Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und Japan nach 1945
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Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und Japan nach 1945
1 Universität Leipzig Institut für Kulturwissenschaften Bereich Kultursoziologie Wintersemester 2003/04 Hauptseminar: Kulturvergleich Deutschland - Japan Seminarleiter: PD Dr. Matthias Junge Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und Japan nach 1945 Schwerpunkt: Der Umgang mit der eigenen Geschichte am Beispiel der historiographischen Diskurse zwischen 1945 und 1960 Danny Walther [email protected] 6. Fachsemester Kulturwissenschaften (HF) 2 Inhaltsverzeichnis Kapitel Seite 1. Einleitung und Fragestellung 3-4 1.1. Der Vergleich – Basis und Methode 2. Die Aufarbeitung des Krieges – erste Ansätze und Probleme 5 6-9 3. Fremdbestimmung und Selbstverortung – Bedingungen und Strategien der historiographischen Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und japanischem Faschismus 3.1. Entnazifizierung und „Säuberungsmaßnahmen“ 10 - 12 3.2. weitere Strategien 12 - 14 4. Nationalsozialismus und japanischer Faschismus als Forschungsobjekte 14 - 20 5. Vergangenheitsbewältigung nach 1960 – Eine Skizze japanischer und deutscher Befindlichkeiten 20 - 25 Literaturverzeichnis 26 3 1. Einleitung und Fragestellung Die Problematik der Aufarbeitung der eigenen Rolle zur Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges steht durch die Diskussionen um den Bau eines Vertriebenenzentrums seit einiger Zeit in Deutschland wieder ganz oben auf der publizistischen Agenda. Erfasst bereits ein flüchtiger Blick die quantitative Zunahme der medial vermittelten Auseinandersetzungen, so stellt sich bei der Lektüre recht bald heraus, dass auch ein qualitatives Mehr in Form eines schärferen Tones die Texte prägt. Oberhalb eines gewissen gesamtgesellschaftlichen Grundkonsenes 1 produziert eine Vielzahl von Organisationen und Institutionen ein wenig harmonisch anmutendes Klanggewirr von Interpretationsangeboten und Prioritätensetzungen. Dies verwundert jedoch kaum, führt man sich die Brisanz des Themas vor Augen, welches unmittelbar auf das Problemfeld von kollektiver Identität und nationalem Selbstverständnis verweist. Zugleich rückt damit die Frage der „Vergangenheitspolitik“ (Norbert Frei) von neuem in den öffentlichen Fokus. Ein Blick über den Tellerrand der deutsche n Diskurse offenbart ein ähnliches Bild in Japan, wo die Prozesse um Entschädigungszahlungen für Zwangsarbeiter, um nur ein Beispiel zu nennen, ebenfalls zur Reflexion über das eigene Geschichtsbild herausfordern. Hier wie da fällt in den aktuellen Debatten auf, dass das kollektive sprich öffentlich wirkmächtige Erinnern einer differenzierten Rekonstruktion oftmals wenig Raum zu lassen scheint. „Vielmehr greift das 'gemeinsame Gedächtnis' auf zentrale Codes, Orte, auf Archetypen, Mythen, Feste und Riten zur ück, die historische Differenzierungen weitgehend unberücksichtigt lassen.“2 Die genannten Punkte werfen eine ganze Reihe von Fragen auf, welche für eine Analyse der Aufarbeitung der Rolle Deutschlands und Japans in den historiographischen Diskursen bis 1960, wie sie hier geleistet werden soll, durchaus gewinnbringend erscheinen. In einem ersten Schritt soll auf die unmittelbar nach Kriegsende einsetzende Aufarbeitung der Geschehnisse eingegangen werden. Der Fokus liegt hierbei vor allem auf den Entnazifizierungs- und „Säuberungsmaßnahmen“, denen die Wissenschaftslandschaften in Deutschland und Japan unterzogen wurden. Die Analyse muss dabei vor allem das Verha lten der Alliierten berücksichtigen, die den Rahmen der diskursiven Bedingungen und Möglichkeiten absteckten. 1 Von diesem distanziert sich nur das rechtsextreme Lager. Der Grundkonsens besagt, „dass während des 'Dritten Reiches' Verbrechen unerhörten Ausmaßes in staatlichem Auftrag und 'im Namen des deutschen Volkes' begangen worden sind.“ Zitiert nach Frevert, U., Geschichtsvergessenheit und Geschichts versessenheit revisited. Der jüngste Erinnerungsboom in der Kritik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-41/2003, 6 - 13, hier 6. 2 Zitiert nach Hirsch, H., Flucht und Vertreibung. Kollektive Erinnerung im Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-41/2003, 14 - 26, hier 23. 4 Anschließend soll nach dem Bild gefragt werden, das in der japanischen bzw. westdeutschen Geschichtswissenschaft von der jeweils eigenen Nation unmittelbar nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges gezeichnet worden ist. Von zentraler Bedeutung wird sich dabei die Selbstverortung der Historiker erweisen. Es gilt zu untersuchen, mit Hilfe welcher Strategien versucht wurde, dass vor dem Hintergrund des Kriegsgeschehens brüchig gewordene Bild der Nation zu bestimmen? Was wurde thematisiert, was ausgeklammert? Die Ergebnisse werden dann als Ausgangspunkt genommen, um zu schauen, ob und, wenn ja, wie diese „Selbstportraits“ die wissenschaftliche Analyse der Zeit des deutschen Nationalsozialismus und japanischen Faschismus prägten. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit es in den Jahren zwischen 1945 und 1960 in der westdeutschen und japanischen Historiographie Veränderungen in der Bewertung des jeweiligen Forschungsobjektes gab. Unmittelbar damit ist auch die Frage verbunden, ob innerhalb der deutschen und japanischen Geschichtsschreibung konkurrierende Deutungsangebote vorhanden waren. Wenn ja, welche setzten sich durch und warum? Das letzte Kapitel erweitert den zeitlichen und thematischen Rahmen und versteht sich als eine Art rückblickende Zusammenscha u. Schlaglichtartig sollen darin die weitere Entwicklung der „Vergangenheitspolitik“ in Deutschland und Japan skizziert und mögliche Veränderungen im Bild von der Rolle der eigenen Nation aufgezeigt werden. Dabei stellt sich die Frage, welche Wirkmächtigkeit die (geschichts)wissenschaftlichen Diskurse zu verschiedenen Zeiten beanspruchen konnten. Es gilt zu überprüfen, ob die oben formulierte These, der Geschichtswissenschaft komme mit ihren detaillierten und fein ausdifferenzierten Rekonstruktionen im gemeinsamen und damit wirkmächtigen Erinnern gegenwärtig nur eine untergeordnete Bedeutung zu, auch in dem den aktuellen Debatten vorausgehenden Zeitraum als gültig erachtet werden kann. Die Antwort hierauf muss, so viel sei hier bereits vorweggenommen, auf Grund der Datenlage jedoch primär ex negativo erfolgen3 . Um von der Ebene der rein gegenüberstellenden Beschreibungen auf jene des erklärenden Vergleichs zu gelangen, ist es jedoch notwendig, den Ausführungen sowohl einige theoretisch- methodische Grundannahmen vorweg zu schicken, als auch die Ausgangslage der hier als tertium comparationis fungierenden Geschichtswissenschaft in Japan und Westdeutschland im Jahr 1945 kurz nachzuzeichnen. 3 Siehe Rüsen, J. (Hg.), Geschichtsbewußtsein. Psychologische Grundlagen, Entwicklungskonzepte, empirische Befunde ( = Beiträge zur Geschichtskultur, hg. von Jörn Rüsen, Bd. 21 ), Köln, Weimar, Wien 2001, wo trotz einiger Ansätze noch immer die „massiven Defizite an empirischem Wissen über Geschichtsbewußtsein“ (S. 4) deutlich werden. Die innerhalb eines längeren Zeitraumes durchgeführten Panelstudien zum Geschichtsbewusstsein Jugendlicher könnten diese Defizite zum Teil beseitigen helfen. Siehe dazu den Beitrag von Bodo von Borris in dem genannten Band. 5 1.1. Der Vergleich – Basis und Methode Die Situation in Deutschland und Japan unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges weist einige zentrale Parallelen auf, deren grundlegender Gehalt für die unmittelbar darauf folgende Entwicklung der beiden Nationen im Allgemeinen und für die der Historiographie im Besonderen von entscheidender Bedeutung war. Der verlorene Krieg hatte auf beiden Seiten zur bedingungslosen Kapitulation und, damit einhergehend, zum Verlust der nationalstaatlichen Souveränität geführt. Das Ende der autoritären Regime bildete in beiden Staaten den Anfang einer alliierten Besatzung, welche in Japan ausschließlich und in Westdeutschland stark amerikanisch dominiert war4 . Eines der ersten und wichtigsten Ziele der Alliierten war die Etablierung einer demokratischen Grundordnung, deren bürgerlichkapitalistische Ausric htung beide Staaten im aufkommenden Kalten Krieg ins westliche Lager führte 5 . So entstanden zunächst zwei relativ ähnliche Koordinatensysteme, deren äußere Punkte jeweils den Rahmen der möglichen Vergangenheitsinterpretationen vorgaben, innerhalb dessen die Historiographie operieren konnte6 . Der hier zu Grunde liegenden diskursgeschichtliche Ansatz betont darüber hinaus die internen und externen Beziehungen und Abhängigkeiten, welche die Interpretationsangebote der Historiker vorstrukturierten. Anders ausgedrückt: Die Analyse der Vergangenheitspolitik in der Geschichtswissenschaft beider Staaten soll im Kontext übergreifender Machtverhältnisse erfolgen7 . Dass dabei neben den genannten Gemeinsamkeiten eine ganze Reihe von Unterschieden zwischen Japan und Westdeutschland bestanden und wirkmächtig waren, versteht sich von selbst. Verlässt man diese eher abstrakte Ebene und wendet sich der konkreten Situation in den beiden Geschichtswissenschaften zu, so lassen auch hier die Gemeinsamkeiten in den methodischen Standards und der institutionellen Verankerung den vergleichenden Ansatz als gewinnbringend erscheinen8 . 4 Die Arbeit beschränkt sich bei allen zu behandelnden Themenkomplexen jeweils nur auf Westdeutschland. Die gesamtgesellschaftliche Entwicklung der DDR und die vor diesem Hintergrund zu interpretierende Rolle der dortigen Geschichtswissenschaft würden diesen Rahmen sprengen. 5 Vgl. Gluck, C., Das Ende der „Nachkriegszeit“: Japan vor der Jahrtausendwende, in: Hijiya-Kirschnereit, I., (Hg.), Überwindung der Moderne? Japan am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Frankfurt/ M. 1996, 57-85, bes. 63ff. 6 Dazu Conrad, S., Auf der Suche nach der verlorenen Nation. Geschichtsschreibung in Westdeutschland und Japan 1945-1960, Göttingen 1999, 23f. 7 Ich folge hier dem Ansatz von Conrad, a.a.O., 22ff. 8 Ebd., 24. 6 2. Die Aufarbeitung des Krieges – erste Ansätze und Probleme Unmittelbar nach Kriegsende begannen die Alliierten in Deutschland damit, ihre im Potsdamer Vertrag bekräftigte Absicht, den deutschen Militarismus und Faschismus endgültig zu beseitigen, in die Tat umzusetzen. Umfang, Intensität und Dauer der 9 Entnazifizierungsmaßnahmen waren dabei je nach Besatzungszone verschieden . Eines der wichtigs ten Instrumente in der amerikanischen Besatzungszone war ein 131 Fragen umfassender Fragebogen, dem der Versuch zu Grunde lag, „den einzelnen zu einer puritanischen Selbstprüfung und zur Einsicht in die eigenen Verfehlungen zu veranlassen – die Bejahung vo n Strafe eingeschlossen.“10 Das Ausfüllen des Bogens war die Voraussetzung für die Aufnahme jeglicher Art von Aktivität, z.B. den Eintritt in ein neues Beschäftigungsverhältnis. Persönliche Beziehungen wurden dabei nicht selten genutzt, um etwaig belasteten Mitbürgern sogenannte „Persilscheine“ auszustellen11 . Dieser Schutzmechanismus war durch die Bedeutung der „sauberen Gutachten“ in Gang gekommen und lähmte auf Grund der Menge dieser Leumundszeugnisse zum Teil die Arbeit der Ausschüsse. Von den insgesamt 13 Millionen Fragebogenpflichtigen wurden rund 600.000 Personen angeklagt, der überwiegende Teil kam jedoch mit einer Geldstrafe davon. Nur 0,26 % wurden in Gruppe der Hauptschuldigen, d.h. der kriminell oder politisch schwer Belasteten eingestuft. Unter diese Kategorie fielen auch die zum Tode bzw. zu langjährigen Haftstrafen Verurteilten der Nürnberger Prozesse, die für ihre Taten gemäß den Vertragsbestimmungen des Potsdamer Abkommens persönlich zur Verantwortung gezogen wurden. Es war das erste Mal, dass sich Einzelpersonen auf Grund ihrer Verstöße gegen das Völkerrecht vor einem internationalen Gerichtshof verantworten mussten. Doch dabei sollte es nicht bleiben. Das zwischen Mai 1946 und November 1948 in Tokio abgehaltene „Internationale Militärtribunal für den Fernen Osten“, bei dem 28 führende Befehlshaber des japanischen Militärs angeklagt waren, nahm sich Nürnberg zum Vorbild 12 . Zwar wiesen die Beteiligten darauf hin, dass die Geschehnisse in Japan eine andere Qualität als in Deutschland besessen hätten, doch hier wie da machte in der Öffentlichkeit das böse Wort einer von Doppelmoral dominierten „Siegerjustiz“ die Runde, war doch das Gesetz über die Verbrechen gegen die 9 Dazu Danyel, J., (Hg.), Die geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten, Berlin 1995. 10 Zitiert nach Glaser, H., Deutsche Kultur. Ein historischer Überblick von 1945 bis zur Ge genwart, Bonn 2000². 11 Dies zeigt u.a. das Beispiel des Historiker Willi Andreas, wenngleich dieser dennoch von den Amerikanern des Amtes enthoben wurde. Siehe Pfetsch, F. K., Neugründung der Universität nach 1945, in: Buselmaier, Harth, Jansen (Hg.), Auch eine Geschichte der Universität Heidelberg, Heidelberg/ Mannheim 1985, 365 – 380. 12 Siehe Buruma, I., Erbschaft der Schuld, München 1994, bes. 203 – 225 und Fuhrt, V., Erzwungene Reue, Vergangenheitsbewältigung und Kriegsschulddiskussion in Japan 1952 - 1998, Hamburg 2002, bes. 24f. 7 Menschlichkeit erst nachträglich formuliert und jenes über die Verbrechen gegen den Frieden einer Neudefinition unterzogen worden. Darüber hinaus gab und gibt es jedoch auch deutliche Differenzen in der Wahrnehmung. Während in Deutschland das Gesetz über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit stark im Kontext der brutalen und offenkundig gewordenen Einzigartigkeit des Holocaust gelesen wurde und sich die Angeklagten in Nürnberg auch hauptsächlich wegen ihrer HolocaustVerbrechen verantworten mussten, verbanden die Japaner „Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht mit Entsprechungen des Holocaust, sondern mit militärischen Exzessen, zu denen es in jedem Krieg kommt.“13 Verstärkend trat hinzu, dass die schlimmsten japanischen Grausamkeiten, wie etwa die medizinischen Experimente der Einheit 731, vor dem Tokioter Tribunal gar nicht mitverhandelt wurden, denn die Amerikaner hatten sich mit den betreffenden Wissenschaftlern arrangiert und deren „Forschungsergebnisse“ gegen die Zusicherung von Straffreiheit getauscht. Ein generelles Problem stellte zudem die japanische Rechtstradition dar, vor der die Anklagen in den Tokioter Prozessen auf Grund des anderen Rechtsve rständnisses als sehr fremd erscheinen mussten14 . Dies alles würde jedoch nur unzureichend erklären, warum es gerade in Japan den nationalistischen Revisionisten bis zum heutigen Tage gelingt, vom „Geschichtsverständnis des Tokioter Tribunals“ zu sprechen und es als antijapanische Propaganda zu deklarieren, welche generationenübergreifend die Moral der Japaner unterminiert habe 15 . An dieser Stelle muss der Vergleich die Differenz suchen und es wird klar, dass der die Diskurse und damit auch die öffentliche Wahrnehmung strukturierende Unterschied in erster Linie in der Person des Tenno gefunden werden kann. Am 15. August 1945 verkündete Kaiser Hirohito im Radio die Kapitulation Japans. Während des Krieges war es seine unangreifbare Autorität gewesen, auf die sich die militärischen Befehlshaber berufen konnten und in der sie Anlehnung (amae) fanden - ein „System der Unverantwortlichkeiten“ (Masao Maruyama) entstand. Dessen Teilnehmer konnten ihr Handeln immer vor dem Hintergrund einer Ideologie rechtfertigen, welche die Götterabstammung des japanischen Kaiserhauses propagierte und die den Kaiser zum Vater des gesamten japanischen Volkes stilisierte 16 . Und wer sich für auserwählt hält, der führt 13 Buruma, a.a.O., 207. Ebd., 205f. 15 Ebd., 206. Vor allem in den Auseinandersetzungen über die Schulbücher linker Historiker in Japan kommt diese Anklage immer wieder zum Ausdruck. Siehe dazu Kapitel 5 dieser Arbeit. 16 Dazu der Beitrag von Antoni, K., Japans schwerer Weg nach Asien – Geistesgeschichtliche Anmerkungen zu einer aktuellen Debatte, in: Hijiya-Kirschnereit, I., (Hg.), Überwindung der Moderne? Japan am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Frankfurt/ M. 1996, 123 - 145. 14 8 immer einen „gerechten Krieg“17 . Noch am 15. August gab Erziehungsminister Kôzô den sogenannten Monb ushô Erlass bekannt, der dem japanischen Volk die Verantwortung für die Niederlage zuschrieb, was sich unter anderem in einer am 28. August durchgeführten und als „Gemeinsame Beichte von 100 Millionen“ bekannt gewordenen Zeremonie widerspiegelt. Bezeichnend war dabei auch die Wortwahl: Nicht die Schuld für den Krieg, sondern lediglich jene für den Misserfolg galt es einzugestehen18 . Die Anstrengung der Regierung zielte ebenfalls darauf, den Tenno aus allen den Krieg betreffenden Belangen herauszuhalten. Dieses für Außenstehende schwer zu durchdringende Feld von formaler Verantwortung und tatsächlicher Schuld war es, dem sich Alliierten gegenübergestellt sahen. Aus Angst, die beabsichtigten Reformen nicht durchführen und Japan nicht wirklich regieren zu können, nahm der amerikanische Oberbefehlshaber General Douglas MacArthur den Kaiser von der Aufarbeitung der Schuld aus. Jene Instanz, die alle Kriegstaten entschuldigt und die gesamte politische Verantwortung durch ihre alles überragende Autorität verborgen hatte, wurde nun selbst per definitionem von aller Schuld befreit. Nicht einmal als Zeuge, so wurde in dem Abkommen festgehalten, konnte Kaiser Hirohito vorgeladen werden19 . War aber der Tenno nicht schuldig, so konnte es dem japanischen Rechtsverständnis nach gar keiner sein. Um aber nicht Gefahr zu laufen, gar keine Prozesse mehr führen zu können, wurde dafür gesorgt, dass die angeklagten Generäle den Kaiser entlasteten und ihn als denjenigen darstellten, der die ganze Zeit auf Frieden aus gewesen sei20 . Die Folge: Man bestrafte einige militärische Führer, die dem Selbstverständnis nach aber alle im System der Nichtverantwortlichkeiten gehandelt hatten. Die Form der Tokioter Prozesse war es, die, ungeachtet der tatsächlich vorhandenen Schuld der Verurteilten, dazu führte, dass aus Männern, die für die Alliierten Kriegsverbrecher waren, in den Augen vieler Japaner Märtyrer werden konnt en. Ihre 1981 bekannt gewo rdene Aufnahme in den Yasukuni-Schrein macht diese Widersprüche mit Händen greifbar21 . Durch die Exkulpation des Kaisers wurde die notwendige Aufarbeitung der Kriegsschuld zum Kratzen an der Oberfläche eines differenzierten Systems, dessen kulturellen Codierungen von außen schwer einsehbar sind. Ihre tieferen Verbindungen wurden mit den Tokioter Kriegsprozessen nicht aufgelöst und bildeten in Japan fortan den Nährboden für allerlei revisionistisches Gedankengut. Es ist auch bezeichnend, dass Japan „nach der Wiedererlangung der Souveränität 1952 [...] keine eigenen Anstrengungen zur Aufklärung von Kriegsverbrechen und zur Strafverfolgung der Verantwortlichen“ 17 Siehe z.B. die Aussagen bei Buruma, a.a.O., 220f. Siehe Fuhrt, a.a.O., 38ff.; Conrad, a.a.O., 162. 19 Buruma, a.a.O., 224. 20 Ebd. 21 Siehe Fuhrt, a.a.O., 28. 18 9 unternahm22 . Über die Rolle des Kaisers während des Krieges wurde in der japanischen Öffentlichkeit schon bald wieder geschwiegen, was sowohl im Interesse der Alliierten als auch der ab 1952 regierenden LDP lag, der es vor allem darum ging, ein affirmatives Bild der eigenen Geschichte und eine positive nationale Identität herzustellen. Die in den Jahren 1945 bis 1947 geführten intensiven Auseinandersetzungen über Kriegsschuld und -verantwortung rückten so zunehmend in den Hintergrund, bis sie beinahe ganz aus dem Blickfeld der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden waren23 . Erst in den frühen achtziger Jahren, so wird noch zu zeigen sein, gewannen diese Fragen wieder an Bedeutung24 . Diese verallgemeinernde Außenwahrnehmung vernachlässigt jedoch die historiographischen Diskurse der Nachkriegszeit, welche in Japan bis zum Ende der 50er Jahre stark von marxistischen Historikern geprägt waren. Sie standen der Institution des Kaisers überaus kritisch und nicht selten in offener Ablehnung gegenüber. Im Folgenden verengt sich daher der bisher eingenommene, recht allgemeine Blickwinkel auf das Feld der Historiographie. Die Wirkmächtigkeit des marxistischen Paradigmas in der japanischen Geschichtsschreibung kann nur im Kontext der „Säuberungsmaßnahmen“ an den japanischen Hochschulen verstanden werden. Seine damit verglichen doch relativ geringe gesamtgesellschaftliche Wirkmächtigkeit und die sich im Laufe der späten 40er und 50er Jahre immer stärker abzeichnenden Konflikte mit den politischen Machthabern verweisen zudem auf die Begrenztheit jenes bereits genannten diskursiven Rahmens, der von den Alliierten respektive der japanischen Regierung abgesteckt wurde. Der angestrebte Vergleich mit Deutschland kann sich zunächst auf die Entnazifizierungsmaßnahmen an den deutschen Hochschulen stützen. Deren Ergebnisse bzw. die später einsetze nden Rehabilitationsmaßnahmen beeinflussten, wenngleich nicht so stark wie in Japan, inhaltlich die historiographischen Auseinandersetzungen um das Bild der eigenen Nation und der Zeit des Nationalsozialismus. Auf der „strukturellen“ Ebene sind Entnazifizierung und „Säuberungen“, neben einer Vielzahl anderer, stärker aktiv geprägter Vorgehensweisen, zugleich aber auch als Bedingungen zu werten, sich überhaupt mit diesen Themen wissenschaftlich auseinandersetzen zu können. 22 Zitiert nach Fuhrt, a.a.O., 26f. Zu den Gründen für die mangelnde Auseinandersetzung Seraphim, F., Der Zweite Weltkrieg im öffentlichen Gedächtnis Japans. Die Debatte zum fünfzigsten Jahrestag der Kapitulation, in: Hijiya-Kirschnereit, I., (Hg.), Überwindung der Moderne? Japan am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Frankfurt/ M. 1996, 25-56, bes. 35f. 24 Der entscheidende Unterschied zwischen den Debatten unmittelbar nach Kriegsende und denen seit den achtziger Jahren lässt sich wie folgt charakterisieren: „Diese erste Debatte wollte den Krieg bewältigen, während die gegenwärtige Diskussion vor allem mit den Nachkriegsjahren fertig werden möchte.“ Seraphim, a.a.O., 36. In diesen Hinsicht hat die jahrzehntelange Verdrängung der Schuldfrage eine nachhaltige Wirkung erzielt. Siehe hierzu auch das Schlusskapitel dieser Arbeit. 23 10 3. Fremdbestimmung und Selbstverortung – Bedingungen und Strategien der historiographischen Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und japanischem Faschismus 3.1. Entnazifizierung und „Säuberungsmaßnahmen“ Unmittelbar nach Kriegsende hatten die Alliierten in Deutschland und Japan mit der Aufarbeitung der Katastrophe begonnen. Auch die Universitäten wurden von den Entnazifizierungen und „Säuberungsmaßnahmen“ nicht ausgeschlossen25 . Dies war notwendig geworden, hatte doch eine ganze Reihe von Wissenschaftlern beider Länder mit den jeweiligen Machthabern kooperiert. Nicht nur die alten Geschichtsbilder bedurften im Zeichen des Vergangenen einer grundlegenden Neubetrachtung26 , auch diejenigen, die sie erstellt hatten, waren zunächst einmal diskreditiert. Wie in der gesamten Gesellschaft, so variierten Umfang, Intensität und Dauer der Entnazifizierungsmaßnahmen auch an den deutsche Hochschulen je nach Besatzungszone. Einen entscheidenden Unterschied zum sonstigen Vorgehen der Alliierten stellte dabei die Tatsache dar, dass die Universitäten die Verfahren oft selbst durchführen konnten. In der amerikanischen Besatzungszone legten die Alliierten ab Januar 1946 die Entnazifizierung sogar offiziell in die Hände der Universitäten, begleitet nur noch durch den jeweils zuständigen Hochschuloffizier 27 . Auch in Japan blieben direkte Eingriffe in die Hochschulen durch die Alliierten eher die Ausnahme. Fakultätseigene Kommissionen aus als integer geltenden Dozenten entschieden, ähnlich wie in Deutschland, über die Weiterbeschäftigung ihrer Kollegen. Ein Blick auf die Statistik zeigt, dass in Japan mit ca. 0,3 % nur ein sehr geringer Prozentsatz von Wissenschaftlern ihren Lehrstuhl verlassen mussten, während im westlichen Teil Deutschlands zwischen 10% und 35% des Lehrkörpers ihre Stelle verloren28 . Man würde speziell den japanischen „Säuberungsmaßnahmen“ jedoch Unrecht tun, wenn man es bei diesen Zahlen beließe, kamen doch zu diesen erzwungenen Ausschlüssen eine ganze Anzahl mehr oder weniger freiwilliger Rücktritte hinzu29 . Die klare Linie bei den Entnazifizierungs- und „Säuberungsmaßnahmen“ ging in beiden Ländern jedoch bald verloren. In den frühen Fünfziger Jahren erlaubte in Westdeutschland 25 Siehe grundlegend dazu Conrad, a.a.O., 141ff. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass bei aller Betonung der Notwendigkeit einer fundamental neuen Deutung der deutschen Geschichte seitens der Historiker, bereits Ende der vierziger Jahre diese Appelle merklich nachließen. Dazu Conrad, a.a.O., 153f. 27 Ebd., 141. 28 Zu den Zahlen Rupieper, H.-J., Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie: der amerikanische Beitrag 1945 – 1952, Opladen 1993, 137. 29 Conrad, a.a.O., 144., besonders Anm. 33. 26 11 das Gesetz zum Artikel 131 und in Japan die bildungspolitische Wende nach dem Ende der Besatzungszeit 1952 zahlreichen Historikern eine Rückkehr an die Universitäten. Wie konnte es dazu kommen? Zahlreiche Historiker gehen heute davon aus, dass die von alliierter Seite ausgegangenen Entnazifizierungsbestrebungen Selbstorganisation anstrebende gesamtgesellschaftlich Säuberungskonzept „das im deutsche Keim antifaschistische, erstickt“ haben. Das Befreiungsgesetz sei „zum entscheidenden Instrumentarium der Massenrehabilitation ehemaliger NS-Mitglieder“ geworden30 Diese Deutung der Ereignisse rekurriert stark auf die bereits 1948 begonnene Beendigung der Entnazifizierungsmaßnahmen, welche dazu führte, dass ein Großteil der noch zu bearbeitenden Fälle - in der Regel waren bis dahin erst die Fälle mit leichteren Vergehen abgewickelt - gar nicht oder sehr milde behandelt wurde. Konservative Kreise erlangten dann auch zunehmend wieder Einfluss auf die deutsche Verwaltung, was sich unter anderem in besagtem Gesetz zum Artikel 131 ausdrückt. Folgt man dieser Interpretation, dann lässt sich auch für Japan ein ähnliches Muster erkennen. Dort war vor allem die marxistische Historiographie Nutznießer der „Säuberungsmaßna hmen“ gewesen. Deren Vertreter sahen sich nicht nur selbst als bisher unterdrückte und jetzt zu ihrem Recht gekommene Wissenschaftler an. Auch den Alliierten galten sie zunächst als „liberal educators of Japan“31 . Dies sollte sich jedoch bald ändern. Bereits das 1947 erlassene Verbot des Generalstreiks sowie andere besatzungspolitische Maßnahmen zielten darauf ab, die geplante demokratische Umerziehung des japanischen Volkes mit einem antikommunistischen Einschlag zu versehen. Schließlich wurden ab 1949 zahlreiche Kommunisten im Zuge des „reverse course“ von ihren Positionen in Politik, Medien und Verwaltung verdrängt, während nahezu parallel dazu im Mai 1951 die „Säuberungsmaßnahmen“ gegen rechtskonservative und nationalistische Kreise eingestellt wurden32 . Die mit dem Ende der Besatzung und der Wiedererlangung der Souveränität einhergehende konservative Wende in der japanischen Bildungspolitik war somit nur ein weiterer Schritt in eine schon zuvor angelegte Richtung. Und so verwundert es nicht, dass seitdem in Japan, wie auch in Deutschland, Stimmen laut werden, die der Meinung sind, dass selbstorganisierte, d.h. aus der eigenen gesellschaftlichen Mitte ausgehende „Säuberungsmaßnahmen“ eine tiefgreifendere Wirkung gezeitigt hätten, als die, wohlgemerkt im historischen Rückblick so 30 Zitate aus Niethammer, L., Die Mitläuferfabrik. Die Entnazifizierung am Beispiel Bayern, Berlin/ Bonn 1982. So der Titel eines schon während des Krieges von den Amerikanern angelegten Verzeichnisses mit Namen von Wissenschaftlern, die den Alliierten als wohlgesonnen galten. Siehe Conrad, a.a.O., 144, Anm. 29. 32 Vgl. Fuhrt, a.a.O., 26. und Conrad, a.a.O., 163. 31 12 betrachteten, wechselhaften und nicht selten die eigentlichen Machtstrukturen kaum tangierenden Maßnahmen der Alliierten33 . Die Rolle des Tenno bei der Aufarbeitung der Kriegsschuld ist nur ein, wenngleich sehr signifikantes Beispiel für diese Schwierigkeiten. Hatten die bisher beschriebenen Strategien primär von außen in Form einer „Fremdverortung“ auf die Wissenschaftler eingewirkt, so lässt sich parallel dazu eine Reihe „aktiver“ Vorgehensweisen eruieren, deren Ziel es war, den für eine zukünftige wissenschaftliche Behandlung der vergangenen Ereignisse notwendigen Standpunkt in der Gegenwart zu bestimmen. Diese Selbstverortung der deutschen und japanischen Historiker in der Zeit nach 1945 war untrennbar mit einer Distanzierung vom Geschehenen verbunden. Im selben Atemzug reklamierten sie rückblickend für sich eine quasi seherische Funktion für die Zeit vor 1945, aus der heraus sie ihre zukünftigen Aufgaben ableiteten. 3.2. weitere Strategien „Gegenüber dem Hagelwetter zuerst nationalistischer, nunmehr antinationalistischer Geschichtspropaganda, das über die deutsche Nation hereingebrochen ist, muß sie versuchen, einen eigenen, festen und höheren Standort zu gewinnen, von dem aus eine klare Fernsicht möglich ist“, schrieb 1950 der deutsche Historiker Gerhard Ritter 34 . Ganz in der Tradition des Historismus stehend, ging es den deutschen, aber auch den japanischen Historikern darum, einen scheinbar objektiven, quasi unbeteiligten Platz einzunehmen, um von dort aus auf die Geschichte zu blicken. Dieses sich-aus-der-Zeit-setzen und gewissermaßen über sie stellen war eng verbunden mit dem Anspruch, jeglicher Ideologie gegenüber resistent gewesen zu sein und es auch zu bleiben. Eine ganze Reihe von intellektuellen und interpretatorischen Operationen half dabei. Basis einer jeden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und japanischem Faschismus war eine klare Distanzierung von den Geschehnissen dieser Zeit 35 . In dieser Hinsicht unterschied sich die Positionierung der deutschen Historiker mitunter vom öffentlichen Diskurs, tauchten doch in letzterem ab und an durchaus gewisse affirmative Haltungen gegenüber der Vergange nheit auf. Einen noch deutlicheren Bruch mit der eigenen Vergangenheit vollzog die japanische Historikerschaft, was hauptsächlich darauf zurückzuführen ist, dass dort der Ton von den marxistischen Historikern angegeben wurde. Am deutlichsten drückte sich dies in ihrer überaus tennokritischen Haltung aus. Das repressive System in der Zeit des japanischen Faschismus wurde von ihnen als Höhepunkt 33 Siehe Buruma, a.a.O., 209. Zitiert nach Conrad, a.a.O., 137. 35 Ebd. 34 13 einer Entwicklung betrachtet, deren Basis das Tennosystem selbst darstellte. Die Forderung nach Aufgabe der monarchischen Strukturen war die logische Konsequenz dieser Sichtweise 36 . Der in der Geschichtsschreibung beider Ländern recht klare Bruch mit der Vergangenheit muss zudem zu einem nicht unwesentlichen Teil als Resultat des diskursiven Rahmens, der von alliierter Seite aus gesetzt wurde und die Grenze des Sagbaren absteckte, gelesen werden. Die alliierte Zensur wirkte unterstützend in die selbe Richtung. Ein weiteres Mittel die eigene Integrität und die neu gewonnene Objektivität der Geschichtsinterpretation nach außen zu tragen bestand darin, die Geschichtsbilder der dreißiger und vierziger Jahre als vom jeweiligen Propagandaapparat inszenierte Fälschungen zu bewerten. Die Betonung eigener Immunität und Objektivität erfolgte dabei nicht nur durch die Versicherung, dass Täuschungsmanöver nachträglich entdeckt zu haben. Vielmehr wurde sie nicht selten von einer Erklärung flankiert, wonach dem Historiker die Lüge schon lange bekannt gewesen sei, allein das Regime habe die öffentliche Dekuvrierung bis dato verhindert37 . Aus diesem Anspruch leiteten zahlreiche deutscher Historiker ihre neue alte Aufgabe ab, Seher und Warner der eigenen Nation zu sein. Die Geschichte wurde zur Zeitgeschichte. Der Selbstinterpretation nach durch die Wissenschaft in die Höhe der Objektivität gehoben und damit aller nationalsozialistischen Ideologie gegenüber resistent, nahmen einige deutsche Historiker für sich in Anspruch, Urheber des „richtigen“ Geschichtsbildes zu sein und daraus dem deutschen Volk den Weg in die Zukunft zu weisen. Der Glaube an die Möglichkeit, die Zukunft aus den Erfahrungen der Vergangenheit gestalten zu können, war unter den japanischen Historikern noch weiter verbreitet und zog sich wie ein roter Faden durch die Werke der marxistischen Historiographie in der Nachkriegszeit 38 . Die aus der eigenen Geschichte abgeleiteten Zukunftsvorstellungen unterschieden sich ihrem Inhalt nach jedoch deutlich voneinander. Während in Japan durch die Wirkmächtigkeit der marxistischen Interpretation der Zukunftsbegriff stark vom Wunsch nach Demokratisierung des Landes geprägt war und damit einen deutlichen Bruch mit der historischen Kontinuität vollzog, betonten die Zukunftsvorstellungen vieler deutscher Historiker gerade die zeitlosen deutschen Tugenden und Traditionen39 . Diese seien auch durch die Katastrophe des Nationalsozialismus nicht verunreinigt worden. So forderte Friedrich Meinecke die Einrichtung von Goethegesellschaften, die das Trauma des Nationalsozialismus für alle 36 Conrad,a.a.O., 138f. Ebd., 146ff. 38 Ebd., 151f. 39 Ebd., 169ff. 37 14 Zukunft unmöglich machen sollten40 . Es kam unter zahlreichen Intellektuellen, wenn man einem kleinen Wortspiel folgen möchte, zur „Vergoehtlichung“ der deutschen Kultur. Der Größe und Reinheit der deutschen Kultur stand auf japanischer Seite der Interpretation bis weit in die fünfziger Jahre die Hervorhebung der eigene n kulturellen Mängel gegenüber, wie sie vor allem in den noch heute wirkmächtigen Werken Maruyama Masaos zu finden sind 41 . Ein „kulturalistischer Essentialismus“ (Hijiya-Kirschnereit) 42 , der das jeweils Eigene zum Einzigartigen macht und es als Erklärungsmuster und Überwindungsstrategie benutzt, lässt sich somit in Japan und Deutschland nach Kriegsende konstatieren. Und dennoch: Die Zukunft, so ließe sich scheinbar paradox formulieren, wies in beiden Staaten in diametrale Richtungen43 . 4. Nationalsozialismus und japanischer Faschismus als Forschungsobjekte Im vorhergehenden Kapitel waren die verschiedenen aktiven und passiven Strategien als Bedingung der Möglichkeit betrachtet worden, sich mit der Zeit des deutschen Nationalsozialismus und japanischen Faschis mus wissenschaftlich auseinandersetzen zu können. Im Folgenden soll deshalb der Frage nachgegangen werden, welche Interpretationen diese Epoche selbst erfuhr und inwiefern die oben besprochenen Strategien der Selbstverortung der Historiker darauf Einfluss nahmen. Eine detailliertere Analyse soll darüber hinaus untersuchen, ob es zu bestimmten Zeitpunkten verschiedene, miteinander konkurrierende Interpretationsangebote gab. Diese synchrone Analyseebene wird von einer diachronen begleitet, welche nach Veränderungen in den die Forschungsobjekte betreffenden Deutungsangeboten fragt. Mögliche Gründe müssen hierbei jeweils in der Interdependenz von äußerem Einfluss und innerer Entwicklung der Historiographie eruiert werden. Von manchen Forschern ist die Aussage zu hören, die deutsche Geschichtsschreibung habe im ersten Jahrzehnt nach 1945 die Zeit des Zweiten Weltkrieges verdrängt. Andere sind genau der gegenteiligen Ansicht. Beide präsentieren Titel- und Auflagenzahlen zur Bestätigung ihrer Thesen44 . Die quantitative Analyse geht jedoch am eigentlichen Problem vorbei. Nicht eine quantitative sondern eine qualitative Verdrängung der Zeit des Nationalsozialismus zeichnet 40 Meinecke, F., Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1946, bes. 164ff. Besonders der 200. Geburtstag Goethes im Jahre 1949 sorgte noch einmal für einen Boom dieser Deutung, aber auch für Kontroversen, hatte doch Karl Jaspers eine kritische Aneignung Goethes empfohlen und auf die Gefahren einer bloßen Nachahmung verwiesen. Jaspers, K., Unsere Zukunft und Goethe, in: Die Wandlung, Heft 7/8, 1949, 584ff. 41 Zu Maruyamas Analyse des japanischen Faschismus siehe Conrad, a.a.O., 165ff. 42 Hijiya-Kirschnereit, I., Leuchtet Japan? Einführende Gedanken zu einer proklamierten Zeitenwende, in: Dies., (Hg.), Überwindung der Moderne? Japan am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Frankfurt/ Main 1996, 7-24. 43 Conrad, a.a.O., 153. 44 Ebd., 133 - 136, bes. Anm. 5. und 159ff. 15 die Auseinandersetzungen mit der Geschichte des Dritten Reiches aus. Die Wahrnehmung der eigenen Geschichte erfolgte in starkem Maße selektiv. Auch in Japan blieben bestimmte Aspekte der Kriegszeit lange Zeit ausgespart. Darauf deuten etwa die erst in den Jahren um 1990 begonnenen und bis heute anhaltenden kontroversen Diskussionen über Zwangsprostitution und mögliche Entschädigungszahlungen an die sogenannten „Militärtrösterinnen“ hin, um nur ein Beispiel zu nennen45 . Diese Art des Umgangs mit nationaler Geschichte verweist darauf, dass, trotz aller aufgezeigten Brüche, die große Zahl der japanischen und deutschen Historiker mittels verschiedener Strategien versuchte, die „dunklen Flecken der Tradition“ zu behandeln, ohne dabei der eigenen Nation eine Kollektivschuld zuzuschreiben46 . Dieses Vorgehen korrespondierte einem gesellschaftlichen Bedürfnis und festigte es weiter. Wie sahen diese Strategien und Deutungsmuster nun konkret aus? Unter deutschen und japanischen Historikern war in der Nachkriegszeit die Ansicht weit verbreitet, die vorhergehende Epoche als Katastrophe zu interpretieren. Dabei fällt aber auf, dass es in der deutschen Historikerschaft nicht nur die Zeit des Nationalsozialismus selbst als die eigentliche Katastrophe angesehen wurde, sondern dass dieser beinahe inflationär verwendete Begriff auch auf die Niederlage 1945 und die daraus resultierende Besatzung angewendet wurde 47 . In Japan zeichnete der stark von den marxistisch orientierten Historikern geprägte Diskurs zunächst noch das Bild der Hoffnung auf Befreiung vom monarchistischen Joch des Tennosystems. Der Glaube auf einen positiven Ausgang der Katastrophe wurde durch die 1949 offen einsetzende Kommunistenverfolgung und weitere Maßnahmen des alliierten „Gegenkurses“ schnell erschüttert und führte in den fünfziger Jahren zu einer Neuinterpretation der Ereignisse. Das Kriegsende wurde von den marxistischen Historikern jetzt als Beginn einer imperialistischen Neokolonisation gedeutet 48 . Wichtig für den gesamten japanischen Diskurs ist in diesem Zusammenhang der Begriff der Nachkriegszeit (sengo), die mit der Kapitulation am 15. August 1945 begann. Carol Gluck hat insgesamt fünf verschiedene sengo herausgearbeitet und in ihrer Wirkung analysiert49 . In der „vielfältigen Nachkriegszeit“ Japans führten verschiedene Diskursstränge dazu, dass „die Rolle der Übeltäter sogleich der militaristischen Führung zufiel und dem japanischen Volk die 45 Andere Beispiele sind das Nanking-Massaker und die Rolle der berühmt -berüchtigten Einheit 731. Zum Problem der „Militärtrösterinnen“ siehe auch das letzte Kapitel dieser Arbeit. 46 Conrad, a.a.O., 134. 47 Ebd., 161ff. 48 Ebd., 163f. 49 Gluck, a.a.O., 61ff. 16 Opferrolle zugedacht wurde“50 . Auch die Nürnberger und Tokioter Prozesse basierten auf diesem dichotomen Verständnis von Verantwortung, ihre öffentlichkeitswirksame Inszenierung wirkte, gewollt oder nicht, auf dessen Festigung hin. Glucks Schlussfolgerungen zum Umgang mit Kriegsverantwortung, die primär auf die Makroebene des gesamtgesellschaftlichen Umgangs mit Kriegs- und Nachkriegszeit rekurrieren, werden von Sebastian Conrads Ergebnissen des „Mikrokosmos Historiographie“ sowohl für Japan als auch für Deutschland weitgehend bestätigt 51 . Unterschieden sich die verschiedenen Schulen in der Geschichtswissenschaft in der Lokalisierung der Ursachen des japanischen Faschismus und deutschen Nationalsozialismus 52 , so fällt auf, dass die Stilisierung der Nation und des Volkes zum Opfer einer kleinen verbrecherischen Gruppe von Militaristen und Ultranationalisten eine Art Grundkonsens in den Geschichtswissenschaften beider Länder darstellte. Unter den deutschen Historikern war die Interpretation weit verbreitet, dass das Volk von einem in sich geschlossenen Machtapparat unterdrückt worden war. Diese „innere Besetzung“53 des Landes wurde als temporäres Gift interpretiert, dass nur von 1933 bis 1945 seine Wirkung entfalten konnte, das deutsche Volk und die deutsche Kultur an sich jedoch nicht kontaminiert habe 54 . Im Gegenteil: Die Mehrzahl der Deutschen habe sich im Widerstand gegen das Regime befunden55 . In der öffentlichen Wahrnehmung blieb diese Interpretation aber bis weit in die fünfziger Jahre ohne größere Wirkung, da die Alliierten im Begriff des Widerstandes vor allem die Ereignisse des 20. Juli gespiegelt sahen, die wiederum als aristokratisch und undemokratisch galten und somit nicht ins Bild ihrer intendierten Politik passten. „Das wahre und echte Deutschland“56 definierte sich nach dem Bild vieler Historiker durch seine Opposition gegen das nationalsozialistische Regime. Aus diesem Deutschlandbild wurden jedoch die sozialistischen und gewerkschaftlichen Widerstandsbewegunge n ausgeblendet57 . Diese gesamte Deutung unterstützte die Interpretation des „deutschen Kulturparadigmas“58 . Folglich orientierte sich auch die Forschung zum Nationalsozialismus auf die inneren Strukturen der Herrschaft und den bürgerlichen, kirchlichen und militärischen Widerstand gegen ihn. Letzterer verweist zugleich auf den dritten Forschungsschwerpunkt – die 50 Gluck, a.a.O., 62. Siehe Conrad, a.a.O., 177ff. 52 Ebd., 165ff. 53 Ebd., 179 54 Siehe Meinecke, a.a.O., 140f. 55 Ebd., 182ff. 56 Zitiert nach Schüssler, W., Um das Geschichtsbild, Gladbeck 1953, 81. 57 Dazu Conrad, a.a.O., 185. 58 Siehe Kapitel 3.2.dieser Arbeit. 51 17 Behandlung des Zweiten Weltkrieges, wobei besonders die Rolle der Wehrmacht analysiert wurde. In den fünfziger Jahren hatte eine Reihe von Büchern ehemals leitender Militärs für Aufsehen gesorgt 59 . Deren Exkulpation des Krieges traten die deutschen Historiker entschieden entgegen. Um jedoch die vielen einfachen Soldaten, die stellvertretend für das deutsche Volk standen, nicht pauschal zu verurteilen, wurde eine klare Trennung zwischen dem „sauberen Heer“ und der verantwortlichen Clique führender Militaristen und nationalsozialistischer Politiker vorgenommen60 . Mit dieser Interpretation der Geschichte blieben die Wissenschaftler einerseits innerhalb des bereits erwähnten diskursiven Rahmens, andererseits unterstrichen sie damit die in der Öffentlichkeit weit verbreitete Meinung über die Rolle der Wehrmacht. Der Zweite Weltkrieg und seine Teilnehmer wurden nicht in ihrem „'nationalsozialistischen' Charakter“ wahrgenommen61 . Diese Sichtweise, die bei weitem nicht nur unter konservativen Historikern noch in den fünfziger Jahren communis opinio war, festigte die Dichotomie zwischen einer kleinen Tätergruppe und der übergroßen Mehrheit Unschuldiger weiter. Wie überaus groß und dauerhaft die Wirkmächtigkeit dieses Geschichtsbildes war, ließ und lässt sich an den kontroversen Diskussionen um die Wehrmachtsausstellung ablesen. Zugleich traten durch diesen Fokus in der Forschung andere Aspekte der Zeit des Nationalsozialismus, so z.B. die Judenvernichtung, in den Hintergrund und trugen wesentlich zu der bereits angesprochenen selektiven Wahrnehmung der Jahre zwischen 1933 und 1945 bei. 62 Erst mit Beginn der sechziger Jahre wandte sich die Forschung im Gefolge der Auschwitz- und Eichmannprozesse verstärkt den Geschehnissen in den Vernichtungslagern zu. Zwar hatten schon vorher Ansätze zu einer Erforschung des Holocaust in der Wissenschaft existiert, sie hatten jedoch keine größere Aufmerksamkeit gefunden. Dass eine solche Initialzündung schließlich von außen kam, zeugt einerseits zu einem gewissen Maße von einer Gefangenheit der Geschichtswissenschaft im eigenen Diskurs, andererseits aber auch von der geringen Wirkmächtigkeit ihrer eigenen innovativen Ansätze auf das Geschichtsbild breiterer gesellschaftlicher Gruppen. Ein Blick auf die japanische Forschung zeigt, dass hier eine ganze Reihe von ähnlichen Mustern bei der Interpretation und Aufarbeitung der Geschichte Anwendung fanden63 . So 59 Conrad, a.a.O., 186. Es wäre interessant einmal zu untersuchen, ob sich strukturelle Parallelen zwischen der kriegsbezogenen „Populärliteratur“ der fünfziger Jahre und jener der zwanziger Jahre finden lassen. Hier wie da scheint es jeweils einige Jahre gedauert zu haben, bis Werke dieser Gattung verfasst wurden bzw. in eine größere Öffentlichkeit drangen. 60 Siehe Conrad, a.a.O., 177ff. 61 Ebd., 187. 62 Ebd., 186ff. 63 Ebd., 179f. und 192ff. 18 wurde parallel zur deutschen Interpretation eine militaristische Oligarchie zum Verantwortlichen gemacht, deren monolithische Struktur das japanische Volk unterjocht habe. Ein Unterschied in der Deutung ergab sich lediglich darin, dass die konservativ ausgerichteten Historiker, deren Wirkmächtigkeit jedoch sehr begrenzt war, auch die Zivilregierung in die Gruppe der Unschuldigen mit einschloss. Die japanische Historiographie konzentrierte sich bei ihren Analysen im Gegensatz zur deutschen Geschichtswissenschaft weniger auf die innere Struktur des Herrschaftsapparates als auf die Ursachen des Krieges. Dies und die Täter – Opfer Dichotomie führten zur fundamentalen Kritik am Tennosystem durch die marxistischen Historiker. Nachdem sie in den vierziger Jahren divergierende Deutungsansätze in der Bewertung der Zeit von 1931 bis 1945 verfochten hatten, vertraten die verschiedenen Gruppen der marxistischen Historikerschaft in den fünfziger einheitlich die Meinung, dass die ganz auf den Tenno zentrierten Einrichtungen des Staates selbst als faschistisch zu bewerten seien64 . Der sogenannte Tennosystem-Faschismus spiegelte die fixe Zweiteilung in ein unterdrücktes, unschuldiges Volk und eine kriegstreiberische, von den Überresten der feudalistischen Ordnung durchsetzte Schicht der Herrschenden wider. Das japanische Volk wurde, äquivalent zum deutschen, in einer Art Kollektivsingular zum Widerstandskämpfer stilisiert. Während in Deutschland gewisse als „undeutsch“ geltende Gruppierungen explizit nicht zum Widerstand gerechnet wurden, verfolgten die marxistischen Historiker eher den umgekehrten Weg. Der Auflehnung gegen das faschistische System wurde ausschließlich am Beispiel der kleinen Kommunistischen Partei dargestellt. Sie vertrat gewissermaßen die gesamte Nation. Den Gegnern der Kommunistischen Partei wurde implizit die Rolle der Widerstandskämpfer abgesprochen, denn „wer gegen die Kommunistische Partei ist, ist auch gegen die Demokratie.“65 Die in der Geschichtsschreibung beider Länder starke Ausrichtung auf den Aspekt des Widerstandes ermöglichte es, trotz der gerade in Japan aufgezeigten Brüche mit der kulturellen Tradition des Landes, die Kontinuitätslinien auch nach 1945 weiter zu ziehen, ohne dabei die dunklen Momente der eigenen Geschichte ausklammern zu müssen. Vielmehr wirkten diese als eine Art Kontrastfolie, vor der sich die Leistungen des jeweils zum Opfer von Nationalsozialismus und Krieg stilisierten Volkes um so größer ausnahmen. Vor allem in Japan „erschienen Krieg und Niederlage dann auch nicht nur als 'Katastrophe', sondern ebenso als Voraussetzung für soziale und politische Emanzipation.“66 Gerade für Japan bleibt jedoch festzuhalten, dass die explizite wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Krieg 64 Dazu Conrad, a.a.O., 180f. Ebd., 181. 66 Ebd., 196. 65 19 erst nach der 1952 erlangten Unabhängigkeit des Landes in größerem Ausmaß einsetzte. An diesem Beispiel wird die schon für die deutsche Geschichtswissenschaft konstatierte Einbindung in übergeordnete Diskursfelder und deren grenzsetzende Wirkung deutlich. Drehten sich die Auseinandersetzungen zur Zeit der alliierten Besatzung Japans hauptsächlich um die „richtige“ Bezeichnung des Krieges 67 , so waren es seit 1952 vor allem die Auseinandersetzungen um dessen Interpretation, welche die Einflussnahme der jeweiligen politischen Machthaber auf die Historiographie vor Augen führt. Der Beginn der Regierung der LDP bedeutete, so lässt sich im historischen Rückblick feststellen, für die marxistisch orientierte Historiographie den Anfang vom Ende ihrer Deutungshoheit. So gewährte die konservative Regierung, um ein positives Bild der nationalen Geschichte bemüht, einer Gruppe konservativer Historiker Zugang zu weitreichenden Aktenbeständen, die allen anderen bis dahin verschlossen geblieben waren68 . Daraus entstanden in den frühen sechziger Jahren umfangreiche Publikationen, die zwar manches neue Detail japanischer Kriegsverantwortung aufdeckten, im Großen und Ganzen aber eine Neuinterpretation der Kriegsursache vornahmen. Danach war, entgegen der marxistischen Interpretation, Japan nicht durch das verantwortungslose Handeln einiger Führer in den Krieg geraten sondern „vielmehr in diesen Krieg 'hineingeschlittert'“. 69 Der Verweis auf die Schicksalhaftigkeit des gesamten Vorgangs war schon in den späten fünfziger Jahren in einigen recht offen revisionistisch geprägten Darstellungen vertreten worden70 . Bereits dort hatte sich die Aufhebung der Zweiteilung bezüglich der Kriegsverantwortung und damit zugleich die Exkulpation aller Beteiligten angedeutet. Ihre neue Qualität erhielten die Werke der nicht- marxistisch orientierten Historiographie jetzt aber durch den aus dem bevorzugten Quellenzugang abgeleiteten Objektivitätsanspruch. Die kontroversen Auseinandersetzungen in Japan zeigen, dass es in den Debatten um nicht weniger als das Selbstverständnis einer ganzen Nation ging. Wenngleich der konservativen japanischen Re gierung wohl kaum offener Revisionismus unterstellt werden kann, so war sie doch bemüht, das überaus kritische und an den Grundfesten japanischer Traditionen rüttelnde Bild der marxistischen Historiker zu Gunsten eines affirmativen Bildes der eigenen Natio n und ihrer Geschichte zurückzudrängen. 67 Conrad, a.a.O., 192ff. Ein weiterer Punkt war das auffallende Nicht-Thematisieren der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki, was Conrad zum einen auf Deutungsprobleme in der marxistischen Forschung, aber auch auf „die rigide Zensurpolitik der amerikanischen Besatzungsbehörden“ zurückführt. Ebd., 196ff. 68 Ebd., 200ff. 69 Ebd., 200. Siehe dazu auch Fuhrt, a.a.O., 41ff. 70 Zwar waren es in erster Linie keine Fachhistoriker, die einen offenen Revisionismus in Japan vertraten, dennoch nahm die konservative Historikerschaft diese Einflüsse in ihre Interpretationsangebote mit auf. 20 In den Büchern der deutschen Historiker war eine explizite Apologie des Krieges nicht anzutreffen. Auch ein derartig selektiver Umgang mit offiziellem Aktenmaterial war durch verschiedene mit den Alliierten getroffene Abkommen nicht möglich. Zudem war hier auch die weltanschauliche Differenz zwischen Historikerschaft und politischen Machthabern weitaus geringer. Der diskursive Rahmen, in dem die wissenschaftliche Auseinandersetzung stattfand, war in Deutschland enger gezogen. Wie gespannt das Verhältnis zwischen Teilen der geschichtswissenschaftlichen und politischen Praxis in Japan war und noch immer ist, zeigt sich mit Nachdruck an den Schnittstellen beider Bereichen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass gerade die Schulbücher für den Geschichtsunterricht zum Objekt dauerhafter und langfristiger Auseinandersetzungen wurden. Der sogenannte Schulbuchstreit aus dem Jahre 1982 zog derart breite Kreise, dass es nicht nur zu einer diplomatischen Krise mit der Volksrepublik China und Südkorea kam, sondern zugleich auch eine Art Initialzündung für eine neue Art der Auseinandersetzung mit eigenen Geschichte stattfand. 5. Vergangenheitsbewältigung nach 1960 – Eine Skizze westdeutscher und japanischer Befindlichkeiten Bis heute ist in der japanischen Gesellschaft, besonders in intellektuellen Kreisen, die Meinung weit verbreitet, dass Japan seine Geschichte nur mangelhaft aufgearbeitet habe. Als Vorbild für eine erfolgreiche „Vergangenheitspolitik“ taucht in den japanischen Diskursen nicht selten das Beispiel Deutschlands auf 71 . Vor allem die vom damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker gehaltene Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes erfuhr gerade in Japan eine breite und lang anhaltende Rezeption, die bis zum heutigen Tage andauert72 . Dieser Befund scheint auf den ersten Blick nicht so recht in die bisherigen Ausführung zu passen, war es doch gerade die japanische Geschichtsschreibung, welche die eigene Vergangenheit nach Kriegsende einer besonders kritischen und mit zum Teil radikalen Reformvorschlägen versehenen Auseinandersetzung unterzog. „Mehrheitlich wurde in der japanischen Geschichtswissenschaft die moderne Geschichte des Landes somit nicht nur kritisch bewertet, sondern geradezu als gescheitert betrachtet.“73 Die deutschen Historiker hatten es hingegen vermieden, ihre Geschichte vor 1933 einer solchen 71 So ist etwa das Buch von Buruma, a.a.O., von diesem Standpunkt aus geschrieben. Eine Analyse dieser Dichotomie findet sich bei Seraphim, a.a.O., 25ff. Dieses Problem im Kontext der Schulbücher behandeln Fuhrt, a.a.O., 124ff. und Conrad, a.a.O., 205 – 218. 72 Siehe dazu Conrad, a.a.O., 404. 73 Ebd., 405. 21 grundlegenden Kritik zu unterziehen. Im Gegenteil: In der stark konservativ geprägten deutschen Historiographie wurde immer wieder auf die von der Katastrophe des Nationalsozialismus nicht kontaminierten kulturellen Wurzeln des Landes verwiesen. Damit wurde ein Gegenpol geschaffen, der es erlaubte, die Zeit zwischen 1933 und 1945 wahlweise als Sonderfall, Ausnahme oder temporären Irrweg zu deklarieren. Während jedoch in Japan die Kluft zwischen der lange Zeit stark marxistisch geprägten Geschichtswissenschaft und den amerikanische Besatzern bzw. den nachfolgenden konservativen Regierungen ständig zunahm, lässt sich feststellen, dass sich die westdeutsche Historikerschaft mit ihren Vergangenheitsinterpretationen nicht so stark auf einen Konfrontationskurs mit den politischen Machthabern begab. Der Einfluss der Alliierten sowie der konservativen japanischen Regierung und die damit verbundene zunehmende Verringerung der Wirkmächtigkeit der marxistischen Deutungsangebote führten hingegen in Japan dazu, dass das von der Wissenschaft erstellte kritische Bild der eigenen Vergangenheit gesamtgesellschaftlich betrachtet zunehmend in den Hintergrund gedrängt wurde und schließlich einem stark affirmativen Bild von der eigenen Nation und ihrer Geschichte wich74 . In Deutschland erfolgte in den frühen 1960er Jahren ein erster großer Einschnitt in die bis dahin betriebene Art und Weise der Vergangenheitsbewältigung. Die Eichmann- und Auschwitzprozesse brachten die bisher stark vernachlässigte Thematik der Judenvernichtung ins öffentliche Bewusstsein. Zwar hatte sich auch deutsche Historiker seit den fünfziger Jahren zunehmend diesem Thema angenommen, waren damit jedoch weder innerha lb der Geschichtswissenschaft noch gesamtgesellschaftlich in größerem Umfang wirkmächtig geworden. Es bedurfte erst dieser Prozesse, damit sich das Thema „auch in einer Hinwendung der Geschichtswissenschaft zu Fragen der Rassen- und Vernichtungspolitik niederschlug.“75 Es muss jedoch festgehalten werden, dass diese thematische Erweiterung des historischen Horizonts in der westdeutschen Öffentlichkeit nicht zu einer Neubewertung der Rolle der „einfachen Leute“ während der Zeit von Nationalsozialismus und Krie g führte. An dieser Darstellung der Geschichte konnte zunächst auch die 68er Bewegung nicht viel ändern. „Ihre kritischen Fragen nach personellen und strukturellen Kontinuitäten mündeten rasch in eine globale Verurteilung der Vätergeneration, welche eine echte Auseinadersetzung dauerhaft blockierte.“76 74 Siehe Conrad, a.a.O., 405ff. Ebd., 192. 76 Frevert, U., a.a.O., 7. 75 22 Es bedurfte wiederum eines Antriebes von außerhalb der wissenschaftlichen Diskurse, um Ende der siebziger Jahre eine neue Runde in der individuellen und kollektiven Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit einzuläuten. Die TV Serie „Holocaust“ gab den Juden, ihrer Verfolgung und Vernichtung Namen und Gesichter und trug so das Thema in eine breite Öffentlichkeit. Nicht zuletzt deshalb widmete sich die Geschichtsschreibung über den Nationalsozialismus in den achtziger Jahren hauptsächlich der Judenvernichtung. Angeregt durch diese und weitere inner- und außerwissenschaftlichen Entwicklungen77 geriet in Folge auch die Frage nach der Rolle der „einfachen Leute“ zunehmend ins Gespräch. Innerhalb dieser Entwicklungslinien verdienen drei Punkte besonders hervorgehoben zu werden. Zum einen wird ersichtlich, dass es in Deutschland nicht primär die institutionell verankerte Geschichtswissenschaft war, welche die seit etwa 1960 in einer größeren Öffentlichkeit stattfindenden Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und damit auch den Diskurs über individuelle und kollektive Identitäten prägte bzw. initiierte. Zweitens bestätigen die kontroversen Diskussionen um die sog. Wehrmachtausstellung und der Streit über den Bau eines Vertriebenenzentrums ein zentrales Forschungsergebnis der sog. oral history. Dieses besagt, dass das private bzw. familiäre Gedächtnis, welches bei diesen Ausstellungen bzw. Denkmälern besonders stark angesprochen wird, in der Regel mehr Verständnis für begangene Taten entwickelt und zu milderen Urteilen gelangt 78 . Und zum Dritten wird an Beispielen wie etwa der Wehrmachtsausstellung klar, dass trotz all der öffentlich geführten Auseinandersetzungen die Dichotomie von sauberem Volk und Wehrmacht einerseits und einigen wenigen verantwortlichen Kriegsverbrechern andererseits, wie sie nicht zuletzt von der Historiographie der Nachkriegszeit geprägt wurde, noch immer sehr tief verwurzelt und im Hinblick auf das Geschichtsbewusstsein und die kollektive Identität breiterer Bevölkerungskreise auch heute noch wirkmächtig ist. Die „große Erzählung vom Krieg“79 trägt zum derzeitigen Zeitpunkt in Deutschland in vielerlei Hinsicht fragmentarische Züge. Und Japan? Nach dem Zurückdrängen der marxistischen Geschichtsinterpretationen war die öffentliche Auseinandersetzung innerhalb Japans bis ins Jahr 1982 kaum noch von 77 „Innerwissenschaftlich“ meint hier vor allem die Entwicklung der oral history. „Außerwissenschaftlich“ waren es z.B. die Rede Richard von Weizsäckers am 8. Mai 1985, die TV Dokumentationen Guido Knopps, die Tagebücher Victor Klemperers und die Bücher des amerikanischen Historikers Daniel J. Goldhagen, die diese Diskussion immer wieder neu entfachten und weitertrugen. 78 Siehe Frevert, a.a.O., 6., bes. Anm. 2. 79 Ich gebrauche den Begriff der „großen Erzählung“ hier in freier Anlehnung an Lyotards „grand récits“. 23 selbstkritischen Tönen bezüglich der eigenen Geschichte geprägt. Vielmehr herrschte die Meinung vor, das japanische Volk sei das eigentliche Opfer des Krieges. Nach außen hin wurde zugleich eine Normalisierungspolitik betrieben, so z.B. durch den Abschluss des Friedensvertrages von San Francisco am 15. September 1951. Die Frage konkreter Reparationszahlungen wurde dabei in dem Vertragswerk ausgeklammert und darauf verwiesen, dass dies Gegenstand bilateraler Verhandlungen zwischen Japan und den reparationsfordernden Staaten sein solle 80 . Japans Weg der Normalisierung war in seiner weiteren Ausgestaltung „geprägt durch einen Mangel an Unrechtsbewusstsein gegenüber der militaristischen und kolonialistischen Vergangenheit sowie dem Bemühen, die Normalisierung der Beziehungen zu möglichst günstigen Bedingungen zu erreichen.“81 Auch und gerade in den Schulbüchern spiegelte sich der innerjapanische „Bejahungsprozess“ gegenüber der eigenen Vergangenheit lange Zeit wieder 82 , bis 1982 bekannt wurde, dass die damals für die Schulbuchzulassungen verantwortlichen Stellen beschönigende Darstellungen des japanisch-chinesischen Krieges (1931/37-1945) und Japans Kolonialherrschaft in Korea zur Genehmigungsgrundlage für Geschichtslehrbücher gemacht hatten83 . Vor allem die Schulbuchprüfer des Erziehungsministeriums versuchten mit ihrem Vorgehen „das Handeln Japans und seiner Armee in der Vergangenheit nicht nur zu beschönigen und zu rechtfertigen, sondern es möglichst jeder kritischen Betrachtung zu entziehen.“84 Nachdem einige japanische Zeitungen Ende Juni 1982 von die alljährlichen Schulbuchzulassungen und die damit verbundenen Diskussionen hingewiesen hatten, dauerte es zwar einige Tage bis offizielle chinesische Parteiorgane und die südkoreanische Zeitungen die Vorgänge intensiver verfolgten85 . Binnen weniger Wochen entwickelte sich jedoch daraus eine diplomatische Krise zwischen China und Südkorea auf der einen und Japan auf der anderen Seite, welche erst am 26. August durch eine japanische Regierungserklärung ihr zumindest offizielles Ende fand. Darin willigte die japanische Regierung ein „im Interesse der Freundschaft zu den Nachbarländern“86 Korrekturen vorzunehmen und ihre Schulbuchpolitik zu ändern. Zwar blieben die tatsächlichen Veränderungen im zuständigen Erziehungsministerium gering, die 80 Ein Überblick bei Fuhrt, a.a.O., 28 – 36. Einige länderspezifische Anmerkungen finden sich auch bei Pohl, M., Mayer, H. J., (Hg.), Länderbericht Japan. Ausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1998². 81 Fuhrt, a.a.O., 188. 82 Zwar gab es immer wieder Prozesse gegen die Eingriffe seitens der Ministerialbürokratie, sie blieben aber weitgehend eine innerjapanische Angelegenheit und fanden außenpolitisch kein größeres Gehör. Ein beeindruckendes Beispiel bieten die Jahrzehnte währenden Auseinandersetzungen des Historikers und Schulbuchautors Ienaga Saburô, der in den Eingriffen einen Verstoß gegen die verfassungsrechtlich garantierte Meinungsfreiheit sah. Siehe dazu u.a. Buruma, a.a.O., 240ff. und Conrad, a.a.O., 209f. 83 Siehe dazu die ausführlichen Darlegungen bei Fuhrt, a.a.O., 80ff., sowie Conrad, a.a.O., 205 – 213. 84 Fuhrt, a.a.O., 89. 85 Ebd., 90 – 99. 86 Zitiert nach Fuhrt, a.a.O., 107. 24 Debatte löste in Japan jedoch eine öffentliche und durchaus kontrovers geführte Auseinandersetzung über die eigene Vergangenheit und das damit verbundene Geschichtsbild aus. Ein Vergleich mit den deutschen Diskursen zeigt dabei, dass es auch hier nicht primär die institutionalisierte Geschichtswissenschaft war, welche die Auseinandersetzungen über eigene und fremde Kriegserfahrungen initiierte und bestimmte. Vielmehr waren es vor allem die großen Zeitungen und Zeitschriften samt ihrer heterogenen Schar aus Kommentatoren, Wissenschaftlern aller Fachrichtungen und diversen Einzelpersonen, welche in der Diskussion der öffentlichen Meinung die Marschrichtung vorgaben87 . Der Tod des Shôwa-Tennô sowie die zunehmend ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit dringenden Ereignisse des Nanking Massakers brachten das Thema immer wieder auf die publizistische Agenda. Der beständige Druck aus za hlreichen ost- und südostasiatischer Staaten (gaiatsu) führte schließlich dazu, dass in Japan nach Jahrzehnten der Indifferenz Anfang der achtziger Jahre damit begonnen wurde, sich mit dem Schicksal der Kriegsopfer in diesen Ländern auseinander zu setzen88 . Auf diese „Sensibilisierungsphase“ (Fuhrt) folgte um 1990 eine neue Form der Konfrontation mit der Vergangenheit. Zahlreiche Kriegsopfer begannen, materielle Entschädigungen für erlittenes Leid einzufordern. Vor allem die Prozesse der sog. „Militärtrösterinnen“ gelangten in diesem Zusammenhang in den Fokus der öffentlichen Berichterstattung. Während des Zweiten Weltkrieges hatte die Kaiserliche Japanische Armee schätzungsweise 200.000 Frauen und Mädchen aus verschiedenen asiatischen Ländern in Militärbordelle verschleppt und millionenfach vergewaltigt. Zwar gab die Regierung in Tokio 1993 erstmals eine Beteiligung der kaiserlichen Armee zu, eine offizielle Entschuldigung und Entschädigungszahlungen werden aber bis heute mit dem Hinweis, in den fünfziger Jahren sei durch die geleisteten Reparationszahlungen an die betreffenden Länder das Problem auf einer staatlichen Ebene bereits hinreichend gelöst worden sei, abgelehnt. 89 Die öffentliche Aufarbeitung der eigenen Geschichte erreichte im Jahre 1995 mit dem fünfzigsten Jahrestag der Kapitulation ihren vorläufigen Höhepunkt90 , deckte zugleich aber auch die Fragilität und Widersprüche des öffentlichen Gedächtnisses Japans auf. Neben den Stimmen, die eine stärkere Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme für die Kriegsgeschehnisse in Asien forderten, waren auch von verschiedenen Seiten gegenteilige 87 Fuhrt, a.a.O., 110 – 112. Ebd., 120f. Die Untersuchung von Fuhrt beschäftigt sich anhand verschiedener Beispiele des Umgangs Japans mit seiner historischen Verantwortung generell mit der Frage nach der Wirkmächtigkeit von gaiatsu auf die Bewältigungsstrategien verschiedener japanischer Regierungen. 89 Siehe dazu Seraphim, a.a.O., 31ff. 90 Interessanterweise wird bei diesen Anlässen nie die Kapitulation, sondern immer nur die Nachkriegszeit und ihre Dauer, in diesem Falle 50 Jahre, gefeiert. Siehe dazu Gluck, a.a.O., 57 – 85. 88 25 Meinungen zu hören91 . Die Debatten der vergangenen beiden Jahrzehnte haben zwar, wie auch in Deutschland geschehen, alte Geschichtsbilder zum Teil eingerissen oder zumindest ausdifferenziert, was in beiden Ländern zu mitunter kontroversen Diskussionen geführt hat. Ein gesellschaftlicher Grundkonsens, wie ich ihn anfangs für Deutschland konstatiert hatte, lässt sich in Japan noch immer nicht ausmachen. Im Gegenteil: Neben all die Bemühungen um eine möglichst unvoreingenommene Rekonstruktion der Ereignisse sind seit etwa Mitte der neunziger Jahre zunehmend revisionistische Tendenzen getreten und haben dazu geführt, dass seitdem eine „Realität der Mehrdeutigkeit“ herrscht. 92 Eine solche Mehrdeutigkeit wiesen die unmittelbar nach Kriegsende geführten Diskurse nicht auf. Ihr gemeinsames Ziel war es, die Kriegserfahrungen reflektierend zu verarbeiten und sie dadurch zu bewältigen. Zudem kam hinzu, dass die Debatten in einem offen Erwartungshorizont stattfanden, der sich dadurch auszeichnete, dass die Hoffnung auf ein völlig neues Japan fast überall mitschwang. Die Diskussionen der vergangenen Jahrzehnte drehten sich hingegen nicht nur um die Zeit des Krieges, sondern rückten zunehmend die Aufarbeitung der Nachkriegsjahre in den Vordergrund. Vereinfacht formuliert könnte man sagen, dass mittlerweile aus dem Objekt der Auseinandersetzungen eine Vielzahl von Objekten geworden ist, während zugleich auch die in der Diskussion befindlichen Subjekte und mit ihnen die konkurrierenden Deutungen an Zahl und Herkunft immer weiter zugenommen haben. Auch die japanische Geschichtswissenschaft verfügt heute nicht mehr über jenes relativ homogene Repertoire an Deutungsangeboten, wie es die marxistisch inspirierte Historiographie im ersten Jahrzehnt nach Kriegsende nahezu uneingeschränkt darbot. Den verschiedenen Interpretationen der heutige japanischen Historiker ist jedoch gemein, dass ihre jeweiligen historischen Differenzierungen in der kontroversen öffentlichen Debatten weitgehend verloren gehen. Der französische Soziologe und Philosoph Maurice Halbwachs, der sich als einer der ersten mit Fragen des kollektiven Erinnerns und des öffentlichen Gedächtnisses auseinander setzte, war der Ansicht, dass sic h eine Gemeinschaft jeweils die Vergangenheit schafft, welche sie für ihr Selbstbild braucht 93 . Die Auseinandersetzung mit dem Vergangenen ist somit immer auch Spiegelbild des aktuellen Selbstverständnisses einer Gemeinschaft. Angewandt auf das Beispiel Japans bedeutet dies, dass die dort geführten Debatten nicht nur die Vergangenheit als Zerrbild erscheinen lassen, sondern dass gleichzeitig auf dem weiten und kontroversen Feld des Umgangs mit der eigenen Geschichte heftig um die kollektive Identität des he utigen und zukünftigen Japans gerungen wird. 91 Beispiele bei Seraphim, a.a.O., 25f. Ebd., 55. 93 Halbwachs, M., Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt/M. 1985. 92 26 Literaturverzeichnis Antoni, K., Japans schwerer Weg nach Asien - Geistesgeschichtliche Anmerkungen zu einer aktuellen Debatte, in: Hijiya-Kirschnereit, I., (Hg.), Überwindung der Moderne? Japan am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Frankfurt/ M. 1996, 123 - 145. Conrad, S., Auf der Suche nach der verlorenen Nation. Geschichtsschreibung in Westdeutschland und Japan 1945-1960, Göttingen 1999. Buruma, I., Erbschaft der Schuld, München 1994. Danyel, J., (Hg.), Die geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten, Berlin 1995. Fuhrt, V., Erzwungene Reue, Vergangenheitsbewältigung und Kriegsschulddiskussion in Japan 1952 - 1998, Hamburg 2002. Frevert, U., Geschichtsvergessenheit und Geschichtsversessenheit revisited. Der jüngste Erinnerungsboom in der Kritik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-41/2003, 6 – 13. 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