Die Blechtrommel - Rationalgalerie

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Die Blechtrommel - Rationalgalerie
Die Blechtrommel
Die späte Rezension eines Buches von Günter Grass*
Autor: U. Gellermann
Datum: 10. April 2012
"Was ist der Unterschied zwischen einem Juden und einer Geige?" fragte einer
von denen in der Kneipe. Als er nach einer Kunstpause sagte: "Der Jude brennt
länger!" da wieherten die dicken älteren Männer mit den bierbeglänzten
Gesichtern am Nachbartisch. Ich habe damals geschwiegen, auch kein anderer
wagte etwas zu sagen.
Das Schweigen war groß im Land. Der erste Auschwitz-Prozess sollte erst Ende
1963, lange nach der Veröffentlichung der "Blechtrommel", des ersten Romans
von Günter Grass, beginnen und zu einem Ausgangspunkt einer sehr, sehr
langsamen Änderung der Sicht auf die jüngere deutsche Geschichte werden.
Die Juden waren bis zur "Blechtrommel" für mich, den jungen Deutschen,
geheimnisvolle Menschen, die sehr geschäftstüchtig waren wie man hörte.
Aber es musste noch etwas anderes, etwas Düsteres an ihnen geben. Aber man
kannte ja keinen von ihnen.
"Judensau", hatten die SA-Leute an das Schaufenster des
Spielzeugwaren-Händlers in Danzig geschrieben, bei dem der zwergwüchsige
Oskar aus der "Blechtrommel" immer seine Trommeln gekauft hatte. Und
Günter Grass, der Autor des Romans, beschreibt die Nazis in all ihrer
Niedrigkeit, lässt sie wüten und in den Laden des jüdischen Händlers kacken
und vergisst nicht zu erwähnen, dass der Vater des kleinen Oskar seine "Finger
und seine Gefühle" am Feuer der brennenden Synagoge wärmte.
Das Buch las ich im Bett, von der nahen Dreifaltigkeitskirche wehte das Geläut
der Glocken durch das offene Fenster ins Zimmer. Ausgerechnet zum
Roman-Abschnitt ?Glaube - Hoffnung - Liebe?, in dem das Pogrom beschrieben
wird, ein Verbrechen das seine Wurzeln auch im christlichen Glauben hat,
lieferten die Glocken eine feierliche Sonntags-Untermalung. Und Grass schließt
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das Kapitel: "Mir aber nahmen sie meinen Spielzeughändler, wollten mit ihm
das Spielzeug aus der Welt bringen."
Nicht nur vom Judenmord erfuhr ich zum ersten Mal durch Grass. Auch von der
umkämpften polnischen Post in Danzig, die, angegriffen von der deutschen
SS-Heimwehr, von einer Handvoll Polen verteidigt wurde. Wie mein
Geschichtsunterricht kein Auschwitz kannte, war ihm auch der deutsche
Überfall auf Polen nicht geläufig. Auch von den überlebenden Verteidigern der
Post, die standrechtlich erschossen worden waren, kein Wort. Polen? Die kamen
in Westdeutschland entweder im geflügelten Wort von der polnischen
Wirtschaft vor oder aber im Kinderreim: Rot-Blau-Polacksfrau. Bei Grass erfährt
man von der Hinrichtung des leiblichen Vaters Oskars, einem jener Polen, die
"wegen Freischärlerei hingerichtet ist" durch den Dienstbrief eines deutschen
Feldjustizinspektor.
"Zugegeben, ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt", so beginnt der
Roman "Die Blechtrommel". Und schon dieser Anfang, der einen amtlich
beglaubigten Verrückten zur Hauptfigur des Buches macht, die das
gesellschaftlich Normale aus einer ver-rückten Perspektive erzählt, eröffnete
eine neue, nicht nur literarische Sicht auf die noch junge Bundesrepublik und
stellte damit deren Ideologie der Verdrängung bloß.
Der erotische Schriftsteller Grass brach die verklemmte Republik auf, in der das
Sexuelle dem Puff und dem dunklen Schlafzimmer unbedingt verheirateter
Paare überantwortet war. Dass wir mitten unter den Nazi-Mitläufern lebten,
dass es gewöhnliche Leute waren, die gestern noch in fremden Ländern
gehaust hatten, das war bei Grass ebenso zu lesen wie von der Euthanasie oder
von den Ostarbeitern. Alles Themen, die von der öffentlichen Debatte der
Bundesrepublik viel später erst aufgegriffen wurden.
Wenn ich meinen Vater nach dem Krieg fragte, wurde mir von den ersten
Apfelsinen seines Lebens erzählt, die der junge Soldat in Sizilien gesehen hatte,
vom windgepeitschten Meer bei La Rochelle, den breiten Straßen von Paris und
den langen Eisenbahnfahrten durch Frankreich in den Waggons erster Klasse.
Von der Bettwäsche, die er aus dem besetzten Brüssel nach Hause schickte kein
Wort. Davon, dass er zeitweise nicht weit von einem Konzentrationslager
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stationiert war, keine Silbe. Erst der Grass´sche Roman hat mich dann für die
Fragen präpariert, die meine Generation später den Eltern stellen sollte.
In der "Blechtrommel" spült das Kriegsende den Herrn Fajngold aus Treblinka
nach Danzig und lässt ihn dort über seine Arbeit als Desinfektor erzählen, der
Lysol hatte spritzen müssen, über die, "die noch nicht geduscht hatten" und "die
Liegenden, die schon geduscht hatten" im Vernichtungslager, in dem die
Brausen den Tod brachten. Mit der zynischen Sprache der "Blechtrommel", die
den Ton der Herrenmenschen zitierte, wurde mir und vielen anderen der
industrielle Mord an den Juden erfahrbar.
Der kleine Oskar, der Gnom, hatte den Blick von ganz unten: Unter die Röcke der
Frauen ebenso wie auf die kleinen Leute der Nazi-Zeit. Es ist das scheinbar
Private, von dem Grass in der "Blechtrommel" erzählt und es macht das Grauen
bis heute öffentlich, wenn eine der Roman-Figuren über die Euthanasie, also die
mögliche Ermordung des verkrüppelten Oskar nachdenkt, um ihn zum Mord
freizugeben: "Aber siehst ja, is nich jeworden, wird überall nur rumjestoßen und
weiß nich zu leben und weiß nich zu sterben".
Der vorgebliche Gnadentod für die Krüppel, die Endlösung für die Juden,
Zwillinge in den Augen eines Autors, der seinen Lesern das richtige Sehen
beibrachte. Das erste große Buch des Schriftstellers führte zu jener
Erschütterung, die das Leben in der satten, selbstzufriedenen Republik, dem
dumpfen, versiegelten Land, verändern sollte. Zu Veränderungen, die bis heute
spürbar sind.
Günter Grass hat kein Bundesverdienstkreuz für seine immense literarische,
politische und aufklärerische Leistung bekommen. Statt dessen ein
Einreiseverbot nach Israel. Unter den aktuellen Bedingungen ist das auch eine
Auszeichnung.
Die Blechtrommel erschien erstmalig 1959
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