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Neue Z}rcer Zeitung
ZEITFRAGEN
Samstag, 20.10.2001 Nr.244
91
In der Moralschleife
Eine diskutierende Bürgergesellschaft braucht keinen spezialisierten Sonderstatus für ethische Fragen
Von Richard Herzinger*
In Deutschland sind die Debatten über Genforschung, Biotechnologie und Sterbehilfe die
zentralen Kampffelder, auf denen ein substanziell
ethischer Moralbegriff reinstalliert werden soll. So
hat die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe in
den Niederlanden in der deutschen Öffentlichkeit
heftige Abwehrreaktionen ausgelöst. Die Bundesregierung erklärte umgehend, eine solche Regelung sei in Deutschland «undenkbar». Die Kirchen warnten davor, dass «das abendländische
Menschenbild dadurch einen gefährlichen Wandel» erfahre. In Zeitungskommentaren war immer
wieder von einem moralischen «Dammbruch»,
gar von einem «Kulturbruch» die Rede.
Ethikwächter schlagen Alarm
Welche Assoziation mit einer solchen Metaphorik hervorgerufen werden sollte, ist klar:
«Kulturbruch» klingt wie «Zivilisationsbruch»,
und dieser Begriff steht seit einigen Jahren als
Synonym für die nationalsozialistische Vernichtungspraxis. Im alarmistischen Gestus der Losung
«Wehret den Anfängen» beschworen die Kritiker
tatsächliche oder vermeintliche Missbrauchsmöglichkeiten der aktiven Sterbehilfe – bis der Eindruck entstand, die Erleichterung solchen Missbrauchs sei die eigentliche, verborgene Stossrichtung der holländischen Gesetzgebung. Dabei befremdet die Selbstgerechtigkeit, mit der deutsche
Ethikwächter – in projektiver Vergegenwärtigung
der eigenen Geschichte – einer tief in demokratischen Freiheitstraditionen verankerten Nation wie
den Niederlanden vorhalten, sie lieferten sich
blind der Willkür eines menschenvernichtenden
Prinzips aus.
Der Verdacht fusst auf der Unterstellung, mit
der Zulassung aktiver Sterbehilfe sei das Tötungsverbot ausser Kraft gesetzt worden, das die erste
Grundlage nicht nur der jüdischen und der christlichen Ethik, sondern des moralischen Selbstverständnisses
einer
zivilisierten
Gesellschaft
schlechthin bildet. Suggeriert wird dadurch, bei
dem niederländischen Gesetz handle es sich um
eine staatliche Einschränkung des individuellen
Lebensrechts und ihre potenziellen Auswirkungen
seien daher vergleichbar mit der nationalsozialistischen Euthanasiepraxis, deren Ziel die Ausmerzung für «unwert» erklärten Lebens war.
Das aber stellt den tatsächlichen Sachverhalt
auf den Kopf. Denn die niederländische Regelung zielt im Gegenteil auf die Erweiterung des
individuellen Rechts auf Selbstbestimmung über
das eigene Leben, was eben auch das Recht enthält, es zu beenden, wenn seine Fortsetzung nicht
mehr erträgliches Leid oder Entwürdigung einschliessen würde. Dieses Recht auf Bewahrung
eines Rests an individueller Entscheidungsfreiheit
auch angesichts einer grausamen, unbesiegbaren
Krankheit wird aber durch ein öffentlich überprüfbares Regelwerk von «checks and balances»
gegen den Anspruch der Gesellschaft an den Gesetzgeber abgewogen, das Lebensrecht jedes Einzelnen wirksam vor unbefugter Fremdeinwirkung
zu schützen.
Re-Sakralisierung der Debatten
Ob das holländische Gesetz diesen komplexen
Anforderungen hinlänglich gerecht wird, muss
natürlich Gegenstand kritischer Auseinandersetzung sein. Eine Fronde kategorischer «Lebens-
schützer» nutzt jedoch die Debatte über Bioethik
– die sich nicht nur am Problem der Sterbehilfe,
sondern vor allem an Fragen wie der Zulässigkeit
von
genetischer
Präimplantationsdiagnostik,
Stammzellenforschung und therapeutischem Klonen von Embryonen entzündet – zum Versuch
einer Re-Sakralisierung der Debatte über die
moralischen Grundwerte der offenen Gesellschaft. Dabei wird suggeriert, jedes Abweichen
von einem für die westliche Kultur angeblich verbindlichen,
ominösen
«christlich-abendländischen Menschenbild» führe zwangsläufig zu
einem destruktiven Werterelativismus und sei
überdies gleichbedeutend mit einer Unterminierung der Menschenrechte.
Doch die Werte «des Abendlandes» sind keineswegs identisch mit den Lehren der christlichen
Kirchen, und liberale Demokratien sind keine
christlichen, sondern säkulare, pluralistische Gebilde. Auch sind die Grundwerte der westlichen
Demokratie keine exklusiven Werte «des Abendlandes», sondern universale Werte, zu denen sich
jeder Mensch, unabhängig von seinem religiösen
und kulturellen Hintergrund, bekennen kann. Die
Gesetzgebung liberaler Demokratien leitet sich
daher nicht aus religiösen Prinzipien ab, sondern
hat unterschiedliche, oftmals miteinander unvereinbare Auslegungen von Grundwerten und elementaren Rechtsgütern in einen verträglichen
Ausgleich zu bringen. Entscheidend ist, dass die
Gesetzgebung in ihren Auswirkungen öffentlich
kontrollierbar und im Bedarfsfalle revidierbar ist.
«Lebensheiligkeit»
Gegen diese Unterwerfung moralischer Grundüberzeugungen unter diskursive Verfahrensprinzipien sträubt sich eine substanzialistische, metaphysisch begründete Auffassung von Leben, die
sich auf das Konzept der «Lebensheiligkeit» beruft. Dieser Begriff klingt zwar konsequent menschenfreundlich, kollidiert aber in Wahrheit mit
dem modernen individualrechtlichen Menschenrechtsverständnis. Das Recht auf Leben, wie es in
der Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben ist, bezieht sich auf den Schutz der Individuen vor der Gewalt des Staates und anderer
übermächtiger Kollektive – nicht zuletzt der organisierten Religionen. Es sagt jedoch nichts darüber aus, nach welchen Wertmassstäben man das
eigene Leben zu bemessen habe.
Seine absolute Gültigkeit gewinnt das menschenrechtliche Tötungsverbot gerade dadurch,
dass es unabhängig von irgendwelchen religiösen
oder philosophischen Begründungen des Sinns
von Leben Bestand hat. Die Zulassung aktiver
Sterbehilfe ändert an der Gültigkeit des Tötungsverbots nichts: Sie ist nur erlaubt als Verkürzung
eines unabänderlichen, qualvollen Sterbens und
nur auf ausdrücklichen, eindeutig feststellbaren
Wunsch des Sterbenden.
Recht auf Selbstbestimmung
Sie stellt keine Erlaubnis dar, das Lebensrecht
eines anderen Menschen anzutasten, sondern soll
dem Einzelnen gerade ermöglichen, das Selbstbestimmungsrecht über sein eigenes Leben auch
noch in einer hoffnungslosen Extremsituation
wahrzunehmen. Die Auffassung, das Tötungsverbot beruhe auf der Heiligkeit des Lebens, impliziert dagegen den Glauben an das individuelle
Leben als eine göttliche Gabe, über die der einzelne Mensch nicht verfügen dürfe.
Das absolute Verbot, sich am Geschenk des
Lebens zu vergreifen, schliesst in letzter Konsequenz das Gebot ein, im Vertrauen auf eine transzendente Erlösung auch unerträgliches und unveränderliches Leiden zu erdulden. Aus dem
modernen Menschenrechtsbegriff hinaus definiert
wird von den ethischen Substanzialisten damit gerade sein innerstes Movens: das Streben nach
Selbstbestimmung.
Menschenrechtsverletzungen
sind nach dieser Lesart nicht mehr in erster Linie
Verletzungen der Würde konkreter Individuen,
sondern vor allem Verletzungen einer metaphysisch und naturalistisch beglaubigten Werteordnung.
Sehnsucht nach Letztbegründungen
Noch weit mehr als die aktive Sterbehilfe ist
der Bereich genmedizinischer Forschung zum
Feld
heftiger
ethischer
Auseinandersetzungen
über die Definition menschlichen Lebens und
menschlicher Würde geworden. Die Angst vor
der substanziellen Grundlosigkeit weitreichender
Entscheidungen wie der, wann der Beginn
menschlichen Lebens nach dem Gesetz zu datieren sei und wann sein voller menschenrechtlicher
Schutzanspruch einsetzt, treibt eine heftige Sehnsucht nach ethischen Letztbegründungen hervor,
auf deren Basis der wissenschaftlichen Forschung
und der medizinischen Praxis «feste Grenzen»
gesetzt werden sollen.
Von Seiten der Kirchen und von wertkonservativen Philosophen wird dieser Streit mit dem
Furor eines regelrechten Kulturkampfs geführt:
Wer an dem Dogma rührt, menschliches Leben
beginne mit der Befruchtung der Eizelle und sei
daher schon von diesem Moment an unantastbar,
setzt sich ihrem Verdacht aus, menschliches
Leben jeder Art von technokratischer Verfügbarkeit ausliefern zu wollen.
Ruf nach Autorität
Appelliert wird daher an autoritative Instanzen
des Staats, an die Politik und an die Justiz, ein
moralisches Machtwort zu sprechen, das jeden
Zweifel an den vermeintlich feststehenden Kriterien des Lebensschutzes für illegitim erklärt. Das
derzeit geltende Recht vermittelt aber nur so
lange den Schein einer Konsistenz seiner moralischen Grundlegung, wie man über etliche innere
Widersprüche hinwegsieht: Nach dem Abtreibungsrecht reicht es bereits aus, dass eine Frau
nachweist, aus sozialen Gründen zur Versorgung
eines Kindes unfähig zu sein, um die Abtötung
der Leibesfrucht zu gestatten. Ebenso kann sie
abtreiben, wenn eine schwere Behinderung ihres
Kindes zu erwarten ist; die Untersuchung von
Stammzellen auf Erbkrankheiten und ihre Selektion vor der Implantation in den Mutterleib aber
gilt als Überschreitung des moralischen Rubikon.
Es gilt als moralisch vertretbar, embryonales
menschliches Leben zu vernichten, als nicht hinnehmbar aber, es zum Zwecke der Forschung zu
benutzen oder gar zu reproduzieren.
Alibifunktion des Ethikrates
Diese Widersprüche zeigen, dass das Recht
überfordert ist, wenn es über die Gültigkeit ethischer Letztbegründungen Auskunft geben soll.
Und die Politik traut sich angesichts einer so prekären ethischen Gemengelage einen kategorischen moralischen Dammbau gegen mögliche
negative Folgen der Erkenntnisfortschritte wissenschaftlicher Medizin zu Recht nicht mehr zu.
Gleichwohl ist sie dazu verdammt, auf diesem
Gebiet Weichenstellungen von grosser Tragweite
vorzunehmen. Um diesem Dilemma zu entgehen,
versucht sie, ethische Grundsatzprobleme vom
politischen Diskurs abzukoppeln. Die Einrichtung einer zentralen Ethikkommission durch Bundeskanzler Gerhard Schröder dokumentiert, wie
sich «die Ethik» jetzt als eine Art vermittelnde
Über-Instanz zwischen die Institutionen von Politik und Recht schieben soll.
Doch ein einmütiges Urteil in den hoch umstrittenen bioethischen Streitfragen wird auch ein
solcher Rat der Weisen weder herbeiführen noch
der gesamten Gesellschaft verbindlich verkünden
können. So wird der nationale Ethikrat kaum
mehr leisten können, als eine Alibifunktion für
den Gesetzgeber zu erfüllen, der hofft, die moralische Verantwortung für anstehende biopolitische Entscheidungen mit dem Hinweis auf das –
zwangsläufig vage – Diktum auserlesener Spezialisten in ethischen Fragen mindern zu können.
Nazi-Verdacht
Es ist freilich unstrittig, dass es ethische Begrenzungen für wissenschaftliche Forschungen
geben muss. Die Perversion medizinischer Praktiken im Nationalsozialismus war die äusserste
Manifestation
der
schrecklichen
Möglichkeit
ideologischer Instrumentalisierung humanbiologischer Forschung. Doch es wäre fatal, den Unterschied zwischen der heutigen Forschung und dem
ideologiegesteuerten Biologismus von medizinisch getarnten Rassen- und Sozialhygienikern zu
verwischen.
Das Ideal der «Volksgesundheit» bezog sich in
den biopolitischen Ideologien des 19. und
20. Jahrhunderts auf die «Gesundheit» eines fiktiven, kollektiven «Volkskörpers», den es von
schädlichem biologischem Erbgut zu reinigen
gelte und hinter dessen vermeintlichem Wohl das
Recht des Individuums zurückzustehen habe.
Heute aber zielt die humanbiologische Forschung
auf die Erschliessung neuer Möglichkeiten der
Krankheitsprävention und Heilung, die dem Einzelnen zugute kommen sollen. Jedenfalls gibt es
keinen plausiblen Anlass dafür, die Forschung auf
diesem Gebiet anderer, menschenverachtender
Motive zu verdächtigen.
Bestehende Institutionen genügen
Zwar gibt es auch in diesem Bereich einen verrückten Rand von Sektierern und Utopisten, die
von
der
grenzenlosen
Perfektionierung
des
menschlichen Organismus oder gar dem Sieg über
den Tod fabulieren. Doch um ihrem Treiben Einhalt zu gebieten, sind die bestehenden institutionellen Regelmechanismen demokratischer Gesellschaften sowie die Kontrolle durch eine frei
debattierende Öffentlichkeit ausreichend. Ein besonderer Ausschuss von Eingeweihten, der die
zulässigen Grenzen gesellschaftlicher Moraldiskussionen festlegt, wird dazu nicht benötigt.
* Richard Herzinger lebt als Publizist in Berlin. Soeben erschien von ihm im Siedler-Verlag sein politischer Essay «Republik ohne Mitte».
Moralische Grundsatzfragen sind zu einem Dauerthema der öffentlichen Auseinandersetzung in liberalen, pluralistischen Gesellschaften geworden. In Zeiten, da es, wie der
Sozialphilosoph Norbert Bolz formuliert, «keine hierarchische Wertetafel» mehr gibt,
sondern «allenfalls eine Moralschleife mit ständig wechselnden Spitzenwerten», wächst
in den «Werteeliten» das Bedürfnis, der Gesellschaft wieder einen essenziellen Wertekanon zu verordnen. Dessen Eckwerte werden zunehmend in Ethikräten diskutiert, die,
so der Autor des folgenden Artikels, in einer liberalen Gesellschaft überflüssig sind.
© 2001 Neue Zürcher Zeitung AG
Blatt 1