Der Delfin und das Mädchen
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Der Delfin und das Mädchen
36 Freitag, 11. März 2005 REGION STUTTGART Stuttgarter Zeitung Nr. 58 Der Delfin und das Mädchen Die behinderte Mini zur Therapie in Florida KEY LARGO. Manchmal müssen Eltern viele Jahre warten, bis sie für ihre behinderten Kinder in der Delfinlagune von Key Largo einen der begehrten Therapieplätze bekommen. Für Jasmin Siegle hat sich der Traum von Flipper in Florida jetzt erfüllt. Von Michael Ohnewald Die Natur hat die Farben der Florida Keys mit breitem Strich aufgetragen. Am strahlend blauen Himmel verlieren sich flockige Schönwetterwolken. Smaragdgrünes Wasser strandet am alabasterweißen Kiesel. Zwei Silberreiher ziehen über die Bucht, in der sich ein junger Delfin aus einer künstlich angelegten Lagune katapultiert. Es ist ein Bild, das trunken macht und Balsam ist für die Seele derer, die aus dem fröstelnden Deutschland an diesen Ort gekommen sind. Ihre Stimmung entspricht den Wetteraussichten: rundum heiter. Das rituelle Baden mit den Delfinen beginnt wie immer am späten Vormittag. Auf den sechs Plattformen im Becken haben sich die Trainer mit Trillerpfeifen und Eimern niedergelassen, welche gefüllt sind mit eisgekühltem Hering. Nach ihnen kommen die Therapeuten mit den Patienten. Jasmin Siegle, die alle Mini nennen, kommt nicht. Sie sitzt am Rande des Beckens wie ein Häuflein Elend in ihrem Spezialstuhl. Der kleine Körper glüht. Mini hat Fieber. Fast 40 Grad. Es ist nicht ihr Tag, eher der von Antonia aus Ruhlsdorf bei Potsdam. Das behinderte Mädchen lässt sich von einem Delfin durchs Wasser ziehen. Sie hat in kürzester Zeit schon Fortschritte gemacht, zeigt keine Angst mehr vor den großen Tümmlern in der Lagune. Antonia lacht. Minis Mutter setzt sich die Sonnenbrille auf, damit keiner sieht, dass sie ihre Tränen nicht zurückhalten kann. Zwei Jahre haben sie auf diese Delfintherapie gewartet. Und jetzt schwimmen nur die anderen. „Es tut weh“, sagt Anja Siegle. Auch sie wird von einer starken Erkältung geplagt. Ihre Nase ist rot von der Reibung der Taschentücher. Die verzweifelte Mutter sieht das subtropische Paradies mit anderen Augen. Auf sie wirkt es entzaubert und entfärbt. Anja Siegle ist verdammt zum Zuschauen, eine Autostunde von Miami entfernt, am Dolphin Cove, Bayside, Key Largo. Wenige hundert Meter von der Lagune liegt die African Queen, eine alte Flussbarkasse, auf der Humphrey Bogart und Katharine Hepburn glückliche Stunden verbracht haben. Das wirkliche Leben schreibt andere Drehbücher. Für die Siegles aus Tübingen sieht es jedenfalls nicht nach Happy End aus. Ihr Traum droht zu zerplatzen. Dabei hatten sie sich alles in den schönsten Farben ausgemalt und sich so sehr gefreut auf die zweiwöchige Therapie. Die Hautnahe Begegnung an der Plattform: Genie, die Delfindame, begrüßt Mini, das behinderte Kind aus Deutschland. kum verabreicht und Tropfen gegen den Husten. Geduld haben, heißt es für die Familie und das Team vom Delfinzentrum. Der Physiotherapeut Jack McIntosh und seine Kollegin Babette Brinkwirth aus Düsseldorf sind für Jasmin eingeteilt. Bei 23 Grad im Schatten harren sie aus unter einem Stoffdach. Alles ist ungewiss. Vielleicht müssen sie die Therapie abbrechen, bevor es richtig angefangen hat. Am nächsten Morgen sieht die Welt anders aus. Die Medikamente wirken, das Fieber sinkt. Ein Lächeln erhellt Minis Gesicht, als sie mit ihren Eltern und dem zwei Jahre älteren Bruder zur Lagune kommt. Jack kann sich nicht satt sehen an dem erwachenden Lebensmut. „Du tust meinem Herz gut“, sagt der Amerikaner. Er nimmt die Kleine zärtlich aus ihrem Rollstuhl. Sie wollen es langsam angehen mit der Therapie und sich auf die Arbeit an der Plattform beschränken. Ins Wasser soll das geschwächte Kind noch nicht. Jack holt seine Gitarre, und Babette setzt sich mit Mini auf einem Pezziball unter Palmen. Man singt deutsch. „Über Wasser, unter Wasser schwimmt ein kleiner Delfin.“ Mini streckt sich, um mit ihrer linken Hand die Bewegungen des tauchenden Tümmlers in die Luft zu zeichnen. Mit seiner Musik will Jack das Mädchen auf Genie einstimmen. Genie ist das Alphatier in der sieben Meter tiefen Lagune und herrscht über ein halbes Dutzend Artgenossen. Die Delfindame wartet schon ungeduldig an der Plattform, weil sie den Fisch will, den Chris Blankenship mitgebracht hat. Er ist Tiertrainer. Früher war er Biologe bei der Marine. Der Geist des Aufbruchs liegt über der Lagune. Jack trägt Mini über einen Holzsteg hinüber zu Genie. Auf der schwimmenden Plattform liegt das Kind in seinen Armen wie ein Säugling im Schoß der Mutter. Der Delfin schwimmt heran und stupst die Füße des Mädchens, das angenehm berührt ist. Mini wirkt nicht ängstlich. Sie freut Delfine sind gefragte Co-Therapeuten: Eltern behinderter Kinder hegen oft riesige sich über die Zuneigung Erwartungen. Wunder aber vollbringt Dr. Flipper nicht, er gibt allenfalls Anstöße. und kümmert sich nicht darum, dass sie mit einem Fisch erkauft ist. Jack hält zwei kleine TaDelfine sollten auf spielerische Weise ins feln vor Minis Gesicht. Die eine zeigt ein Bewusstsein des Mädchens vordringen und Flugzeug, die andere eine Banane. „Was kann ihre Aufmerksamkeit wecken. Denn Mini ist man essen?“, fragt er. Mini gickst und zeigt nicht wie andere Kinder. Bei ihrer Geburt vor auf die Banane. Alle klatschen, und zur Belohfünf Jahren war sie so lange ohne Sauerstoff, nung gibt es noch einen Schmatz von Genie, dass ein Teil ihres Gehirns geschädigt worden die sich aus dem Wasser schraubt und das ist. Ihr Wortschatz umfasst drei Vokabeln, behinderte Mädchen am Mund berührt. Minis und den Körper beherrscht Mini nur unter Vater verfolgt die Begegnung vom Ufer aus. größten Anstrengungen. Manchmal macht er „Hoffentlich halten das ihre Zähne aus“, sagt sich lang und steif, und dann sackt er plötz- er. „Wer weiß schon, wie Delfine küssen.“ lich zusammen. Das soll besser werden. Nach vierzig Minuten sind die meisten Mehr als 12 500 Euro kostet die Therapie Tafeln abgefragt, und Mini wirkt geschafft. am Dolphin Cove, die von der Krankenkasse Jack bricht ab, und Chris lässt das 27 Jahre nicht übernommen wird, und die Siegles alte Muttertier zum Abschluss ein bisschen hatten anfangs gleich doppeltes Glück. Sie singen. Dabei zeigt Genie ihre 88 Zähne und haben einen der begehrten Plätze bekommen, die Narben auf ihrer Haut, die eine deutliche auf die viele Bewerber nicht selten sechs Sprache über den Umgangston der atlantiJahre warten. Und sie haben einen Sponsor schen Flaschenhalsdelfine untereinander spregefunden. Der Ludwigsburger Friseur Mark chen. Man fragt sich, ob ihnen diese abgeAstrath, der vor Mini schon zwei anderen zäunte Welt nicht zu eng ist, ob sie mit ihrem Kindern eine Behandlung in Florida ermög- ausgeklügelten Sonar in diesem kleinen Belicht hatte, brachte das Geld für die Reise der cken nicht unterfordert sind und selbst zu vierköpfigen Familie zusammen. Weil er sagt, Behinderten verkümmern. In Freiheit legen dass nicht behindert zu sein ein Geschenk ist, die Meeressäuger täglich mehr als hundert das einem jederzeit genommen werden kann. Kilometer zurück. Chris sieht das pragmaAstrath stellt keine Bedingungen, aber Fragen. tisch. Seine Delfine stammten von den Florida Deshalb ist er auch mitgefahren nach Key Keys und seien es gewohnt, im flachen WasLargo. Er will noch mehr Kinder unterstützen, ser der Küste zu jagen. Und im Übrigen hätten und sich hier selbst ein Bild machen. Aber sie sich an die Vollpension gewöhnt. Mini kann nicht zu den Delfinen. Sie hustet. Die Sonne steht hoch über der Lagune, in Es ist der zweite Tag für die Siegles am der ein Pelikan genüsslich seinen mittägliDolphin Cove, und den Morgen haben sie chen Fang verzehrt. Jack stimmt seine Gitarre. beim Arzt verbracht. Minis Gehörgänge sind Vor den Büros von Dolphin Human Therapy heftig entzündet und die Atemwege gereizt. gibt das Team ein Grillfest. Für Marion Sura, Für 350 Dollar hat ihr der Arzt ein Antibioti- die Mutter von Antonia, hängt der Himmel voller Geigen, die alle auf Dur gestimmt sind. Sie erzählt, dass ihre psychisch bedingte Hautkrankheit in diesem Klima der Entspannung verschwunden sei und dass ihre Tochter beim Mittagessen den Löffel alleine halten wollte. „Sie ist selbstbewusster geworden“, sagt die Mutter. „Das kommt von der Therapie.“ Vor zwei Tagen hat sie sich mit David Nathanson unterhalten, einem älteren Herrn im blauen Hawaiihemd. Er ist Professor für Psychologie und gilt als Vater der Delfintherapie. Seit dreißig Jahren arbeitet er mit Delfinen und Kindern. Nathanson hatte die Erfahrung gemacht, dass die Kleinen auf Wasser und auf Tiere besonders stark reagieren. Also suchte er nach einer Kombination und probierte es erst mit Seelöwen. Die waren zu launisch, und so setzte er irgendwann Tümmler als Motivatoren ein. Bei Sprachexperimenten mit Autisten stellte der Wissenschaftler fest, dass sich die Behinderten beim spielerischen Vokabeltest mit domestizierten Delfinen länger konzentrieren konnten und viermal so schnell lernten wie bei den Übungsstunden im Klassenzimmer. „Das ist ermutigend“, sagt Marion Sura. „Auch für uns.“ Mini schaut verträumt hinüber zu Antonia. Die beiden lassen sich nicht mehr aus den Augen. Es sind Schwingungen einer zarten Freundschaft. Jack legt seine Gitarre ins Gras und erzählt davon, dass es keine Wunder gibt am Dolphin Cove, aber Anstöße, die nicht selten für immer bleiben. „Wir sehen am Ende der Therapie häufig den Beginn kleiner Veränderungen“, sagt er. Jack war früher als Mediziner in einer Kinderklinik. Er wollte „raus aus diesem Trott“ und nicht jede halbe Stunde andere Patienten behandeln. Jetzt kümmert er sich mit seinen Kollegen von März bis Dezember um rund 400 Kinder. An Spitzenzeiten hat er vier Therapiesitzungen. Manchmal passieren auch seltsame Dinge an diesem Ort. Jack beißt in sein Salatbrötchen und erzählt von Barbara, einer Schweizer Kollegin. Die ist im Sommer mit einem behinderten Kind im Wasser geschwommen, als sich die Delfine plötzlich seltsam aufgeregt zeigten. Das änderte sich auch nicht, als Barbara ihren Patienten auf die Plattform setzte. Immer wieder verharrten die Tiere vor ihrem Bauch. Barbara ging am nächsten Tag zum Arzt, der ihr sehr zur eigenen Überraschung verriet, dass Nachwuchs unterwegs sei. Solche frappierenden Reaktionen haben die Therapeuten auch erlebt, als Kinder mit Prothesen im Wasser waren. Die Delfine nahmen sich dieser Patienten besonders an. Es ist früher Abend am Dolphin Cove. Das Grillfest für die Familien geht zu Ende. Mark Astrath, der hilfsbereite Friseur aus Ludwigsburg, schwingt seine Schere und verpasst noch einigen der Therapeuten einen neuen Schnitt. Auch Mini kürzt er den Pony. Sie wirkt vergnügt. Vielleicht kann sie morgen zu den Delfinen ins Wasser. Vielleicht. Manchmal brauchen Märchen ein bisschen Anlaufzeit. Letzter Tag der ersten Therapiewoche. Die Mangrovenwälder neben der Bucht biegen sich unter dem auffrischenden Wind. Jack hat eine Badehose an, Mini trägt einen dicken Neoprenanzug. Der Therapeut bringt sie hinüber zur Plattform und legt dem Kind einen Schwimmgurt um. Die Kleine wirft einen Ring ins Wasser, was ihr motorisch nicht leicht fällt. Alle applaudieren. Langsam lässt sich Jack mit ihr ins Meer gleiten. Genie taucht auf. Mini schreit. Der Therapeut nimmt es gelassen. Er hält sie fest in seinen Armen und lässt sich vom Delfin vor Antonias Plattform schieben. Genie wendet sich ab und holt den Ring. Die Mädchen grinsen. Momente, die man für die Nachwelt auf Film bannen muss, nennen sie hier Kodak Moments. Klaus Siegle drückt auf den Auslöser. Seine Frau steht am Rand der Lagune und genießt die Magie des Augenblicks. „Endlich“, sagt sie. „Mini ist angekommen.“ Die Stuttgarter Zeitung begleitet die Siegles über ein ganzes Jahr. Bisher erschienen in der Serie: Für Mini erfüllt sich der Traum von Flipper in Florida (8. Juli 2004); Mini trifft Paulina (2. Dezember 2004); Mini fliegt nach Miami (25. Februar 2005); Fortsetzung folgt. Fotos Michael Ohnewald Musikalische Einstimmung auf die Arbeit am Wasser Friseur Astrath schneidet auch in Florida. Etwa 400 Kinder werden jährlich in Key Largo behandelt.