Elsa Romfeld (2008): „Vom dogmatischen zum kritischen Abbruch

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Elsa Romfeld (2008): „Vom dogmatischen zum kritischen Abbruch
Vom dogmatischen zum kritischen Abbruch:
Zum Umgang mit Hintergrundmetaphysiken
in der Ethik
Elsa Romfeld (Bamberg)
1. Ethik ohne Metaphysik? – Eine Vorbemerkung
In den letzten Jahren haben Ethiken Konjunktur, die behaupten, ohne Rekurs auf ein bestimmtes Menschenbild (z.B. das christliche) bzw. ohne Rekurs auf metaphysische Hintergrundannahmen (z.B. Gott) auszukommen.
Zu nennen wären insbesondere verstärkt Empirie-basierte Ethiken, darunter alle naturalistischen Ethiken wie beispielsweise die evolutionäre Ethik.
Sie sehen darin ein Qualitätsmerkmal, d.h. es wertet sie in ihren Augen gegenüber den anderen, „metaphysikbelasteten“ Ethiken auf, weil sie ihre
„Moralbegründung ohne Metaphysik“1 für weltanschaulich neutral und
von daher für eher konsensfähig halten.
Es soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden, ob es einer Ethik tatsächlich als Verdienst anzurechnen wäre, auf Metaphysik zu verzichten
(gleichwohl das mit Sicherheit eine interessante Frage ist). Der Punkt, um
den es hier geht, ist vielmehr, dass keine dieser Ethiken ihrem Anspruch,
auf Metaphysik zu verzichten, gerecht wird oder auch nur gerecht werden
kann. Denn Ethik wird immer noch von Menschen betrieben. Menschen
aber haben Hintergrundmetaphysiken, die als weltkonstituierende Elemente sowohl jeder ethischen Reflexion voraus als auch in diese eingehen.
2. Was verstehe ich unter „Hintergrundmetaphysik“?
Der Begriff „Hintergrundmetaphysik“2 ist nicht neu und zudem partiell
selbsterklärend; dennoch möchte ich ihn kurz explizieren, nicht ohne ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass ich die negative Konnotation, die der
Begriff „Metaphysik“ in einigen philosophischen Kreisen hat – man kann
beinahe sagen „das Stigma, das ihm anhaftet“ – weder intendiere noch befürworte.
1
2
So der Titel eines früheren Aufsatzes von Hoerster (1983).
Zu dem Begriff der Hintergrundmetaphysik, wenngleich mit etwas abweichender
Semantik, siehe das Kapitel „Hintergrundmetaphysik, Groß-Mythen und Systemtheorie“ in Buschlinger.
• Es handelt sich bei einer Hintergrundmetaphysik um eine BasisÜberzeugung, eine Leitvorstellung über die Beschaffenheit der Welt; das
kann sowohl eine Überzeugung über Entitäten als auch über Eigenschaften sein.
• Wir internalisieren sie im Laufe unseres Lebens innerhalb einer metaphysisch imprägnierten Kultur, d.h. wir verinnerlichen/übernehmen ganz
selbstverständlich primär die Metaphysiken, die zum Standardrepertoire
unserer Kultur gehören.
• Sie betrifft häufig auch unser Menschenbild, insofern Hintergrundmetaphysiken basale Bestandteile unseres Weltbildes sind und der Mensch
wiederum Teil der Welt ist.
• Sie macht in der Regel unsere Welt wohnlicher, heimeliger, vertrauter,
kurz: besser.
• Sie ist meist vorbewusst und implizit, d.h. sie wird nur, wenn überhaupt,
in der reflektierten Auseinandersetzung bewusst oder auf gezieltes Nachfragen explizit.
• Sie ist gewissermaßen der Hintergrund, vor dem alles andere abläuft, die
Säule, die unsere Welt stützt; sie selbst ist nicht mehr (rational) begründbar.
• Sie ist nicht selten für die Menschen, die sie haben, „sakrosankt“, also
unantastbar, heilig, unverletzlich – dementsprechend vehement wird sie
verteidigt und dementsprechend schwer ist sie argumentativ einnehmbar.
Beispiele für Hintergrundmetaphysiken sind: die Annahme, jede Person
habe eine Seele; der Glaube an eine ausgleichende Gerechtigkeit; die Ansicht, der Mensch besitze eine freien Willen; die Überzeugung, der Mensch
verfüge über eine ihm eingeborene Würde; oder der Glaube an das Primat
der Vernunft.
3. Hintergrundmetaphysiken in der Ethik am Beispiel von Hoersters
interessenfundierter Ethik
Wie schon zu Beginn erwähnt, halten sich einige Ethiken zugute, dass sie –
angeblich – frei von jeglicher Metaphysik sind. Norbert Hoerster wird uns
im weiteren Verlauf ein Beispiel für eine solche Ethik geben, der man ihre
Hintergrundmetaphysik auf den ersten Blick nicht ansieht, ja, die sogar explizit bestreitet, eine zu haben, und die dennoch metaphysische Hintergrundannahmen macht.
Hoerster ist emeritierter Professor für Rechts- und Sozialphilosophie
und vor allem durch seine umstrittenen Thesen auf dem Gebiet der Bioethik bekannt geworden. Sein Denkstil ist der Tradition der analytischen
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Philosophie verpflichtet. 2003 ist bei Reclam sein Buch „Ethik und Interesse“ erschienen, das uns hier als paradigmatischer Fall dienen soll. Hoerster vertritt dort eine interessenfundierte Ethik, das heißt er spricht sich für
eine Begründung von Moralnormen aus den „aufgeklärte[n] Interesse[n]“
der Menschen aus (Hoerster 2003, 38). Darunter versteht er solche Wünsche (oder Präferenzen), die formalen Rationalitätsbedingungen, namentlich Urteilsfähigkeit und Informiertheit, genügen (vgl. ebd., 24). Er selbst
schreibt über sein Programm: „Es wird gezeigt, dass allein die interessenfundierte Theorie ohne […] metaphysische Voraussetzungen und unbegründete Postulate auskommt“ (ebd., 15). Und: Es handele sich um „eine
[…] Ethik, die auf weltanschauliche Voraussetzungen verzichtet“ (ebd.,
217).
Doch kommt diese Ethik bei genauerer Betrachtung tatsächlich ohne
unbegründete Postulate aus, verzichtet sie auf jede weltanschauliche Voraussetzung, rekurriert sie auf kein spezifisches Menschenbild? Nein: Zum
einen wählt Hoerster sein Programm zur Moralbegründung nach rationalpragmatischen Kriterien, darunter Nähe zur Empirie und Ausschluss vorpositiver Elemente. Für diese Entscheidung, eine Moralbegründung über
Interessen vorzunehmen, lässt sich zwar argumentieren, indem man z.B.
sagt, es zeichne sie eine breite Zustimmungsfähigkeit aus, etwa weil sie
sich nicht auf religiöse Überzeugungen oder ähnlich spezifische Weltanschauungen beruft. Gleichwohl gibt es kein Gesetz, das uns vorschreibt,
unser oberstes Prinzip nach rationalen bzw. pragmatischen Kriterien auszuwählen; vielmehr bleibt diese Wahl letztlich reine Geschmackssache.
Zum anderen will er – wie weiter oben bereits ausgeführt – in seiner Moralbegründung einzig mit den menschlichen Interessen operieren, die von
höherer Warte aus als „rational“ erkennbar sind. Das bedeutet, dass alle
Wünsche und Präferenzen, welche die Rationalitätsbedingungen nicht erfüllen, z.B. weil jemand fehler- oder lückenhaft informiert ist oder ich sich
in einem Zustand starker emotionaler Erregung (Verliebtheit, Zorn) befindet, nach dieser Definition nicht als Interessen gelten.3
Offenkundig bildet also Rationalität in zweierlei Hinsicht die Basis
der Hoersterschen Ethik: Sowohl innerhalb seiner Moralbegründung als
auch insgesamt bei der Wahl seines Ethik-Programms gibt es eine klare
Präferenz für Rationalität. Diese zweifache Entscheidung für die Rationalität ist aber eine individuelle, subjektive Präferenz, ein gesetzter Anfang, ein
selbst nicht mehr begründetes Postulat. Sie ist Hoersters Hintergrundmetaphysik. Ohne alle aufgezählten Merkmale von Hintergrundmetaphysiken
3
Inwiefern das sinnvoll ist, soll an dieser Stelle dahingestellt bleiben.
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erneut im Einzelnen durchgehen zu wollen, sei angemerkt, dass sie sich
sämtlich erfolgreich auf die Hoerstersche Rationalitätspräferenz anwenden
lassen. In Anlehnung an ein Zitat von Adorno könnte man sagen: „Dass
Hoerster keine Metaphysik hat, wird zu seiner letzten.“4
Offenkundig ist auch eine „aufgeklärte“ Ethik keine von Hintergrundmetaphysiken befreite Ethik. Aber: Warum kann, wie in der Vorbemerkung angedeutet, prinzipiell keine Ethik eine von Hintergrundmetaphysiken befreite Ethik sein?
4. Das „Münchhausen-Trilemma“ und die Problematik des Abbruchs
Jede Ethik manifestiert sich in Normen, die gemeinhin in normativen Sätzen formuliert werden. Deren Geltung kann, wenigstens wenn wir optimistisch sind, auf einige wenige Grundnormen zurückgeführt werden. Der
Versuch, die Geltung von Normen letztgültig zu sichern, führt jedoch in
das weithin bekannte „Münchhausen-Trilemma“, nämlich entweder 1. in
einen infiniten Regress, bei dem man auf der Suche nach Begründungen
immer weiter zurückgeht, oder 2. in einen logischen Zirkel, wobei man auf
Normen zurückgreift, die bereits als begründungsbedürftig aufgetreten waren, oder 3. zu einem Abbruch des Verfahrens an einem willkürlichen
Punkt (vgl. Albert 1991, 15), wobei bestimmte Normen dann häufig als
zum Beispiel „selbstevident“, „intuitiv klar“, „gott- oder naturgegeben“
bezeichnet werden. Da aber der unendliche Regress nicht praktikabel ist –
allein aufgrund der nur endlichen Zeit, die uns zur Verfügung steht – und
der logische Zirkel fehlerhaft (es handelt sich um einen vitiösen Zirkel),
bleibt uns bei der Normenbegründung nur der Abbruch des Begründungsverfahrens an einem von uns gewählten Punkt. Diesen Punkt kann man,
wie Hoerster, nach rationalen Aspekten bestimmen. Man könnte sich jedoch auch deshalb für eine Anfangsnorm (und damit für eine Moralbegründung) entscheiden, weil sie ‚gut klingt‘ oder weil jemand, den man
bewundert, sie vertritt; oder eben ‚einfach so‘, ohne ein besonderes Kriterium zugrunde zu legen (vgl. Smullyan 1992). Letztlich hätte jede Wahl
gleichermaßen ihre Berechtigung bzw. wäre gleichermaßen willkürlich.
Wenn somit aber jede Ethik auf unbegründeten Voraussetzungen
fußt, begeht dann jeder Ethiker zwangsläufig die „wissenschaftliche
Sünde“ des so genannten „dogmatischen Abbruchs“ (vgl. Albert 1991,
16)? Ich denke, das ist nicht der Fall. Zwar ist der Abbruch als Abbruch
nicht zu vermeiden, man kann ihm aber die Dogmatik und damit seine
Brisanz nehmen. Es handelt sich bei dem nun folgenden Vorschlag zur
4
„Daß keine Metaphysik möglich sei, wird zur letzten“ (Adorno 1971, 297).
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Entschärfung des Münchhausen-Trilemmas also um eine Modifikation der
dritten Option. Wie ein solch „kritischer Abbruch“, wie ich ihn nennen
will, im Einzelnen aussehen könnte, soll nun abschließend ausgeführt
werden.
5. Vom dogmatischen zum kritischen Abbruch
Die 3 Elemente oder Forderungen des kritischen Abbruchs sind:5
1. Die Reflexion des Anfangs: Es geht zunächst um die „interne Offenlegung“, also im Wesentlichen um die Sensibilisierung für die eigenen
Voraussetzungen und um eine mutige kritische Auseinandersetzung mit
den eigenen Voraussetzungen. Und zwar als das, was sie sind, nämlich unbegründete Hintergrundmetaphysiken. Das ist keineswegs trivial; möglicherweise ist diese Reflexion des Anfangs sogar die am schwersten zu erfüllende Forderung. Wie gesagt: Hintergrundmetaphysiken sind meist vorbewusst und implizit. Legen wir sie offen, laufen wir Gefahr, unsere Welt
zu entzaubern; nicht zuletzt deshalb hängen wir sehr an unseren alltäglichen ‚Selbstlügen‘.6
2. Die Explikation des Anfangs meint die authentische Präsentation
der Voraussetzungen nach außen („externe Offenlegung“) statt der Verschleierung der Basis-Annahmen oder gar deren expliziter Leugnung, wie
sie die bereits zitierte Hoerstersche Behauptung „Es wird gezeigt, dass allein die interessenfundierte Theorie ohne […] metaphysische Voraussetzungen und unbegründete Postulate auskommt“ darstellt.
3. Schließlich zielt die Diskussion des Anfangs auf eine dialogische
Problematisierung der Voraussetzungen, in der man möglichst offen für die
Argumentationen der übrigen Diskursteilnehmer bzw. für alternative „Anfangs-Angebote“ – und damit für eine potentielle Revision des bisherigen
Anfangs – sein sollte. In diesem Sinne wäre der gesetzte Anfang immer ein
vorläufiger, kritisierbarer: Indem man ihn gleichsam nur probeweise festlegt, ist der Weg des kritischen Abbruchs keine Sackgasse mehr.
5
Man mag sich partiell u.a. an Habermas’ „Theorie des kommunikativen Handelns“
erinnert fühlen.
6
Dazu Nietzsche (1988, 238): „Die gewöhnlichste Lüge ist die, mit der man sich
selbst belügt.“
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6. Ethik ohne Dogma! – Ein Fazit
Das Merkmal des ethischen Anfangs darf es also gerade nicht sein, unbefragt zu bleiben7; sonst drohen wir tatsächlich dogmatisch, drohen wir zu
Fundamentalisten zu werden, was insbesondere in Fragen der Ethik und
Moral nicht nur problematisch ist, sondern verstärkt Gefahren birgt.
Nun wollen wir uns darüber keine Illusionen machen, dass es aus
oben genannten Gründen immer schwierig sein wird, die Hintergrundmetaphysik einer Person zu verändern. Das gilt auch und erst recht für die eigene. Umso wichtiger aber ist es, sie nicht als selbstverständlich anzunehmen oder auszugeben, sondern sie sich und anderen offen zu legen sowie
den Diskurs darüber zu pflegen. Kurz: Den Abbruch für die ethische Reflexion fruchtbar zu machen. Das ist vermutlich das Beste, was wir tun
können.
Literatur
Adorno, Th. W. (1971): Ges. Schriften Bd. 13, Die musikalischen Monographien,
Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Albert, H. (1991): Traktat über kritische Vernunft, 5., verb. und erw. Aufl., Tübingen:
Mohr.
Böhm, Th. (1988): Anfang, in: Cancik, H./Gladigow, B./Laubscher, M. (Hg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe Bd. 1, Stuttgart u.a.: Kohlhammer.
Buschlinger, W.: Echt. Studien zur Entstehung des christlich-eikonischen Bildbegriffes
und zu seinem Auftreten in der Philosophie der Neuzeit und Gegenwart, Habilitationsschrift, TU Braunschweig (voraussichtlich 2008).
Hoerster, N. (2003): Ethik und Interesse, Stuttgart: Reclam.
Hoerster, N. (1983): Moralbegründung ohne Metaphysik, in: Erkenntnis 19, 225-238.
Nietzsche, F. (1988): Der Antichrist, in: Colli, G./Montinari, M. (Hg.), Friedrich
Nietzsche: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe Bd. 6, 2. durchges.
Aufl., München/Berlin/New York: dtv/de Gruyter, 165-253.
Smullyan, R. (1992): Warum seid ihr ehrlich? in: Freese, H.-L. (Hg.), Gedankenreisen.
Philosophische Texte für Jugendliche und Neugierige, Reinbek bei Hamburg:
Rowohlt, 174-180.
7
Anders sieht es häufig in theologischen Zusammenhängen aus (vgl. Böhm 1988,
454).
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