Hinweise für Schüler

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Hinweise für Schüler
Abitur 1997 Deutsch Gk
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Hinweise für Schüler
Aufgabenauswahl:
Von den vorliegenden 4 Aufgaben ist e i n e
auszuwählen und vollständig zu bearbeiten.
Bearbeitungszeit:
Die Arbeitszeit beträgt 240 Minuten;
zusätzlich stehen 30 Minuten Lesezeit für die
Wahl der Prüfungsaufgabe zur Verfügung.
Hilfsmittel:
Duden der deutschen Rechtschreibung
Sonstiges:
− Betr. Aufgabe 1:
Für literarische Beispiele, die Sie aus dem
Unterricht kennen, können Sie die Textvorlage benutzen.
− Geben Sie auf der Reinschrift die bearbeitete Aufgabe und die Wortzahl an.
− Für die Bewertung gilt die Reinschrift.
Entwürfe können ergänzend zur Bewertung
nur herangezogen werden, wenn sie zusammenhängend konzipiert sind und die
Reinschrift etwa Dreiviertel des erkennbar
angestrebten Gesamtumfangs umfaßt.
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Aufgabe I
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(Erörterung)
„Jede Zeit hat ihre eigenen Forderungen an das Drama, jede Zeit hat ihr Drama hervorgebracht.“
Marianne Kestings
Erörtern Sie die Gedanken M. Kestings!
Untersuchen Sie die Gültigkeit des Zitats anhand von einem Drama oder mehreren Dramen, die
Sie aus dem Unterricht der gymnasialen Oberstufe kennen!
Aufgabe II
(Textgebundene Erörterung)
Mark Siemons:
Wir haben keine Ahnung, was uns noch alles blüht
Geben Sie die Hauptgedanken des Textes wieder!
Setzen Sie sich unter Berücksichtigung eigener Beobachtungen mit ausgewählten Thesen und
Argumenten des Autors auseinander, und untersuchen Sie, mit welchen sprachlichen und stilistischen Mitteln er sein Anliegen umsetzt!
Aufgabe III
(Analyse eines poetischen Textes, verbunden mit kreativem
Schreiben)
Gerhard Rühm:
der rattenfänger
Analysieren Sie den Text im Detail und interpretieren Sie ihn nach Inhalt und Form!
Schreiben Sie die Geschichte weiter!
Aufgabe IV
(Analyse poetischer Texte)
Johann Wolfgang von Goethe: Der Fischer
Die Nixe
Kurt Schwitters:
Beschreiben Sie, wie die Gedichte auf Sie wirken!
Analysieren und interpretieren Sie vergleichend die beiden Gedichte nach Inhalt und Form!
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Text zur Aufgabe II
Mark Siemons
Wir haben keine Ahnung, was uns noch alles blüht
Deutsche Szene: Ein Supermarkt wird eingeweiht, die Puhdys singen, denn das A 10 verleiht
dem Leben Flügel, und die Kultur verschiebt sich im Kaufhaus des Ostens
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Wo immer heute die Puhdys auftauchen, kann man gewiß sein, daß ein findiger West-Manager
auf Ost-Seelen-Fang geht. Die bald dreißig Jahre alte Rockgruppe steht wie keine andere für die
Generationen übergreifende Erinnerungs-Gemeinschaft der DDR, und an diese gilt es
anzuknüpfen, wenn neue Traditionen gestiftet werden sollen.
Diesmal ging es um die Eröffnung eines Einkaufszentrums mit dem Namen „A 10“, ein Stück
konkrete Poesie am Berliner Ring. Vor dem weiten, dreitausend Autos fassenden Parkplatz war
eine Bühne hergerichtet, von der herunter die Puhdys „Alt wie ein Baum“ sangen und ihre
beliebten Stücke aus der „Legende von Paul und Paula“. Die Texte sind so allgemein, daß
niemand Anstoß nehmen kann und doch jeder das augenzwinkernde kollektive Einverständnis
findet, das er braucht.
Freilich ist das A 10-Publikum eine nur schwer zu begeisternde Masse, lange kommen kaum Reaktionen. Erst bei dem neuen Lied „Wir haben keine Ahnung, was uns noch alles blüht“, singen
viele mit, und am Ende stehen einige gar auf den zusammengeschobenen Einkaufswagen hinten
neben der Imbißbude. Kids sind dabei, aber auch viele Endfünfziger; die Rockmusik als
egalitäres Prinzip war in der DDR offenbar erfolgreicher als in der Bundesrepublik. C&ALuftballons tanzen munter in der Luft, rot leuchten die Schriftzüge von „Hammer HeimtexFachmärkte“ in die Nacht. „Das A 10 versteht zu feiern“, sagt ein Schriftzug hinter der Bühne.
Das ist allerdings auch nötig, denn es geht um eine kulturelle Verschiebung von größerer Tragweite, als es der erste Augenschein erkennen läßt; man könnte auch, um in der Branchensprache
zu bleiben, von einem "Markentransfer“ reden. Das A 10 ist das bisher größte Einkaufszentrum
im Umland von Berlin. Ein Gürtel legt sich um die Hauptstadt, vier weitere sind in Bau. Der
Bedarf des Ostens an Einkaufsfläche scheint unerschöpflich zu sein. Einrichtungen dieser Art
spielen im Westen nur eine subsidiäre, das Angebot der Städte ergänzende Rolle. Die Struktur
der oft noch historischen Städte der DDR hat sich dagegen für heutige Konsumbedürfnisse als
ungeeignet erwiesen. So entstanden die Einkaufswelten als exterritoriale Enklaven des
bundesrepublikanischen Konsums: Das A 10 verfügt mit seinen 96 000 Quadratmetern über eine
größere Verkaufsfläche als die gesamte City Leipzigs (70 000 Quadratmeter).
Doch nicht bloß der Konsum selbst soll die Gemeinschaft der Ostdeutschen neu programmieren.
Das A 10 ist die perfekte Nachahmung einer westdeutschen Fußgängerzone, allerdings mit Glasdach und Palmen. Es gibt Bänke zum Verweilen, eine Piazza mit Eiscafé Casagrande, einen Döner-Imbiß und ein China-Bistro. Man hat sich beim A 10, erläutern die Organisatoren in der Lokalpresse, besonders viel Mühe mit dem „Branchenmix“ gemacht. Es gibt Apotheken (davon
eine ökologisch ausgerichtete), Boutiquen, Lebensmittelgeschäfte und den ersten Laden für
BMW-Accessoires (Krawatten und Sonnenbrillen); der Verkaufstisch ist ein eigens
zugeschnittener violetter BMW 323. Sekt steht bereit.
Gegenüber schallt ohrenbetäubende Rap-Musik aus dem „Explosiv“-Geschäft, das zwei junge
Kaufleute aus Zeuthen und Deutsch-Wusterhausen aufgebaut haben. Dort kann man die
Kapuzen-Sweatshirts kaufen, die die gefährlichen Graffiti-Sprüher bei ihren nächtlichen
Aktionen zu tragen pflegen. Ein Junge mit schwarzer Mütze führt akrobatische Tänze vor, und
die Passanten stehen um ihn herum und applaudieren freundlich; hier können auch harmlose
Konsumenten zu Rappern werden. Alles, was es in der Welt draußen gibt, gibt es auch im A 10,
doch hier ist es kommerziell eingehegt und neutralisiert.
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So ist das Einkaufszentrum die saubere, lichte, gewaltfreie Gegenwelt zur traditionellen Stadt.
„Raus aus dem Alltag. Rein ins A 10“, steht auf einem großen Plakat. Man sieht dort Männer im
Anzug und mit Aktentasche durch die Lüfte schweben. Das A 10 verleiht dem geduckten Leben
Flügel.
Man kann den Vorgang der Heranführung des Ostens an den westlichen Konsum als Entwirklichung empfinden. An die Stelle der Stadt tritt deren keimfreie Simulation. Für die zweite
Bauphase sind noch ein Kino, eine Disko und eine Sauna geplant, aber natürlich kein Rathaus
und keine Kirche. Für Politik, Kunst und Religion ist in der neuen Stadt kein Platz, alle
möglichen Visionen und Leidenschaften sind im Geschäft gebannt.
Daß alles ungebrochen auf einen zustürzt, kann man aber auch als Inbegriff des Realen deuten,
als „das Mega des Möglichen“, wie der Mega Möbelmarkt wirbt. Das Symbol dafür ist der „realMarkt“ im Markt. Auf breiter Front reihen sich hier 31 Kassen aneinander, alle besetzt. Wer länger als zehn Minuten warten muß, bekommt fünf Mark geschenkt. Pure Rationalität und
Transparenz sprechen aus Preisangaben, Fluren und Ausschilderungen. „Ein Spitzen-PreisLeistungs-Verhältnis“, schallt es von links und rechts. In einem Betten-Geschäft und einem
Bekleidungshaus führen Zauberer ihre Kunststücke vor. Über den Umweg der gründlich
ernüchterten DDR wird der ideologisch ausstaffierte Konsum des Westens wieder zum
Jahrmarkt.
aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Montag, 9. September 1996. Nr. 210/Seite 33
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Text zur Aufgabe III
Gerhard Rühm (* 1930)
der rattenfänger
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er, der später der rattenfänger genannt wurde, spielte auf seiner flöte, spielte und spielte - aber
keiner wollte stehenbleiben, keiner hörte hin. er holte alles aus seiner flöte heraus und konnte
schließlich spielen, wie er es selbst nicht für möglich gehalten hatte, spielen, was noch nie gehört
worden war - aber keiner wollte stehenbleiben, keiner hörte hin.
da kam ihm eine simple weise in den sinn, die er auf dem jahrmarkt aufgeschnappt hatte. und
weil er gerade nichts besseres wußte, spielte er sie nach - auf der flöte klang sie nicht so schlecht.
plötzlich tauchten in den löchern schnauzen auf, und als er zu ende gespielt hatte, sah er sich von
einem schwarm ratten umgeben, die still dahockten und lauschten. das war sein erster erfolg, und
er wollte wissen, was ihn bewirkt hatte. er fragte seine grauen zuhörer, warum sie gerade diese
weise aus den löchern hervorgelockt hätte. „deine weise hat uns abfälle vorgegaukelt“, zischelten
sie angeregt, „nach denen wir tag für tag her sind.“ „glaubt ihr, ich könnte auch bei menschen damit erfolg haben?“ „versuch es doch!“ säuselte die ratte, die sich am weitesten vor gewagt hatte,
„sicher gibt es welche, die sie mitpfeifen könnten.“ „ja, ja“, bestätigte eine aus eigener erfahrung,
„viele möchten auch gern ein paar töne hervorbringen, wie du sie eben gespielt hast.“ „ja, ja, eine
simple weise, die in fleisch und blut“ - einige ratten knirschten schon mit den zähnen „übergeht.“ „ihr meint also wirklich, diese weise wäre geeignet?“ die aussicht auf den lange
entbehrten erfolg ließ ihn alles andere vergessen. „ja, ja, du mußt sie nur oft genug wiederholen.“
„ja, ja, wiederholen, immer wiederholen.“ „ja, ja, sie müssen deine weise so oft hören, daß sie sie
mitpfeifen, als wäre es ihre eigene.“ „ja, ja, so gewinnt man einen anhang.“ „ja, ja, und eine
breite straße mußt du dabei hinaufschreiten, aber nicht zu rasch, damit die leute sich sammeln
und dir folgen können.“ „ja, ja, und immer munter geradeaus, damit alle glauben, es führe wo
hin.“ „ja, ja, und schön den takt halten, damit keiner aus der reihe tanzt.“ „ja, ja, denn viele
glauben, wenn viele den gleichen weg gehen, muß es der richtige sein.“ „ja, ja, und viele
glauben, wenn viele der selben weise folgen, dann muß es mit ihr etwas auf sich haben.“ „ja, ja,
darum mußt du sie immer wiederholen und wiederholen, damit sie den faden nicht verlieren und
stets hören, daß sie noch im richtigen zuge mitmarschieren.“ „und damit du schon einen anhang
hast, folgen wir dir als erste nach, denn wo viele Leute zusammen kommen, dort gibt es auch
viele abfälle.“
so zog er denn aus und die ratten hinterdrein ...
aus: Jochen Jung (Hrsg.). Bilderbogengeschichten.
Deutscher Taschenbuch Verlag. München 1976
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Texte zur Aufgabe IV
Johann Wolfgang Goethe (1749 - 1832)
Der Fischer
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Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll,
Ein Fischer saß daran,
Sah nach dem Angel ruhevoll,
Kühl bis ans Herz hinan.
Und wie er sitzt und wie er lauscht,
Teilt sich die Flut empor;
Aus dem bewegten Wasser rauscht
Ein feuchtes Weib hervor.
Sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm:
Was lockst du meine Brut
Mit Menschenwitz und Menschenlist
Hinauf in Todesglut?
Ach wüßtest du, wie’s Fischlein ist
So wohlig auf dem Grund,
Du stiegst herunter, wie du bist,
Und würdest erst gesund.
Labt sich die liebe Sonne nicht,
Der Mond sich nicht im Meer?
Kehrt wellenatmend ihr Gesicht
Nicht doppelt schöner her?
Lockt dich der tiefe Himmel nicht,
Das feuchtverklärte Blau?
Lockt dich dein eigen Angesicht
Nicht her in ew’gen Tau?“
Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll,
Netzt’ ihm den nackten Fuß;
Sein Herz wuchs ihm so sehnsuchtsvoll,
Wie bei der Liebsten Gruß.
Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm,
Da war’s um ihn geschehn:
Halb zog sie ihn, halb sank er hin,
Und ward nicht mehr gesehn.
aus: Das große Balladenbuch. Verlag Neues Leben. Berlin 1965
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Kurt Schwitters* (1887 - 1948)
Die Nixe
Ballade
Es war einmal ein Mann, der gung
In eines Flusses Niederung.
Der Tanz der grünlich krausen Wellen
Tat seines Geistes Licht erhellen.
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Am Ufer gluckste es so hohl,
Wohl einmol, zwomol, hundertmol;
Und auf des Flusses Busen brannte
Ein Glanz, den jener Mann nicht kannte.
Da dachte jener klug und schlicht:
„Ich weiß nicht, doch da stimmt was nicht!“
Und guckte ohne auszusetzen
Auf die verwunschnen Wellenfetzen.
Auf einmal gab es einen Ton,
Und aus dem Wasser hob sich schon
Mit infernalischem Geflimmer
Ein blondes, nacktes Frauenzimmer.
Die hatte hinten irgendwo
Den Schwanz, gewachsen am Popo;
Dagegen fehlten ihr die Beine
Das Mädchen hatte eben keine.
Sie steckte sich in ihr Gesicht
Ein Lächeln, das ins Herze sticht
Und stützte lockend ihre Hände
Auf ihres Schwanzes Silberlende.
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Dem Mann am Ufer wurde schwach;
Er dachte: „Oh“, und dachte: „Ach!“
Und ohne groß sich zu bedenken.
Wollt er ihr seine Liebe schenken.
*Mitbegründer der Dada-Bewegung
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Dem Mädchen in der Niederung
War seine Liebe nicht genung;
Sie winkte, statt sich zu erbarmen,
Dem Mann mit ihren beiden Armen.
Da bebberte der arme Mann,
Wie nur ein Starker bebbern kann;
Und senkte sich mit einem Sprung
Hinunter in die Niederung.
Da sitzt er nun und hat den Arm
Gebogen um der Nixe Charme;
Und wenn ein andrer kommt gegangen,
So wird er ebenso gefangen.
aus: Kurt Schwitters: Das literarische Werk. Gesamtausgabe in fünf Bänden, Band 1,
Lyrik. Verlag DuMont Schauberg. Köln 1973

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