie Zugluft. Dies wären spezifische Konstellationen, von
denen man sich bei seinem weiteren diagnostischen Vorgehen bis zu einem gewissen Grad leiten lassen kann.
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Sonst gilt es, die Symptome erst einmal zu beschreiben, die Menschen, die davon betroffen sind, zu befragen, um sich dann die Situation vor Ort anzuschauen
und zu versuchen, die Beschwerden der Beschäftigten mit der Situation am Arbeitsplatz zu korrelieren. Also zu überlegen: Was ist hier medizinisch plausibel? Was muß
ich klären? Ist die ganze Gruppe eigentlich in gleicher Weise betroffen oder haben Einzelne bestimmte Erkrankungen, die durch Belastungen am Arbeitsplatz eine Akzentuierung erfahren? Besteht bei anderen keine primäre Erkrankung, sondern werden sie beeinträchtigt durch Einflußfaktoren, die in dem Bereich, wo sie tätig sind, nicht hineingehören?
Schadstoffmessungen, Grundsatzfragen
Messungen im Sinne einer Schadstoffanalytik helfen nach den Erfahrungen, die wir bisher gesammelt haben, primär nicht weiter. Weil der Untersucher gar nicht weiß, wo er ansetzen, d.h. was er
messen soll.
Nach unserer Einschätzung ist ein wesentlicher Teil - und dies gilt im übrigen auch für die sonstige
ärztliche Diagnostik - erst einmal in Gesprächen mit den Betroffenen zu ermitteln: Welche Beschwerden sie haben, wann und wo diese auftreten, welchen spezifischen Tätigkeiten der Einzelne nachgeht, mit welchen Einflußfaktoren er in Kontakt kommt. Außerdem, wie schon angesprochen, muß geklärt werden, ob sich am Arbeitsplatz etwas verändert hat, wie ist das interne Klima zwischen den
Beschäftigten? Sind beispielsweise Menschen von Kündigungen bedroht oder gibt es Probleme mit
Vorgesetzten? Also gilt es, neben umweltmedizinischen Aspekten das psychologische Klima zu erfassen und dann sehr genau vorurteilsfrei erst einmal zu schauen: Was finde ich vor? Und nicht sofort zu
sagen: Ich denke, es ist das oder jenes, es ist ein bestimmter Schadstoff oder ein anderer exogener
Einflußfaktor.
Wenn wir diese Gespräche geführt und danach den Arbeitsplatz zusammen mit Ingenieuren genau
angeschaut haben, kann überlegt werden: Welche Messung brauchen wir? Das heißt, wir tun dies gezielt, zumal es bis heute noch keine Screening-Methoden gibt, die uns sagen, es liegen Schadstoffe in
gesundheitsrelevanten Dosisbereichen vor. Vielmehr müßten wir entweder sehr breit und ungezielt
messen, und dann kann es sein, dass wir gar nicht die wesentlichen Gruppen erfassen; oder wir messen sehr gezielt mit der noch größeren Gefahr, dass wir neben dem Problem vorbeimessen. Das heißt,
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wir müssen uns sehr kritisch überlegen, welche Messung wir wann und wo für notwendig halten, insbesondere aber, wie aussagekräftig sie ist.
Problematisierung der Materialproben-Messung
Was immer wieder zu Verwirrungen führt, sind Untersuchungen von Materialproben auf Schadstoffe. So werden z.B. in einem Büroarbeitsraum von einem Teppichboden Materialproben genommen und
auf Pestizide (Pyrethroide) wegen des bekannten Problems der Behandlung zum Mottenschutz (Eulanisierung) analysiert.
Ich habe in dem Augenblick, wo ich eine solche Materialprobe auswerte, nur die Möglichkeit, eine
Aussage zu machen, in welcher Konzentration diese Substanzen im Teppichboden vorhanden sind.
Zusätzlich kann ich durch bestimmte mechanische Malträtierungen auch versuchen herauszubekommen, wie leicht sich Pyrethroide aus der Materialprobe herauslösen lassen. Es kann aber keine Aussage dazu getroffen werden, wie relevant das Vorhandensein dieser Stoffgruppe für den Mitarbeiter an
dem besagten Arbeitsplatz ist. Was nimmt er intern auf? Wieviel wird denn wirklich freigesetzt, wieviel ist davon biologisch verfügbar?
Insofern besitzt bei der Umweltanalytik oder Schadstoffanalytik die Bestimmung im biologischen
Material (z.B. Blut- oder Urinuntersuchungen) eine viel höhere diagnostische Wertigkeit. Leider werden häufig im Zusammenhang mit einem Verdacht auf umweltmedizinische Problemstellungen zuerst
Messungen gemacht, die über die Exposition des Menschen gar nichts aussagen, wie mein Beispiel
verdeutlicht hat.
Vorteile und Grenzen von Messungen
essungen in Situationen, wo man den Verdacht hat, es liegt am Arbeitsplatz ein Sick-BuildingSyndrom vor, werden gemacht, um zu prüfen, ob es Einflußfaktoren gibt, die ein Gruppengeschehen erklären können. Gefragt wird also nicht, warum der Patient XY Beschwerden hat,
sondern ob ein ganzer Teil einer Belegschaft exponiert ist.
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Bei dieser Konstellation ist es unter Umständen sinnvoll, dass man beispielsweise die Innenraumluft untersucht, weil man sagt: Hier gibt es eine bestimmte Arbeitsplatzsituation, die mehrere Räume wenn man noch einmal von Büros ausgeht - in gleicher Weise betrifft.
Sehr häufig ist es aber am Arbeitsplatz so, dass die einzelnen Betroffenen keine ähnliche Situation
haben, sondern dass es um ganz verschiedene Fragen geht. Nicht um einen Sick-Building-Aspekt,
sondern um den jeweiligen Arbeitnehmer, der an seinem Arbeitsplatz individuell belastet ist. Und da
muß ich mir vorher sehr genau die Frage stellen: Mit welcher Methode kann ich eine vermutete Exposition des Einzelnen überhaupt erfassen?
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