Sektion1 17062016 - Universität des Saarlandes
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Sektion1 17062016 - Universität des Saarlandes
Frankoromanistentag 2016 – Universität des Saarlandes Sektion 1 / Section 1 „Aux frontières“: Roma als Grenzgängerfiguren der Moderne « Aux frontières » : Les Roms comme figures frontalières de la modernité“ Sektionsleitung / Présidence PROF. DR. KIRSTEN VON HAGEN (JUSTUS-LIEBIG-UNIVERSITÄT GIEßEN) DR. SIDONIA BAUER (UNIVERSITÄT ZU KÖLN) Sektionsbeschreibung / Présentation Schon lange vor dem Zeitalter der Nationalismen im 19. Jahrhundert, trotz der Verfolgungen, Unterdrückungen und des Holocaust (Porajmos) im 20. Jahrhundert, repräsentierten Roma von Grenzüberschreitungen geprägte Kulturen, die immer wieder auch in der Literatur, in der bildenden Kunst und im Film dargestellt wurden. Besonders im 20. und 21. Jahrhundert kommen Eigenrepräsentationen selbst vermehrt zur textuellen und medialen Darstellung. Die Sektion setzt sich zum Ziel, den vielfältigen Facetten der Darstellung der Roma („Tsiganes“, „Bohémiens“, „Sinté“, „Manouches“, „Yéniches“, „Gitans’ etc.) nachzugehen, deren Lebensweise sich geschichtlich durch grenzüberschreitende Bewegung und Grenzbeziehungen ausgezeichnet hat. Somit strebt sie an, räumliche Konzeptionen zu untersuchen. Diese können intermedial gestaltet sein und auch verschiedene literarische Genres überschreiten. An der Grenzgängerfigur kann manifest werden, wo Beziehungsgrenzen gezogen werden, in welches Verhältnis Selbst und Anderer/s zueinander gesetzt werden und inwieweit Kulturkontakt stattfindet, gelingt und misslingt. Besonderes Interesse gilt dabei der Figur der Bohémienne / Romnia / Sintezza sowie der Rolle von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, insbesondere was die Performanz in der literarischen oder medialen Inszenierung betrifft. Aber auch die Grenze des Lebbaren 9 Frankoromanistentag 2016 – Universität des Saarlandes in ihrer Beziehung zur Mehrheitsgesellschaft vor allem während Extremsituationen des Holocaust (Porajmos) soll in den Fokus rücken. Vorträge / Communications PASCALE AURAIX-JONCHIERE (UNIVERSITE BLAISE PASCAL, CLERMONT-FERRAND) Vêtures de bohémiennes et marges textuelles L’idée serait de voir comment les notations vestimentaires participent d’une représentation instable (malgré certaines constantes) qui fait de la bohémienne non pas tant une figure de l’autre qu’une figure de l’entre-deux, aux frontières (forcément instables) des sociétés, mais aussi des générations et des genres littéraires. Je prendrai la notion de frontière dans son acception labile, associée à des « imaginaires d’époque ». Avec un corpus de textes et d’images, e e couvrant probablement les XIX et XX siècles. SIDONIA BAUER (UNIVERSITÄT ZU KÖLN) Kulturkontakt: „Gens du voyage“ und „sédentaires“ Der folgende Beitrag soll der Hypothese des Kulturkontakts (Asséo 2015) nachgehen und vor allem anhand zeitgenössischer Eigenrepräsentationen der heterogenen Gruppe(n) der Roma, Sinti, Kalé, Manouches etc. Grenzfiguren als Hauptprotagonistinnen der Diegese in Autobiographien und Autofiktionen untersuchen. Dabei soll die Dimension der Ästhetik, unter Inbetrachtziehung der literarischen und künstlerischen Tradition der Moderne eine zentrale Rolle spielen. Im Zentrum des Interesses stehen folgende Autorinnen und Werke: Philomena Franz, Stichworte [erscheint 2016]; Stefka Stefanova Nikolova (2010): La vie d’une femme rom (tsigane). Aus dem Bulgarischen von Cécile Canut, unter Mitarbeit von Janeta Maspero und Maria Atanassova, mit einem Vorwort von Cécile Canut. Paris: Éditions Pétra; Clara et Paul Carriot (2015): Le voyage manouche, 10 Frankoromanistentag 2016 – Universität des Saarlandes c’est ma vie ! Récit de Gika, Manouche d’Auvergne. Paris: Éditions Pétra; Carole Martinez (2007): Le cœur cousu. Paris: Gallimard. BEATE EDER-JORDAN (UNIVERSITÄT INNSBRUCK) Ein Ort der Grenzüberschreitung und Selbstrepräsentation: Das Projekt RomArchive RomArchive will die Kunst der Sinti und Roma sichtbar machen. Es ist als internationales digitales Archiv der Sinti und Roma konzipiert, als stetig wachsende Sammlung an Kunst aller Gattungen, erweitert um zeitgeschichtliche Dokumente und wissenschaftliche Positionen. Es wird sich mit seinen kuratierten Inhalten, dem modernen Storytelling und der intelligenten Kontextualisierung sowohl in seiner Ästhetik als auch in seiner Methodik deutlich von statischen Datenbanken unterscheiden.“ (Informationsblatt RomArchive). Die Kulturstiftung des Bundes fördert das Projekt mit 3,75 Millionen Euro über eine Laufzeit von fünf Jahren. RENALDI FRANZ (KÖLN) Über die Herkunft der Sinti anhand eigener Recherchen KIRSTEN VON HAGEN (JUSTUS-LIEBIG-UNIVERSITÄT GIEßEN) « Étranger les uns aux autres » : George Sands La Filleule (1851) George Sands Roman La Filleule (1851) markiert das fremde Andere als fremdes Eigenes, indem er die Bedeutungsverschiebung von Bohémiens/Zigeuner zu Bohémiens/Künstler inszeniert. Am 18. Mai hatte George Sand einen Vertrag mit dem Verleger Alexandre Cadot über die Veröffentlichung eines Romans in „Le Siècle“ unterschrieben, der vor allem eines sein sollte: „exclusivement littéraire", ohne politische, religiöse oder soziale Fragestellungen auch nur anzusprechen. Pastorale Darstellungen ruralen und abgeschiedenen Lebens sowie die utopiegleiche Konzeption idealer Lebensgemeinschaften konnten indes nur schwer überdecken, worum es in diesem wie in 11 Frankoromanistentag 2016 – Universität des Saarlandes anderen während dieser Zeit des gesellschaftlichen Rückzugs verfassten Romanen geht: Um das Gefühl der Exklusion, der Marginalisierung einer Künstlerin, der die Teilnahme am politischen Tagesgeschäft verwehrt war. Sowohl Fadette aus dem gleichnamigen „roman champêtre“ (1848/49) als auch die Zigeunerin Moréna in La Filleule sind somit zugleich Ausdruck dieser Exklusionserfahrungen während der politischen Umbruchphase. Was sich auf den ersten Blick liest wie die Darstellung einer idealen Liebe, ist zugleich die Reflexion über Kunst und Künstler in einer Gesellschaft des Umbruchs. Die zahlreichen Brüche in der Darstellung verweisen auf die In- und Ausschlussmechanismen des Textes. Die Grenzerfahrungen werden als permanente Verschiebungen kenntlich gemacht, die letztlich doch mit der dystopischen Erkenntnis schließen, dass ein Verstehen des Anderen nur als beständige Suchbewegung zu denken ist. Letztlich bleiben die Figuren einander fremd, "étranger les uns aux autres". MARINA HERTRAMPF (UNIVERSITÄT REGENSBURG) Guibert/Keler/Lemercier: Des nouvelles d’Alain (2011) – eine journalistische ‚graphic road novel’ über Grenzräume als Lebensräume europäischer Roma. SEBASTIEN MEYER e Représenter les Bohémiens du pays vosgien au XIX siècle : un enjeu transrégional Auteur d’un mémoire consacré à la représentation des Bohémiens e des Vosges dans les Lettres et les Arts au XIX siècle, Sébastien Meyer réfléchit à la plasticité de cette figure, mise en fiction selon des représentations tantôt valorisantes, tantôt disqualifiantes. Il s’intéresse également aux modalités de la construction – transrégionale – de la figure bohémienne, qui implique un tissu d’acteurs pris dans le jeu du local et de l’extra-local : par la circulation des 12 Frankoromanistentag 2016 – Universität des Saarlandes hommes, par celle des œuvres d’art et par le levier des traductions textuelles, des transferts culturels se sont opérés, faisant du bohémien un personnage apatride appartenant à une communauté jugée homogène, en dépit de la diversité culturelle de ses membres présumés. Dans le cadre du projet de thèse qu’il élabore actuellement, il souhaite poursuivre cette réflexion en se focalisant sur la dimension européenne des représentations fabriquées, et l’imbrication des entrées artistique, savante et politique qu’elle implique. GESINE MÜLLER (UNIVERSITÄT ZU KÖLN) Die Figur der Packerin: literarische Inszenierung einer Grenzgängerin als Roma-Variante in der frankophonen Karibik? Der Roman Adèle et la pacotilleuse des martinikanischen Schriftstellers R. Confiant inszeniert auf exemplarische Art eine spezifisch karibische Grenzgängerin-Figur des 19. Jahrhunderts. Eine Packerin bewegt sich in der Karibik von Insel zu Insel und kondensiert in sich alle historisch markanten Themen der Zeit. Schreiben im ,Dazwischen’, die ,pacotilleuse’ als exemplarische Trägerin subversiven Wissens, Relationalität, Archipelisierung: Diesen Paradigmen ist gemein, dass sie sich von der Konzentration auf essentialistische Identitätskonstruktionen lösen und die Karibik literarisch als Fallbeispiel eines „Erprobens von Zusammenleben“ auf universale Dimensionen hin öffnen. Inwiefern dienen zur literarischen Inszenierung dieser Grenzgängerin literarische Vorbilder anderer Außenseitertypen, wie die der Roma? Nachdem Victor Hugo als Protagonist im Roman eine exponierte Rolle spielt, liegen Fragen nach Transfers literarischer Vorbilder in die Karibik im 19. Jh. sehr nahe. Der Vortrag will der Frage nachgehen, welche Transformationen diese literarischen Transfers von Grenzgängerfiguren erfuhren. ANNA ISABELL WÖRSDÖRFER (JUSTUS-LIEBIG-UNIVERSITÄT GIEßEN) 13 Frankoromanistentag 2016 – Universität des Saarlandes Adoleszenz und ‚Zigeunertum’. Identitätskonstruktion im ‚bürgerlichen’ Milieu als doppelte Grenzerfahrung in Erckmann-Chatrians Myrtille (1862) und Mme Colombs Nedji (1874) Ausgehend von George Sands wegweisendem Roman La Filleule (1853) und im Zuge von dessen produktiv-literarischer Rezeption in den Folgejahrzehnten entstand in der französischen Literatur des späten 19. Jahrhunderts ein neuer literarischer Typus der Zigeunerfigur, dem auch die bohémiennes der beiden hier betitelten kurzen Erzählungen des Autorenduos Erckmann-Chatrian und Mme Colombs zuzurechnen sind: Es handelt sich um denjenigen des ‚zigeunerischen’ – meist weiblichen – Findelkindes, das von einer ‚bürgerlichen’ Familie aufgenommen wird und demnach fern seiner Sippe unter Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft aufwächst. Diese Konstellation birgt in besonderer Weise das Potenzial einer Auseinandersetzung mit Eigen- und Fremdkultur sowie, daraus resultierend, die Möglichkeit zur Artikulation diverser Grenzerfahrungen in sich: Besteht zwischen ‚Fahrendem Volk’ und sesshaften Franzosen zum einen eine ethnisch-kulturelle Grenze, die für die ganze ‚Zigeunerliteratur’ mit Fokussierung des Kulturkontakts konstitutiv ist, stellt das zweite zentrale Thema der Adoleszenz als Zustand zwischen Kindes- und Erwachsenenalter zum anderen eine spezifische Grenzerfahrung innerhalb dieser Gruppe von Texten dar. Wie sich die Persönlichkeit der Heranwachsenden in besagtem Zwischenstadium im Wechselspiel von Identitäts- und Alteritätserfahrungen und v.a. vor dem Hintergrund der ‚kulturellen Grenz- und Zwischenräume’ ausbildet, soll Gegenstand des projektierten Vortrags sein. So ähnlich sich Myrtille und Nedji in ihrem grundlegenden Motiv des ‚Lebens unter Fremden’ auch sein mögen, so unterschiedlich gestalten sich die beiden Erzählungen in ihrem Handlungsverlauf. Zwar liegt beiden ein nahezu identisches ‚Raumkonzept der Grenze’ zugrunde, in welchem sich ein eingepferchter Bauernhof bzw. das Gefängnis – als Ort der Begrenzung schlechthin – und weitläufige 14 Frankoromanistentag 2016 – Universität des Saarlandes Felder sowie Wälder und Gebirge – als Orte der Entgrenzung – gegenüberstehen. Doch schlagen die beiden Titelheldinnen innerhalb dieses (gut-)bürgerlichen Raums ganz entgegengesetzte Lebenswege ein, von denen nur derjenige der ersteren zurück auf die ‚Zigeunerstraße’ führt und welche sie im Zuge ihrer Erfahrungen mit gesellschaftlichen Grenzziehungen – oder deren Ausbleiben – wählen: Neben der Einstellung zur bäuerlichen Arbeit und häuslicher Verpflichtungen besitzt die christliche Religion eine besondere Scheide-funktion in der Persönlichkeitsentwicklung der beiden Mädchen: Dient sie im ersten Fall zur vorurteilsbeladenen Ausgrenzung der „païenne“ Myrtille, führt sie im Falle Nedjis, gemeinsam mit der Freundschaft zur gleichaltrigen Babéli, zur Überwindung der Grenzen – aber auch zum gänzlichen Ablegen der vormals ‚zigeunerischen’ Identität. SARGA MOUSSA (CNRS, PARIS) « Aux frontières de l’humanité » : Tsiganes et autres nomades dans le Voyage dans les steppes de la mer Caspienne d’Adèle Hommaire de Hell Adèle Hommaire de Hell (1819-1883), créole originaire de la Martinique et épouse de l’ingénieur Xavier Hommaire de Hell, qu’elle a accompagné dans ses voyages en Russie, en Turquie et en Perse, est l’auteur d’une œuvre encore peu connue. Elle a publié notamment un recueil de poèmes inspiré de ses voyages, Rêveries d’un voyageur (1846), dont le texte liminaire est placé sous le signe du nomadisme (une Bohémienne lui aurait prédit son destin de voyageuse). Mais c’est surtout dans son récit de voyage, Voyage dans les steppes de la mer Caspienne (publié en 1860, voyage accompli au début des années 1840), qu’apparaissent des figures de Tsiganes, dont elle rencontre un campement près de Rostof. Ce sont, dit-elle, les « bédouins d’Europe » : on est donc, ici, dans une forme d’orientalisme, y compris au sens qu’Edward Said a donné à ce 15 Frankoromanistentag 2016 – Universität des Saarlandes terme. Car pour Adèle Hommaire de Hell, ces Tsiganes sont d’une laideur telle qu’elle serait « inhumaine ». Nous avons donc affaire non seulement à un discours eurocentrique et ethnocentrique, mais à un discours qui semble exclure l’Autre de l’humanité, dans une forme d’orientalisme radicalisée. On verra par ailleurs que d’autres figures nomades, dans ce récit, font l’objet d’un même mécanisme d’exclusion, en particulier les Kalmoukes, dont la narratrice craint les « hordes errantes », mais aussi les juifs, « un peuple condamné à errer dans le monde ». Toutefois, le rejet du nomadisme, dont les Tsiganes apparaissent comme la forme exemplaire, n’est pas totalement univoque, à la fois parce qu’ils sont médiatisés par la littérature (référence à Walter Scott), et surtout parce que la narratrice elle-même, qui se définit comme une voyageuse, ne peut s’empêcher d’éprouver une forme d’attirance pour des peuples nomades rêvés comme proches de la Nature. Du coup, c’est aussi à une réflexion sur elle-même, sur la culture à laquelle elle appartient, et sur le désir secret de s’en échapper, que renvoient les Tsie ganes, ces anti-civilisés que la littérature a érigés en mythe au XIX siècle. STEFFEN SCHNEIDER (UNIVERSITÄT TRIER) Medea als gitane: Die Medea-Version Max Rouquettes (Max Roqueta) In seinem okzitanischen Drama Medelha von 1989 lässt Rouquette die Titelheldin als gitane erscheinen. Diese réécriture des Mythos hat zunächst eine metaphorische Funktion: Medea als gitane wird zum Inbegriff einer umherschweifenden, irrenden Existenz. Der Vortrag wird die Repräsentation Medeas im Drama analysieren und dabei weitere Bezüge zum Werk Rouquettas herstellen, insbesondere zu Lo libre de Sara, in dem die Zigeunerwallfahrten nach Les Saintes-Maries-de-la-Mer beschrieben werden. 16