Was ist aus dem guten, alten Aristoteles geworden?
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Was ist aus dem guten, alten Aristoteles geworden?
Was ist aus dem guten, alten Aristoteles geworden? Aristoteles, Petrus Abaelardus, Thomas von Aquin und Martin Luther, Utilitarismus, Adam Smith, Henry Sidgwick, Sozialutilitarismus, George Edward Moore, Emotivismus, Pragmatismus, Immanuel Kant. Ein historischer Zeitraffer durch über zweitausend Jahre Entwicklung zum heute herrschenden (oder fehlenden?) wirtschafts- und führungsethischen Verständnis. von Mag. Johannes Thaler Globalisierung, Outsourcing, Ostabwanderung, Massenkündigungen, hohe Konzerngewinne auf der einen Seite, hohe Arbeitslosigkeit auf der anderen, Ohnmacht politischer Regulation, Korruption, vereinzelte unvorstellbare Managergagen, das Phänomen der inneren Kündigung bei ArbeitnehmerInnen machen den öffentlichen Ruf nach „ethischen Spielregeln“ in der Wirtschaft und in der Führung von Unternehmen laut. Offen ist, nach welchen ethischen Prinzipien können oder sollen sich diese „Spielregeln“ richten? Und wer bestimmt die Prinzipien? Diese Fragen haben eine über zweitausend Jahre alte Tradition: Die Auseinandersetzung mit der Ethik von Führen und mit der Wirtschaftsethik kann philosophiegeschichtlich belegbar bis auf die Einheit von Ethik, Politik und Ökonomie bei Aristoteles (384-323 v. Chr.) zurück verfolgt werden. Als zentrale Frage der Ethik sah Aristoteles, wie das Individuum und die Gemeinschaft von einem „Ist“-Zustand zu einem „Soll“Zustand gelangen können. Die Ethik liefert dazu die Normen (das Soll) und die Maßstäbe für die Ist-Analyse. Diese Funktion haben sich heutzutage vorwiegend die Handlungswissenschaften wie Ökonomie, Psychologie oder Soziologie angeeignet. Ursprünglich war Ethik aber nicht auf das Erstellen von standardisierten Spielregeln zum Erreichen des „Solls“ fokussiert, sondern Aristoteles definierte Ethik noch als eine Tugendlehre. Tugendhaft, also ethisch verantwortungsvoll, handelte jener Bürger, der seiner Polis, seiner Stadtgemeinde, half ein gemeinsames Gut zu verwirklichen. Eine bis heute geläufige Unterscheidung ethischer Normen traf Aristoteles in deontologische und teleologische Normen. Deontologische Normen (abgeleitet aus „déon“, dem „höchsten Gut“) werden als unbedingt geltende Normen angesehen. Es sind Normen, die die Ethik einer spezifischen menschlichen Handlung aus der Handlung selbst beziehen. Deontologische Normen sind per se beständig gegen 16 Veränderungen und unabhängig von Gesellschafts- und Zeiterscheinungen. Aristoteles legte ihnen das Streben nach „eudaimonía“ (dem „Glücken eines Menschenlebens“) zugrunde. Eine deontologische Norm hieße demnach zum Beispiel: „Du darfst nie gegen dein personales Gewissen handeln.“ Teleologische Normen (von „télos“, dem „Ziel“) hingegen sind bedingt geltende Normen, die die ethische Qualität einer Handlung aus einem Ziel herleiten. Teleologische Normen sind dementsprechend systemabhängig und unterliegen auch dem Wandel der Zeit. So galt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Würde des Menschen als höchstes ethisches Gut, und entsprechende Normen verbieten dem Handelnden, sich selbst oder einen anderen Menschen zum reinen Mittel für eine Zielerreichung zu machen. Am Beginn des 21. Jahrhunderts scheint das höchste Gut die aktive Förderung des sozialen, emotionalen und spirituellen Lebens geworden zu sein, das die Normen ethischen Handelns prägt. Sich nach einer rein teleologischen Ethik zu orientieren bewirkt in unterschiedlichem Kontext folgerichtig ethisch inkonsistentes Handeln: Wenn ich die Ethik meiner Handlungen nur nach meinem System inhärenten Ziel ausrichte, so mag ich zwar teleologisch ethisch handeln, ich verhalte mich aber auf der Metaebene einer Deontologie unter Umständen unethisch. Robin Hood hat teleologisch ethisch gehandelt, indem er die Reichen beraubte um den Armen zu helfen. Deontologisch betrachtet ist Raub aber in unserem Verständnis eine unethische Handlung. Aus diesem Handlungsdilemma helfe ich mir nur, wenn ich eine Hierarchie über- und untergeordneter Tugenden oder Werte definiere. Es bedarf also einer differenzierten, deontologischen Ethik, damit teleologisch ethische Betrachtungsweisen über unterschiedliche Systeme hinaus oder in unterschiedlichen Situationen und Zeiten stabil bleiben. doppel punkt 1/2005 Diesen Rahmen lieferten der antiken Ethik die erwähnten Tugenden des Aristoteles. Im mittelalterlichen Christentum lehnte aber Petrus Abaelardus (1079-1142) alle Tugendethiken als heidnisch ab. Abaelardus setzte anstelle des aristotelischen „eudaimonía“ ein anderes Streben: Um das höchste Gut zu erreichen ist es unablässlich, dass der menschliche Wille dem göttlichen Gebot folgt. Die ethische Qualität einer Handlung wird bei Abaelardus nicht mehr durch das Ergebnis einer tugendorientierten Entwicklung der Persönlichkeit bestimmt, sondern durch die bloße Handlungsabsicht dem Wort Gottes folgend das „télos“ (und nicht das „déon“) eines Menschenlebens im Jenseits zu finden. Damit trug Abaelardus wesentlich dazu bei, der Bedeutung der Subjektivität einer ethischen Handlung in der christlichen Religion die Türen zu öffnen. Thomas von Aquin (1225-1274) und Martin Luther (1483-1546) erinnerten sich der antiken Wurzeln, aber setzten christliche Tugenden in ihren Ethikdefinitionen ein. Diese christlichen, angesichts des irdischen Übels am Jenseits orientierten Tugenden wie Demut oder Geduld, standen im Gegensatz zu den am konkreten Leben einer Polis ausgerichteten Tugenden von Aristoteles. Sie bewirkten in Konsequenz vielmehr eine abstrakte Bedeutungsfixierung („Wenn du brav bist, kommst du in den Himmel“) als eine soziale Bezogenheit („Wenn du brav bist, geht es uns allen gut“). Im 13. Jahrhundert emanzipierte sich die Philosophie schließlich als eigenständige Denkhaltung wieder von der Theologie, ließ aber mit eigenständigen Theorien zur Ethik bis ins 18. Jahrhundert auf sich warten. Es war die philosophische Richtung des Utilitarismus mit seinen Vertretern von Jeremy Bentham (1748-1832) bis John Stuart Mill (1806-1873), die Sigmund Freud vorgreifend das Streben nach Lust und das Vermeiden von Unlust als einzige Triebfeder menschlichen Handelns sahen. Auf dieser Denkbasis war auf einmal die ethische Qualität einer Handlung unabhängig von Motiven, Einstellungen und Absichten ausschließlich von einer Bedingung abhängig: Wie weit nützt eine Handlung bei dem Streben nach dem persönlich größten Glück der Vermehrung von größtmöglichen Glück für die größtmögliche Zahl von Menschen? Der Utilitarismus in seiner Reinform kennt aus dieser Orientierung heraus verständlicherweise keine Tugendlehre. Ethische Begriffe wie Gerechtigkeit, Fairness, Vertrauen und Ehrlichkeit kann er nicht generieren. Als zur Wende zum 19. Jahrhundert es der Wirtschaftswissenschaft als erster Sozialwissenschaft gelang sich wie zuvor die Naturwissenschaften aus der spätmittelalterlichen Moralphilosophie zu verselbständigen, baute einer ihrer ersten Vertreter, Adam Smith (1723-1790), die Basis einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung auf Gedanken des doppel punkt 1/2005 Utilitarismus auf: Das ökonomisch größte Glück wird ohne staatliche Interventionen für die meisten Menschen erreicht, wenn jeder seiner egoistischen Natur folgt. Henry Sidgwick (1850-1943) führte den Utilitarismus ad absurdum, indem er belegte, dass die utilitaristischen Moralgebote zum einen nicht aus bloßen psychologischen Modellen abgeleitet werden können. Zum anderen lässt sich vor allem das Gebot, nach dem individuellen Glück zu streben, sich nicht mit dem Gebot, das größte Glück der größten Zahl anzustreben, in Übereinstimmung bringen. Dieses Faktum bewegt heute eine immer größer werdende Anzahl von Menschen: Wie verwirkliche ich mein individuelles Glück innerhalb der Normen unserer Gesellschaft? Sidgwicks Beweisführung bedeutete aber nicht das Ende des Utilitarismus: Auf John Rawls (1921-2002) Theorien der Gerechtigkeit bauend fügte der moderne Sozialutilitarismus unter anderen eine oft strapazierte Komponente hinzu: Die Ver mehrung des größtmöglichen Glücks muss besonders für die gesellschaftlich Benachteiligten erreicht werden. Obwohl sich an der Tatsache, dass man Glück nicht quantifizieren kann um es erfolgreich zu maximieren nach wie vor nichts ändert, behilft man sich mit verschiedenen Strategien um die Argumentationskette weiter führen zu können. So werden zum Beispiel teleologische Normen herangezogen um zu bestimmen, welche Handlungsfolgen eine ethische Qualität besitzen und welche ab welchem Zeitpunkt als ethisch nicht relevant ignoriert werden. Auf diese Weise sind in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bürgerliche Tugenden durch demokratische Tugenden ersetzt worden. Der Sozialutilitarismus ist als Mittel zum Zweck bis zum heutigen Tag ein Basistheorem der Makroökonomik, von Führungstheorien bis hin zur sozialstaatlichen Politik geblieben. George Edward Moore (1873-1958) initiierte die philosophische Richtung des Emotivismus, indem er das Adjektiv „gut“ als eine nicht definierbare Eigenschaft eines Sachverhaltes benennt, die bloß intuitiv erfasst wird. Er unterscheidet im Gegensatz zu „gut“ den Begriff „richtig“, der jenen Sachverhalt schildert, der den meisten Menschen den größten zur Auswahl stehenden Nutzen bringt. Nicht nur, dass er dadurch der Subjektivität von Ethik ein noch breiteres Spielfeld schuf, schuf er mit dem Postulat, dass in unseren persönlichen Neigungen und ästhetischen Freuden die größten Güter begründet liegen, die wir uns vorstellen können, ein Modell, in dem gar keine Einigung mehr zu finden ist, was denn eigentlich „Gemeinwohl“ sei. Während die britische Philosophie sich mit dem Utilitarismus beschäftigte, entwickelte sich in den USA des 19. Jahrhunderts die Philosophierichtung des Pragmatismus. Der Pragmatismus orientierte sich in 17 erster Linie an praktischer Bewährung: philosophische Positionen sind gemäß ihrer Bewährung im Handeln zu bewerten. Obwohl der Pragmatismus vorrangig um ein Verständnis des Menschen als denkendes Wesen bemüht war, ist sein indirekter Einfluss auf eine globale Wirtschaftsethik aufgrund seiner gemeinsamen Heimat mit der sich damals entwickelnden amerikanischen Wirtschaftsmacht nicht zu unterschätzen. In Deutschland verzichtete Immanuel Kant (1724-1804) auf die Vorgabe materieller Ziele für das ethischorientierte Leben und brach so mit der aristotelischen und christlichen Tradition: Die Gesetze der Ethik müssen für alle rationalen Wesen gleich lauten wie es mathematische oder physikalische Gesetze tun. Wenn diese Gesetze verpflichtend sind, ist aber die Frage, ob man sie ausführen kann oder nicht, unerheblich, allein der Wille sie auszuführen ist wesentlich. Kant weist sowohl das Erreichen menschlichen Glücks, weil es situativ inkonsistent ist, als auch Gottes Geheiß, weil wir nicht in der Lage sind, seine Worte in allen Situationen als generell gültig zu interpretieren, als Prüfkriterien für ethisches Verhalten zurück. Er beruft sich stattdessen auf die praktische Vernunft als ethisches Prüfkriterium. Aber auch Kants Versuch eine absolute Ethik zu begründen, scheitert an der ihr eigenen inneren Problematik, dass auch Vernunft relativ ist. Spätere, Kants Ideen weiter führende Ansätze mitteleuropäischer Philosophen wie Friedo Ricken oder Sören Kierkegaard haben bis ins 20. Jahrhundert erfolglos versucht, diese Problematik auf unterschiedliche Weise in den Griff zu bekommen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts stehen sich seit der erwähnten Emanzipierung der Wirtschaftswissenschaft von der Philosophie moderne Ökonomie und Ethik eher als konträre denn als komplementäre Denktraditionen gegenüber: Die Ökonomie befasst sich vorwiegend mit einer ökonomischen Rationalität, die sich an Effizienz ausrichtetet. Fragen zu den ethischen Bestimmungen des Handelns, zur Moralität hingegen werden in einer größtenteils außerökonomischen Moralphilosophie diskutiert. Das Institut Management, das auf keine lange Tradition zurückgreifen kann und sich Führungsethik ursprünglich von der des Fabrikbesitzers und Kapitaleigners und gelegentlich auch aus militärischem Führungsverständnis entliehen hat, steht unverändert vor der Aufgabe, unter inzwischen interkulturellen Aspekten ein eigenes, gemeinsames Ethikverständnis zu entwickeln. Diese Entwicklung wird aber seit den 80er Jahren auch aus rein ökonomischer Sicht durch scheinbar inkompatible Interessen massiv gestört: Unternehmen, die wie Börsen notierende Aktiengesellschaften an rein finanzwirtschaftlichen Zielen, die eher spekulative Absichten verfolgen, ausgerichtet werden, kämpfen mit dem Gegensatz zu ihren realwirtschaftlichen Zielen, die eine planwirtschaftliche Denkhaltung des Managements erfordern. Die Ethik selbst ist ein unüberschaubares Schichtwerk geworden, indem gleiche Begriffe verwendet und immer weiter von ihrer originalen Konnotation entfremdet wurden. Diese oft inkonsistenten Fragmente aus über zweitausend Jahren Ethikgeschichte bilden eine heterogene Masse, aus der man sich für die wirtschaftliche, politische und berufliche Anwendung punktuell argumentativ bedient. Die moderne Ethik hat die Orientierung an einem absoluten Telos verloren und löst die Frage nach „Zu was für einen Menschen soll ich mich in der Gemeinschaft entwickeln?“ mit der Frage „Nach welchen Regeln soll ich mich richten und warum soll ich das?“ ab und antwortet mit Standards in Form von Normen, Regeln, Maximen und Imperativen. Diese Standards werden von einzelnen Personen, Gruppen, Organisationen und Lobbies nach Bedürfnissen, Gutdünken und Interessen zusammengesetzt. Gleichzeitig macht der viel zitierte Wertewandel uns Individuen für Standards aber immer misstrauischer und weniger empfänglich. Diese hochkomplexe Situation ist die große Herausforderung einer modernen Wirtschaftsethik: Wie lässt sich ökonomisch-rationale Handlungsabsicht mit einer ethisch-praktischen Vernunft wieder zu einer theoriegestützten, systematischen Einheit formen und in die Praxis umsetzen? Ich bin voller Zuversicht in das Streben einer globalen Polis, dass die Binsenweisheit „Es gibt eine goldene Regel: der Mann, der das Gold hat, macht die Regel!“ nicht die letzte Antwort ist. Geschichte 18 Literatur Rupert Lay: Ethik für Manager, Econ Verlag, 2. Aufl. 1991. doppel punkt 1/2005