Hinweise für Lehrer

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Hinweise für Lehrer
Abitur 2005 Deutsch Lk (Lehrer)
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Hinweise für Lehrer
Allgemeine Hinweise
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Den Schülern ist ein Nachschlagewerk zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung zur
Verfügung zu stellen.
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Die Lösungshinweise sind eine Orientierung für den Lehrer. Sie erheben keinen Anspruch
auf Vollständigkeit und sind keineswegs vom Schüler lückenlos abzuarbeiten. Das Erwartungsbild muss vielmehr in Abhängigkeit von den im Unterricht geschaffenen Voraussetzungen durch den Lehrer präzisiert werden.
Gelangt der Schüler zu anderen, vom jeweiligen Erwartungshorizont abweichenden Ergebnissen, sind diese zu akzeptieren, wenn sie der Aufgabenstellung entsprechen, sachlich
richtig und nachvollziehbar begründet sind.
Hinweise zur Korrektur und Bewertung
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Die Bewertung ist entsprechend den Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der
Abiturprüfung vorzunehmen.
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Der Abituraufsatz stellt eine komplexe Leistung dar, die mit einer Gesamtpunktzahl benotet
wird. Teilnoten werden nicht ausgewiesen.
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Es gibt keinen Fehlerindex für den Elementarbereich, demzufolge müssen die Wörter nicht
gezählt werden.
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Die Gliederung ist nicht Gegenstand der Bewertung, sondern Teil der konzeptionellen
Vorbereitung auf den Aufsatz.
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Aufgabe I
Botho Strauß:
Die Zeit und das Zimmer
Die Szene wurde dem dramatischen Text „Die Zeit und das Zimmer“ entnommen. Aus einer
zunächst regelhaft scheinenden Kommunikation entwickelt sich zwischen den beiden Figuren
ein Dialog, der immer absurdere Züge annimmt.
Da das Verhältnis und die Beziehung zwischen den Personen offen bleiben, ergeben sich für den
Schreibanlass folgende Möglichkeiten:
–
Anlass der Begegnung
–
Vorgeschichte der Personen
–
stereotypes Reagieren Marie Steubers
–
Höflichkeitsfloskeln Frank Arnolds
–
Doppeldeutigkeit seiner Absichten
–
Umschwung von scheinbar höflich-konventionellem Gespräch zu eindeutig intimen
Angeboten
–
Brüche bzw. Leerstellen in der Dialogführung durch auffällige Äußerungen („brüchige alte
Maske“, „all das Schreckliche“, „Sie wissen, daß Sie nicht ganz gesund aussehen?“)
Für die Lösung der Aufgabe ist die Kenntnis des Originalkontextes nicht erforderlich.
Obwohl der besondere Charakter der Szene unbedingt berücksichtigt werden muss, ist es nicht
notwendig, auf alle inhaltlichen und formalen Auffälligkeiten einzugehen.
Der Schüler soll die ihm gegebenen Freiräume nutzen. Weil viele Lösungen denkbar sind, ist es
erforderlich, dass er seine Konzeption und die Herangehensweise ausführlich begründet.
Entsprechend der Aufgabenstellung wird vom Schüler erwartet,
–
dass er eine aus der vorliegenden Szene hergeleitete zweite Szene entwirft,
–
dass er den inhaltlichen Zusammenhang zwischen beiden Szenen darlegt,
–
dass er den Kommunikationsverlauf beschreibt und reflektiert,
–
dass er begründet, warum er in seinem Text die Situation offen lässt oder zu einer Lösung
führt,
–
dass er die Gestaltung der Charaktere und ihr Verhältnis zueinander begründet,
–
dass er deutlich herausstellt, ob und warum er sich an das Muster von Strauß anlehnt oder
diesem ein anderes entgegensetzt.
Die Bearbeitung der Aufgabenstellung wird mit „gut“ bewertet, wenn
–
sich die gestaltete Szene durch Originalität in der Dialogführung auszeichnet (Kriterium der
Stringenz),
–
diese Szene einen erkennbar inneren Zusammenhang zur ersten Szene aufweist und diese
eine klar erkennbare (neue) Aussageabsicht entwickelt (Kriterium der Kohärenz),
–
der Schüler für seine inhaltliche Fortführung des Dialogs überzeugende Erklärungen anbietet
(Kriterium der Zielorientiertheit),
–
die Personen durch einen bewussten Einsatz von sprachlich-stilistischen Mitteln
charakterisiert werden (Kriterium der Stilistik).
Die Bearbeitung der Aufgabenstellung wird mit „ausreichend“ bewertet, wenn
–
die Szene eine nachvollziehbare Dialogführung aufweist (Kriterium der Stringenz),
–
der Dialog zwischen beiden Personen von ihrer (möglichen) Beziehung handelt, aber nicht
darüber hinaus entwickelt wird (Kriterium der Adäquatheit),
–
der Schüler wenigstens ansatzweise begründet, warum und in welcher Weise er seine
Personen sprechen bzw. agieren lässt (Kriterium der Zielorientiertheit),
–
die standardsprachlichen Anforderungen im Ganzen erfüllt sind.
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Aufgabe II
Maxim Biller:
100 zeilen hass – Tofu Terror
In seinem essayistischen Text „Tofu-Terror“ thematisiert der Autor das Problem von Macht und
Machtausübung. Er stellt dar, dass Menschen durch Ideologien manipulierbar sind, manipulieren
wollen und manipuliert werden. Daraus resultieren solche menschlichen Denk- und
Verhaltensweisen wie Engstirnigkeit, Voreingenommenheit und Unbelehrbarkeit im Umgang
mit anderen. Vordergründig scheint es ausschließlich um eine Auseinandersetzung mit der
vegetarischen Lebenseinstellung und Lebensweise zu gehen, im Grunde wird jedoch die Frage
nach der Art des Umgangs mit denen behandelt, die von der jeweils indoktrinierten Norm
abweichen. Ironisch-sarkastisch zeigt der Autor, dass Vorurteile und Intoleranz überzeitliche
Erscheinungen sind, gegen die kaum ein Mensch gefeit ist. Damit verdeutlicht er, wie unter dem
Einfluss von ideologischer Manipulation immer wieder Feindbilder entstehen und stabilisiert
werden.
Gedankengang:
–
Verallgemeinerung von Erfahrungen einer anonymen Wir-Gruppe mit Vegetariern als nicht
ernst zu nehmende Zeitgenossen
–
Verhöhnung der Vegetarier wegen ihrer eingeschränkten Ernährungsweise und ihres
verhärmten Aussehens
–
Abqualifizierung von Vegetariern zu Feinden
–
provokante Gleichsetzungen durch historische Bezüge
–
Beschreibung eines rigorosen Gesinnungswandels von Teilen der Wir-Gruppe, die nun in der
vegetarischen Lebensweise den Schlüssel für eine Verbesserung der Welt zu sehen scheinen
–
Schlussfolgerung, dass die unbeirrbaren „Vegetarier aller Länder“ und Zeiten verirrte,
manipulierte „Psychokrüppel“ und Feinde der Vernunft seien
–
Beschluss, diesen Feinden den Kampf anzusagen und sie endgültig und gnadenlos zu
vernichten
Struktur/Gestaltungsmittel/Wirkung:
–
provokativ-essayistischer Text, gekennzeichnet durch sarkastische Wortwahl und
manipulativen Gestus schon im ersten Satz: versuchte Vereinnahmung des Lesers
–
klare Strukturierung: Kontrastierung von Thesen, Argumenten und Beispielen einer Wir- und
der Vegetarier-Gruppe (Sinnbild für Machtkonkurrenten)
–
hochgradig elaborierter Text mit einer Vielzahl von intertextuellen Anspielungen und
Verweisen auf Ereignisse, ideologische Strömungen und Machtumbrüche der neueren und
neuesten Geschichte: „Nazis – Juden“, „lagerleitertechnisch“, „zwecks Umerziehung“, „Öko
Heil!“, „Niedergang des Sozialismus“; Schlüsseldaten aus der deutschen Geschichte
–
Kontrastierung in der Wortwahl: einerseits abwertend saloppe Wendungen („lilafarbenen
Krüppellendchen“, „rotwangigen Leichenfressergesichter“, „Naturbursche“, „Tofu-GrünkernSeitan-Mist“, „reinschaufelten“, „Ekel, ein Modefatzke“) und andererseits Fremdwörter („kor
-relierte“, „archetypisch“)
–
syntaktischer Reichtum durch Konditionalketten und Kausalsätze, adversative und reihende
Verknüpfungsmuster
–
Verfremdung von Parolen durch Wortspiele: „Vegetarier aller Länder“, „Öko Heil!“
–
Temporalangaben, um Dauer und Wandel von Grundhaltungen zu beschreiben: „lange Zeit“,
„mehr als einmal“, „plötzlich“, „von nun an“
–
beißende Ironie und Sarkasmus, die bereits im Titel anklingen
–
elliptisches, zynisch-groteskes Finale: „Und zum Schluß auch noch verspeisen. Roh. Á la
nature. Also garantiert ohne Fischmehl, Östrogen und andere Zusätze.“
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Mögliche Erörterungsansätze:
–
die kritische Auseinandersetzung mit den Auffassungen des Autors zum Problem von Macht
und Machtausübung
· Macht- und Gesinnungswandel unter ideologischem Einfluss
· Manipulierbarkeit von Menschen auf privater, politischer und religiöser Ebene
· Umgang mit Andersdenkenden und Anderslebenden
· Verhältnis von Masse („Normalität“ der Wir-Gruppe), Randgruppen (Feindbild/Anpassungsdruck) und Individuum
–
die kritische Betrachtung der bis ins Groteske gesteigerten provokativen Gestaltungsweise
des Autors
–
Prüfen eigener Sicht- und Verhaltensweisen
Die Note „gut“ verlangt die genaue Herausarbeitung der textspezifischen Besonderheiten und
eine differenzierte Erläuterung der Autorenabsicht. Der parabolische Ansatz des Textes muss
genutzt werden, um eine umfassende Erörterung des dargestellten Problems zu erarbeiten, indem
die unterschiedlichen Ebenen des Textes beachtet werden. Dabei sollte in einer orthografisch
korrekten und sprachlich überzeugenden Leistung über den Umgang von Menschen mit
unterschiedlichen Einstellungen bzw. Lebensweisen reflektiert werden.
Die Note „ausreichend“ wird erteilt, wenn zentrale inhaltliche und formale Aspekte des Textes
in Grundzügen herausgearbeitet werden. Die eigene Erörterung muss aufzeigen, dass die
Grundaussage des Textes verstanden worden ist, indem an wenigstens einem Beispiel über die
vom Autor intendierte Wirkung des Textes reflektiert wird. Die Darstellung muss erkennbar
strukturiert sein, stilistischen und standardsprachlichen Grundanforderungen genügen.
Aufgabe III
Ingeborg Bachmann:
Auch ich habe in Arkadien gelebt,
Ingeborg Bachmann gestaltet in ihrem Textfragment den Wechsel eines Ich-Erzählers aus einer
paradiesisch anmutenden ländlichen Idylle in eine zunächst fremde urbane Welt. Durch beruflich
erfolgreiche Aktivitäten auf vielen Ebenen gelingt dem Erzähler die Anpassung an die
veränderten Lebensbedingungen und damit die Integration. Dennoch zeigt sich in seinem
wiederkehrenden Traum vom Meer eine unklare Sehnsucht nach einem Ort des Verweilens und
der Ruhe. In stillen Momenten des Innehaltens und der Selbstbefragung, ausgelöst durch eine
zerrissene Melodie, die der Erzähler wahrnimmt, wird er sich der Sehnsucht nach der verlorenen
Heimat und der Leere seines unsteten Wanderns bewusst, das vielleicht erst im religiösen Bild
vom Himmel als Zielort aller Wanderer seinen Sinn findet.
Inhalt und Aufbau:
Der Ich-Erzähler berichtet und reflektiert in wehmütig-elegischem Gestus zeitraffend über
Phasen seines Lebens.
Erzählerbericht:
–
Abschied von Arkadien
–
Ankunft in der Fremde
–
Leben, Arbeit und Erfolg in der Stadt
–
Unterdrückung der Sehnsucht nach dem „Meer“
–
Resümee über das Erreichte
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Reflexionen:
–
Melodie bewirkt Erinnern und Fragen nach dem Sinn des Lebens
–
Wunsch, Bleibendes zu stiften und Anerkennung zu finden
–
Nachdenken über das Geheimnis des Erfolgs und die Vergeblichkeit der Rückkehr
–
Erkenntnis des Widerspruchs zwischen Glücksvorstellung und Handeln bewirkt
Todessehnsucht
Struktur/Gestaltungsmittel/Wirkung:
–
Verknüpfung von Titel und Erzähltext als offener Einstieg
–
Adverb „auch“ verweist auf Verallgemeinerung
–
Perfekt und Präteritum unterstreichen Unumkehrbarkeit und Endgültigkeit des Abschieds
–
„Arkadien“ als Symbol für Heimat und idyllisches Paradies
1. Teil: Erzählerbericht
–
symbolische Bedeutung von „Herbst“ und „Frühling“ für Abschied und Aufbruch in eine
neue Welt (neue Lebenssphäre, Erwachsenwerden, neues Land)
–
Variation von Leitmotiven (spät im Herbst – herbstliche Hügel, Schafe – die weißen
Lämmer, silberne Geleise – silbrige Strahlengeleise)
–
reisetypische Begriffe (Grenze, Währung, Gepäck) verweisen auf Entfremdung
–
Wiederholung der adversativen Konjunktion „aber“ symbolisiert Brüchigkeit des äußerlich
erfolgreichen Lebens in der Stadt
–
Schlüsselwort „Straße“ als Symbol für offene Wege und verschiedene Richtungen im
Leben
–
Babylon als Symbol für Gefahr der Ver- und Zerstörung, für Unfähigkeit zur
Kommunikation
–
Begriffe wie Börse, Maschinen, Plantagen, Zeitungen und die Wiederholung „immer neue“
als Chiffren der Moderne und ihrer rastlosen Betriebsamkeit
–
„Meer“ für unendliche Weite, Vereinigung von Himmel und Erde als Ziel der Sehnsucht
–
Konjunktivformen (bliebe, besäße) zeigen Verdrängung und Irrationalität
2. Teil: Reflexionen, metaphorisch verdichtet
–
Tempuswechsel
–
Variation einer Redewendung („habe meinen Platz unter der Sonne“)
–
Konjunktivformen und Komparative „käme ich nicht reicher heim ... nur ... älter und
müder“ für Unsicherheit und Wünsche
–
mit „oder“ eingeleitete Fragesätze verstärken den Eindruck der Ratlosigkeit
–
Motiv der „Melodie“, die Assoziationen freisetzt
–
Wiederholung von Schlüsselbegriffen (Hügel, Geleise) symbolisiert die Sehnsucht nach
dem verlorenen Paradies
–
religiöse Metaphern für Tod und Erlösung
–
offener Schluss durch unbeantwortete Fragen
Mögliche Deutungsansätze:
–
Auf- und Ausbruchsversuche des Menschen als eines ewigen Wanderers, der einem
unbestimmten Ziel nachjagt, ohne es zu finden
–
Erfahrungen der Fremde und des Exils
–
Entfremdungs- und Sehnsuchtserfahrungen des modernen, seiner Wurzeln beraubten
Menschen
–
Sehnsucht nach Aufhebung und Geborgenheit im Universum
–
Weg zu Gott als Weg der Heimkehr und Erlösung
–
Sehnsucht des Schriftstellers, getrennte Welten (Ideal und Realität) zu verbinden
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Die Note „gut“ wird erteilt, wenn der Schüler das Erzählfragment inhaltlich und formal korrekt
erschließt und auf der Grundlage der Analyse zu einer schlüssigen Deutung gelangt, indem er
auf die Reflexionen des Ich-Erzählers über die Frage nach dem Sinn des Lebens eingeht.
Die Arbeit muss klar gegliedert und die sprachlich-stilistische Gestaltung muss differenziert und
variabel sein.
Die Note „ausreichend“ wird erteilt, wenn der Schüler den Textinhalt als Ganzes erfasst, einige
formale und stilistische Auffälligkeiten analysiert und ein Deutungsangebot unterbreitet, das er
ansatzweise in seiner Interpretation verfolgt. Der Aufsatz muss nachvollziehbar strukturiert sein
und standardsprachliche Anforderungen im Ganzen erfüllen.
Aufgabe IV
Friedrich Schiller:
Hoffnung
Schillers Lehrgedicht würdigt die Bedeutung des Träumens und die Bedeutung des Hoffens auf
das Gute als wichtige Seite des Menschseins.
Der lyrische Sprecher betont, dass trotz der ständigen Veränderung der Welt das Prinzip Hoffen
zum Wesen des Menschen gehöre. Die Fähigkeit zu hoffen unterstreiche die besondere
Bestimmung des Menschen und damit seine Berufung zu etwas Höherem und Besserem. Sein
stetiges Festhalten an der Hoffnung verdeutliche das immer währende Suchen und Streben, seine
Kraft und seine Entwicklungspotenzen.
Struktur/Gestaltungsmittel/Wirkung:
–
Der Titel sowie die jeweils letzte Strophenzeile heben das Thema Hoffnung akzentuiert
hervor.
–
Die Grundaussage, dass die Hoffnung den Menschen auf allen Lebensstufen begleitet, wird
durch die Personifizierung der Hoffnung, Adjektivhäufungen („Von bessren künftigen
Tagen“, „leerer schmeichelnder Wahn“), doppelgliedrige Verbkombinationen („reden und
träumen“, „rennen und jagen“) sowie durch Klangwirkung und Alliteration unterstützt.
–
Der scheinbare Eindruck der Vergeblichkeit des Hoffens in den ersten beiden Strophen
wird durch antithetische Struktur (alt – jung, Knabe/Jüngling – Greis, Geburt – Tod/Grab)
und durch eine distanzierende Perspektive („Es reden ...“, „man“) verstärkt.
–
Die dritte Strophe verdeutlicht jedoch in appellativ zugespitzter Form sowie durch die
Gleichsetzung des Individuellen („innere Stimme“) mit dem Wesen des Menschen
(„hoffende Seele“), dass es der lyrische Sprecher mit der Kraft und Wichtigkeit der
Hoffnung ernst meint.
–
Die optimistische, vorwärts weisende Grundaussage (Berufung zu Höherem, Hoffen,
Suchen, Streben) entspricht den Ansprüchen bzw. Idealen der Klassik.
–
Die klare und einfache Sprache sowie der regelmäßige Aufbau (Strophen, Reime, Metrum)
unterstreichen die Intention des Lehrgedichtes.
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Karoline von Günderode:
Seite 8
Vorzeit, und neue Zeit
Das Gedicht wendet sich gegen den zunehmenden rationalistischen und materialistischen
Charakter des ausgehenden 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts, welcher mehr und mehr
durch Zweckdenken sowie durch ein zunehmendes Analyse- bzw. Erklärungsverhalten bestimmt
wird. Obwohl das Gedicht im Einzelnen durchaus romantische Züge hat, ist es in der Aussage
eher nüchtern. Es weist auf die eingeschränkten Möglichkeiten menschlicher Selbstverwirklichung hin.
Das lyrische Subjekt, das an seiner Zeit leidet, glaubt nicht an die eigene Kraft, menschliche
Werte in einer ihm feindlich gegenüber stehenden Welt aufrecht erhalten zu können. Aufgrund
seiner Sensibilität für die Unvollkommenheit der menschlichen Existenz weist es auf Missstände
hin, die Gegenwehr provozieren und dadurch zu Veränderungen führen können.
Struktur/Gestaltungsmittel/Wirkung:
Das Gedicht ist der Frühromantik zuzuordnen.
–
Absage an das ungeliebte Jetzt durch „auf der flachen Erde schreitet der Verstand“
–
Leiden an der Gegenwart durch das Bild „Der Himmel ist gestürzt“
–
Verklärung der Vergangenheit mit klarer Orientierung durch „schien sonst … glänzt …
Pfade führten“
–
Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit
–
Melancholie durch pessimistisch wirkende Wortwahl: gestürzt, Abgrund, demoliert
Es hat aber auch nichtromantische Merkmale.
–
nüchtern illusionslose Sprache und Aussage, unterstützt durch spöttisch-ironischen Ton
–
konnotative Wortwahl als Ausdruck des Unannehmbaren und der Einengung
(Abgrund/Vernunft/Verstand)
–
Zerstörung („schmaler, rauer Pfad“, „Abgrund“, „Hölle“, „demoliert“, „flache Erde“)
–
entzaubernde Metaphernhäufungen und Personifizierungen
–
zukunftsweisende (wenn auch vermutlich unbeabsichtigte) Tendenz der Aussage:
·
Berufung auf ewig menschliche, emotionale, lebenswichtige Werte
·
Orientierung auf die Bedeutung des Risikos und des Spontanen, des Glaubens und der
Hoffnung
Titel, Zeilenstil, Tempusformen, kontrastierende Adverbien („doch“, „nun“) sowie überwiegend
parataktische Satzstruktur dienen der Charakterisierung, Beschreibung und Kontrastierung der
Begriffe „Vorzeit“ (Überschaubarkeit, einfache Unterscheidung von bzw. Zuordnung zu
Extremen, Freiheit der Entscheidung zwischen Gut und Böse, eingeschränktes und hartes Leben)
und „neue Zeit“ (Illusionslosigkeit, Verlust an Daseinsformen und Entscheidungsmöglichkeiten,
Dominanz von Vernunft und Verstand).
–
–
–
–
Bezugnahme auf das alte Weltbild bzw. die Dreiteilung der Welt (Himmel – Erde – Hölle),
korrespondierend dazu das Wortfeld (Berge – Höhen – Abgrund)
Verneinung der Existenz des Himmels und eines besseren Lebens nach dem Tod
Bedauern über den Sieg der Vernunft durch die Einschränkung des Risikos
Vernunft und Berechnung als Feinde des Glaubens
Möglichkeiten für vergleichende Deutungsansätze:
Obwohl beide Texte aufklärungskritisch sind, unterscheiden sie sich in Aussage und
Grundstimmung:
–
Gegenüberstellung
von
Idealisierung
in
der
Klassik
(„Veredelung
des
Menschengeschlechts“) und Desillusionierung als Bestandteil des romantischen Literaturbzw. Weltverständnisses
Abitur 2005 Deutsch Lk (Lehrer)
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Seite 9
lebensbejahendes und zukunftsweisendes Programm Schillers im Vergleich zur pessimistisch
resignierenden Grundhaltung Günderodes
Für eine „gute“ Leistung ist es erforderlich, dass in der Analyse und der Interpretation beider
Gedichte das Wesentliche erfasst wird und formale Auffälligkeiten in ihrer Funktion ergründet
werden.
Beim wertenden Vergleich müssen epochenspezifische Besonderheiten klar benannt werden. Im
Zusammenhang mit dem Günderode-Gedicht soll der Versuch unternommen werden,
romantische und nichtromantische Züge des Textes zu erkennen und zu begründen.
Der Aufsatz muss eine leserfreundliche innere und äußere Struktur aufweisen und in seiner
sprachlich-stilistischen Gestaltung durch differenzierte Wortwahl und Syntax überzeugen.
Eine „ausreichende“ Leistung ist erreicht, wenn der Schüler Inhalt und Form der Gedichte in
Grundzügen richtig darstellt, die unterschiedliche Grundstimmung beider Texte erkennt und
zumindest einen vergleichenden Deutungsansatz findet.
Die Arbeit muss für den Leser nachvollziehbar geordnet und verständlich formuliert sein.
Wortwahl und Syntax müssen der Aufgabe angemessen sein und die standardsprachlichen
Anforderungen im Ganzen erfüllt werden.