Die verschwiegene Spielsucht an der Börse

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Die verschwiegene Spielsucht an der Börse
Das Leben eines Spekulanten
Die verschwiegene
Spielsucht an der Börse
SWISS GAMING MAGAZINE 41
Spielsucht ist immer wieder der Vorwurf an die Casinos und Lotterien.
Kein Wort darüber, wie sich Tausende
an der Börse bzw, bei den Banken
ruinieren! Kein Thema für die Medien – fürchten die um die seitenlangen Inserate in ihren Spalten? Philipp
Mattheis hat in der Süddeutschen
Zeitung ein Beispiel offengelegt wie
ein Leben eines Spekulanten aussieht. Er zeigt auf wie es ist, ä la
Jérôme Kerviel jeden Tag mit vollem
Risiko an der Börse – nicht im Casino! – mit weniger Geld, aber genauso viel Euphorie und Panik zu jonglieren.
S
Mein Leben als Spekulant
Wie es ist, a la Jérôme Kerviel jeden Tag
mit vollem Risiko an der Börse zu jonglieren – mit weniger Geld, aber genausoviel Euphorie und Panik.
Ich war ein kleiner Fisch. Ich war kein
Profi, wie sie in den Grossbanken sitzen
und per Mausklick hunderttausende von
Euros herum schieben. Oder im Fall Jérôme Kerviel auch mal fünf Milliarden
Euro verzocken. Wenn es eine Hierarchie
unter den täglichen Spekulanten gibt, so
war ich auf der untersten Stufe. Ich schob
hunderte von Euros herum. Ich schaffte
es trotzdem, innerhalb einer Stunde mehrere tausend Euro in den Sand zu setzen.
Es geht ganz leicht.
Alte und neue Blasen
Das tägliche Spekulieren auf eigene Rechnung, im Fachjargon Daytrading, ist kein
Phänomen der Dotcom-Blase. Im Gegenteil: Die Szene wuchs nach dem Platzen der Blase an den Aktienmärkten
2000/2001 erst richtig an. Damals wurde
Daytrading auch für Privatanleger möglich, dank schneller Internetverbindungen,
OnlineBroker und Finanzinstrumente,
die nur wenig Kapitaleinsatz erfordern.
Die meisten Daytrader hatten natürlich
zur Zeit des Neuen Marktes Blut geleckt.
Denn: Daytrading macht süchtig. Es ist
nicht eins zu eins mit Spielsucht vergleichbar, aber es gibt zahlreiche Parallelen.
Amateure sind wie Profis
Die auflagenstärkste Zeitschrift für Daytrader «Traders», hat in Deutschland eine
Auflage von 20’000 Exemplaren. Unge-
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fähr so hoch dürfte auch die Zahl aktiver
Trader sein. Sie bleibt konstant. Einige
kehren dem Gezocke irgendwann enttäuscht den Rücken, dafür kommen mindestens genauso viele Neue dazu. Manche von ihnen sind ehemalige Händler
von Grossbanken, die zuvor – wie Jérôme
Kerviel oder der Engländer Nick Leeson – Absicherungsgeschäfte betrieben
und es nun auf eigene Faust versuchen
wollen. Die Arbeit eines Daytraders unterscheidet sich nur gering von der eines
Profis wie Kerviel. Beide müssen innerhalb von Sekunden auf kleinste Bewegungen des Marktes reagieren, beide
hantieren mit teilweise riesigen Summen
und beide sind einem enormen Mass an
Stress ausgesetzt. Nur arbeiten Daytra-
Gewinne schmälern. Ich wusste, dass
man sich sklavisch an ein einmal entwickeltes System zu halten hat. Und was
die grössten Feinde des Daytraders sind:
Angst und Gier.
Der erste Deal
Ich handelte den Deutschen Aktienindex
Dax, stand um acht Uhr morgens auf,
warf einen Blick auf die Performance der
amerikanischen und japanischen Märkte
und spekulierte ab zehn Uhr. Ein Knockout-Produkt bildet kleinste Bewegungen
des Dax ab: Steigt der Dax um einen
Punkt, legt das Knockout-Papier um einen Cent zu. Unterschreitet der Schein
allerdings eine bestimmte Schwelle, verfällt das eingesetzte Kapital wertlos. Der
«Die Börse ist
ein Tummelplatz
für Gauner!»
Uhren-Tycoon Nicolas Hayek
im Interview der «NZZ am Sonntag» vom 30. März 2008
der auf eigene Rechnung.
Ein Guru mit langen Haaren
Ich war Student und kellnerte in einer Bar,
als ich dort kurz nach dem 11. September 2001 einen Daytrader kennen lernte,
der mein Mentor werden sollte. Er hatte
schütteres, langes Haar. Er hatte sieben
Weissbier getrunken. Er schwärmte vom
Zocken. Es klang nach einer Möglichkeit,
ohne grossen Aufwand viel zu verdienen. Er gab sich geheimnisvoll. Widerwillig war er schliesslich bereit, mir alles beizubringen, was ich wissen musste. Ein halbes Jahr später war ich soweit. Ich hatte zwanzig Bücher gelesen:
Ich wusste jetzt, was es mit Widerständen und Unterstützungen bei Aktienkursen auf sich hat, was ein CandlestickChart ist und was ein MACD-Indikator
(siehe Kasten). Ich wusste, wie die Terminmärkte funktionieren und wie stark
die Transaktionsgebühren der Broker die
Trader wird ausgeknockt. Die MilliardenSpekulation von ]érôme Kerviel funktionierte ganz ähnlich. Nur handelte er mit
Futures, so dass sein Risiko noch grösser
war und er sogar ein Vielfaches mehr
verlieren konnte als den Kapitaleinsatz.
Bei meinem ersten Geschäft («Trade»)
stand der Dax bei 3050 Punkten. Bei einem Dax-Stand von 3100 Punkten winkte ein Gewinn von hundert Prozent. Ich
kaufte 1000 Stück zu einem Kurs von
45 Cent, macht 450 Euro. Das war um
10.23 Uhr. Um 11.55 Uhr verkaufte ich
den Schein für 83 Cent. Ich war abzüglich der Transaktionsgebühren um 360
Euro reicher. Für diesen Tag machte ich
Feierabend. Ich ass eine Kleinigkeit und
legte mich schlafen. Die 91 Minuten zwischen Kauf zum Verkauf hatten mich erschlagen.
Daytrading ist wie Boxen. Den gesamten Kampf über ist der Körper mit Ad-
renalin voll gepumpt, der Blick fokussiert, alles andere ausgeblendet. Auf einem Monitor flimmern die Kurse, auf
dem anderen wartet die Ordermaske auf
Eingaben, nebenbei lauft der Fernseher.
Verkauft man die Position mit Gewinn,
bekommt man eine Ahnung, was Grössenwahn bedeutet: Euphorie plus eine
Stimme, die einem leise einflüstert: Du
hast es raus. Mit jedem zusätzlichen Gewinn schwillt dieses Flüstern zu einem
Kampfgeschrei an. Man fühlt sich unbesiegbar. Ein Verlust bringt neben finanziellen Einbussen Selbstzweifel, Niedergeschlagenheit, Depression. Als ich fünf
Mal hintereinander verloren hatte, kam
ich mir dumm vor. Wertlos. Wie ein
totaler Versager.
den. Denn: Rutscht eine Position – ohne
SL – einmal ins Minus, beginnt das Hoffen. Das Hoffen aber macht jeden Händler zum Spieler. Während der Verlust
grösser und grösser wird, redet sich der
Spieler ein: Das wird schon wieder. In
Kerviels Fall war das besonders fatal, da
er mit Derivaten spekulierte, bei denen der
Verlust theoretisch unbegrenzt ist – also
weit höher als das eingesetzte Kapital.
Daytrader haben keine Freunde
Ich konnte zwar nicht mehr als meinen
Einsatz verlieren, den dafür aber inner-
halb von Minuten. Die ersten Wochen als
Daytrader waren unglaublich aufregend.
Jede Form von Langeweile verschwindet
aus dem eigenen Leben. Alle Gedanken
kreisen um die Märkte. Während der Handelszeit ist der Körper voll gepumpt mit
Adrenalin. Doch mit der Zeit wird die
Aufregung zum Stress.
Am Ende schlief ich nur noch sechs
Stunden täglich. Nachts wollte ich die
amerikanischen Märkte nicht aus den
Augen verlieren, morgens musste ich
wissen, wie sich die Bewegungen des
japanischen Nikkei auf den deutschen
Spielball der Gefühle
Daytrading bringt einen an die eigenen
Grenzen. Man beginnt sich selbst zu
überraschen – im positiven wie im negativen Sinn. In fast allen Ratgebern zum
Thema findet sich der Begriff Selbstdisziplin. Das liegt daran, dass sich Trader
ihrer eigenen Gefühle bewusst werden
müssen, sonst sind sie dem Untergang
geweiht. Daytrader handeln gewöhnlich
ein System. Das heisst: die grafische Analyse der Börsenkurse über einen längeren Zeitraum (Charts) liefert ihnen klare
Signale, wann sie ein Produkt kaufen und
wann sie es wieder verkaufen sollen. Die
Experten streiten seit Jahrzehnten, ob diese Chartanalyse tatsächlich funktioniert
oder Scharlatanerie ist. Egal. Viele Trader geben eine Menge Geld für Handelssignale von Websites aus, weil sie sich an
etwas halten wollen. Wer sich nicht an
solche Signale hält oder sein eigenes System entwickelt, wird völlig zum Spielball seiner Gefühle.
Hoffen ist verboten
Wichtig ist auch das Setzen von StoppLoss-Kursen (SL). Man setzt den SL unter den Kaufkurs, bei einem Kaufkurs
von 3050 Dax-Punkten also zum Beispiel bei 3040. Fällt der Dax entgegen
der Erwartung, verkauft man das Produkt sofort. Das ist unschön, weil man
Geld verliert, bewahrt aber vor grösseren
Verlusten. Es ist ein bisschen wie Odysseus bei den Sirenen. Er weiss um seine
eigenen Schwächen und lässt sich deshalb an den Mast binden, um trotzdem
dem Gesang zu lauschen. Kerviel muss
diese Regel missachtet haben. Kein Daytrader, der Kontrolle über sich und sein
Tun hat, lässt seine Verluste so hoch wer-
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Wenn es um die Spielsucht geht, sind die Casinos gegenüber der Börse geradezu harmlos.
Markt auswirken.
Keine Ehefrau kann die Begeisterung
eines Daytraders nachvollziehen, wenn
er schreit: «Schatz, der Dax ist gerade um
27 Punkte gefallen!» Kein Freund versteht am Abend beim Bier noch den Satz
«Bei 6100 hat es meinen Schein ausgeknockt.» Daytrader werden nur von Daytradern verstanden, aber Daytrader haben
keine Kollegen. Sie sitzen täglich alleine
daheim vor ihrem Computer.
Wer dreimal hintereinander in wenigen Minuten mehr gewonnen hat, als er
in einem geregelten Job am Tag ver-
dient, der wird abhängig. Er wird dieses
Erfolgserlebnis immer wieder haben wollen, auch wenn er längst mehrere tausend
Euro verloren hat. Dazu wird in vielen
Trading-Büchern suggeriert, man müsse
es nur immer wieder versuchen.
Helden auf Zeit
Vor einigen Jahren tauchte in einem Internetforum ein Händler namens «Intuitivtrader» auf. Er behauptete, kein System
zu besitzen, sondern nur nach Intuition
zu handeln. Alle seine Transaktionen veröffentlichte er live und nachvollziehbar
im Forum. Er begann mit 10’000 Euro.
Eine Woche später besass er 20’000 Euro. In der darauf folgenden Woche wiederholte er das Experiment. Wieder begann er mit 10’000 Euro, wieder besass
er am Ende 20’000. Mittlerweile hatte
sich sein Erfolg herumgesprochen und
zahlreiche Forumsteilnehmer handelten
nur nachdem, was Intuitivtrader ins Forum postete. Am Ende der dritten Woche hatte Intuitivtrader alles verloren. Er
verlor auch alles in der vierten und fünften Woche. Danach hörte man nie wieder von ihm.
Jesse Livermore ist in DaytradingKreisen eine Legende. Er lebte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als er
zu handeln begann, besass er fünf USDollar. Zehn Jahre später war er einer
der reichsten Männer der USA. Er verlor
mehrmals sein gesamtes Vermögen und
erlangte es mit waghalsigen Spekulationen wieder zurück. Bis man ihn schliesslich tot auf der Toilette seines Hotelzimmers fand. Er hatte sich erschossen.
Der Ausstieg
Meine Daytrading-Karriere dauerte zehn
Wochen. Nachdem sich in der ersten Zeit
Gewinne und Verluste in etwa die Waage
gehalten hatten, folgte plötzlich Gewinn
auf Gewinn. Keine grossen Beträge, etwa 200 bis 300 Euro, aber sie bestätigten mich in dem, was ich tat. Die kleine
Stimme begann lauter zu werden und ich
mit ihr unvorsichtiger. An einem Tag hatte ich morgens eine vergleichsweise wenig riskante Position eröffnet und musste
dringend zu einem Seminar in die Uni. Ich
verzichtete diesmal darauf, eine StoppLoss-Absicherung zu setzen. Als ich drei
Stunden später zurückkam, lag ich 100
Euro im Minus. Ich beschloss, ein wenig
zu warten – ausnahmsweise über Nacht.
Am nächsten Tag belief sich das Minus
auf 500 Euro.
Ich wartete und begann zu hoffen.
Während ich hoffte, schwoll der Verlust
weiter und weiter an. Irgendwann war er
so gross geworden, dass sich ein «Jetztist-es-auch-schon-egal-Gefühl einstellte.
Fünf Tage später wurde der Schein ausgeknockt. Bei einem einzigen Trade hatte ich meine gesamten Gewinne der letzten Woche verloren. Und mein gesamtes
Kapital. Zusammen 3000 Euro. Das war
alles, was ich damals überhaupt besass.
Jetzt hatte ich genug.
___________________PHILIPP MATTHEIS
Für den Verlust kassiert die Bank obendrein erst noch eine happige Courtage.
Weitere Infos unter www sueddeutsche.de
und www.gluecksspielsucht.de
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