Abiturrede Chris 2009

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Abiturrede Chris 2009
Abiturrede 2009 (C)
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, (dies ist eine Rede in 1. Linie für euch)
liebe Eltern, Freundinnen und Freunde, Kolleginnen und Kollegen,
letztes Jahr überfiel mich im Juli eine Bekannte, deren Sohn gerade die Abschlussprüfungen
bestanden hatte, mit dem ekstatischen Schrei: „Wir haben das Abi! Wir haben Abi!“ Eine
bemerkenswerte Formulierung. Diese Mutter war also nun auch selber (und ich will nicht
einmal sagen: nebenbei) in den Besitz des Abiturs gelangt.
In der Tat ist offenbar mit dem Abitur ein gesellschaftlicher Zustand erreicht, in dem die
jahrelangen Leiden unserer Schüler, die kräftezehrenden wochenlangen Vorbereitungen auf
die Abschlussprüfungen, die sorgenvollen Blicke in die Zukunft und die häuslichen
Gereiztheiten sowohl der Prüflinge als auch ihrer Familien endlich einem (vorläufigen) Ziel
und Sinn zugeführt wurden. Können wir jetzt losgehen und die Welt erobern?
„Yes, we can!“1
„oui, nous le pouvons!“ frz.
„Si, possiamo!“ ital.
„Si, se puede!“ span.
„Da, mi mojem!“ russ. (= stimmhaftes j in moschem)
„Ken an (ach)nu yecholim!“ hebr.
„shìde wŏmen néng chin. (ì = fallendes ie, é =ansteig. a)
Das war „Yes, we can“ in einigen der Sprachen, die an unserer Schule gesprochen und
unterrichtet werden. Manchmal muten wir unseren Schülern ja schon einiges zu. Ist das
unfair?
Dass Schüler und Lehrer wie Kaninchen und Schlange seien, ist ein gern gepflegtes und
ebenso oft widerlegtes Vorurteil. Hermann Hesse etwa beschreibt die Philosophie der Schule
Ende des 19. Jh.s folgendermaßen: „Wie ein Urwald gelichtet und gereinigt […] werden
muss, so muss die Schule den natürlichen Menschen […] besiegen und gewaltsam
einschränken;“(Unterm Rad, 1906). Diese Art Schule habt ihr, liebe Abiturientinnen und
Abiturienten hier nie kennengelernt. Im Gegenteil: Eine junge Kollegin sprach mich kürzlich
an: Es sei ihr aufgefallen, wie nett das Verhältnis der Prüfer und Prüflinge beim mündlichen
Abi gewesen sei. Das sei an anderen Schulen durchaus anders. Ja, hier gab es Blumen auf den
Tischen und ein Glas Sprudel und Lehrer, deren größter Wunsch es war, die richtige Frage
zum richtigen Zeitpunkt zu stellen. Ich muss gar nicht so weit gehen wie ein Abiturient, der
mich darauf aufmerksam machte, es habe eine noch deutlich entspannendere Wirkung, böte
man den Prüflingen statt des Sprudels ein Glas Bier oder Wodka Gorbatschow an. (s. Anregung
Ges.L.Konf.)
Ist diese Freundlichkeit, diese Bemühtheit und ihre Anerkennung nicht das schönste Zeugnis,
das eine Schule sich selber ausstellen kann? Ich meine wir sollten diese Beobachtung – die
ich übrigens teile – nicht geringschätzen.
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, ich möchte, dass ihr euch vorstellt, ihr wäret
Neuronen, o.k.? Jeder von euch ein kleines Neuron bzw. eine kleine Neuronin. [Nur für die
Eltern: Neuronen sind Nervenzellen. Sie bilden zusammen das Nervensystem.] Neuronen sind
ein gutes Ausgangsbild für drei Dinge, die ich euch mitgeben möchte:
1.) Vor einigen Jahren wurden die sog. Spiegelneuronen entdeckt:
Das sind keineswegs Neuronen, die gerne vor dem Spiegel stehen (♀?), sondern bestimmte
Nervenzellen, die aktiv werden, wenn wir mit anderen Menschen kommunizieren. Sie lassen
uns in unserem Gehirn fühlen, was ein anderer Mensch fühlt, den wir in unserer Umgebung
erleben. Sie spiegeln. Sie sind verantwortlich dafür, dass wir Mitgefühl empfinden.
1
Der Ausdruck stammt übrigens nicht von Obama, sondern war der Kampfruf der US-amerikanischen
Landarbeitergewerkschaft United Farm Workers Anfang der 70er Jahre.
Amerikanische Forscher sprechen davon, wir hätten ein „social brain“, ein soz. Gehirn.
Warum ist das wichtig? Denkt daran: Ihr seid die Spiegelneuronen dieser Welt. D.h. ihr seid
diejenigen, die wahrnehmen können und sollen, was in anderen vor sich geht, ob sie fröhlich,
traurig, nachdenklich oder hilflos sind. Sich der anderen bewusst zu sein, sozial zu sein, heißt
in meinen Augen: Erwachsen sein! Dieses „Spiegeln“ habt ihr in den Jahren an der AMS
gelernt – oder hättet es lernen können. So oder so wird es eure große Aufgabe für die Zukunft
sein.
2.) Neuronen und Alkohol:
Es gibt einen Versuch, in dem man Ratten 48 Wochen lang mit Alkohol gefüttert hat. Für
manche von euch mag das eine paradiesische Vorstellung sein. Bei den Ratten hat man
allerdings festgestellt, dass (ich übersetze das Ergebnis der Untersuchung) der Alkohol die
Neuronenhüllen durchlöchert hat und die Funktion der Zellen massiv eingeschränkt wurde.
Die Ratten sind m.a.W. verdummt. Bei Abiturienten (und anderen) führt Alkohol kurzfristig
zu Vergiftungserscheinungen, längerfristig zu Alkoholdemenz, Gedächtnisverlust und
Leberzirrhose. Ich erwähne das an dieser Stelle völlig zusammenhangslos und zufällig. Ich
will auch gar nicht auf jene mittlerweile legendäre Berlinfahrt in Klasse 12 zu sprechen
kommen, die … aber ich will ja nicht darauf zu sprechen kommen.
Was ich eigentlich sagen will: Es gibt Dinge, die sind nicht „cool“, weil sie einen nämlich
kaputtmachen, durchlöchern, zerstören. Lassen wir den Alkohol und die Ratten einmal
stellvertretend für alle diese Dinge stehen. Dabei seid ihr, ist jeder und jede einzelne von euch
wertvoll und liebenswert und ist es wert, heil und glücklich zu sein. Das ist unsere ehrliche
und tiefste Überzeugung. Wir wünschen euch, dass ihr das selber auch glauben könnt und
entsprechend gut mit euch umgeht. Gott hat euch zum Glücklichsein erschaffen: Joh 10,10:
„Ihr sollt das Leben in Fülle haben“. Das Leben, das euch gut tut. Und das ist in den
seltensten Fällen das leichte und süße Leben oder der breite Weg, den alle gehen. Damit
komme ich zu einem dritten und letzten Punkt:
3.) Jedes Neuron bildet bis zu 10.000 Synapsen mit anderen Neuronen:
Das sind jede Menge Bindungsmöglichkeiten, Kontakte, Beziehungen. 10.000 gute
Freundinnen und Freunde, die wünsche ich euch.
Und das Allerwichtigste: Vielleicht, nein, hoffentlich gibt es eine oder mehrere Synapsen für
eure Freundschaft mit Gott. Der Gott, der euch vor langer Zeit erdacht hat. Der Gott, der euch
– manchmal unbemerkt – bis hier und heute zum
Abitur begleitet hat und der auch eure Zukunft in
seinen liebevollen Händen hält.
[Bild Anne Geddes]
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Neuronen sind Einzelgänger, die aber immer nur in
Gruppen auftreten. Und nur gemeinsam können sie
etwas bewegen, als Team. „Das Leben ist kein
Spiel“ haben unsere Väter uns mit auf den Weg
gegeben. Ist es doch, behauptet Uwe Beck: Ein Mannschaftsspiel.
[Teil 2 der Abi-Rede v. Uwe Beck: Schule/Leben als Fußballspiel]
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