Von der Haltbarkeit der Ethik - Académie des sciences morales et

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Von der Haltbarkeit der Ethik - Académie des sciences morales et
http://www.asmp.fr - Académie des Sciences morales et politiques
Deutsche Fassung eines Beitrags zu der regulären Sitzung vom 2. Dezember 2002
Von der Haltbarkeit der Ethik
Die medienkorrekte «Schönwetterphilosophie» verdankt ihren noch
andauemden Erfolg der Bequemlichkeit des Nachkriegssituationismus - welcher
keine allgemeingültige Normen anerkannte - und der noch immer wuchemden
radikalen Anfechtung sämtlicher sog. «Tabus». Ihre Gegner beschwören oft,
ebenfalls pauschal, die sog. «Ewigen Werte». Ein Dialog zwischen beiden Lagem
kommt schon deshalb nicht zustande, weil er in keinem der beiden Lager gesucht
wird. Zudem hielte jedes Lager denjenigen ihrer Anhänger, der für eine
Differenzierung von 'absolut' und 'relativ' einträte, für einen niveaulosen
Abtrünnigen. Außenstehende - seien es Optimisten oder (aus Temperament oder
von ihrer Gesichtskenntnis her) Pessimisten - meinen, dieser Zwist sei kein
Generationenkonflikt, sondem beweise die Ohnmacht der Ethiker in stürmischen
Zeiten. Mit «La morale est-elle durable?» ist dem Philosophen die Frage gestellt, wie
legitim jeweils der Anspruch auf Umwandlung aller Werte und der Anspruch auf
eine Bewahrung des Wesentlichen sind.
Die Gebiete sind zahlreich, die zu durchwandem wären, weil auf ihnen die
«Moral» gefährdet ist bzw. von «sachlichen Zwängen» verdrängt wird, etwa die
unverantwortliche Zerstörung der Umwelt oder der globalistische Geldschwindel.
Mir fehlen Zeit und vor allem Kompetenz, mich bei diesen immer weniger zu
verheimlichenden Kapitalverbrechen aufzuhalten. Zur Beantwortung der
philosophischen Frage, ob der Ethik Haltbarkeit zukommt, möchte ich mich
zunächst auf einen phänomenologischen Streifzug durch sechs Domänen beschränken,
die heutzutage ein jeder kennt und - wenn er sich nicht von der Zensur oder vor
dem geistigen Kreditverlust fürchtet - zu beurteilen sich das Recht, wenn nicht die
Pflicht, zuerkennt. Erst nach diesen Lockerübungen der Begriffe möchte ich den
Weg andeuten, welchen eine gesunde und mutige Relativität nach wie vor der
Deontologie weist.
Die Ethnologie lehrt seit langem, dass die sog. Naturvölker verschiedene
Familienmuster praktizier(t)en. In unserem Kulturkreis haben sowohl die
Moraltheologen als die Juristen mit nur wenigen Abstrichen ein bestimmtes
Reproduktionsmuster der Gesellschaft als Ideal bevorzugt. Dieses lieferte nun
sozusagen Anstandsnormen der Sittlichkeit und somit einen unangefochtenen
Standpunkt, der es erlauben sollte, andere Praktiken offiziell zu verwerfen und,
etwa im Falle der ursprünglichen Vielehe der Mormonen, zu verspotten, ohne sich
über die Umstände und die Ziele jener religiös abgesegneten Dispositionen zu
kümmem. Was war geschehen? Der übrigens moralisch besonders strenge, durch
die damaligen «Vereinigten Staaten von Nordamerika» gejagte Haufen hatte seinen
Treck durch die Rocky Mountains bis in die Wüste um den Großen Salzsee mit
einer erdrückenden Ungleichheit der Geschlechter bezahlt. Um 1851 - der Urheber
der deutschen Sozialgesetze, Fürst Otto von Bismarck, war damals, im Alter von
sechsunddreißig Jahren, Mitglied der zweiten preußischen Kammer und des
Erfurter Parlaments - verkündete der verkannte Staatsmann Brigham Young in
Utah die Vielehe als eine sittliche Lösung des Erhalts der Volksgemeinschaft und
der Versorgung der überzähligen Frauen und Waisen. Dieser Entschluss war
erfolgreich. Als nach vierzig Jahren - zwei Generationen - unter politischem Druck
die Aufgabe der Polygamie mit anderen Forderungen zur Bedingung der
Aufhahme Utahs in den Kreis der Vereinigten Staaten erklärt wurde, war die
Bevölkerungspyramide wieder symmetrisch geworden. Nach der wiederum vom
Rat der «Zwölf Apostel» verordneten Umkehr der sittlichen Normen zeichnete
sich die Mormonengemeinschaft durch einen durch Adoptionen noch verstärkten
Kinderreichtum aus. Die Anpassung der Sitten hatte offensichtlich einen
dauerhaften ethischen Grund. Unsere heutigen, abendländischen Sittenwächter
verwerfen das von 1850 bis 1890 praktizierte Familienmodell, obwohl in unserer
Gesellschaft die über Generationen andaueme Familie als auslaufendes Modell
belächelt und offenbar nicht mehr in der Lage ist, ihre Fortpflanzung aus eigenen
Kräften zu sichem. Trotz hoher Arbeitslosigkeitsraten begünstigt sie den massiven
Import von nicht leicht zu integrierenden Nachkommenschaftszeugern und
verbrämt diesen mit Menschenrechtsgesinnung, ohne zu beachten, daß sie armen
und kranken Bevölkerungen ihre leitungsfähigsten Kräfte entzieht, was etwa
kürzlich eine afrikanischen Ministerin als einen noch schlimmeren Aderlass als
denr Sklavenhandel bezeichnete. Angesichts dieser Verhältnisse scheint die Frage
unangebracht, welche Reproduktionsweisen als ethische und als solche
unverzichtbare Normen zu gelten haben. Sagt das Abendland, was es tut und tut
es, was es sagt? Oder haben die Tabujäger nur ein vemünftiges durch ein
unsittliches ersetzt ?
1.2
Die zweite Domäne, in welcher der Phänomenologe Beoachtungen
anstellen muss, wenn er nach Venedig oder Kassel Biennalen besucht, betrifft
vorderhand die Ästhetik und nicht direkt die Ethik. Indirekt aber sehr wohl,
nämlich hinsichtlich der Finalität der Kunst und der Gültigkeit von beständigen,
aber feinsinnigen und feinfühligen Kriterien zur Beurteilung von Kunstwerken. Ich
gehe hier einerseits davon aus, dass die antike Konzeption der
kategorienübergreifenden Transzendentalien des Einen, Wahren, Guten und
Schönen verkannt bzw. in den meisten Fällen missverstanden wird, und möchte
andererseits betonen, dass meine Überlegungen zur letztlichen Allgemeinheit der
ästhetischen. Normen auch das Autodafé der sog. entarteten Kunst als
ästhetisch-ethischen Verstoß gegen die wesentliche Universalität der Kunst
verurteilen. Eingeweihte wissen sehr wohl, dass die schwindelerregenden Tarife
des Kunstmarktes reine Spekulation sind. Von Saison zu Saison fallen die Werte der
meisten gekauften Werke um ein Vielfaches, wie kürzlich bei den Erwerbungen
errechnet wurde, die eine weltberühmte Stiftung innerhalb von zehn Jahren
getätigt hat. Was etwas gelten soll, ist eben die Neuigkeit. Dass diese nur einmalig
sein kann, leuchtet ein: was im Jahre Schnee Aufsehen erregte und zur Investition
anregte, ist schon bald Schnee von gestem. Sieht man aber vom vermutbaren
Schwund von Qualität und entsprechend auch Substanz ab und vergisst man den
offensichtlichen Schmäh von leeren Bilderrahmen, von zufäIIigen Farbwedeleien
eines Eselschwanzes, von verschlossenen Portalen und von versiegelten
Konserven mit garantierten Exkrementen, wie seit eh und je auf Atelierfesten
betrieben, stellt sich die Frage nach der begründenden Theorie, deren Antwort sich
nicht in der sozialkritischen Funktion des «Bürgerschrecks» erschöpfen kann. In
der Tat gelten jegliche Kriterien als unzulässige Einschränkung der Freiheit. Der
Intelligentsia exklusivster Schmarren ist denn auch die bereits vor einem
Jahrhundert angedeutete «Schönheit des Hässlichen». Es schert offenbar keinen
Kunstkritiker, dass dieses sich mit Anspruch auf ExkIusivität fortpfanzende
Dogma auch durch seine intolerante Toleranz widersprüchlich ist. Der Kult des
Neuen und Abnormen ist nicht auf den hier exemplarisch zitierten Kunstmarkt
beschränkt. Der Medienerfolg der Verbrechertricks, die Vernachlässigung der
Opfer gegenüber den Tätern gehören zu den merkantilsten Rezepturen der Presse
und des Fernsehens. Desgleichen die unterschwellige Verherrlichung jeglicher
Anomalie der Sitten. Lässt sich diese Dekadenz über den Nihilismus hinaus
[wohin?] steigern oder gibt es wie bei den Drogen [zu spät erkannte?]
Toleranzgrenzen ? Würde Nietzsche nicht erst recht eine radikale Umkehrung von
den heutigen Werten propagieren? Traditionalisten fühlen sich berechtigt, in dieser
Krise per absentia die zwingende Dauerhaftigkeit Ethik erwiesen zu sehen: wer
abweicht, ist verloren, es sei denn, er gehe wie im antiken Trauerspiel den Weg der
Katharsis.
1.3
Die dritte Domäne, in welcher abstrakte Dauerhaftigkeit und konkrete
Beständigkeit sich kaum noch vereinbaren lassen, ist das sog. Vergeltungsrecht.
Das Gebot der Rache mag irgendwann zugleich mit dem Gebot der
Gastfreundschaft das Überleben von Volksstämmen und kleineren
Familiengruppen erleichtert haben. Beiden Verpflichtungen wurde bis in die
Mythologien sakralen Urwert zugesprochen. Dass auf sehr langen Handels- und
später auch Pilgerwegen durch gefährliche Gegenden sichere Etappen erforderlich
waren, leuchtet ein und galt natürlich auch für Fremde und Rivalen. Es leuchtet
ebenfalls ein, dass heute kein Land gegen Spionage, Sabotage, Unterwanderung
und Eroberung durch allmähliche Besetzung mehr gefeit ist. Jedes schützt sich, wie
es kann, je nach seiner geographischen Lage und seinen Besiedlungsverhältnissen.
Ökonomische Nöte ziehen zeitweise fremde Arbeitskräfte an, die sich oft länger
als erwünscht etablieren. Uneingestandene demographische Regressionen werden
gern als humanitäre Hilfe verbrämt. Aber nirgendwo wurden globale Freizügigkeit
und Recht auf schrankenlose Kolonisierang von Territorien auf Kosten der
Ureinwohner bzw. Ansässigen im Gesetz verankert. Ethisch interpretiert ist die
Gastfreundschaft heute nicht mehr eine Bedingung friedlichen Zusammenlebens,
sondem eine private Tugend. Selbstjustiz ist hingegen verpönt. Die Rache ist keine
Privattugend geworden, sondern scheint vorläufig noch als kollektive, ja staatliche
Vergeltung zu gedeihen. lm Gegensatz zu früheren Verhältnissen fungiert dieses
Recht nicht mehr als wirksame Abschreckung, sondem leitet - meistens über den
Umweg ‚unschuldiger’ Opfer - eine Kettenreaktion von sich steigernden
Repressalien mit heterogenen Mitteln, ein - nicht zuletzt mit Waffengewalt. Es mag
paradoxal klingen, wenn behauptet wird, dass ein Verfahren in potentia moralisch
war, aber in actu unmoralisch geworden ist. Es garantiert nicht mehr das
Überleben, sondem das gegenseitige Morden bzw. den allgemeinen Selbstmord. In
der japanischen Tradition waren denn auch Vergeltungsrecht und
Vergeltungspflicht auf drei Generationen begrenzt. Wenn aus dem
Zusammenleben ein Zusammensterben wird, verliert das Vergeltungsrecht seine
Abschreckungsfunktion und dürfte wohl kaum als dauerhaftes Ethos verstanden
und anerkannt werden. Im vergangenen Jahrhundert wurde vieles als Loslösung
von einem nicht grundlos als Diktat empfundenen rechtlich zweifelhaften Vertrags
gerechtfertigt. Wer kann die fatalen Folgen des «Seit heute früh wird
zurück-geschossen!» vergessen, besonders wenn das «Zurück» von jedem behauptet
wird - tagtäglich ? Wem schließlich ist bekannt, dass die Initiale der V-Waffen
nicht Victoria, sondern Vergeltung abkürzen sollte ? Explizit oder implizit könnten
viele ähnliche Tatsachen aus den Zeiten vor und nach dem Zweiten (?) Weltkrieg
registriert und analysiert werden.
1.4
Die vierte, ebenfalls brennend aktuelle Domäne, welche der
Phänomenologe aufmerksam durchwandem muss, ist im Gegensatz zum 'nicht
mehr' ethischen Feld der Kollektivrache und der Kollektivschuld ein Feld, das
‚noch nicht’ moralisch abgesteckt wurde. Gemeint ist der längst nicht gemeinsam
definierte «Terrorismus». Vor kurzem galt unter Juristen noch, dass eine Macht
dann als terroristisch einzustufen ist, wenn sie nicht über eine eigene Luftwaffe
verfügt. Ohne irgendeine sachliche Eingliederung des Tatbestandes kann sich die
Justiz nämlich nicht auf Normen beziehen. «Gott mit uns !» gibt es in allen
Sprachen. Wird allseits der Gegner dämonisiert, besteht keine Aussicht auf die
relative Humanisierung eines Konfliktes durch ein jus ad bellum und ein jus in bello,
wie kürzlich die Deutsche Philosophische Gesellschaft anlässlich erster ethischen
Reflexionen über den organisierten Schrecken, in dem ein Clausewitz
wahrscheinlich eine eigene Kriegsform erkannt hätte. Regeln zur Behandlung von
Zivilisten und Gefangenen oder zur Rechtfertigung von Präventivschlägen oder
Kriegserklärungen, die nicht beide Gegner verpflichten, verpflichten
konsequenterweise keinen der beiden, da sie den anderen bevorteilen würden. De
facto ist einer der beiden weniger noch als eine globale Wirtschaftsmacht an ein
Territorium gebunden. De jure, möchte die Vemunft hinzufügen, kann sie sich
nicht nach einem staatlichen Souveränitätsschema verhalten. Dies zur
Voraussetzung einer intemationalen Anerkennung zu erklären, wäre nur eine
Kriegslist. Möglicherweise brächte nur eine geteilte Strategie der Abschreckung,
gepaart mit einer gerechteren Verteilung der Güter, eine Linderung der
hoffnungslosen Verzweiflung stiftenden Verhältnisse. Hätte der englische
Gouvemeur der Insel Sankt Helena am 24. April 1818 der Forschungs-Brigg Rurik
nicht vor den Bug schießen lassen, hätte sich der Emigrant Chamisso mit dem
«gefesselten Prometheus», wie der Kapitän der Rurik den korsischen Kaiser der
Franzosen nannte, wohl über die Fortüne der Schlachten unterhalten, denn der
kriegserfahrene verbannte Artillerist und Akademiker der mathematischen Klasse
bedauerte seine Feldzüge, hätte doch - so formuliert es ein Brief Napoleons - die
bloße Berechnung des Kräfteverhältnisses das kostspielige Blutvergießen erspart.
Anderthalb Jahrhunderte später kalkulierten auf beiden Ufem des Pazifiks die
«kalten Krieger» die Chancen eines atomaren Angriffs ; dem abschreckenden
Ergebnis des strategischen Kalküls verdankte die Welt die taktische Verlegung der
Auseinandersetzung auf friedllichere Mittel. Bei den heutigen, heterogenen Waffen
- und bei so verschiedener Opferbereitschaft - ist eine solche Rechnung zwar
schwerer, aber erst recht unerlässlich, wenn es sich um aufrichtigen Frieden und
nicht um den rabiat diktierten, wenn auch altruistisch verbrämten Status quo
handelt. - Heute - am 2. Dezember - erinnert sich Frankreich sowohl des Sieges
Napoleons 1. unter der Sonne von Austerlitz (1844) wie der Proklamation des als
erblicher Kaiser plebiszierten Napoleon III. (1852), was meine anekdotischen
Rückblicke erklären mag. Aber die damit verbundene Einsicht in die Relation
zwischen Ethik und Vernunft dürfte eine bleibende sein, auch im Umgang mit
dem ängstlich geächteten Terrorismus. Wenn schon Daten bemüht werden dürfen,
möge man sich daran erinnern, dass Kants «Kritik der reinen praktischen
Vernunft» (1788) und «Kritik der Urteilskraft» (1790), in welcher Goethe die
überzeugendste Grundlage für sein Schaffen, Tun und Denken sah, die «Grande
Terreur» der französischen Revolution (1793/4) nicht verhinderte. Die Berechnung
der Friedensprobabilitäten setzt voraus, dass die « Grenzen der bloßen Vernunft»
erkannt und anerkannt werden. Dass die nukleare Abschreckung Kriege
verhinderte, wird von niemandem bezweifelt, im Gegensatz zum Postulat, dass die
nukleare Abschreckung die einzige erfolgreiche Art der Gattung Abschreckung
bleiben wird. Dass bei Heterogenität der Bedrohungen das Messen und das
Berechnen viel schwerer sein werden, kanri wohl von niemandem bezweifelt
werden.
1.5
Die fünfte Domäne, deren aufmerksame Durchwanderung von Pisa nach
Kanossa führen sollte, zwingt wenigstens in einer Hinsicht zur Bejahung der
Dauerhaftigkeit der Ethik. Der Misserfolg der übrigens mehr feigen als
innovativen Permissivität im häuslichen Erziehungsprozess zugleich mit dem
verwirrenden steten Methoden- oder richtiger Modenwechsel im Schulunterricht
weisen auf eine unverantwortliche Missachtung des natürlichen Reifeprozesses hin.
Um zu «werden, was er ist », braucht der Mensch offenbar eine quasi
unkompressible Zeit. Andere Arten, andere Rhythmen: Stechmücke, Schildkröte,
Turmfalke und Eisbär haben nicht die gleiche Lernzeit. Das Krokodil ist schon
beim Schlüpfen auf sich sebst gestellt, während die Elephantenschule Jahre dauert.
Die Entwicklungszeit des Menschen lässt sich wohl kaum durch Verlängerung der
Schulpflicht oder Vorziehung des Wahlrechtes eruieren. Auch innerhalb des
Lemprozesses gelten, sit venia verbo, «Konstanzkonstanten». Eine solche Kontinuität
erfordert nicht nur der Geschichtsunterricht. Was sich die deutsche KMK etwa
unter einer siebenjährigen Probezeit fùr neue Schreibregeln vorstellt, leuchtet
keinem ein, der wissen will, in welcher Klasse damit angefangen bzw. aufgehört
werden soll. Das Beständigste im Reifeprozess, im Guten wie im Schlechten, lehrte
im Collège de France vor einem Jahrhundert der von den herrschenden und von
den modischen Ideologen als gefährlicher Vertreter elitären Denkens
totgeschwiegene Gabriel de Tarde, sei die Nachahmung, das bleibende Beispiel,
die Leitfigur. Qualitativ wie quantitativ am eindringlichsten ist nun heutzutage das
Ferngesehene. Neuerdings hört man Politiker und Kulturkritiker die Gewalt-,
Pomo- und anderen Schundsendungen verteidigen, indem sie sich auf eine
imaginär ausschließliche Erziehungspflicht der Eltem und der Schule berufen und
jegliche Zensur - natürlich ohne jegliche Toleranz fùr gegenteilige Ansichten verdammen. Erst nach und nach besinnt sich die Öffentlichkeit auf die Ursachen
der kriminellen Unerzogenheit. Derzeit ist aber die triviale Frage «Cui prodest ?»
offenbar noch bei allen Tabu-Gegnern ein ... Tabu. Wird noch lange jeder, der den
Schaden erleidet und anprangert, auch noch als Ewiggestriger den Spott der
bezahlten Besserwisser davontragen müssen?
1.6
In der letzten Domäne, die der vorurteilslose und orientierungslose
Phänomenologe zu durchwandern hat, führen neuerdings die meisten Wege in
eine Zukunft, die von der Erfahrung her leicht als Utopie gewertet, bekämpft und
erhofft wird. Sogar wer sich auf die «Großen Weltreligionen» beschränkt, wundert
sich nicht nur über Diskrepanz von Theorie und Praxis, sondem auch über die
Verschiedenheit der Auffassungen des Verhältnisses von Ethik und Religion. Es
gab agnostische Politiker, welche systematisch die Religion begünstigten, weil diese
in ihrer Disziplin dem Staatsgefüge dienlich waren, wie es mutige Prediger gab,
welche die von der Gesellschaft geflegten und hochgeachteten Unsitten
anprangerten. Oberflächliche Diskursanalysen verleiten den Phänomenologen zur
Unterscheidung von drei religiösen Stellungnahmen zur Ethik: für die einen stehe
die Ethik höher, für andere sich Ethik und Religion kaum zu unterscheiden;
allermeistens gebührt das letzte Wort der Religion. Ein Henri Bergson fand es
deshalb sinnvoll, nach den gemeinsamen Quellen und Schwierigkeiten beider
Instanzen zu suchen. Sowohl in der Ethik wie in der Religion - im Falle des
Buddhismus sind sie nicht leicht voneinander zu unterscheiden - gebe es,
naturbedingt, den immer wieder aufflackernden Konflikt zwischen Ritus und
Absicht, zwischen Buchstabe und Geist. Wer aber die Frage nach der
Dauerhaftigkeit der Ethik beanworten will, entdeckt spätestens im religiösen
Bereich, etwa bei der «Nächstenliebe», bei der «Würde der Armut» oder bei den
dogmatischen «Schismen» und der «Inquisition», die Problematik des Verhältnisses
von Natur und Geschichte. Als Phänomenologe kann er dann mit dem Begriff der
Dauerhaftigkeit nicht mehr operieren, wird aber von dem Parlament der
Weltreligionen, welches sich am 4. September 1993 in Chicago vor zehn Jahren zu
einer gemeinsamen Erklärung über das « Weltethos» aufraffte, welche, an die
UNO gerichtet, folgende Schlüsse formulierte: "Kein Friede unter den Nationen
ohne Frieden unter den Religionen; kein Friede unter den Religionen ohne Dialog
zwischen den Religionen; kein Dialog zwischen den Religionen ohne globale
ethische Standards; kein Überleben unseres Globus in Frieden und Gerechtigkeit
ohne ein neues Paradigma internationaler Beziehungen auf der Grundlage globaler
ethischer Standards!" Wenn in diesem religiösen Aufruf das Wort 'Gott' nicht
vorkommt, so liegt das weniger an einer Konzession an Atheisten, als an dem
gemeinsamen Entschluss, interne theologische Streitereien nicht wieder
aufflackern zu lassen. Die als «Goldene Regel» der Gegenseitigkeit Verständnis
empfohlene Maxime verbindet zu eindeutig Vergangenheit und Zukunft, dass man
darin den Kern der Dauerhaftigkeit der Moral sehen könnte: « Was du nicht willst,
das man dir tut, das tu auch keinem anderen zu !»
Aristoteles und Kant sind nur bedingt unsere Zeitgenossen. Unter den
heutigen Philosophen hat wohl niemand so eindringlich und tiefgreifend das
Verhältnis von Natur und Geschichte meditiert wie Jean Baechler, für den die
potentielle Natur sich erst nach und nach entwickelt - in der Menschheit wie beim
Einzelnen -, und die Geschichte ihrerseits aber von der sinn- und wertstiftenden
Zweckgerichtetheit jener Natur lebt.
2.1.
Erlauben heute Wissenschaftstheorie und -praxis ontologisches, wenn
auch'Verhülltes' betreffendes Denken, wie es die Deontologie erfordert ? Kann es
neben gelegentlichen Handlungsregeln ethische, allgemein verbindliche Normen an
sich geben? Die Philosophen, sogar der Tugendhasser Nietzsche, tun so, als ob. In
der Antike zeigten sich sämtliche philosophischen Strömungen um zum großen
Teil übereinstimmende ethische Lehrsätze bemüht. Hier soll nun versucht werden,
die Morallehren von Aristoteles und von Kant zu charakterisieren, um die Spanne
ihrer Verträglichkeit auszumessen. In seinen Ausführungen zum interreligiösen
globalen Ethos erklärt Hans Küng den Begriffsunterschied zwischen /Ethos/ und
/Ethik/ damit, dass Ethos ursprüngliche Verhaltungsprinzipien meine, während
unter Ethik ausgedachte und formalisierte Systeme zu verstehen seien, wie etwa
dasjenige (auch von ihm ausgewählte) von Aristoteles und dasjenige (ebenfalls von
ihm beschworene) von Kant.
2.2
Von der Ethik seines Lehrers Platon, die als leitenden Wert weniger das
angemessene Handeln als die beglückende Betrachtung im Sinne hatte, wandte
sich Aristoteles allmählich ab, aber nicht ohne die größte Behutsamkeit. Er wollte
beide Wesenszüge des Menschen,
, !"#$ .
[ = mit sprechender Vemunft ausgestattetes Lebewesen ] und
% " &"#$
[sich in überlegt gegliederten Gemeinschaften verwirklichendes Lebewesen ]
vereinen, oder wenigstens verbinden. Nicht, dass er Moral durch Politik ersetzen
wollte, wie ihm manchmal vorgeworfen worden ist. Seine ontologischen Konzepte
von Akt und Potenz erlaubten ihm eine evolutionistische Vorstellung einer
«Naturwerdung». Er übersah dabei nicht, dass die Finalität auch dann von der
Freiheit bedroht ist, wenn die Freiheit das menschliche Glück bedingt. Eine seiner
kosmologischen Randbemerkungen hat ihm viel leichtsinnigen Spott eingebracht,
wo sie doch von profunder Menschenkenntnis zeugt: die vorsichtige - das ist für ihn
der Tugenden höchste ! - Natur hat den - an der Erkenntnisfähigkeit und an der
Willenskraft gemessen - höheren Geistern als Körper die sphärischen Gestirne
angewiesen, diese aber weder mit Armen noch mit Beinen ausgestattet und auf
diese Weise verhindert, dass eitle Kaprizen der Freiheit das Universum in
chaotische Zustände brächten !
2.3
Kants Pflichtethik, insbesondere der absolute Imperativ, wurde ebenfalls als
weltfremd verspottet. Neuerdings erleben seine Vorstellungen von zwischen
allgemeingültigen sittlichen Geboten eine Renaissance. Die Daten seiner Werke
umrahmen die in Frankreich abgewickelte Große Revolution bis zu dem von
dieser herbeigefùhrten Großen Terror : Grundlegung zur Metaphysik der Sitten,
1781; Kritik der reinen praktischen Vernunft, 1788; Kritik der Urteilskraft, 1790;
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1793. Zwei
Jahrhunderte später, am 4. September 1993, erklärt sich in Chicago zum Weltethos
in Zeiten der Globalisierung das Parlament der Religionen zu kantischen und nicht
nur kantischen Maximen wie "Was du nicht willst, das man dir tut, das füge auch
keinem anderen zu". lm Unterschied zum prosaisch bequemen Verständnis Kants
gilt, nach welchem Kants Erkenntniskritik den Fortschritt der Wissenschaft
sichere und den Fortgang der ethischen Relativisierung begünstige, darf man
wieder annehmen, dass die Grenzen der bloßen Vernunft eine wissenschaftliche
Fundierung der Sittenlehre nicht gestatten, deren absolute Verpflichtung jedoch
gesichert ist, was dazu führt, ihre Quellen im Innersten, im Herzen, und im
Höchsten, im Sternenhimmel zu orten. Das ethische Urteil ist kein analytisches,
sondem ein synthetisches. Demnach fällt es innerhalb eines epistemologischen
Systems nicht leicht, dessen absolute Notwendigkeit anzuerkennen bzw. zu
fundieren.
3.1
Während Aristoteles sich mehr dem Politikon zuwandte, bemüht sich Kant
nachhaltig um das Logikon. Er verhält sich denn auch sehr skeptisch gegenüber
Recht, Staat, Politik und Geschichte, obgleich ihm als ethisch-politisches Ideal der
Ewige Weltfrieden vorschwebt. Auch dem Aristoteles sollte man weder Einseitigkeit
noch eine Überzahl von blinde Flecken vorwerfen. Wer beide Denker ernst nimmt
- und in dieser Hinsicht wohl auch die meisten anderen - kommt an einer
Hierarchie des Absoluten und des Relativen nicht vorbei. Eine stete kohärente
Selbstverwirklichung ist kein Oxymoron, sondern höchstens ein anregendes
Paradoxon als kritisch vorsichtige Beantwortung der akademischen Frage zur
Dauerhaftigkeit der Ethik: «la morale est-elle durable?».
3.2
Die doppelte Beziehung der Ethik auf absolute Grundsätze und auf
kontingente Umstände rechtfertig weder das parmenidische Beharren auf zum Teil
bereits überkommenden Regeln noch die Verkündung eines heraklitischen
konstantenlosen Reigens aller Werte. Diese irenische Position mag von vielen
Beteiligten nicht als ein salomonisches Urteil akzeptiert werden. Es geht aber hier
nicht um die Reaktionen der involvierten Mächte bzw. Personen, sondem um die
Eingrenzung des Raums, in welchem Rechte und Pflichten Bestand haben.
Man stelle sich einen Wachhund vor, dessen Leine an einem. Ring befestigt
ist, der frei auf einem Stahlseil gleitet, welches zwischen den beiden Stangen
Vernunft und Gesellschaft gespannt ist:
Reißt das Seil entweder am Pfosten ' !"#$ oder am Pfosten ( "&"#$ , hält der
Ring die Leine nicht mehr und Leine den Hund nicht mehr. Und das Haus ist
nicht mehr bewacht.
3.3
Ob man die Sittlichkeit nun Moral oder Ethik nennt, bleibt sich gleich:
wenn man sie auslachen oder auslöschen will, zeigt sie erst [recht] ihre Festigkeit,
wie jener Schifferknoten, der sich anzieht, sobald Wind und Wellen das Boot
wegtreiben möchten:
Jean-Marie ZEMB

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