Abiturrede von Christian Müller
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Abiturrede von Christian Müller
Abiturrede 2013 Gehalten am Freitag, den 15. März 2013 von Christian Müller Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, sehr geehrte Eltern, Verwandte und Freunde, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich empfinde es als eine große Ehre, als Vertreter des Lehrerkollegiums vor Ihnen sprechen zu dürfen. Dies ist die zweite Abiturrede meines Lebens. Die erste hielt ich als Schüler. Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, seitdem ich im Februar 2005 an das Stama kam, habe ich permanent Schüler aus eurem Jahrgang unterrichtet, also vom zweiten Halbjahr der fünften Klasse bis zum Ende der Stufe 13. Dass ihr heute im Rahmen dieser akademischen Feier eure Abiturzeugnisse erhaltet, ist deshalb auch für mich etwas Besonderes. Aber haben wir heute überhaupt etwas zu feiern? „Abitur? – Na und !“ lautete die Überschrift eines Artikels in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 20./21. Oktober 2012. Darin ist vom „Abiturwahn“, von der „Noteninflation“ und einer „Gefährdung des Wirtschaftsstandorts Deutschland“ durch das massenhafte Scheitern von Abiturienten im Studium die Rede. Ist der Erwerb des Abiturzeugnisses schon zu einer Selbstverständlichkeit geworden? Es steht fest, dass die Abiturientenquoten stetig steigen. Mittlerweile sind wir bundesweit bei durchschnittlich vierzig Prozent angelangt. Viele Politiker, vor allem von SPD und Grünen streben eine weitere Erhöhung in schwindelerregende Regionen bis hin zu siebzig bis achtzig Prozent an. Man gewinnt als interessierter Beobachter den Eindruck, es finde unter den Bundesländern ein Überbietungswettbewerb statt, in dem Hamburg mit 52 Prozent an der Spitze rangiert. Kritische Stimmen aus der Politik sucht man dazu bis hinein in die Reihen der CDU/CSU fast völlig vergeblich. Dahinter verbirgt sich die Idee, immer mehr Menschen die Möglichkeit zur Partizipation an Bildung und die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg zu verschaffen. Zweifellos haben wir Lehrkräfte die wichtige und reizvolle Aufgabe, jeden einzelnen Schüler in möglichst umfangreichem Maße zu fördern, einem abgewandelten Motto des unlängst aus dem Amt geschiedenen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck zufolge „nahe an den Schülern“ zu sein. Natürlich müssen dafür von den Politikern die Rahmenbedingungen geschaffen werden, aber hinter dieser Forderung dürfen wir Lehrerinnen und Lehrer uns im Alltag nicht verstecken. Wie ein Fußballtrainer aus seinen Spielern müssen wir aus jedem Schüler, egal ob leistungsstark oder -schwach, das Bestmögliche herausholen. Wunderheiler sind wir gleichwohl nicht. Auch ist mir nichts davon bekannt, dass die Wissenschaft einen sprunghaften Anstieg der durchschnittlichen menschlichen Intelligenz festgestellt hätte. Wie man aus mir keinen Marathonläufer, Klaviervirtuosen oder Mathematiklehrer hätte machen können, besitzen auch nicht alle Kinder das Potential, dereinst das Abitur abzulegen. Um es mit den Worten meiner 87 Jahre alten Oma auszudrücken: „Eine Kuh gibt nicht mehr Milch, als sie hat.“ Trotzdem darf man eine Abiturientenquote von siebzig bis achtzig Prozent nicht als realitätsferne bildungspolitische Träumerei abtun, sondern muss sie als Ziel, das vielen Verantwortlichen in den Bundesländern vorschwebt, ernst nehmen. Wie ist dieser Widerspruch zwischen dem begrenzten Potential der Menschen, die von der Natur mit unterschiedlichen Begabungen ausgestattet worden sind, und den Bemühungen um das Abitur als „Vollkasko-Garantie“, wie es Herr Kraus, der Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbands, ausdrückt, aufzulösen? Es gibt meines Erachtens nur eine plausible Antwort auf diese Frage: indem man die Anforderungen senkt und sich zwischen den Bundesländern bei der Gestaltung des Abiturs auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigt, also nach dem Land mit den geringsten Ansprüchen richtet. Zusätzlich baut man manche Hürden, die ihr, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, auf der langen Strecke bis zum heutigen Tag noch überspringen musstet, einfach ab. So möchte die rheinland-pfälzische Landesregierung einen Modellversuch durchführen, bei dem „das Sitzenbleiben und das Abschulen in eine niedrigere Schulart“ ausgesetzt werden soll. Hoffentlich wartet sie das Resultat in aller Ruhe ab und analysiert die einzelnen Aspekte sorgfältig. Zweifellos ist es ein hehres Ziel, jungen Menschen traumatische Erfahrungen zu ersparen. Aber, so frage ich mich, wie soll dies in der Praxis funktionieren, wenn über den Zugang zum Gymnasium allein der Elternwille entscheidet? Durch individuelle Förderung, antworten die zuständigen Politiker und jene Pädagogen, die sie unterstützen. Doch abgesehen davon, dass nicht jeder alles lernen kann und auch nicht will, wird hier die Lebensferne dieses Denkens in erschreckendem Maße deutlich. Es gibt nämlich nicht wenige Schüler, die sich gerade deshalb mehr anstrengen, weil ihnen das Sitzenbleiben droht. Da sie diese negative Erfahrung nicht machen möchten, erreichen sie durch ihren Fleiß das Klassenziel. Wenn äußere Leistungsanreize fehlen, sagen sich viele Schüler mit Recht: „Ein gutes Pferd springt nur so hoch, wie es muss.“ Und wenn es gar nicht springen muss, bleibt es eben stehen. Allein auf die, wie es im sperrigen Pädagogenlatein heißt, „intrinsische Motivation“ zu setzen mutet reichlich naiv an. Als Argument gegen das Sitzenbleiben wird von der Landesregierung vorgebracht, dass die Schüler, die ein Jahr wiederholen müssen, bald wieder zu den schwächeren gehören. Diese Beobachtung trifft keineswegs immer, jedoch häufig zu. Aber ist das nicht wiederum ein Argument dafür, dass diese Schüler am Gymnasium schlichtweg überfordert sind, weil der Übertritt dorthin ausschließlich den Eltern überlassen wird? Manche Erziehungsberechtigte erweisen sich in der nachvollziehbaren Angst, ohne Abitur habe das eigene Kind ein wesentliches Manko für sein Leben, als beratungsresistent. Man kann meines Erachtens also nur dadurch eine erheblich höhere Abiturientenquote herbeiführen, dass man die Leistungsanforderungen reduziert, nötigenfalls drastisch. Wir Lehrerinnen und Lehrer ahnen, was da auf uns zukommen wird. Das Abitur, die allgemeine Hochschulreife, wird an Wert verlieren. Diese Entwicklung hat ja auch bereits eingesetzt. Für den Zugang zu immer mehr Studienfächern wird die Abiturdurchschnittsnote zum maßgeblichen Kriterium. Der Druck auf die Schülerinnen und Schüler, ein Einserabitur zu erzielen, wird zunehmen. Wenn das Einserabitur immer häufiger vergeben wird, wird es nicht mehr der Ausweis einer ganz besonderen Leistung sein. An den Universitäten ist diese Situation in zahlreichen Fächern schon längst eingetreten. Einen Punkt, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, den ihr mit Recht beklagt, möchte ich noch kurz anschneiden: Abitur ist nicht gleich Abitur. Nicht nur zwischen den Bundesländern, sondern auch zwischen verschiedenen Schularten und sogar zwischen verschiedenen Schulen eines Typs bestehen, wie die einschlägig bekannten Schulleistungstests ergeben haben, beträchtliche Unterschiede in den Anforderungen. Arbeitgeber und Universitäten berücksichtigen diese Tatsache allerdings überhaupt nicht. Diesem Missstand muss im Interesse derjenigen Schülerinnen und Schüler, die ein qualitativ hochwertiges Abitur bewältigt haben, dringend abgeholfen werden. Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, sehr geehrte Eltern, Verwandte und Freunde, die Sie Ihre Kinder heute begleiten, ich habe eine düstere Zukunftsperspektive entworfen, weil ich die schulpolitische Entwicklung mit großer Sorge sehe und möchte, dass wir am Stama zu diesem Anlass noch oft einen wirklichen Grund zum Feiern haben werden. Was euch betrifft, kann ich euch versichern: Ihr dürft heute und in den nächsten Tagen und Wochen unbeschwert feiern. Denn ihr habt noch ein qualitativ durchaus anspruchsvolles Abitur bestanden. Ihr wart nicht erst in der Oberstufe – das wage ich mit meiner reichlichen Unterrichtserfahrung bei euch zu sagen – ein sehr motivierter und leistungsstarker Jahrgang. Bestimmt werdet ihr, wie es mir vor 23 Jahren auch widerfuhr, mit gemischten Gefühlen an eure Schulzeit zurückdenken. Bei der Erinnerung an die Geborgenheit in der Schulgemeinschaft, die ihr hoffentlich empfunden habt, an außerunterrichtliche Ereignisse wie Studienfahrten oder lustige Unterrichtsstunden wird sicherlich Wehmut mitschwingen. In solchen Momenten sollte euch gegenwärtig bleiben, womit ihr von nun an nicht mehr belästigt werdet: Unterricht bis zur achten oder gar zehnten Stunde, Kursarbeitsstress, Fächer, die euch gelangweilt haben, Lehrer, die ihr ertragen musstet, Parallelkurse, in denen die Anforderungen ganz unterschiedlich waren. Dazu zitiere ich aus meiner eigenen Abiturrede als Schüler: „Dies hat insbesondere in einem Deutsch-Leistungskurs und in einem MathematikGrundkurs zu Unzufriedenheit über die Notengebung geführt.“ Die Liste der Zumutungen ließe sich garantiert noch lange fortsetzen. Nutzt die Chancen, die sich euch fortan, wenn ihr die Nestwärme der Schule nicht mehr spürt, bieten! Ihr bekommt wohl zur Zeit sehr viele gut gemeinte und auch kluge Ratschläge aus eurem persönlichen Umfeld. Daher möchte ich mich auf drei, die ich als äußerst bedeutsam einschätze, beschränken. 1. Verfolgt eure Ziele beharrlich! Ich denke, dass ihr dafür am Stama sowohl in fachlicher als auch in menschlicher Hinsicht das nötige Rüstzeug erhalten habt. Die Rückmeldungen, die uns ehemalige Stama-Schüler geben, sind jedenfalls meist sehr positiv. Wir hoffen, dass ihr im Vergleich zu Abiturienten von anderen Schulen einen Vorsprung gewonnen habt. Lasst uns wissen, ob dem wirklich so ist! 2. Passt euch nicht zu sehr an, sondern äußert eure Meinung offen, wenn euch etwas auf der Seele brennt! Seid tolerant und bleibt vor allem ihr selbst! Authentizität lautet hier das Stichwort. 3. Vergesst nicht zu leben! Tut nicht nur das, was ihr machen müsst, sondern auch das, worauf ihr Lust habt! Es ist bitter, in einem fortgeschritteneren Lebensalter konstatieren zu müssen, dass man das wahre Leben versäumt hat. Ich kenne einige Leute, denen es so ergangen ist. Man weiß nie, was später passiert. Ich weiß, wovon ich rede. Abschließend entlasse ich euch mit den Worten, die der Oberstufenleiter meiner Schule, des Göttenbach-Gymnasiums in Idar-Oberstein, uns Abiturienten am 28. Mai 1990 zugerufen hat: „Macht’s gut! Macht’s besser!“ Die Redaktion entschuldigt sich hiermit, dass sie vor Druck diesen Irrtum nicht mehr beheben konnte. Die in der Chronik abgedruckte Rede ist die Schülerrede von Nicola Trenz und Felix Schweitzer und nicht wie behauptet die Rede von Herrn Müller.