Wenn du mich anblickst, werd` ich schön!
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Wenn du mich anblickst, werd` ich schön!
Wenn du mich anblickst, werd' ich schön! Predigt am 6. Sonntag nach Trinitatis 7. Juli 2013 Zwinglikirche Mattenbach Pfr. Helge Fiebig, Töss 2 Gnade sei mit uns und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen. Liebe Gemeinde! Was bedeutet eigentlich „gerecht“? Möglich, dass sich darunter jede und jeder etwas anderes vorstellt. Gar nicht so unwahrscheinlich, dass der eine etwas gerecht findet und die andere genau dieselbe Sache ungerecht. Die Vorstellung von Gerechtigkeit, mit der jede und jeder von uns lebt, hat uns von Kindesbeinen an geprägt. Vielleicht haben auch Traditionen mitgespielt. Vorstellungen, die sich in dem vielleicht bekanntesten Gerechtigkeitsbild der Schweiz widerspiegeln. 1. Die meisten von uns werden schon einmal in Bern durch die Gerechtigkeitsgasse spaziert sein und haben den Gerechtigkeitsbrunnen gesehen. Justitia, die Gerechtigkeit, ist eine der vier Kardinalstugenden. Die andern heißen: Prudentia = Weisheit / Klugheit; Temperantia = Mäßigung; Fortitudo = Tapferkeit. Mit verbundenen Augen, in der rechten Hand das erhobene Schwert, in der Linken die Waage, blickt die bernische Justitia stadtaufwärts. Die Figur stammt aus der Renaissance-Zeit und erhält dadurch etwas Zeitloses. Die Füße sind in Sandalen geschnürt, das Gewand anliegend, einzig in der Körpermitte bilden sich lebhafte Falten, das rechte Knie unbedeckt. Die Justitia trägt einen Zierpanzer mit Arabeskenschmuck: Zierranken, die ein wenig an arabische Schriftzeichen erinnern und die sich wiederholen. Die Augen sind verbunden mit einer Binde, die von rosettenförmigen Ohrenschilden gehalten wird. Das Schwert der Justitia ist unter anderem ein Symbol der ausschließlichen Gerichtsbarkeit und somit auch ein Zeichen dafür, dass Selbstjustiz des Einzelnen untersagt ist. Weiter symbolisiert das Schwert die Durchsetzung der Rechtsordnung, der Sühnung begangenen Unrechts. In der linken Hand hält die Berner Justitia eine Balkenwaage. Sie ist Symbol für das richterliche Abwägen der Schuld und der zu verhängenden Strafe, aber auch für die Wiederherstellung des durch ein Delikt gestörten gesellschaftlichen Gleichgewichts. Die beiden - leeren – Waagschalen sind vielleicht nicht austariert. Das muss aber nicht Ungerechtigkeit bedeuten, sondern weist darauf hin, dass die Justitia dabei ist, das Recht ins Lot zu bringen. Unklar ist, ob die Justitia eine Augenbinde tragen muss oder nicht. Einerseits sollte die Justitia besonders gut sehen können und auch hinschauen, die Situation überblicken. Andererseits sollte sie sich nicht von Äußerlichkeiten beeinflussen lassen, sondern alle Leute gleich behandeln. 3 Zu Füßen der Justitia sind die vier irdischen Mächte dargestellt; die lassen wir hier weg; denn wir wollen uns jetzt dem Predigttext zuwenden. Und was für einem! Hören wir aus dem Brief des Paulus an die Galater einige Verse aus dem 2. Kapitel. Weil wir aber wissen, dass ein Mensch nicht dadurch gerecht wird, dass er tut, was im Gesetz geschrieben steht, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir aus dem Glauben an Christus gerecht würden und nicht dadurch, dass wir tun, was im Gesetz geschrieben steht; denn durch das Tun dessen, was im Gesetz geschrieben steht, wird kein Mensch gerecht werden. 2. 16 Wenn wir jedoch im Bestreben, durch Christus gerecht zu werden, nun selbst als Sünder dastehen, ist dann Christus ein Diener der Sünde? Gewiss nicht! 17 Schuldig mache ich mich dann, wenn ich wieder aufrichte, was ich abgerissen habe. 18 Denn dadurch, dass ich den Weg des Gesetzes zu Ende gegangen bin, bin ich für das Gesetz tot. So kann ich fortan für Gott leben. Ich bin mitgekreuzigt mit Christus: 19 Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir; sofern ich jetzt noch im Fleisch lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat. 20 Ich will die Gnade Gottes nicht außer Kraft setzen. Denn wenn die Gerechtigkeit durch das Gesetz kommt, dann ist Christus umsonst gestorben. 21 Allein aus Glauben bin ich gerecht. Im heutigen Predigttext geht es ums Eingemachte. Um ein Herzstück protestantischen Glaubens. Geballte Rechtfertigungslehre, könnte man sagen. Ein Herzstück, das aber – so hoch theologisch, wie es daherkommt – mein Herz nicht öffnet. Da geht es mir wie den Leuten, von denen Luther spricht: »Wenn man vom Artikel der Rechtfertigung predigt, so schläft das Volk und hustet; wenn man aber anfängt, Historien und Exempel zu sagen, da reckts beide Ohren auf, ist still und höret fleißig zu.« Die Rechtfertigung muss in unser Leben hinein, sagt Luther. Sie muss gefüllt werden mit Lebensgeschichte, sonst fangen die Menschen an zu schlafen und zu husten. Wenn Theologie zur Herzenssache werden soll, dann darf sie nicht abgehoben sein. 3. Die Worte des Paulus mögen so klingen, doch er entwirft sie nicht einfach am Schreibtisch. Es steht ein handfester Konflikt hinter seinen Zeilen: Da war es in einer der galatischen Gemeinden zum öffentlichen Eklat zwischen Paulus und Petrus gekommen. Petrus wollte unbedingt an bestimmten Speisevorschriften festhalten. Doch Paulus schreibt ihm nun, dass man nur scheitern kann, wenn man sich durch das Halten von religiösen Vorschriften vor Gott Pluspunkte 4 sammeln will. Wir müssen für Gott nichts machen oder leisten, sondern vor Gott sind wir gerecht, sind wir richtig, so wie wir sind, sagt Paulus. Auch als Luther die Rechtfertigung neu entdeckt, geschieht das nicht aus der Luft gegriffen. In tiefster seelischer Not ringt er um Gottes Gnade. Er, der er aufgewachsen ist mit der Angst vor Sündenstrafen und Höllenqualen, fragt sich: »Wie kriege ich einen gnädigen Gott?« An dieser Frage ist Luther innerlich fast zerbrochen. Doch wie konnte er aufatmen, als er für sich herausfand: Ich kann und muss mir die Liebe Gottes gar nicht erarbeiten und verdienen! Ich bin vor aller eigenen Leistung, vor allem Erfolg und trotz aller Schuld von Gott angenommen. Zum Gratispreis, sola gratia. Denn Gratia heißt nichts anderes als Gnade. Und die ist immer umsonst. Die Frage nach dem gnädigen Gott bringt uns heute kaum noch an den seelischen Abgrund. Heute zerbrechen Menschen eher daran, dass sie dem Leistungsdruck nicht gewachsen sind. Dem Druck, den eigenen Ansprüchen und den manchmal so unerbittlichen Normen zu genügen: Ich zähle nur, wenn ich schön bin und klug. Wenn ich Erfolg habe. Wenn ich bis ins hohe Alter jung bleibe, unabhängig, fit, flexibel und dynamisch. Und wer da nicht mithalten kann, wird erbarmungslos abgehängt. Dem wird beschieden: Du bist nicht ausreichend qualifiziert. Du bist nicht cool genug, um bei uns mitzumachen. Du bist nicht mobil genug. Du bist zu alt für weitere Ausbildungskosten. Du bringst zu wenig, dass wir dich mit deinem Alter bei uns noch beschäftigen könnten. Das haben schon viele gehört. Wie unbarmherzig das alles sein kann! Ich verstehe die Sehnsucht von Menschen, die aussteigen wollen. Aus diesem Leistungswahn und aus dem Druck, den man sich selbst macht. Auch ich sehne mich manchmal nach Unterbrechung, danach, die scheinbar unveränderlichen Abläufe im Leben aufzuhalten. Die alte Lehre von der Rechtfertigung ist eine, die heilsam unterbrechen will. Die das Hamsterrad, in dem wir uns manchmal so abquälen, anhalten will. Wahrscheinlich tut sie das heute weniger mit den klassischen Begriffen von Gesetz und Gesetzesübertretung, von Sünde und Gerechtigkeit. Das ist kaum noch die Sprache, die unser Herz erreicht. Wir müssen sie übersetzen. Dazu vier Anstöße: 4. 1. Ein Satz der chilenischen Dichterin und Diplomatin Gabriela Mistral: »Wenn du mich anblickst, werd' ich schön« Der Blick der Güte, mit der Gott uns ansieht, macht uns gut und richtig und schön. Übrigens ist das auch ein Satz, den wir in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen weiterspinnen können. Wozu wir allerdings die unsichtbare Augenbinde, die wir manchmal tragen, definitiv abnehmen müssen. 2. Wenn Gott mich ansieht, ist die Gnade das Wichtigste. Auf Neudeutsch: Gottes Blick ist »ressourcenorientiert« und bleibt nicht bei meinen Schwächen stehen. 5 Der gnadenvolle gütige liebende Blick entmachtet mein Scheitern. Wenn ich scheitere, macht das nichts mehr. 3. Mein Leben muss nicht in jeder Hinsicht gelingen, bevor ich glücklich bin. Es gilt nicht mehr: »Jeder ist seines Glückes Schmied«. Ich darf Fragment sein, Bruchstück, halb, unfertig. Das, was mich ganz macht, ist der liebevolle Blick Gottes. 4. Und noch ein Satz des Theologen und Witwers von Dorothee Sölle, Fulbert Steffensky: »Wir sind nicht Produzenten unserer eigenen Heiligkeit und Ganzheit, es ist der Blick der Güte, der uns ins Leben zieht.« Ich schaue noch einmal in den Predigttext und entdecke, dass auch Paulus nicht in seinen hochtheologischen Gedanken hängenbleibt. All die komplizierten Argumente werden ihm am Ende zu einer Erfahrung von Kraft. Zu einer Erfahrung von Kraft, die sich in seinem Leben auswirkt und bewährt: »Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir « Das ist Liebessprache, fast schon intim: Du lebst in mir. Wenn du mich anschaust voller Liebe und Güte – so wie ich bin, mit all meinen Ecken und Kanten, wenn du mich so liebend anblickst, dann geht das ganz tief. Dann spüre ich eine große Kraft in mir, dann lebe ich aus einer Kraft heraus, die mich frei macht und unabhängig. Was für ein wunderbares Liebesgeschenk: Weil Christus mich in sein Herz geschlossen hat, lebt Christus in mir! 5. Wenn die »Rechtfertigung« so in meinem Herzen ankommt, dann kann, dann darf ich sie nicht einfach missachten. »Ich will die Gnade Gottes nicht außer Kraft setzen. «, sagt Paulus, oder, wie Luther es übersetzt: »Ich werfe nicht weg die Gnade«, sondern ich lasse die Christuskraft in mir groß werden. Was heißt das für mein Leben? Ich höre auf, mein Leben zum »Erfolg« machen zu wollen. Ich muss nicht alles im Griff haben, ich bin ja schon gehalten. Ich brauche nicht ständig nur auf meine Fehler und auf mein Unvermögen zu schauen; ich bin ja schon längst wer. Ich muss mich nicht ständig um mich sorgen und kümmern, um mich kümmert sich ja schon Gott. So kann ich ein gutes Stück weit sorglos leben. Und so ergeben sich plötzlich noch ganz andere Möglichkeiten für mich: Ich kann für andere sorgen. Ich kann auf die achten, die missachtet werden. Ich kann für die eintreten, die im Hamsterrad von Leistung und Erfolg zertreten werden. So gebe ich Christus in meinem Leben Raum! Wenn du mich anblickst, werd‘ ich schön! In Gottes Augen bin ich angesehen. Wie wunderbar, wie befreiend. Und wie tief kann ich aufatmen! Amen. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsre Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.