Brüder Grimm
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Brüder Grimm
RALF ISAU’s Bibliotheca Phantanautica Brüder Grimm ZEICHNUNG : HELMUT DOHLE Hintergrundinformationen zum Band III der Reihe Der Zirkel der Phantanauten © COPYRIGHT BY RALF ISAU, 2009 Ralf Isau – Die Brüder Grimm Der Zirkel der Phantanauten (Band III) durchzieht das Land. Und die Terreur, die Schreckensherrschaft der Jahre 1793 und '94, ist das hässliche Gesicht der Französischen Revolution. Wohl an die 40 000 Menschen fallen ihr zum Opfer, 500 000 Bürger werden aus politischen Gründen eingekerkert. Auch ohne Internet und Nachrichtenkanal werden die Brüder Grimm von diesen Ereignissen geprägt. Das Zeitalter der Aufklärung bringt Veränderungen mit sich, zum Guten und zum Schlechten, manches wird erneuert, anderes geht verloren. Irgendwann müssen Jacob und Wilhelm bemerkt haben, dass auch der reiche Schatz an Volkssagen und Märchen, der vor allem von den »Märchenfrauen« mündlich weitergegeben wird, im Vergessen zu versickern droht. Ehe die Rettung dieses Erbes ihnen zur Bestimmung wird, verändern aber zunächst andere Verluste ihr Leben. Zu den schmerzhaftesten Einschnitten ihrer Kindheit gehört gewiss der kurz aufeinander folgende Tod des Vaters und der seiner ältesten Schwester Juliane Charlotte (1735 – 1796) – »Tante Schlemmer« hatte im Grimmschen Haus gelebt und auf die Entwicklung der Kinder einen nicht unerheblichen Einfluss gehabt. Zugleich erwächst den Brüdern Jacob und Wilhelm aus den familiären Umwälzungen aber auch eine neue Chance. Als Amtmann – heute vergleichbar mit einem Landrat und Richter – war ihr Vater die höchte Autorität in Steinau an der Straße. Nun muss die Familie die Dienstwohnung im Amtshaus räumen und vorübergehend ins Huttensche Armenspital wechseln. Einige Zeit später kann die Witwe die alte Kellerei am Brückentor erwerben. Ende September 1798 – nur wenige Wochen nach der im Roman geschilderten, frei erfundenen Reise zum Blautopf also – ziehen die Brüder zu ihrer »Tante Zimmer« in die Residenzstadt Kassel. Das nicht mehr ganz junge Fräulein Henriette Philippine Zimmer (1748 – 1815) dient dort als Kammerfrau der hessischen Kurfürstin Karoline. Selten begegnet man zwei Brüdern, deren Namen im Bewusstsein der Nachwelt so eng miteinander verbunden geblieben sind wie Jacob und Wilhelm Grimm. Wenngleich sie sich vor allem durch ihre Kinderund Hausmärchen im Gedächtnis der Nachwelt verewigt haben, hieße das Lebenswerk der beiden allein darauf zu beschränken, äußerst beschränkt zu bleiben. Vom Kinder- ins Paukerparadies Jacob Luwig Carl ist der Erstgeborene des Amtmannes Philipp Wilhelm Grimm (1751 – 1796) und seiner Ehefrau Dorothea Grimm geb. Zimmer (1755 – 1808). Er kommt am 4. Januar 1785 im hessischen Hanau zur Welt. Sein Bruder Wilhelm Carl wird selben Orts am 24. Februar 1786 geboren. Ihnen folgen noch vier weitere Geschwister, von denen sich vor allem Ludwig Emil als Zeichner, Maler und Radierer im Stil der Romantik einen Namen machen wird. Die Brüder Grimm wachsen in einer Zeit des Umbruchs auf. Durch die »Große Revolution« (1789 – 1799) weht von Frankreich her einen Geist der Erneuerung durch Europa. Die Schlagworte Liberté, Egalité, Fraternité – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – beflügelten das einfache Volk. Die politischen Auswirkungen der Bewegung sind sogar knapp 50 Kilometer vom Geburtshauses der Brüder Grimm am alten Hanauer Paradeplatz zu verspüren. Mit der »Mainzer Republik« wird dort 1793 die erste Demokratie auf deutschem Boden begründet – wenigstens ein paar Wochen lang. Den mehr oder minder absoluten Gewalthabern aus Adel und Kirche jagt der plötzliche Freiheitshunger auf der Straße einen Mordsschrecken ein. Sie drohten nicht nur ihre Macht, sondern auch – wie der französische König Ludwig XVI. – den Kopf zu verlieren. Um das »alte Regime« zu verteidigen, schicken sie ihre Armeen gegen die Umstürzler ins Feld. Selbst ohne diese Bedrängnisse von außen, droht Frankreich in Strömen von Blut zu versinken. Ein Bürgerkrieg, der von unbeschreiblichen Gräueltaten begleitet ist, 2 Ralf Isau – Die Brüder Grimm Der Zirkel der Phantanauten (Band III) renden Vertretern der sogenannten jüngeren Romantik. Dazu gehört neben Achim von Arnim auch der Dichter Clemens von Brentano, ein Mann, der zumindest für die fiktiven Brüder Jacko und Guy Grimm kein Unbekannter ist. Im richtigen Leben jedenfalls wird der Marburger Kreis ihr künftiges Schaffen nachhaltig beeinflussen. Hier wurzelt Jacob und Wilhelm Grimms Ruf als Mitbegründer der modernen Germanistik. Der heutige Gebrauch dieses Begriffes geht maßgeblich auf den älteren der Brüder zurück. Ursprünglich wurde darunter eine Forschungsrichtung verstanden, die sich mit der germanisch-deutschen Rechtsgeschichte – im Gegensatz zur römischen und kirchlichen – befasste. Als gelernter Jurist verlieh Jacob Grimm einer anderen Bedeutung des Fachausdruck ein stärkeres Gewicht. Längst verstehen Philologen unter Germanistik jenes Studienfach, das die deutsche Sprache und Literatur sowie deren skandinavische Verwandte untersucht. Von jeher hatten die intelligenten Jungen ihre Welt mit großen, staunenden Augen betrachtet. Das »Kinderparadies« in Steinau bot ihnen unerschöpfliche Gelegenheiten, durch Wiesentäler und über Anhöhen zu streifen, ihren Sinn für die Natur zu nähren und unter freiem Himmel ihren Gedanken nachzuhängen. Auch die schulische Ausbildung bei dem etwas merkwürdigen Stadtpraeceptor Johann Georg Zinkhan kam nicht zu kurz. Sie lernten bei ihm vor allem Fleiß, Disziplin und eine »Menge ergötzlicher Späße«. In Kassel beginnt für den dreizehnjährigen Jacob und seinen zwölfjährigen Bruder Wilhelm nun gleichsam der Ernst des Lebens. Täglich absolvierten sie sechs Schulstunden und zusätzlich vier bis fünf weitere Stunden bei Privatlehrern. Ihre ländliche Herkunft mag der Grund dafür sein, dass sie zunächst nur mit »Er« angesprochen werden, während den Kasseler Schulkameraden ein »Sie« zugestanden wird. Ihre Lebensverhältnisse sind einfach, sogar enbehrungsreich, doch das tut ihrem Eifer keinen Abbruch. Schon in der Unterquarta ist Jacob der Primus. Ihm werden 1799 »vorzügliche Fähigkeiten, große[r] Fleiß und ein sehr anrührendes gesittetes Betragen« bescheinigt. Und auch Wilhelm gibt durch »sein[en] Fleiß und seine[!] sittlich gutes Betragen seinen Mitschülern ein Muster«. In ihren natur- und völkerkundlichen Arbeiten, lassen sie bereits ihre schöpferische Natur und ihr Interesse für das »Kleine und Unbedeutende« erkennen. Beruf und Berufung Für Jacob ist im Jahr 1805 die Langzeitwirkung seiner Bemühungen um die deutsche Sprache noch nicht abzusehen. Im Herbst kehrt er nach einem achtmonatigen Aufenthalt in Paris als Anwärter für den Verwaltungsdienst ins Kriegssekretariat nach Kassel zurück. Seinen »kleinen Bruder« Wilhelm nimmt er mit. Sie ziehen ins Haus des Kaufmanns Wille in die Marktgasse 17 ein und bald schon wohnt dort die ganze Familie. Für die nächten 25 Jahre wird hier der Mittelpunkt ihres Lebens sein. Nachdem Wilhelm im März 1806 in Marburg sein Advokaturexamen abgelegt hat, tut er sich zunächst beruflich schwerer als sein Bruder, der im kurfürstlichen Kriegskollegium inzwischen zum Sekretär aufgestiegen ist. Um die Gesundheit des Jüngeren steht es nicht zum besten. Kurieren statt Studieren heißt es allzu oft für ihn, weil ihm asthmatische Beschwerden und eine Herzerkrankung zusetzen. Dennoch unterstützt er Jacob bei einem Weichenstellungen Mit nur siebzehn Jahren geht Jacob nach Marburg, um bei dem Rechtsgelehrten Friedrich Carl von Savigny Jura zu studieren. Etwa zwölf Monate später, zu Beginn des Sommersemesters 1803, folgt ihm Wilhelm dorthin. Gemeinsam schwelgen sie in Savignys großer Bibliothek. Ihr Interesse für die Dichtungen des deutschen Mittelalters wächst. Savigny wird zu ihrem Mentor. Er fördert die Kontakte seiner Studenten zu füh3 Ralf Isau – Die Brüder Grimm Der Zirkel der Phantanauten (Band III) Bonaparte in Kassel auf den Thron gesetzt hat, darf Jacob 1808 als Privatbibliothekar in dessen Dienste treten. Die Anstellung beim König kommt ihm gelegen, denn die Mutter ist gerade gestorben und nun muss er die Familie ernähren. Als Auditeur d’Etat – ein staatlicher Rechtsexperte – gehört er wenig später sogar als einziger Deutscher dem Kabinett an, das dem als »König Lustig« verschrienen Herzensbrecher Jérôme weitgehend die Regierungsgeschäfte abnimmt. Wilhelm pflegt derweil die alten Marburger Kontakte. Er reist mit Clemens Brentano nach Berlin und verbringt einige Zeit mit ihm und Achim von Arnim. Man teilt nicht nur die Wohnung, sondern auch die Liebe zu alten deutschen Volksliedern, Sagen und Märchen. Bald schon sehnt sich Wilhelm nach dem älteren Bruder zurück. Auf der Rückreise nach Kassel trifft er den Dichterfürsten Goethe, dem der junge Grimm ob seiner »Bemühungen zu Gunsten einer lang vergessenen Kultur« schon positiv aufgefallen ist. Nachdem Napoleon Bonaparte und seine Sippe wieder aus den Ämtern gejagt worden sind, geht es auch mit Wilhelm beruflich voran. Von 1814 bis 1829 bekleidet er den Posten eines Sekretärs an der Bibliothek in Kassel, der ihm ein eigenes Einkommen, viel Freizeit und den unbeschränkten Zugang zu wunderbaren Werken der deutschen Literatur verschafft. Jacob ist in dieser Zeit als kurhessischer Legationssekretär beim Wiener Kongress tätig, jener Tanzveranstaltung europäischer Fürsten, die nebenbei zur Neuordnung Europas für die nachnapoleonische Zeit genutzt wird. Im Folgenden reist er einmal mehr nach Paris und nimmt an den Verhandlungen über die Rückführung geraubter Kunstschätze nach Hessen und Preußen teil. Das napoleonische Zeitalter hat der romantischen Bewegung in Deutschland Auftrieb verliehen. Dem erzwungenen Französischsein wird die Wiederentdeckung des germanischen Altertums und die Erforschung der Geschichte der deutschen neuen Projekt, das sie in diesem Jahr in Angriff nehmen: das systematische Sammeln von Märchen. Sie wollen diese bislang fast nur mündlich überlieferten Geschichten durch eine behutsame Bearbeitung lesbar machen und in gedruckter Form herausgeben. Etliche der von ihnen dem Vergessen entrissenen Kleinode stammen von der »Viehmännin«, der Märchenerzählerin Dorothea Viehmann aus dem Kasseler Vorort Niederzwehren. Weiteren Input liefern ihnen die Niederschriften Charles Perraults – der französische Kulturstaatssekretär hatte seine Märchen ebenfalls aus mündlichen Überlieferungen sowie von italienischen Märchensammlern gewonnen. Bald wird für Jacob und Wilhelm aus der Hingabe eine Aufgabe, nach der sie sogar ihren Karriereplan ausrichten. Wichtiger als Geld und Ansehen ist für sie freie Zeit. Zeit, die sie für ihre Märchen einsetzen können. Beruflich machen sie in den folgenden Jahren alle nur denkbaren Höhen und Tiefen durch. Mit daran Schuld ist ein korsischer Offizier namens Napoleone Buonaparte, der es inzwischen bis zum französischen Kaiser gebracht hat. Seine Grande Armée zieht durch Europa und verleibt am 1. November 1806 auch das Kurfürstentum Hessen seinem Einflussbereich ein. Das Kriegsministerium wird, so hieße es wohl heute, umstrukturiert. Jacob muss seinen Dienst quittieren, und der frisch gebackene Jurist Wilhelm findet erst gar keine Anstellung. Zwar sind die Brüder nun arbeits–, aber beileibe nicht beschäftigungslos. Sie nutzen das Jahr 1807 um eine Reihe kritischer Beiträge zur Literatur- und Sprachgeschichte zu verfassen. Wilhelm schreibt über diese Zeit, in der sie sich mit Eifer in die altdeutschen Studien stürzten: »Ohne Zweifel hatten die Weltereigniße und das Bedürfniß sich in den Frieden der Wissenschaft zurückzuziehen, beigetragen, daß jene lange vergessene Literatur wiedererweckt wurde.« Nachdem Napoleon seinen Bruder Jérôme 4 Ralf Isau – Die Brüder Grimm Der Zirkel der Phantanauten (Band III) Editionen allein betreute und immer wieder überarbeitete. Die letzte »große Ausgabe« von 1857 besteht aus 149 mündlichen Überlieferungen und 61 Exzerpten, Werkauszügen aus Büchern und Zeitschriften. Sprache und Dichtkunst engegengesetzt. Die Kinder- und Hausmärchen Umso erstaunlicher ist die Reaktion, als die Brüder Grimm am 20. Dezember 1812 mit dem ersten Band der Kinder- und Hausmärchen (KHM) ihre bis dahin gesammelten Erzählungen veröffentlichen und 1815 den zweiten Teil nachschieben. Das Interesse ist zunächst verhalten und mancher Kritiker stößt sich mehr an den Lücken der Erstausgabe als am Inhalt. Heinrich Voß bezeichnet die meisten Märchen sogar als ›wahren Schund‹, findet aber zumindest einige »ungemein schön«. Als der Verkauf von Band II nur schleppend anläuft, kommt es darüber zu Unstimmigkeiten zwischen den Grimmbrüdern und ihrem Verleger Reimer. Mit dem Erscheinen der zweiten, ›fast ganz umgearbeiteten‹ Auflage der KHM im Jahr 1819 wendet sich dann das Blatt. Das Werk wird ins Englische und in andere Sprachen übersetzt. Eine auf 50 Märchen begrenzte, 1825 herausgebrachte, kleinere und illustrierte Ausgabe leitet schließlich den Siegeszug von Grimms Märchen ein. Zu Lebzeiten der Brüder folgen allein davon neun weitere Auflagen. Bis heute sind ihre Märchensammlungen in 160 Sprachen übersetzt worden, und im Jahr 2005 wurden die Kinder- und Hausmärchen von der UNESCO – der Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation – in das »Weltdokumentenerbe der Vereinten Nationen« aufgenommen. In der Begründung heißt es, sie seien »nach der Luther-Bibel das weltweit bekannteste und am weitesten verbreiteste Buch der deutschen Kulturgeschichte«. Hat anfangs noch Jacob die meisten Märchen niedergeschrieben, beschränkt sich sein Beitrag an dem Projekt seit 1819 im Wesentlichen darauf, seinem Bruder den Rücken zu stärken und ihn auf neue Märchen hinzuweisen. Die uns heute vertraute sprachlich meisterhafte Gestaltung der KHM geht vor allem auf den Schöngeist Wilhelm zurück, der fast bis an sein Lebensende alle folgenden Auflagen und Doppelstern bis ganz zum Schluss Wilhelms weiterer Werdegang ist seinem Naturell entsprechend leiser als der des Bruders, welcher zeitlebens ledig bleibt, als könne keine Frau den Vergleich mit einer gewissen Märchenprinzessin standhalten. Im Gegensatz dazu schafft es die Apothekerstochter Henriette Dorothea Wild 1825, Wilhelms Herz im Handstreich zu erobern. Aus der Ehe gehen vier Kinder hervor, wovon sich vor allem Herman Grimm als Kunst- und Literaturhistoriker einen Namen machte. Seinen Erstgeborenen indes benennt Wilhelm nach dem geliebten Bruder: Jacob. Die enge Verbundenheit der zwei findet darin einen Ausdruck, der weit in die Zukunft fortdauern soll. Leider stirbt das Kind schon nach acht Monaten. Obwohl Wilhelm nun Familienvater ist, wohnt sein Bruder weiter bei ihm – die beiden bleiben ein glänzender Doppelstern. 1829 wird das Geschwisterpaar an die Universität Göttingen berufen. Dem durch die Große Revolution heraufbeschworenen Geist der Gleichheit wollen sie eine Stimme geben, als sie als Mitglieder der »Göttinger Sieben« 1837 gegen den Verfassungsbruch des Königs in Hannover protestieren. Doch die Zeit für freie Meinungsäußerungen ist noch nicht reif. Die Grimms werden aus dem Staatsdienst entlassen und kehren nach Kassel zurück. Die Familie hält weiterhin zusammen. Ludwig Emil Grimm, der inzwischen als Maler und Professor an der angesehenen Kasseler Kunstakademie Fuß gefasst hat, nimmt die zwei Querdenker bei sich auf. Doch auch hier ist die Zeit nicht stehen geblieben. Jacob und Wilhelm haben Mühe an ihrer alten Wirkungsstätte neue Wurzeln zu treiben. Kaum gewöhnen sie sich an ihr Dasein als Privatgelehrte, ereilt sie ein Ruf aus Berlin. Die dortige Preußische Akademie der Wissenschaften will sie haben. 5 Ralf Isau – Die Brüder Grimm Der Zirkel der Phantanauten (Band III) gen kehrt Jacob bereits im Herbst 1848 wieder nach Berlin zurück. Die Kölnische Zeitung hatte ihn bei seinem Mandatsantritt noch als »Stern erster Größe« gepriesen. Und wie ein solcher trat er im Parlament beherzt für seine Prinzipien ein: »Ich bin für ein freies einiges Vaterland unter einem mächtigen König und gegen alle republikanischen Gelüste.« Das ist manchem Delegierten wohl denn doch zu viel des Alten. Sie wollen einen radikaleren Wandel. So arbeitet die Zeit für den Riesen und am Ende sind es wohl die Däumlinge in der Nationalversammlung gewesen, die mit ihrer Uneinigkeit dem ersten frei gewählten Parlament ganz Deutschlands 1849 den Garaus machten. Zu dieser Zeit arbeitet Jacob an der Seite seines Bruders längst wieder an ihrem Mammutvorhaben: dem Deutschen Wörterbuch. Das DWB – so wird es heute offiziell abgekürzt – ist ein Moloch, dereine uferlose Aufgabe, die ihre letzte Kraft verschlingen und trotzdem noch lange nicht beendet sein wird. Schon 1838 haben sie es begonnen, aber es wird erst 123 Jahre später beendet sein. Nicht ahnend, welchen Stein sie da ins Rollen gebracht haben, schätzen sie den Arbeitsaufwand auf zehn Jahre; sechs bis sieben Bände werden wohl am Ende herauskommen. Immerhin soll »Das Deutsche Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm« nicht weniger leisten, als die Herkunft und den Gebrauch jeden deutschen Wortes in aller Gründlichkeit zu erläutern. Welche Bedenken man hierzu Mitte des 19. Jahrhunderts zerstreuen muss, erklärt Jacob im Vorwort des 1854 bei S. Hirzel in Leipzig erscheinenden ersten Bandes so: Eigentlich sind die zwei immer sehr bodenständige Gesellen gewesen und nun, als Mittfünfziger, erst recht alles andere als sprunghaft. Trotzdem reisen sie an die Spree, schon um ihrer alten Freundin, der Schriftstellerin Bettina von Arnims willen. Achims Ehefrau – und Schwester Clemens Brentanos – ist eine Vertraute des preußischen Königs Wilhelm IV., und ihr verdankten die Grimms die Einladung nach Berlin. 1841 nehmen sie von ihrer alten hessischen Heimat Abschied und übersiedeln in die preußische Hauptstadt. Nun lehren sie an der Humboldt-Universität und werden mit Aufmerksamkeit und Ehrungen überhäuft. Ihre brüderliche Lebensgemeinschaft bleibt bestehen. Sie teilen weiterhin eine Wohnung und – was ihnen wohl wichtiger ist – eine ständig wachsende Privatbibliothek. Wilhelm bleibt der sesshaftere, ruhigere, kränklichere. Erst nachdem er 1852 seine Lehrtätigkeit aufgegeben hat, unternimmt er eine Reise nach Südfrankreich und an den Rhein. Sein Bruder dagegen hat Frankreich, Belgien, Italien, Dänemark und Schweden gesehen, er besucht Germanistenversammlungen in Frankfurt und Lübeck. Sein Leben scheint wie ein Uhrwerk zu ticken, ständig schreitet er voran. Als 1848 in Europa die Saat der Revolution erneut ausgebracht wird und überall der Ruf nach Bürger- und Freiheitsrechten zu vernehmen ist, reisen Abgeordnete aus allen Landesteilen zur ersten Deutschen Nationalversammlung in die Frankfurter Paulskirche. Zu ihnen gehört auch Jacob Grimm. Er träumt von einem geeinten Deutschland, in dem nicht mehr die Riesen aus den Fürstenhäusern den Taktstock schwingen, sondern von der Mehrheit des Volkes gewählte Abgeordnete den Ton angeben. Doch der preußische König meldet Widerstand an. Er sieht sich lieber als König von Gottes Gnaden denn als Kaiser, dessen Krone der »Ludergeruch der Revolution« anhaftet. Anstatt Friedrich Wilhelm IV. mit Geschlossenheit zu begegnen, streiten die Abgeordnen schier endlos über unzählige Details. Enttäuscht von seinen politischen Kolle- Das wörterbuch ist kein sittenbuch, sondern ein wissenschaftliches, allen zwecken gerechtes unternehmen. selbst in der bibel gebricht es nicht an wörtern, die bei der feinen gesellschaft verpönt sind. wer an nackten bildseulen ein ärgernis nimmt oder an den nichts auslassenden wachspraeparaten der anatomie, gehe auch in diesem sal den misfälligen wörtern vorüber und be6 Ralf Isau – Die Brüder Grimm Der Zirkel der Phantanauten (Band III) Danach in der Studentnzeit standen zwei Bette und zwei Tische in derselben Stube. Im späteren Leben noch immer zwei Arbeitstische in dem nämlichen Zimmer – immer unter einem Dach in gänzlich unangefochtenen und ungestört beibehaltener Gemeinschaft unserer Habe und Bücher. Auch unsere letzten Bette, so hat es allen Anschein, werden wieder dicht nebeneinander gemacht sein. trachte die weit überwiegende mehrzahl der andern. Ganz wissenschaftlich erklärt Jacob also das Stichwort »Arsch« – »... wir haben das rohe wort roher und breiter gemacht durch wandlung des rs in rsch ...« – und weiß dabei, vielleicht, um das Verpönte etwas gesitteter erscheinen zu lassen, sogar Goethe zu zitieren. Immerhin kann er zu Lebzeiten die Buchstaben A, B, C und E beenden. Wilhelm verausgabt sich am D. Am 4. Januar 1961 wird der 32. und letzte Band des Nachschlagewerks ausgeliefert. Einer der anderen etwa 80 Mitarbeiter des DWB definiert den Begriff »Philologie« als »... gelehrtes studium der (namentlich classischen) sprachen und literaturen, sprachwissenschaft ...«, doch im Grunde bedeutet er im griechischen Ursprung schlicht »Liebe zum Wort«. Jacob und Wilhelm Grimm haben die Philologie mit ihrem Mammutwerk in eine ganz neue Dimension gehoben. Wilhelm stirbt am 16. Dezember 1859 in Berlin als geachteter Literaturwissenschaftler, Sagenforscher und Herausgeber zahlreicher mittelhochdeutscher Literaturwerke, darunter die seinerzeit bedeutende Schrift »Über deutsche Runen«. Ohne ihn ist Jacob gleichsam nur noch die Hälfte eines Kontrabanten, eines Wesens, das sich einzig durch seine zweite Hälfte ganz entfalten kann. Immerhin fast vier Jahre, bis zum 19. September 1863, läuft seine Lebensuhr noch weiter. In dieser Zeit werden Band II und III des Deutschen Wörterbuchs veröffentlicht. »Bei dem Wort Frucht im vierten Band des Wörterbuches«, vermerkt ein Zeitgenosse, »hat ihm der Tod die Feder aus der Hand genommen.« So erfüllte sich das Versprechen, das Jacko im Roman Der Feuerkristall dem Bruder gab. Der wahre Jacob Grimm hatte es bereits Jahrzehnte zuvor sehr ähnlich formuliert: Heute liegen die Brüder, Seite an Seite, auf dem alten St.-Matthäus-Kirchhof in BerlinSchöneberg. So nahm uns denn in den langsam schleichenden Schuljahren ein Bett auf und ein Stübchen. Da saßen wir an einem und demselben Tisch arbeitend. 7 Ralf Isau – Die Brüder Grimm Der Zirkel der Phantanauten (Band III) Quellen [1] Die Grimms – Kultur und Politik; Bernd Heidenreich, Ewald Grothe (Hrsg.), 2. überarbeitete Auflage, Societaätsverlag, Frankfurt 2008 (ISBN 9783797310729). [2] Die Brüder Grimm in Kassel; Jörg Adrian Huber, Wartberg Verlag, GudensbergGleichen 2007 (ISBN 9783831316786). [3] Kinder- und Hausmärchen Gesammelt durch die Brüder Grimm; Aufbau-Verlag. Berlin 1963. [4] Das große biographische Lexikon der Deutschen : Über 2000 Persönlichkeiten aus dem deutschsprachigen Kulturraum; Prof. Dr. Walther Killy, Prof. Dr. Dr. h. c. Rudolf Vierhaus (Hrsg.), K. G. Saur Verlag, München 1995. [5] Kinder- und Hausmärchen Gesammelt durch die Brüder Grimm; Aufbau-Verlag. Berlin 1963. [6] »Französische Revolution«; GEO Epoche : Das Magazin für Geschichte; Heft Nr. 22 (2006), Gruner + Jahr; Hamburg 2006; ISSN 1861-6097. [7] Der Brockhaus in Text und Bild 2004; Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, Mannheim, 2004 (ISBN 3-411-70702-X mit Update ISBN 3-41170703-8). [8] http://de.wikipedia.org/wiki/Br%C3%BCder_Grimm; 27.10.2008; Gebrüder Grimm. [9] http://de.wikipedia.org/wiki/Frankfurter_Nationalversammlung; 21.01.2009; Frankfurter Nationalversammlung. [10] http://de.wikipedia.org/wiki/Alter_St.-Matth%C3%A4us-Kirchhof_Berlin; 21.01.2009; Alter St.-Matthäus-Kirchhof Berlin (Grabstätte von Jacob und Wilhelm Grimm). [11] http://www.planet-wissen.de/pw/Artikel,,,,,,,AB93752CA3CC67B9E0340003BA17 F124,,,,,,,,,,,,,,,.html; 22.01.2009; Porträt der Brüder Grimm mit Bildern von ihnen, Savigny und anderen Zeitgenossen und Freunden. [12] http://www.maerchenkristall.com/Autoren/bio_grimm.htm; 21.01.2009; Geschichte der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. [13] http://portal.unesco.org/ci/en/ev.phpURL_ID=23215&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html; 22.01.2009; offizieller »Memory of the World«-Eintrag (Weltdokumentenerbe) der UNESCO zu den »Kinder- und Hausmärchen (Children’s and Household Tales)«. [14] http://gutenberg.spiegel.de/?id=19&autor=Grimm,%20%20Br%FCder&autor_vor name=%20Br%FCder&autor_nachname=Grimm; 19.10.2008; Online-Version der Werke der Brüder Grimm im Projekt Gutenberg. [15] http://de.wikipedia.org/wiki/Deutsches_W%C3%B6rterbuch; 21.01.2009; OnlineVersion Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. [16] http://www.maerchenlexikon.de/khm/inhalt.htm; 28.10.2008; Grimms Märchen. Siehe auch http://www.maerchenlexikon.de/khm/konkordanzkhmat.htm für eine Konkordanz zu den Märchen. Sowie: http://www.maerchenlexikon.de/archiv/archiv/panzer01.htm; Aufsatz Märchen von Friedrich Panzer. 8