Vorlesung: Kyoto – Biographie einer Kaiserstadt - UK
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Vorlesung: Kyoto – Biographie einer Kaiserstadt - UK
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 Christoph Brumann ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG Manuskript der Vorlesung im SS 2008 Institut für Völkerkunde Universität zu Köln i VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 ii Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis............................................................................................................................ii Teil I: Einführung............................................................................................................................1 Was ist Globalisierung? ..............................................................................................................1 Die ethnologische Bedeutung des Globalisierungsthemas..........................................................4 Thematischer Überblick ..............................................................................................................5 Die Pont-des-Arts-Affäre in Kyoto als Fallbeispiel....................................................................6 Der Plan des Bürgermeisters ...................................................................................................7 Japan und die Globalisierung ..................................................................................................8 Globalisierung und die Pont-des-Arts-Befürworter ................................................................9 Globalisierung und die Pont-des-Arts-Gegner......................................................................10 Globalisierung in der Renaissance der Flußufer ...................................................................11 Globalisierung in der Ideologie des künstlerischen Originals ..............................................13 Globalisierung in der politischen Kultur...............................................................................14 Fazit.......................................................................................................................................17 Teil II: Die europäische Expansion...............................................................................................19 Der Kolonialismus als neues Zeitalter ......................................................................................19 Die frühen Kolonialreiche.........................................................................................................21 Portugal .................................................................................................................................21 Spanien ..................................................................................................................................23 Kolonialismus im 17. und 18. Jahrhundert ...............................................................................24 Die Niederlande.....................................................................................................................25 Frankreich..............................................................................................................................25 Großbritannien ......................................................................................................................25 Kolonialismus ab 1800..............................................................................................................26 Die Aufteilung der Welt........................................................................................................26 Die Kolonialreiche um 1900 .................................................................................................27 Formen der Kolonialherrschaft .............................................................................................29 Welthandel und Migration ....................................................................................................29 Die Dekolonisation....................................................................................................................31 Ethnologische Forschung zum Kolonialismus ..........................................................................33 Die süße Macht: Zucker und die koloniale Weltwirtschaft.......................................................33 Die Entwicklung der Zuckerproduktion................................................................................34 Die Entwicklung der Zuckerkonsumtion ..............................................................................35 Gender und Dominanz in der Kolonialgesellschaft ..................................................................36 Teil III: Die Kontroverse um die wirtschaftliche Globalisierung .................................................39 Einleitung ..................................................................................................................................39 Globalisierung der Wirtschaft: Ein alter Hut?...........................................................................40 Die neoliberale Globalisierung seit den 1970er Jahren.............................................................41 Die globalen Finanz- und Handelsinstitutionen ........................................................................45 Internationaler Währungsfonds .............................................................................................46 Weltbank ...............................................................................................................................46 GATT und WTO ...................................................................................................................47 Der Washingtoner Konsens und die Kritik ...........................................................................48 VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 iii Die Globalisierungskritiker ...................................................................................................52 Möglichkeiten und Grenzen der Nationalstaaten ..................................................................53 Fluch oder Segen? .................................................................................................................55 Teil IV: Die politische Ökonomie des Weltsystems .....................................................................57 Einleitung ..................................................................................................................................57 Die peasant studies....................................................................................................................57 Modernisierungs- versus Dependenztheorie .............................................................................60 Wallersteins Weltsystemtheorie................................................................................................61 Weltreiche und Weltwirtschaften..........................................................................................62 Zentrum, Peripherie und Semiperipherie ..............................................................................62 Kritik an Wallerstein .............................................................................................................64 Soroako im Weltsystem ............................................................................................................66 Von den Anfängen bis zur Nickelmine .................................................................................66 Sozialgeographie, Wirtschaft und Sozialordnung Soroakos .................................................67 Rassische und ethnische Hierarchien ....................................................................................70 Geister zwischen Microchips ....................................................................................................73 Historischer Hintergrund.......................................................................................................73 Frauen in den Montagefabriken der Sonderwirtschaftszonen...............................................74 Moralische Sorge und Geisterattacken..................................................................................76 De-Kapitalisierung der Globalisierung?................................................................................77 Flexible Kleiderfabrikation im ländlichen Mexiko...................................................................78 Bauern zu Proletariern...........................................................................................................78 Proletarier zu (Schein?-)Selbständigen .................................................................................80 Teil V: Globalisierungstheorien der 1980er und 90er Jahre .........................................................83 Arjun Appadurai: Entkoppelung, Deterritorialisierung und Imagination .................................84 Entkoppelte „-scapes” ...........................................................................................................84 Deterritorialisierung, Staat und Nation .................................................................................86 Die Rolle der Imagination .....................................................................................................88 Kritische Bewertung..............................................................................................................89 Ulf Hannerz: Globale Ökumene und Kreolisierung..................................................................90 Die globale Ökumene und ihre Subkulturen .........................................................................91 Radikaler Diffusionismus......................................................................................................91 Kreolisierung.........................................................................................................................93 Ethnologie des Kontakts........................................................................................................95 Kritische Bewertung..............................................................................................................95 Roland Robertson: Globalisierung und Weltbewußtsein ..........................................................96 Fazit...........................................................................................................................................98 Teil VI: Die Globalisierung des Warenkonsums ........................................................................101 Ethnologische Konsumforschung ...........................................................................................101 Mecca Cola: Antiamerikanismus als Brause...........................................................................102 Brasilianische Weintrauben und die Frischobstwelle .............................................................103 Die Globalisierung von frischem Obst und Gemüse...........................................................103 Weintraubenproduktion in Brasilien ...................................................................................104 Groß- und Kleinfarmen .......................................................................................................105 Das Makellosigkeitgebot und die Vertriebsbedingungen ...................................................106 Venezianische Glasperlen, ostafrikanische Pastoralnomaden und das New Age ...................107 Die mporo-Ketten der Samburu ..........................................................................................107 Die Symbolik der Perlenketten ...........................................................................................108 Der spirituelle Reimport der Perlen ....................................................................................109 Wahrzeichen der Globalisierung? .......................................................................................110 Sebago-Bootsschuhe in Dakar ................................................................................................111 VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 iv Importmode und Prestige in einer afrikanischen „global city” ...........................................111 Transnationale Verbindungen .............................................................................................112 Dirty Drinking: Die Domestizierung des Biers in Japan.........................................................113 „Den Becher erwidern” .......................................................................................................114 Bier, Whiskey und die Grenzen der Reziprozität................................................................115 Die neue Glokal-Authentizität ............................................................................................116 Weihnachten und Konsum in Trinidad ...................................................................................117 Hausputz und Hausbesuche.................................................................................................118 Heim und Welt ....................................................................................................................119 Fazit.........................................................................................................................................120 Teil VII: Die Globalisierung des Fernsehens..............................................................................122 Einleitung ................................................................................................................................122 Fernseh-Erstkontakt in Amazonien.........................................................................................123 Fernseher und sozialer Umgang..........................................................................................124 Fernsehen und Weltsicht .....................................................................................................125 Fernsehen in Brasilien.............................................................................................................126 Fernsehinhalte, telenovelas und Kultur...............................................................................127 Die Evolution des Fernsehkonsums ....................................................................................129 Soziale Effekte des Fernsehens ...........................................................................................130 Themen und Ergebnisse der ethnologischen Fernsehforschung .............................................132 Die Massenverbreitung des Fernsehens ..............................................................................132 Persönliche Aneignungsweisen...........................................................................................133 Serien, Familie und Gender.................................................................................................135 Serien, Nation und Klasse ...................................................................................................137 Das Fernsehen in der (Globalisierungs-)Kritik ...................................................................140 Fazit.........................................................................................................................................142 Teil VIII: Ethnizität und Nationalismus......................................................................................143 Ethnizität .................................................................................................................................143 Begriffsbestimmung ............................................................................................................144 Primordialismus und Konstruktivismus ..............................................................................146 Weitere Merkmale...............................................................................................................148 Ethnizität und Globalisierung im Nordwesten Ghanas .......................................................151 Nationalismus..........................................................................................................................153 Vorgestellte Gemeinschaften der Gleichzeitigkeit..............................................................154 Buchdruck, Landessprachen und Synchronität ...................................................................154 Die Ausbreitung des Nationalismus....................................................................................156 Andere Nationalismustheorien............................................................................................157 Ethnisch-nationale Traditionspolitik .......................................................................................159 Die Erfindung von Traditionen ...........................................................................................160 Erfindung und ihre Grenzen bei den Maori ........................................................................161 Kritik an der „Erfindung”....................................................................................................163 Teil IX: Migration, Diaspora und Transnationalismus ...............................................................165 Internationale Migration..........................................................................................................165 Migration im Dorfleben Bangladeshs .....................................................................................167 Geschichte ...........................................................................................................................167 Soziale Formen und Folgen.................................................................................................168 Desh und bidesh ..................................................................................................................169 Die Globalisierung des lokalen Islam .................................................................................170 Diaspora ..................................................................................................................................171 Die Diaspora der philippinischen Haushaltshilfen in Hongkong............................................173 Moralische Gefahren ...........................................................................................................174 VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 v Ambivalente Heimat ...........................................................................................................176 Transnationalismus..................................................................................................................177 Karibisch-US-amerikanischer Transnationalismus.................................................................178 Historische Ursprünge.........................................................................................................179 Aufkommen und Formen ....................................................................................................180 Transnationale Organisationen und Identität ......................................................................182 Transnationalismus und Nationalstaaten.................................................................................184 Die transnationale Nation in Eritrea....................................................................................185 Das Verhältnis von Diaspora und Transnationalismus ...........................................................187 Multilokale Feldforschung ......................................................................................................188 Teil X: Die Globalisierung der Religion .....................................................................................190 Einleitung ................................................................................................................................190 Cargo-Kulte in Melanesien .....................................................................................................191 „Vailala Madness”...............................................................................................................192 Die Dekonstruktion des „Cargo-Kultes”.............................................................................193 Der Kult der Mami Wata in Westafrika ..................................................................................195 Merkmale der Mami Wata ..................................................................................................196 Mami Wata bei den Ewe und Mina.....................................................................................197 Apokalyptisches Christentum in Papua-Neuguinea................................................................198 Die apokalyptischen Erzählungen der Urapmin..................................................................199 Die christliche Überwindung der Nation ............................................................................200 Islam in Frankreich..................................................................................................................202 „Islam de France” statt „en France”....................................................................................202 Die Strategie des französischen Staates ..............................................................................203 Globaler Islam und die Grenzen des „Islam de France” .....................................................204 Eine Meeresgöttin als Brücke zwischen China und Taiwan ...................................................206 Die Göttin Mazu..................................................................................................................207 Hintergründe des Mazu-Kultes ...........................................................................................208 Fazit.........................................................................................................................................209 Teil XI: Die Globalisierung der Indigenen .................................................................................212 Einleitung ................................................................................................................................212 North Sentinel Island – der globalisierungsfernste Ort der Erde? ..........................................213 Die Amazonas-Indianer und die Umweltschützer ..................................................................217 Die Entstehung der Indianer-Öko-Allianz ..........................................................................217 Probleme der Allianz...........................................................................................................219 Nacktheit und Authentizität ................................................................................................221 Der Trend zum Schamanen .................................................................................................222 Transnationale Indigenen-Politik ............................................................................................223 Fazit.........................................................................................................................................225 Teil XII: Weltkultur, Kreolisierung und globale Orte.................................................................227 Konzepte zur globalen Kulturentwicklung .............................................................................227 Frachtcontainer und ISO-Normen.......................................................................................227 Weltkultur............................................................................................................................229 Kreolisierung.......................................................................................................................232 Global systems of common difference und die Vervielfältigung der Zentren .....................233 Globale Orte und Institutionen................................................................................................234 Die Stützpunkte der UN-Friedenstruppen in Israel.................................................................235 Doppelte Hierarchien ..........................................................................................................236 Militärische Gemeinsamkeiten............................................................................................237 Die Produktion nationaler Differenz ...................................................................................238 Das UNESCO-Welterbe..........................................................................................................240 VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 vi Welterbe und Eurozentrismus .............................................................................................241 Der Wandel des Welterbes..................................................................................................243 Chunking Mansions – der globalisierteste Ort der Erde? .......................................................245 Bewohner und Gäste ...........................................................................................................246 Geteilte Werte .....................................................................................................................247 Schlußbemerkung....................................................................................................................249 Literatur.......................................................................................................................................251 VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 1 Teil I: Einführung Was ist Globalisierung? Globalisierung ist noch gar nicht so lange Thema. In meiner 1986er Ausgabe von Wahrigs Deutschem Wörterbuch findet man das Stichwort „Globalisierung” noch gar nicht. Und ich selbst erinnere mich noch daran, wie ich das Wort als ein für mich neues kennenlernte und – als ich 1992 meine erste Lehrveranstaltung dazu abhielt – Freunden erklären mußte, was das eigentlich ist. Nichts könnte inzwischen unnötiger sein. Denn Globalisierung ist eines der meistgebrauchten Schlagworte unserer Zeit; 2005 sind zum Beispiel weltweit fast 1000 englischsprachige Bücher erschienen, die „globalisation” (mit s oder z) im Titel tragen. Die politische Diskussion ist kontrovers, und „Globalisierungkritiker” oder „Globalisierungsgegner” sind mittlerweile ebenfalls geläufige Vokabeln. Meistens ist dann die wirtschaftliche Globalisierung gemeint, oft in Verbindung mit dem Stichwort – oder Schimpfwort – Neoliberalismus. Doch sind sich die meisten Sozialwissenschaftler darüber einig, daß Globalisierung auch andere Bereiche einschließt und es z. B. auch eine Globalisierung der Religion oder eine Globalisierung des Klimas gibt. Und unter diesen Wendungen können sich auch außerhalb der Wissenschaft heutzutage viele etwas vorstellen. Globalisierung bezeichnet in all diesen Kontexten einen Prozeß, in dem Zustände und Ereignisse aller Art immer mehr von sehr weit entfernten oder weltweit wirksamen Kräften und Faktoren bestimmt sind. „Weit” ist die Entfernung, wenn verschiedene Staaten oder sogar Kontinente im Spiel sind. Denn wenn sich etwa die Oberfranken anders als in früheren Jahrhunderten mit der bayrischen Staatskanzlei in München auseinandersetzen müssen, wird sicher kaum jemand von Globalisierung reden. Wohl aber kann man es eine Folge der Globalisierung nennen, wenn ein großer Teil der Kleidungsstücke, die sich jetzt gerade in diesem Raum befinden, schon einmal außerhalb Europas gewesen ist. Einerseits, weil Sie sie selbst dorthin getragen haben, denn sie reisen mehr und weiter als frühere Generationen. Andererseits, weil die Kleidungsstücke bereits dort waren, bevor Sie sie gekauft haben – während des Herstellungsprozesses nämlich, der mittlerweile schon beim einfachsten T-Shirt eine Vielzahl von weltweit verteilten Arbeitsschritten beinhaltet. „Weltweit wirksam” bedeutet, daß viele Einflußfaktoren der Globalisierung gar nicht mehr eindeutig verortbar sind. In diesem Fall bedeutet Globalisierung auch Vereinheitlichung, oft in VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 2 Form von Verwestlichung, denn die euroamerikanischen Staaten haben einen größeren Einfluß auf die globalen Einheitlichkeiten als der Rest der Welt. Damit ist gegenüber früheren Zeiten nicht nur Ihre Chance gestiegen, sich außerhalb Europas aufzuhalten, sondern auch die Wahrscheinlichkeit, daß sie dort Leute treffen, die ähnlich gekleidet sind wie sie. Womöglich sogar mit ihrem eigenen abgelegten T-Shirt, denn europäische Altkleider sind ja in vielen Ländern des Südens beliebte und für die einheimischen Textilindustrien problematische Importgüter. Mit dem T-Shirt habe ich ein Beispiel gebracht, das man als einen Fall von unbewußter Globalisierung bezeichnen könnte. Im Kaufhaus denken sicher nur die wenigsten darüber nach, wie weltumspannend der Produktionsprozeß hinter dem Shirt war und wie weltumspannend auch die Angebots- und Nachfrageprozesse sind, die seinen Preis bestimmen. Beim Milchkauf wahrscheinlich auch nicht, aber der Zeitung war jüngst zu entnehmen, daß es gerade die starke Nachfrage in China ist, die den Preis von Milchprodukten hierzulande so sehr in die Höhe treibt. Vor zwanzig Jahren wäre ein solcher Zusammenhang undenkbar gewesen, nicht nur wegen der damals undurchlässigeren politischen Systemgrenzen und höheren wirtschaftlichen Handelsschranken, sondern auch weil es schlichtweg keine Möglichkeit gab, EU-Milchprodukte zu akzeptablen Kosten nach Asien zu bringen. ▶▸Doch inzwischen hat sich dies mit der Ausbreitung der Transportcontainer grundlegend geändert. Eine Flasche Wein von Chile nach Europa zu verschiffen, kostet nur noch Centbeträge, und die wenigen Kilometer vom Hafen zum Laden sind teurer. Für viele Waren und für das Geld ohnehin ist die Welt damit ein zusammenhängender Wirtschaftsraum geworden, ein Prozeß, der sich besonders in den letzten drei Jahrzehnten enorm beschleunigt hat. ▶▸Angefangen hat er aber bereits im 15. Jahrhundert mit dem Zeitalter des Kolonialismus, und gerade Ethnologen haben – wie wir noch hören werden – sehr anschaulich gemacht, welch umwälzende Wirkungen die europäische Expansion auch schon auf diejenigen hatte, die sie nur indirekt zu spüren bekamen. So begegnet uns in jedem Western die Kultur der berittenen und Bisons jagenden Prärieindianer, doch war diese erst wenige Jahrzehnte vor dem Kontakt mit den vorrückenden Siedlern entstanden. Und sie konnte dies auch nur deshalb, weil die den spanischen Kolonialisten entlaufenen Pferde von Mexiko über mehrere Zwischenstationen bis in die Great Plains gehandelt worden waren. Viele Plains-Indianer stiegen dann vom Gartenbau auf die Jagd um, natürlich ohne zu wissen, welchen Prozessen sie diese Möglichkeit verdankten. Neben der unbewußten Globalisierung hinter der Plains-Kultur und der halbbewußten, ständig von neuem vergessenen Globalisierung hinter dem Warenangebot im deutschen Einzelhandel gibt es aber auch eine bewußte Globalisierung. Das Bewußtsein darüber, daß es eine Welt VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 3 jenseits des eigenen persönlichen Umfeldes gibt und beide miteinander verbunden sind, hat sich in den letzten Jahrzehnten ebenso rasant entwickelt. Die augenblicklichen Geschehnisse im Vorfeld der Olympischen Spiele sind ein gutes Beispiel dafür. Die Spiele sind selbst Produkt einer ersten Globalisierungsphase um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, die von vielerlei idealistischen Weltverbrüderungsprojekten geprägt war, und haben sich zu einem weltweit von Milliarden verfolgten Megaevent entwickelt. Doch weil der Austragungsstaat weltweit verbreiteten Idealen wie Menschenrechten und kultureller Selbstbestimmung nur begrenzt Folge leistet, haben junge Tibeter den Moment für eine Rebellion als günstig gesehen. Sie dürfen dabei nicht nur auf die weltweit verbreitete Tibet-Romantik und den weltweiten Starstatus des Dalai Lama bauen, sondern auch auf die Möglichkeit, die Nachrichtensperre der chinesischen Führung mit weltweit vernetzten Kommunikationsmitteln – Handy, Internet, YouTube – zu umgehen. An der Glaubhaftigkeit der dort und in den Medien zirkulierenden Erzählungen und Bilder gibt es Zweifel, und über diese wird in Internet-Foren mit weltweiter Beteiligung diskutiert. Das harte Vorgehen der chinesischen Führung ruft Kritiker auf den Plan, ▶▸die den an weltweit verteilten Orten stattfindenden Staffellauf mit dem Olympischen Feuer mit Protesten stören, worüber wiederum weltweit in den Medien und im Internet berichtet wird. Die Organisatoren reagieren mit der Abkürzung oder kurzfristigen Verlegung der Laufstrecke und der Vermeidung besonders prominenter Orte wie etwa der Golden Gate Bridge. Aber damit ist ein wesentlicher Zweck der Veranstaltung verhindert, nämlich die Produktion von weltweit zu verbreitenden Fernsehbildern. Weltweit werden demokratischer gesinnte Staatenlenker nun wankelmütig, was ihre eigene Teilnahme an den Olympischen Spielen betrifft. Aber viele Chinesen sind über das, was sie als Angriff auf ihre Spiele und eine übertriebene Brandmarkung als Gewaltstaat empfinden, empört, und zwar längst nicht nur in der Volksrepublik, sondern auch in den weltweit vertreuten Gemeinden von Auslandschinesen wie etwa in San Francisco. In diesem kurzen Abschnitt habe ich bereits zwölfmal das Wort „weltweit” verwendet, und die meisten der erwähnten Phänomene und die Tatsache, daß sie auf einer Art Weltbühne stattfinden, sind allen Beteiligten sehr wohl bewußt. Und daß hier eine Entwicklung stattgefunden hat, ist offenkundig, denn vor dreißig Jahren wären weder die weltweiten Kommunikationsmöglichkeiten, der weltweite Demokratiediskurs noch der Status Tibets und des Dalai Lama genügend entwickelt gewesen, von einer Vergabe der Spiele an das kommunistische China ganz zu schweigen. ▶▸Ich hätte andere Beispiele bringen können, etwa das Aufsehen um die dänischen Karikaturenserie „Das Gesicht Mohammeds” von 2005. Nicht nur die Anzahl und Reichweite solcher globalen Ereignisse nimmt zu, sondern auch das, was man das Weltbewußtsein nennen könnte. Wir bereisen die weite Welt nicht nur mehr als in früheren Zeiten und haben mehr VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 4 Umgang mit Menschen, Dingen und Ideen, die aus der weiten Welt kommen, sondern beschäftigen uns auch gedanklich sehr viel mehr mit der weiten Welt. Es liegt noch gar nicht so lange zurück, daß Luftaufnahmen und Satellitenbilder staatlicher Geheimhaltung unterlagen; doch nun kann mein Kollege per Google Earth feststellen, daß sein Feldforschungsauto noch auf dem Parkplatz in Kenia steht, wo er es hinterlassen hat. Die Tragweite dieser Entwicklung für unsere Lebensrealität und die der meisten anderen Menschen ist nicht zu unterschätzen. Die ethnologische Bedeutung des Globalisierungsthemas Vor allem außerhalb der Ethnologie wird gerne angenommen, daß die über große Distanzen oder gar weltweit wirksamen Kräfte und Faktoren eine globale kulturelle Vereinheitlichung bewirken, meist in Form einer westlich geprägten Konsumkultur. Jeder wird dieser Vorstellung zufolge eines Tages Coca-Cola, McDonald’s und Microsoft haben, und gewöhnlich ist dies für diejenigen, die das heraufbeschwören, keine erstrebenswerte Vorstellung. Daß es dafür viele Belege gibt, ist nicht zu leugnen: ▶▸Mir selbst fiel z. B. nach meiner kürzlichen Rückkehr aus Hongkong auf, daß nicht nur genau dieselbe H&M-Werbung wie im Bild auch in Köln zu sehen war, sondern daß das beworbene Top auch noch an beiden Orten den gleichen Preis hatte, bis auf einen mehrwertsteuerbedingten Unterschied. Den meisten werden solche Phänomene einfallen, wenn sie das Wort „Globalisierung” hören. Doch sind die Globalisierungsfolgen tatsächlich komplexer, und nicht selten führen sie – wie Sie im weiteren Verlauf noch erfahren werden – eher zur Zementierung von kulturellen Unterschieden als zu ihrem Abbau. Da Ethnologen dies in ihren Forschungen häufig festgestellt haben ist, ist das Fach sicherlich besonders berufen, die populären Vorstellungen zu differenzieren und zu erweitern. Doch auch wenn man als Ethnologe daran kein Interesse hat und statt weltumspannender Verbindungen lieber lokales Leben in einem namibischen Hirtencamp oder einem mexikanischen Bauerndorf erforschen möchte, kommt man um das Thema Globalisierung heute kaum mehr herum. Ethnologen waren davon nicht immer überzeugt: ▶▸Bronislaw Malinowski, Stammvater der ethnographischen Feldforschung und Mitbegründer des Funktionalismus, widmete der bemerkenswerten Tatsache, daß die von ihm während des Ersten Weltkriegs erforschten Bewohner der Trobriand-Inseln bei Neuguinea Cricket spielten, nur eine Fußnote. Die Trobriander haben diesen zutiefst englischen Sport auf sehr kreative Weise angepaßt. Aber für Malinowski war dies nur eine Degenerationserscheinung. ▶▸Stattdessen klagte er gleich im ersten Satz seiner berühmten Ethnographie Argonauts of the western Pacific darüber, daß der in VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 5 seinen Augen eigentliche Gegenstand der Ethnologie – das von Außeneinflüssen unverfälschte, ursprüngliche Leben der „Primitiven” – im Verschwinden begriffen war: „Ethnology is in the sadly ludicrous, not to say tragic, position, that at the very moment it begins to put its workshop in order, to forge proper tools, to start ready for work on its appointed task, the material of its study melts away with hopeless rapidity” (Malinowski 1953 [1922]: xv). Ob man dieses eigentliche Material der Ethnologie auf den Trobriand-Inseln finden konnte, war schon zu Malinowskis Zeiten sehr fraglich, denn Fernhandel, Kolonialherren und Missionare waren dort schon vor ihm angekommen, was er wie auch andere Ethnologen seiner Zeit schlichtweg ausblendete. Heutige Fachvertreter teilen Malinowskis Lamento ohnehin nur noch selten, sondern nehmen die Herausforderung an, denn auch ein namibisches Hirtencamp oder ein mexikanisches Bauerndorf ist nicht zu verstehen, wenn man die nach außen führenden und von außen kommenden Beziehungen und Einflüsse ignoriert. Globalisierung ist dabei kein neuer Teilbereich, der einfach neben die etablierten wie z. B. Wirtschaft, Sozialsystem oder Religion tritt, sondern eine Größe, die all diese Teilbereiche durchdringt. Das tut sie in unterschiedlichem Ausmaß, in Ostasien mehr als in Zentralafrika und in den Innenstädten der Metropolen mehr als in abgelegenen Dörfern. Aber das Ausmaß der globalen Einbindung wächst an den meisten Orten, und den Menschen ist dies bewußt. Sich mit den kulturellen Folgen der Globalisierung befassen heißt also nicht, ein völlig eigenes Phänomen zu betrachten, sondern eher eine bestimmte Perspektive einzunehmen. Es heißt, das in den Vordergrund zu stellen, was an Wirtschaft, Sozialsystem, Religion etc. auf Fernwirkungen aller Art und auf weltweit verbreitete Kulturströmungen zurückzuführen ist. Es heißt, auch die Grenzen aufzuzeigen, wo sich eben trotz weltweiter Kulturflüsse das Lokale behauptet oder neu konstituiert – wie wir sehen werden, oft in einer sehr komplexen Dynamik, die auch als „Glokalisierung” bezeichnet worden ist. Und es heißt schließlich auch, die weltweite Reflexion über die Globalisierung, den emischen Blick auf sie, einzubeziehen. Und genau in diese Perspektive möchte ich Sie mit dieser Vorlesung einführen. Thematischer Überblick Ich werde beginnen mit einem Überblick über die Kolonialgeschichte seit 1400. So sehr auch schon vorher Weltreiche und Fernhandel überregionale Verbindungen geschaffen haben, so ist doch durch die europäische Expansion eine neue Qualität entstanden, nämlich ein die gesamte Erde umspannendes wirtschaftliches und politisches System. Ethnologen haben zu diesem Prozeß ihre eigenen Theorien entwickelt und auch ethnohistorische Studien zu den ersten sich VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 6 entspinnenden Kontakten und zur Struktur der Kolonialgesellschaften vorgelegt. Ich werde dann zur wirtschaftlichen Globalisierung der Gegenwart übergehen und ihnen auch die wichtigsten Argumente der politischen Globalisierungsdebatte vorstellen. Den Theorien soll in dieser Vorlesung ein besonders Augenmerk gelten, und ich werde ihnen in der Folge zunächst allgemeine sozialwissenschaftliche, häufig neomarxistisch inspirierte Theorien zum modernen Weltsystem präsentieren. Daran an schließen sich die theoretischen Beiträge aus der Ethnologie, die die nicht-wirtschaftlichen Aspekte stärker in den Vordergrund stellen. Auf die großen Würfe folgt dann der Blick auf Einzelbereiche der Globalisierung und die dazu entwickelten Theorien. Dazu gehören der moderne Warenkonsum und das Fernsehen, die ja häufig besonders stark mit der Globalisierung in Verbindung gebracht werden. Dazu gehören aber auch Ethnizität und Nationalismus, also Kräfte, die gerne als der Globalisierung entgegenwirkend gesehen werden und die heute in den danach behandelten Phänomenen der Diasporagemeinschaften und des Transnationalismus eine Differenzierung und Brechung erfahren. Daran an schließt sich ein Blick auf weltumspannende Normen und Institutionen wie die der UN und ihre Interaktionen mit Nationalstaaten und Lokalbevölkerungen. Ob man die Vorstellung von der Herausbildung einer einheitlichen Weltkultur tatsächlich so leichthin ad acta legen kann, wie es viele Ethnologen tun, wird uns ebenfalls beschäftigen. Den Abschluß bildet dann ein Blick auf die allerneusten ethnologischen Globalisierungstheorien. Soviel zunächst einmal zum Gesamtplan. Die Pont-des-Arts-Affäre in Kyoto als Fallbeispiel Ethnologen leben ja bekanntlich vom Fallbeispiel, und da möchte ich mich dem Brauch beugen und ebenfalls mit einem beginnen. Es stammt aus meiner eigenen Feldforschung in der japanischen Stadt Kyoto, die von 794 bis 1868 für mehr als tausende Jahre der Sitz des japanischen Kaisers war. Dort habe ich 1998/99, 2001 und 2007 insgesamt zwanzig Monate lang die Konflikte um Stadterhaltung und Stadtentwicklung verfolgt ▶▸(die Ergebnisse kann man mittlerweile nachlesen in Brumann 2001, 2002, 2005a, 2005b, 2006). ▶▸Wegen der besonderen historischen Bedeutung der Stadt und da sie unbeschadet durch den Krieg gekommen ist, findet man hier so viel alte Bausubstanz und herausragende historische Architektur wie in keiner anderen japanischen Stadt vergleichbarer Größe, ▶▸und sie gilt mit ihren Klöstern, Schreinen, Palästen und Geishavierteln als der unbestrittene Hort der Tradition in Japan. Gleichzeitig ist Kyoto jedoch eine moderne Millionenstadt mit entsprechendem Bedarf an urbaner Entwicklung, und die Diskussionen darüber, wie sich die Geschichte der Stadt mit ihrer VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 7 Zukunft verbinden läßt, nehmen kein Ende. Über kontroverse Bauprojekte ist es dabei immer wieder zu heftigen, die Stadt spaltenden Konflikten gekommen. ▶▸Die größten Streitfälle waren der in den 1960er Jahren gebaute Kyoto Tower, ein Aussichtsturm vor dem Hauptbahnhof, und zwei Großprojekte um 1990, ▶▸das neue, postmoderne Bahnhofsgebäude von Stararchitekt Hara Hiroshi und der Neubau des Kyoto Hotel. All diese Gebäude waren nicht nur architektonisch umstritten, sondern auch, weil sie bisherige Höhengrenzen überschritten und damit die pittoreske Aussicht in die Hügel der Umgebung zu verstellen drohten. Aller Bürgerprotest konnte ihre Fertigstellung jedoch nicht verhindern. Der Plan des Bürgermeisters Mein Beispiel ist ein weiterer Konflikt aus meiner Feldforschungszeit, nämlich der um die Kopie des Pont des Arts. Diese „Brücke der Künste” steht eigentlich in Paris, wo sie seit dem Jahr 1804 vor dem Louvre die Seine überspannt. Als reine Fußgängerbrücke besteht sie aus Holzplanken und bietet Spaziergängern und Touristen Blumenkästen, Bänke zum Verweilen und einen schönen Blick über die Île de la Cité und andere Attraktionen. ▶▸Am 20. November 1996 wurde diese Brücke in Kyoto auf einen Schlag prominent. Denn da kündigte der vom Volk gewählte Bürgermeister der Stadt, Masumoto Yorikane, auf einer Pressekonferenz an, eine Kopie des Pont des Arts in Kyoto bauen zu wollen. Dies sollte mitten im Zentrum geschehen, über dem Fluß Kamogawa und an einer Stelle zwischen zwei alten Geishavierteln, die wegen des Ausblicks in die Berge und auf die traditionellen Holzhäuser am Ufer berühmt ist. Auf Kölner Verhältnisse übertragen wäre das mit dem Wunsch vergleichbar, im Altstadtbereich eine neue Brücke in chinesischem Stil zu bauen. Masumoto sagte, daß er mit dem Plan einen Vorschlag des auf Staatsbesuch weilenden französischen Präsidenten Jacques Chirac aufgreife, den er am Vorabend auf einem Empfang in Tokyo getroffen hatte. Eine Brücke an der vorgesehenen Stelle würde zur Touristenattraktion werden, und wie auch ihr Original sollte sie mit Bänken und Blumen zum Verweilen auffordern und Raum z. B. für Straßenkünstler bieten. Mit der für 1998 geplanten Fertigstellung sollte sie zudem eine Hauptattraktion des dann stattfindenden „Französische Jahr” und des gleichzeitigen Jubiläums der Städtepartnerschaft zwischen Kyoto und Paris werden. Über diesen vergleichsweise bescheidenen Plan entbrannte der bislang heftigste Stadtbildkonflikt in Kyoto. Und anders als in den vorhergehenden Fällen gelang es der sich bildenden Protestbewegung wider alles Erwarten, den Bürgermeister zum Einlenken zu bewegen. ▶▸Die ausländische Herkunft der Brücke war ein zentraler Streitpunkt, und der wichtigste Slogan der Gegner lautete „Gaikoku no hashi wa irimasen”, zu deutsch „Wir brauchen keine VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 8 ausländische Brücke” (hier vor der französischen Botschaft in Tokyo dargeboten). Man könnte also in der Affäre den Sieg von Globalisierungskritikern oder auch Nationalchauvinisten sehen, die sich erfolgreich gegen die modische Selbstunterwerfung unter alles Westliche gewehrt haben. In Wirklichkeit liegen die Dinge jedoch anders, und man kann sogar behaupten, daß es im Gegenteil gerade die Globalisierung ist, die hier gewissermaßen sich selbst besiegt hat. Da solche Komplexitäten und Paradoxien beim globalisierungsbedingten Kulturgeschehen gar nicht so selten sind, ist der Fall als Einstieg in das Thema gut geeignet. Japan und die Globalisierung Daß der französische Präsident und Masumoto sich begegnen und gemeinsam Brückenpläne schmieden können, beruht zunächst einmal auf einer großen Zahl von geteilten Voraussetzungen, die erst in den letzten 150 Jahren geschaffen worden sind. Zuvor hätten sich japanische und französische Repräsentanten gar nicht treffen können, denn das japanische Kaiserreich befolgte ab 1639 die Politik des sakoku, d. h. der bewußten Selbstisolierung gegenüber allem Verkehr mit dem Ausland. ▶▸Diese Zeit folgte auf ein knappes Jahrhundert der Handelskontakte mit Portugiesen, Spaniern, Niederländern und Briten und gewisse Erfolge christlicher Missionare aus diesen Ländern. Nach einem Aufstand christlicher Japaner verbot die Regierung aber allen Ausländern die Einreise nach Japan und allen Japanern die Ausreise, und das Christentum wurde gewaltsam unterdrückt. Nur Chinesen und die in Sachen Mission zurückhaltenden Niederländer durften weiterhin Handel treiben, letztere aber nur auf der künstlichen Insel Dejima vor Nagaski und unter strengen Auflagen. Erst nach mehr als zwei Jahrhunderten erzwangen vier USamerikanische Kanonenboote 1854 die Öffnung des Landes und den Abschluß von Verträgen, die den Kolonialmächten Handelsprivilegien garantierte. Direkt danach, als Japan ein im Weltgeschehen peripheres Land unter semikolonialen Bedingungen war, hätte sicher kein französischer Würdenträger die Notwendigkeit zu einem Staatsbesuch gesehen, von der monatelangen Reise ganz abgesehen. Das (und übrigens auch die Reisezeiten) sollte sich allerdings in den folgenden Jahrzehnten ändern, denn die japanische Regierung begann das wohl systematischste Modernisierungsprogramm eines außereuropäischen Staates. Japaner wurden zur Ausbildung nach Europa und Nordamerika entsandt und eine große Zahl ausländischer Berater und Experten nach Japan geholt. ▶▸In der zweijährigen IwakuraMission 1871-73 reiste fast die gesamte spätere Staatsspitze durch Europa und die USA, um sich dort die geeignetsten Vorbilder für Wirtschaft, Technik, Staatssystem und Wissenschaft auszusuchen, aus Frankreich z. B. die Militärorganisation, aus Deutschland das Zivilrecht usw. Im Verbund mit einem wirtschaftlichen Aufschwung wurde so in wenigen Jahrzehnten ein VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 9 moderner Staat geschaffen. Dieser besiegte in zwei Kriegen 1894/95 China und 1904/05 Rußland, um in der Folge selbst Kolonialmacht in Taiwan, Korea und der Mandschurei zu werden und im Zweiten Weltkrieg fast ganz Ostasien und Südostasien zu erobern, ein Schlag, von dem sich die dortigen Kolonialreiche der Briten, Franzosen und Niederländer nicht mehr erholen sollten. Die Übernahmen der westlichen Kultur erfolgten durchaus selektiv, das Christentum z. B. hatte nach der Landesöffnung nie großen Einfluß in Japan, ganz im Gegenteil z. B. zu Südkorea. Auch wandelte sich die materielle Kultur außerhalb der städtischen Eliten zunächst nur langsam. Seit der Kriegsniederlage 1945 und der darauf folgenden US-amerikanischen Besatzungszeit hat sich jedoch die Globalisierung des japanischen Alltagslebens stetig beschleunigt, angekurbelt durch ein Wirtschaftswunder, das selbst das deutsche in den Schatten stellt. Ich erinnere mich noch an meine eigene Ernüchterung, als ich bei meiner ersten Ankunft in Japan 1987 auf der langen Fahrt vom Flughafen hinein nach Tokyo außer ein paar Reisfeldern und den Schriftzeichen fast nichts sah, was mir in irgendeiner Weise ungewohnt erschien. ▶▸Japan hat sämtliche politischen und wirtschaftlichen Institutionen einer modernen Industrienation und eine materielle Kultur, die in vielem mit unserer identisch ist. In den Schulen wird von der japanischen Sprache, Literatur und Geschichte abgesehen weitgehend dasselbe unterrichtet wie bei uns, und McDonald’s, Coca-Cola und Microsoft sind ebenso präsent. Und verglichen mit früheren Jahrzehnten trifft es immer weniger zu, dies mit Verwestlichung oder Amerikanisierung zu bezeichnen. Denn Japan trägt selbst mit Sushi und Walkmans, Anime und Futons zu dem bei, was man eine globale Kulturschicht nennen kann. ▶▸Dem politischen und kulturellen Austausch zwischen Frankreich und Japan stehen damit kaum größere Hindernisse entgegen als etwa dem zwischen Frankreich und Deutschland. Man muß länger reisen, und es gibt weniger Menschen, die beide Sprachen beherrschen. Aber es handelt sich um eine Reise über Nacht, nicht über Monate. Die Staatssysteme sind bis hinunter auf die Gemeindeebene vergleichbar, der friedliche Kulturaustausch über Ländergrenzen hinweg ist als Wert beidseitig anerkannt, der demokratische Druck auf Politiker, sich hier zu profilieren, besteht in beiden Ländern, und es besteht Einigkeit, daß Bauprojekte wie eben eine Brücke Symbole der Völkerverständigung sein können. Die globalisierungsbedingte Vereinheitlichung der politischen Kultur war also deutlich eine Voraussetzung für die Geschehnisse. Globalisierung und die Pont-des-Arts-Befürworter Neben diesem allgemeinen Globalisierungshintergrund spielten aber auch konkrete soziale Fernbeziehungen eine Rolle. Chirac war als Japan-Fan bereits mehrmals in Kyoto gewesen, und VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 10 unter den französischen Organisatoren des Frankreich-Jahrs in Japan, denen eine Informantin die Brückenidee zuschrieb, konnten einige Japanisch und hatten lange in Japan gelebt. In Kyoto wiederum gibt es ein französisches Kulturinstitut und in dessen Umfeld einen Kreis von frankophilen Kyotoern, darunter der Chef der Industrie- und Handelskammer, ▶▸Tsukamoto Kôichi, den viele meiner Informanten als den Einflüsterer des noch nicht lange amtierenden Bürgermeisters sahen. Denn dieser Tsukamoto hatte die einzige europäische Filiale seines Damenwäscheunternehmens in Frankreich. Da er bereits einen Orden der französischen Regierung erhalten hatte, sah er die Unterstützung des Brückenprojekts – so das Gerücht – als eine Art Dankeschön. Globale soziale Beziehungsnetzwerke waren also ebenfalls beteiligt. Diese Netzwerke wurden sicherlich dadurch befördert, daß beide Städte gerne als historische Metropolen der Eleganz und des guten Geschmacks wahrgenommen werden, man sich also gewissermaßen unter Gleichgesinnten bewegte. Das hat auch in der Vergangenheit dazu geführt, daß Paris wiederholt zum Vorbild für stadtplanerische Projekte in Kyoto genommen wurde. Gerade erst war z. B. bei der Neugestaltung einer der Hauptstraßen ausdrücklich von den „Champs-Elysées von Kyoto” gesprochen worden. Hier wird die Globalisierung selektiv, denn auch in meinen eigenen Befragungen konnte ich feststellen, daß eine ganze Reihe von Kyotoern eher Affinitäten zu Europa als zu den USA haben. Die Kyotoer sehen sich gerne in einer Art interner Opposition zum Hauptstadtnachfolger Tokyo, und das impliziert häufig auch eine Ablehnung des mit diesem modernen Zentrum verbundenen kulturellen Mainstreams. Zu diesem Mainstream gehört die in Japan dominante Orientierung an den Vereinigten Staaten. Ich halte es daher nicht für abwegig, daß das Europa- und speziell das Frankreichfaible mancher Kyotoer, also eine selektive Globalisierung, teilweise dieser landesinternen Rivalität geschuldet ist. Globalisierung und die Pont-des-Arts-Gegner Auch wenn also vielleicht nicht in der in Japan konventionellsten Form, so war es damit trotzdem ein Stück Globalisierung, das mit der Brücke verwirklicht werden sollte. ▶▸Doch die Brückengegner operierten nicht minder unter Umständen und mit Mitteln, die mit der Globalisierung in Verbindung stehen. Das beinhaltete auch bei ihnen soziale Beziehungen über große Distanzen hinweg. In der Protestbewegung waren einige Ausländer engagiert, die in Kyoto leben. Einer von ihnen, ein amerikanischer Gartenarchitekt mit besonders flüssigem Japanisch, wurde bewußt auf jedes Diskussionspodium gesetzt, um das Ausmaß der internationalen Unterstützung zu demonstrieren. Auch wandten sich die Gegner an prominente Kyoto-Freunde in Übersee, bei denen sie Unterschriften in großer Zahl sammelten. Unter den Kyotoer Brückengegnern waren es gerade Leute mit besonderer Verbindung zu Frankreich wie etwa VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 11 Professoren für Romanistik, die sich engagierten, teilweise aus der ausdrücklichen Sorge um die gegenseitigen Beziehungen. Und auch insgesamt hatten die zentralen Aktivisten der Protestbewegung eher mehr Auslandserfahrung und –verbindungen als der Bevölkerungsdurchschnitt. ▶▸Die globalisierten sozialen Beziehungen spielten auch in der Folge insofern eine Rolle, als sich französische Akteure an der Diskussion in Kyoto beteiligten. Die eigentliche öffentliche Debatte wurde nämlich erst ein gutes halbes Jahr nach der Ankündigung durch den Bürgermeister eröffnet, und zwar durch einen Zeitschriftenartikel in Le Monde. Dort berichtete nämlich ein französischer Journalist auf der Titelseite über den Unmut, den Chiracs Vorschlag in Kyoto ausgelöst hatte. Darüber berichteten dann ihrerseits die Kyotoer Zeitungen und Lokalseiten, und erst dann entspann sich auch in den einheimischen Medien eine intensive Diskussion über das Für und Wider des Brückenplans. Nicht zuletzt deshalb sahen sich schließlich auch Präsident Chirac und Premierminister Jospin genötigt, sich zu äußern. Beide vermieden eine deutliche Parteinnahme und betonten, daß der Brückenbau natürlich vollständig der demokratischen Entscheidung der Kyotoer überlassen bleibe. Zum schlußendlichen Rückzug des Projekts im August 1998 äußerten sie sich nicht, aber einige Monate später erschien als letzte französische Intervention ein Zeitungsinterview mit einer der französischen Organisatorinnen des Frankreich-Jahres in Japan, die nicht verstehen konnte, daß die gute Idee so wenig Anklang gefunden hatte. Der Globalisierungsaspekt des Brückenprojekts war für die Gegner ein wesentlicher Grund für dessen Ablehnung. Das recht unverblümte „Wir brauchen keine ausländische Brücke” war wie schon gesagt der Hauptslogan der Protestbewegung. Einige der Aktivisten sagten mir allerdings, daß ich das nicht mit Nationalismus verwechseln dürfe, eher ginge es ihnen darum, daß Kyoto eben Kyoto bleiben solle und Paris Paris. Bewußte Globalisierung zeigte sich auch in einer Art Globalisierungshumor. ▶▸So war etwa auf einem Plakat eine Kyotoer Brücke per Fotomontage in eine Pariser Szenerie gestellt. Und einer der Kulturschaffenden, die auf einen Unterschriftenaufruf reagierten, fragte ironisch, ob man jetzt auch neben dem Arc de Triomphe eine buddhistische Tempelpagode erwarten dürfe. Ein anderer verglich das Unternehmen mit ochazuke mit Mayonnaise. ▶▸Ochazuke ist das traditionelle Kyotoer Frühstück – Restreis vom Vortag, ein paar Pickles und darüber grüner Tee. Dazu paßt Mayonnaise ungefähr so gut wie Ketchup auf Sushi. Globalisierung in der Renaissance der Flußufer Bis hierhin handelt es sich bei den Globalisierungsaspekten um solche, die vermutlich jedem als VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 12 solche bewußt waren, aber es gibt noch drei weitere in meinen Augen wichtige, die längst nicht so sehr ins allgemeine Bewußtsein drangen. Der erste ist die Tatsache, daß der Bürgermeister die Wahrnehmung des von dem Brückenbau betroffenen Raums nicht richtig eingeschätzt hat. ▶▸Der Kamogawa ist gewöhnlich kein besonders breiter Fluß, und meist reicht er einem kaum bis zu den Knien. Ein paar Stunden Regen reichen aber aufgrund der zerklüfteten Topographie Japans, um ihn in einen reißenden Strom zu verwandeln. Heute ist der Fluß mit Deichen weitgehend eingedämmt. Früher aber konnte man ihn kaum bändigen, so daß den Flüssen breitere, die meiste Zeit aber dann trockene Betten gelassen wurden. Dort wohnte bloß, wer es nicht vermeiden konnte, so etwa Peripatetiker und die Angehörigen anderer verachteter Berufe wie etwa Bestatter, Abdecker, Lederverarbeiter, Träger, Gärtner u. ä. Ansonsten fanden in den trockenen Betten Theatervorführungen und andere Volksbelustigungen statt, und die Ufer des Kamogawa dienten auch als Richtstätte. Aus der Sicht der ehrbaren Bürger handelte es sich beim Fluß und seinen Ufern also um einen Un-Ort und eine Quelle der physischen und moralischen Risiken. Das setzt sich zum Teil bis heute fort, wo immer noch die Viertel der Nachfahren der früheren Ausgestoßen – der sogenannten burakumin – an den Ufern liegen und viele japanische Städte den Flüssen ihren Rücken zukehren und sie mit Fabriken und ähnlichem zustellen. In westlichen Ländern ist das lange auch nicht anders gewesen, doch ist es hier zu einer Wiederentdeckung der Flußufer gekommen, und überall in den Städten Europas und Nordamerikas gibt es jetzt waterfront-Projekte, wo alte Hafen- und Industriegebäude für neue Wohn- und Vergnügungszwecke umfunktioniert werden. In Köln entsteht am Rheinauhafen unsere eigene Version, und der durch Untertunnelung geschaffene Rheingarten vor der Altstadt ist die Frühphase dieser Entwicklung. Auch dort wurde aus einem reinen Nutzraum für den Autoverkehr und noch früher die Köln-Bonner Eisenbahn ein Flanier- und Konsumierraum, mit dem Fluß als einer Hauptattraktion. Dieser globale Trend hat durch die wachsende Reisefreude der Japaner und durch die intensive Beschäftigung der Stadtplaner mit euroamerikanischen Vorbildern inzwischen auch Japan erreicht. ▶▸In Kyoto war der Kamogawa bereits auf großen Teilen seines Laufes mit Spazierwegen ausgestattet worden, die von den Kyotoern auch rege in Anspruch genommen werden. Auch am geplanten Bauplatz war der Ausbau des einen Flußufers mit einem Spazierweg gerade mitten im Gange. Ich vermute, daß durch diese Entwicklung einer großen Zahl von Kyotoern der Kamogawa wieder vertraut geworden ist, und zwar gerade auch als Naturraum, denn er bietet Schilf und andere Pflanzen, im flachen Wasser staksende Reiher, Möven, Fische etc. Dazu trägt sicher auch in Japan ein gewachsenes Umweltbewußtsein bei, das wiederum zum Teil eine globalisierungsbedingte Übernahme ist und seinen Ausdruck in einer gerade in Kyoto VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 13 besonders großen Zahl von Umweltgruppen und -initiativen findet. Der Kamogawa ist also für viele Kyotoer nicht mehr einfach nur ein Leerraum oder sogar ein Anti-Raum, den man mit jeder beliebigen Zutat eigentlich nur verschönern kann, sondern ein positiv bewerteter Erlebnis- und Naturraum, in dem eine neue Brücke zunächst einmal ein Eindringling ist. Diesen Aspekt hat der Bürgermeister sicherlich unterschätzt. Auch erwuchs ihm dadurch ein schlagkräftiger Gegenspieler, denn die Kyotoer Umweltgruppen sind recht gut organisiert und hatten in den vorangegangen Jahren im Kampf gegen Staudämme und Golfplätze durchaus ihre Erfolge gefeiert. Daß mit dem Fluß ein als natürlich definierter Raum berührt war, zog diese Aktivisten in die Debatte hinein, aus der sich bei einem gewöhnlichen städtischen Bauprojekt sicher herausgehalten hätten. Der Bürgermeister übersah also die gerade stattfindende Neubewertung der Flüsse und des Kamogawa, die ganz deutlich globalisierungsbedingt ist. Globalisierung in der Ideologie des künstlerischen Originals Ein zweiter wenig offenkundiger Aspekt ist der Umstand, daß die allgemeine Empörung über eine Brückenkopie ebenfalls globalisierungsbedingten Entwicklungen entspringt. Besonders Künstler und sich mit dem Kunstgedanken identifizierende Bürger brachte die Idee, einfach eine bestehende Brücke nachzubauen, besonders auf. Die Protestbewegung nutzte dies einerseits mit dem erwähnten Appell speziell an die Kulturschaffenden in ganz Japan aus, und tatsächlich äußerten sich viele von diesen gerade gegen den Kopieaspekt. Andererseits stammten auch viele der lokalen Aktivisten aus solchen Kreisen. Bei einer der beiden hauptsächlichen Protestinitiativen hatte meiner Erhebung zufolge nicht weniger als die Hälfte der Mitglieder beruflich mit Kunst, Kunsthandwerk oder anderen kreativen Betätigungen zu tun bzw. eine professionelle Ausbildung in einem dieser Bereiche. Und gerade diese Mitglieder waren es, die auf den Kopieaspekt besonders allergisch reagierten. Deutlich zu sehen ist das an den Resultaten einer von mir durchgeführten schriftlichen Befragung dieser Protestinitiative. Wie sie zeigt, wurden sehr viele Punkte an der geplanten Brücke als problematisch empfunden, und unter diesen rangierte der Kopieaspekt eher im Mittelfeld, hinter anderen wie dem dubiosen Entscheidungsprozeß oder dem negativen Einfluß auf das Stadtbild. Der Kopieaspekt ist aber interessanterweise der Punkt, der die Informanten am meisten spaltete. Sie tendierten dazu, entweder gar kein Problem oder aber ein besonders großes Problem darin zu sehen, daß die Brücke eine Replik war, und das unabhängig von der Frage, wie sie die ausländische Herkunft der Brücke sahen. Wenn man dies in Verbindung mit der Variablen „kreativ tätig oder nicht” bringt, ergibt sich ein statistisch signifikanter VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 14 Zusammenhang: Die Mitglieder mit kreativem Hintergrund sahen tendenziell ein großes Problem, die ohne einen solchen Hintergrund kein Problem. Ich erkläre mir dies folgendermaßen. Die meisten der kreativ tätigen Mitglieder der AntiPont-des-Arts-Initiative sind in den westlich geprägten künstlerischen und gestalterischen Genres tätig, sie machen also z. B. gewöhnliche moderne Kunst statt traditioneller japanischer Malerei oder entwerfen als Architekten Neubauten im westlichen Stil. Damit sind sie aber in ihrer Ausbildung auch unausweichlich mit der Ideologie vom künstlerischen Original in Berührung gekommen. Im Mittelalter waren die Tafelbilder noch unsigniert, und Stilelemente wurden relativ frei übernommen. Doch seit der Renaissance galt es immer stärker, Künstler statt Handwerker zu sein, also ein schöpferisches Individuum, das nicht imitiert oder plagiiert, sondern seine eigene Persönlichkeit auf unverwechselbare Weise in originalen Kreationen zum Ausdruck bringt. Dies ist eine Ideologie, die in allen westlichen Kunstformen bestimmend ist, auch von den Praktikern in vielen angewandten Bereichen (wie etwa Design oder Fotografie) sowie von Kunstkritikern und Kunsthistorikern geteilt wird. Diese Ideologie vom künstlerischen Original ist auch in der traditionellen japanischen Kunst nicht unwichtig, doch sind es hier oft nicht weniger als die Schöpfer prominente vormalige Eigentümer, die z. B. einer alten Teeschale der Spitzenklasse ihre unverwechselbare Individualität verleihen. Daß also die zahlreichen Künstler in der Protestbewegung die Brücke als eine Art Fälschung ablehnten, ist also zumindest in gewissem Maße eine Folge der Globalisierung, wiederum eine eher unbewußte. Auch für diese Informanten waren letztendlich andere Aspekte der Pont-desArts-Kopie problematischer, allen voran der politische Entscheidungsprozeß. Hätte es sich aber um ein ganz gewöhnliches politisches Problem gehandelt, bezweifle ich sehr, daß sich die meisten von ihnen engagiert hätten. Globalisierung in der politischen Kultur Am folgenschwersten hat sich die Globalisierung aber in einem dritten ebenfalls eher unbewußten Punkt ausgewirkt. Sie hat nämlich konventionelle Modelle japanischer Politik herausgefordert und neue politische Akteure und Formen ins Spiel gebracht, die deutlich durch internationale Entwicklungen und Vorbilder angeregt sind. Die parlamentarische Demokratie ist nicht in Japan entstanden, sondern ihrerseits aus dem Ausland übernommen. Der spezifisch japanische Zug liegt in der Umsetzung, und die erfolgte zunächst recht zögerlich. In der Vorkriegszeit hatten die Parlamente wenig zu sagen, und erst nach dem Krieg erhielten die Frauen das Wahlrecht, und ein vollgültiges parlamentarisches System mit Parteien als Hauptakteuren etablierte sich. Doch in einem anderen Punkt herrschte VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 15 Kontinuität gegenüber der Vorkriegszeit, nämlich in der großen Bedeutung der Exekutive gegenüber der Legislative, d. h. der Verwaltung gegenüber den Parlamenten. In den Augen vieler Japaner wird das Land von den Ministerialbeamten regiert, während die gewählten Politiker und auch die Minister oft nur wenig Sachverstand besitzen und mehr damit beschäftigt sind, ihre Wahlkreise durch die Beschaffung staatlicher Subventionen und Bauprojekte bei Laune zu halten. Ohnehin ist die gegenwärtig regierende Liberaldemokratische Partei (LDP) fast über die gesamte Nachkriegszeit an der Macht gewesen. Gerade ihr wird häufig nachgesagt, daß sie außer einem generellen Konservatismus und der Unterstützung der Partikularinteressen ihrer Wählerschaft – Groß- und Kleinunternehmer sowie die Landbevölkerung – kaum ein nennenswertes Parteiprogramm hat. In der japanischen Lokalpolitik ist diese Tendenz zur programmbefreiten Politik eher noch bestimmender. Hier beherrschen oft große Koalitionen vieler oder aller Parteien den Gemeindeoder Präfekturrat und nominieren einen gemeinsamen Kandidaten für die direkt vom Volk gewählten Bürgermeister- und Präfekturgouverneursämter, der dann auch gewählt wird. Die Kandidaten sind selbst oft ehemalige Verwaltungsbeamte, meist aus den nationalen Ministerien, und sehen ihre Aufgabe darin, ihre alten Kontakte zum Nutzen der eigenen Präfektur oder Gemeinde einzusetzen. Es handelt sich also um ein klientelistische, sehr stark von persönlichen Netzwerken geprägte Struktur, und diese setzte sich auch auf der Seite der Anhänger fort. Denn Wahlkampfmittel aus Steuergeldern gibt es in Japan nicht, und so sind potentielle Bürgermeister und Präfekturgouverneure auf Spenden und logistische Unterstützung ihrer Anhänger angewiesen. Wer sich aber dort engagiert, hofft auf Gegenleistung, nämlich auf eine privilegierte Berücksichtigung der eigenen Wünsche und Sorgen, sobald der Kandidat siegreich ins Amt eingezogen ist. Insgesamt muß dies gar nicht einmal bedeuten, daß ein Bürgermeister für Bürgerwünsche unerreichbar ist, denn zu irgendeiner der diversen Unterstützergruppen und –organisationen gehört oft fast jeder. Es ist aber trotzdem eine Politik der Hinterzimmer und der persönlichen Loyalitäten, die so gefördert wird, und keine der öffentlichen Debatte über Sachfragen. In den späten 60er und 70er Jahren hat sich dieses traditionelle Modell japanischer Lokalpolitik aufgeweicht, als viele Bürgerinitiativen gegen Umweltverschmutzung entstanden und linke Kandidaten in die Rathäuser der Millionenstädte einzogen. In den 80ern und 90ern ist das traditionelle Modell aber vielfach zurückgekehrt. Für Kyoto gilt dies ebenfalls. Bürgermeister Masumoto ist von Haus aus Verwaltungsbeamter. Vor jeder Wahl wurde er von allen im Stadtrat vertretenen Parteien außer den in Kyoto starken Kommunisten und von einer großen Zahl von Interessen- und Berufsverbänden in ziemlich VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 16 ritualisierter Weise über Wochen hinweg öffentlich zur neuerlichen Kandidatur gedrängt, bis er dann irgendwann nachgab. Ist ein Amtsträger dann jedoch wiedergewählt, muß er auf die Interessen dieses Unterstützerkreises Rücksicht nehmen, während das gewöhnliche Volk ihn ja bereits direkt gewählt und damit auch zu eigenmächtigen Entscheidungen autorisiert hat. Genauso darf man es sich auch bei der Pont-des-Arts-Kopie vorstellen. Es ist wahrscheinlich, daß sich der gerade erst ins Amt gelangte Bürgermeister bereits im Vorfeld mit seinen wichtigsten Verbündeten abgesprochen haben, darunter Figuren wie Tsukamoto, und auch zwischen Paris und Kyoto wird es vorbereitende Kontakte gegeben haben. Aber diese Diskussion war eben privatissime, und der Öffentlichkeit wurde nur der einsame und angeblich spontane Beschluß des Bürgermeisters präsentiert, nach nur einer Nacht auf Chiracs Vorschlag hin getroffen. Diese Eigenmächtigkeit brachte viele Kyotoer gegen den Plan auf, gerade auch, weil die offizielle Zielsetzung für das Verhältnis von Bürgermeister, Verwaltung und Bürgern eine ganz andere ist. ▶▸Da wird die Stadtverwaltung nämlich nicht müde, wie auch andere Verwaltungen in Japan das Schlagwort pâtonashippu zu betonen. Dies ist wiederum ein Stück Globalisierung, denn es ist das englische Wort „partnership”, das hier übernommen wurde, und zu einem guten Teil auch der Geist dahinter, nämlich mehr Bürgerdialog und Bürgerengagement in Zeiten leerer öffentlicher Kassen und eine Abkehr von früheren Verhältnissen, wo der Verwaltung mit Ehrerbietung begegnet wurde. Der Bürgermeister war selbst einer der eifrigsten Verfechter dieses Modells und vergaß nie, es in seinen Ansprachen zu erwähnen. Um so schlechter kam es an, daß er in der Frage der Brückenkopie so offensichtlich dagegen verstieß. ▶▸Hier war es also gerade nicht das Importmodell der „partnership”, sondern das heimische Modell der Klientelpolitik, das der vermeintliche Globalisierungsfreund, nämlich der Bürgermeister, befolgte. Dagegen waren es die vermeintlichen Globalisierungskritiker, nämlich die Brückengegner, die auf aus dem Ausland übernommene Strategien zurückgriffen. Der der kommunistischen Partei nahestehende Flügel der Protestbewegung setzte einerseits zwar eine Reihe von traditionellen und nicht mehr besonders aufregenden Mitteln ein. ▶▸Dazu gehören Kundgebungen vom Lautsprecherwagen aus, Unterschriftensammlungen und Petitionen, oft über parteinahe Gewerkschaften und andere Berufsverbände organisiert. ▶▸Doch bildete er andererseits bei einer Kundgebung eine Menschenkette um den geplanten Bauplatz. Damit griff dieser Flügel ein von der japanischen Antiatomkraftbewegung importiertes politisches Werkzeug auf, übrigens ein deutscher Beitrag zur Globalisierung, der von der Friedensbewegung Anfang der 1980er Jahre entwickelt wurde. ▶▸Legendär ist etwa die 1983 gebildete, 108 km lange Menschenkette zwischen amerikanischen Militäreinrichtungen in Stuttgart und Neu-Ulm. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 17 Mehr öffentliche Aufmerksamkeit erhielt allerdings der andere Flügel der Protestbewegung, der bewußten Abstand zu politischen Parteien hielt. Diese ist eine für japanische Bürgerinitiativen neue Strategie, die sicherlich vom großen Erfolg international tätiger Organisationen wie Greenpeace oder Amnesty International inspiriert ist. ▶▸Dieser Flügel baute auf das für Japan neue politische Ideal der direkten Demokratie. Bürgerentscheide sind ja bei in den meisten deutschen Gemeinden und in einigen Bundesländern zulässig, und in der Schweiz oder in der US-amerikanischen Lokalpolitik spielen sie eine sehr große Rolle. In Japan waren Volksabstimmungen jedoch damals noch etwas Neues. Zwar sehen die Gesetze diese Möglichkeit auf Gemeindeebene durchaus vor, doch sind Stadtrat und Bürgermeister weder dazu verpflichtet, einen von den Bürgern beantragten Bürgerentscheid durchzuführen, noch dazu, sich an sein Ergebnis zu halten. Doch nachdem der Brückenplan alle politischen Entscheidungsgremien bereits glatt durchlaufen hatte, erschien das Werben um eine Volksabstimmung dem parteifernen Protestflügel als seine einzige Chance. Die Globalisierung war in diesem Fall besonders offenkundig, denn auf den öffentlichen Treffen wurden Vorträge darüber gehalten, wie denn Bürgerentscheide in den USA oder der Schweiz ablaufen. Hier war auch eine Art evolutionistisches Globalisierungsmodell wirksam. Die unausgesprochene, aber doch breit geteilte Annahme von der politischen Fortschrittlichkeit des Westens erhöhte das Prestige der Volksabstimmung und brachte ein besonders großes Medienecho. ▶▸Nach einigen schlechten lokalen Wahlergebnissen und Kritik auch von seinen gewöhnlichen Unterstützern blieb dem Bürgermeister schließlich nichts anderes übrig als der Rückzug des Pont-des-Arts-Plans, den er im August 1998 verkündete. Das machte in ganz Japan und sogar weltweit bis z. B. in die Frankfurter Allgemeine Zeitung Schlagzeilen – wiederum Globalisierung –, und die Protestinitiativen feierten einen Erfolg, an denen viele ihrer Mitglieder anfangs selbst nicht geglaubt hatten. Nach erfolgter Wiederwahl machte der Bürgermeister einen neuen Anlauf, nun für eine gewöhnliche, nicht mehr französische Fußgängerbrücke. Aber was vorher in den genutzten Kontakten, Strategien und Argumentationen so globalisiert gewesen war, endete nun als extrem lokale Angelegenheit: Die Anwohner des einen Flußufers, die die Brücke wollten, und die des anderen Ufers, die sie nicht wollten, manövrierten sich in eine Pattsituation hinein, und nach dem Abtritt des Bürgermeisters vor wenigen Monaten besteht der Planungsentscheid für eine Fußgängerbrücke an der besagten Stelle zwar weiterhin, aber sie ist nach wie vor nicht gebaut. Fazit Um zu rekapitulieren: Der Aufstieg und Fall der Pont-des-Arts-Kopie sieht zunächst wie ein VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 18 Scheitern der Globalisierung aus, bei dem sich die lokale Bevölkerung gegen den Import eines Stücks westlicher Kultur wendete und damit schließlich auch Erfolg hatte. Zum Teil wurde der Konflikt auch ganz bewußt so aufgefaßt und dargestellt. Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, daß Befürworter und Gegner gleichermaßen an der Globalisierung teilhatten und sich aus dem Ausland kommender Kontakte, Konzepte und Bezugsrahmen bedienten. Zum Teil geschah dies ganz gezielt, zum Teil aber auch in weniger bewußter Form. Zu den letzteren Folgen einer unbewußten Globalisierung rechne ich die Umdeutung von städtischen Flußlandschaften zu Natur- und Flanierräumen, die den Kamogawa in neuem Licht erscheinen ließ, und die Ideologie des künstlerischen Originals, die eine bloße Kopie inakzeptabel machte. Am gewichtigsten waren jedoch neue politische Formen, vor allem die der bewußt parteifernen Bürgerinitiative und des Bürgerentscheids, die aus dem euroamerikanischen Ausland importiert wurden. Wenn also die Globalisierung obsiegte, dann hier, wo der der Bürgermeister mit seinem eher traditionell-japanischen Amtsverständnis – Absprache mit seinen treuen Unterstützern, aber dann autokratische Entscheidung ohne öffentliche Beteiligung – schließlich scheiterte. Wie bei alledem deutlich geworden sein sollte, sind die Übernahmen selektiv, und verschiedene Akteure suchen sich in der globalen Ferne unterschiedliche Anknüpfungspunkte aus. Der Bürgermeister vereinnahmte Chirac, die Protestbewegung den Journalisten von Le Monde, der gegen Chiracs Vorschlag anschrieb. Die Stadtverwaltung übernahm das Konzept der „partnership” (auch wenn sich der Bürgermeister nicht daran hielt), die Kommunisten die Menschenkette, die parteifernen Brückengegner die Volksabstimmung. Nichts davon ist zwingend, in allen Fällen liegt dem vielmehr eine bewußte Entscheidung für bestimmte Alternativen statt eben anderen möglichen Alternativen zugrunde. Und diese oftmals auch ausgiebig reflektierte Entscheidung entspringt den konkreten, ganz und gar lokal bestimmten Bedürfnissen der sozialen Akteure. So viel zur Pont-des-Arts-Affäre, viele der angesprochenen Aspekte werden uns wiederbegegnen. Beim nächsten Mal werde ich mit einem Kolonialgeschichte als Wegbereiter der Globalisierung fortfahren. Überblick über die VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 19 Teil II: Die europäische Expansion Der Kolonialismus als neues Zeitalter Nach dem inhaltlichen Überblick und dem Fallbeispiel der letzten Woche möchte ich heute die historischen Grundlagen der Globalisierung behandeln. Globalisierung ist zwar ein vergleichsweise neues Wort, doch Kontakte und Austausch über große Entfernung sind keineswegs bloß ein rezentes Phänomen. ▶▸So errichteten beispielsweise die Phönizier oder Phöniker ab dem 9. Jh. vor Chr. ein das ganze Mittelmeer überspannendes Handelsnetzwerk. Dessen Zentrum bildeten anfangs Stadtstaaten wie Tyros, Biblos oder Sidon im Küstengebiet von Libanon und Israel, aber die Kolonien erstreckten sich bis nach Spanien und Marokko, und Karthago im heutigen Tunesien wurde im Westen des Mittelmeers zum mächtigsten Zentrum der Phönizier, die dort als Karthager oder Punier bekannt waren. Herodot schreibt einer phönizischen Flotte sogar eine um ca. 600 v. Chr. im Auftrag des ägyptischen Pharao Necho II. unternommene Umseglung Afrikas zu, die drei Jahre gedauert haben soll. Auch in anderen Weltgegenden sorgte der Warenverkehr wie etwa über die Seidenstraße für vielfältige Kulturkontakte. Im Shôsôin, einem im 8. Jahrhundert errichteten kaiserlichen Speicherhaus in der damaligen japanischen Hauptstadt Nara, finden sich Objekte aus der ganzen eurasischen Welt, bis hin zu einem römischen Glasgefäß, das über fast 10.000 Kilometer dorthin gelangt ist. ▶▸Auch in den großen Weltreichen kam es zu vielfältigem kulturellen Austausch und Synkretismus, und Städte wie Rom, Alexandria, Bagdad oder die Hauptstadt Chinas in der TangZeit, Chang’an – das heutige Xian, bekannt für die dort ausgegrabene Terracotta-Armee – waren zu ihren Blütezeiten ausgesprochen multiethnisch. Und im europäischen Mittelalter sorgten Pilgerorte wie Santiago de Compostela, Rom oder auch Köln mit den Dreikönigsreliquien im Dom ebenfalls dafür, daß sich Menschen mit ganz verschiedenen Herkunftsorten begegneten. Der Arbeitsmarkt für begabte Künstler und Kunsthandwerker war damals international: Der berühmten Kölner Malerschule gehörten viele Immigranten aus den Niederlanden, Frankreich oder Italien umfaßt, und niemals wieder war die europäische Kunst stilistisch so einheitlich wie um 1400. Auch die Kleriker verkehrten über alle Reichsgrenzen hinweg, begünstigt durch Latein als gemeinsame Sprache. Neu an der Entwicklung seit etwa 1400 ist allerdings, daß diese ein nach und nach die ganze VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 20 Welt einbeziehendes politisches und wirtschaftliches System geschaffen hat, nicht mehr mit einem einzigen Machtzentrum wie in den Weltreichen oder wie im Fall der Seidenstraße ganz ohne politische Integration, sondern unter der Herrschaft einer kleineren Zahl von konkurrierenden Staaten, die jeder Gebiete auf mehreren oder sogar allen Kontinenten kontrollierten. Die meiste Zeit war dieses System eines der kolonialen Herrschaft, und ich möchte Ihnen daher zunächst einen Überblick über die koloniale Geschichte geben, bevor wir uns dann mit den kulturellen Seiten dieses Prozesses und den dazu entwickelten ethnologischen Perspektiven beschäftigen. Die Staaten außerhalb Europas, die niemals Kolonie gewesen sind, lassen sich an zwei Händen abzählen. In Afrika sind es Liberia und – mit Einschränkungen – Äthiopien, in Asien Afghanistan, der Iran, Nepal, Thailand, China und Japan. Auch von diesen Staaten entging keiner der massiven politischen und wirtschaftlichen Einflußnahme der Kolonialmächte. Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren nicht weniger als 84 Prozent der globalen Landfläche ehemaliges oder aktuelles Kolonialgebiet. Euroamerikanische oder japanische Fremdherrschaft gehört damit für fast die gesamte Welt zur geschichtlichen Erfahrung und hat überall tiefe Spuren hinterlassen. Es lassen sich drei hauptsächliche Phasen der Kolonialgeschichte unterscheiden. Eine erste dauerte von kurz nach 1400 bis etwa 1800. Europäische Flächenkolonien größeren Ausmaßes entstanden damals nur in Nord- und Südamerika, während in der restlichen Welt meist nur Handelsstützpunkte unterhalten wurden. Die zweite Phase reicht von etwa 1800 bis zum Ersten Weltkrieg. Während die meisten amerikanischen Kolonien hier bereits unabhängig wurden, kamen neue Flächenkolonien in Afrika und Asien hinzu, und im Zeitalter des Hochimperialismus teilten Ende des 19. Jahrhundertes eine wachsende Zahl europäischer Mächte, die USA und Japan die Welt unter sich auf. Die dritte Phase seit dem Ersten Weltkrieg brachte die Dekolonisierung, die Ende der 1960er Jahre im wesentlichen abgeschlossen war. Letzte Reste der Kolonialreiche bestehen allerdings bis heute fort. Das Europa des ausgehenden Mittelalters war keineswegs ein zwingender Kandidat für die Weltherrschaft. Technologisch und wissenschaftlich war es eher Empfänger der Innovationen, die aus dem Nahen Osten, Indien und China herübergelangten, gerade auch in den für die Kolonisierung wichtigen Bereichen wie Kartographie, Navigation, Schiffbau und Waffentechnik. ▶▸Eines dieser mächtigen asiatischen Reiche ging selbst auf Entdeckungsfahrt: Riesige chinesische Schiffe unter dem Admiral Zheng He unternahmen zwischen 1405 und 1433 insgesamt sieben Reisen in den Pazifik und den Indischen Ozean, wobei sie sogar Ostafrika erreichten. Bis weit in das Kolonialzeitalter hinein standen Teile Europas unter der militärischen VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 21 Bedrohung der Mongolen und später der Türken. Außerdem kam es nach 1300 zu einer Krise des europäischen Feudalismus. Befördert durch eine klimatische Abkühlung und Epidemien wie die Pest gelangte die landwirtschaftliche Entwicklung an ihre Grenzen, und die Konjunktur lahmte. Die Lösung für diese Probleme war die Expansion, und in nicht geringem Maße verdankt sie sich paradoxerweise der Tatsache, daß Europa vergleichsweise schwach und politisch zersplittert war. Hätte nicht das Osmanische Reich das östliche Mittelmeer kontrolliert, wären Colón oder Vasco da Gama nicht auf die Suche nach einem Seeweg nach Indien gegangen. Noch 1683, als die Kolonialreiche bereits wuchsen, belagterte ein türkisches Heer die Stadt Wien, und Wäre Europa ein geeintes Reich gewesen, wären mehr Energien in die Verteidigung und Absicherung des Territoriums geflossen. Genau mit diesem Zusammenhang wird gemeinhin die Tatsache erklärt, daß die chinesische Regierung nach den Fahrten Zheng Hes keine weiteren Expeditionen ausrüstete. Das Reich der Ming-Kaiser zusammenzuhalten, war aufwendig genug, und zudem gab es in diesem Reich so gut wie alles, was wirtschaftlich interessant war. Europa aber war zersplittert, und seine einzelnen oft recht kleinen Staaten hatten durchaus vitalen Bedarf an exotischen Handelswaren. Und so war es denn solch ein kleiner, aber am Rande Europas günstig gelegener Staat, nämlich Portugal, der die europäische Expansion einläutete. Die frühen Kolonialreiche Portugal Portugal hatte sich als Staat frühzeitig konsolidiert, war relativ stark urbanisiert und hatte ein am Handel interessiertes aufstrebendes Bürgertum, litt aber unter Versorgungsengpässen bei Grundnahrungsmitteln und Gewürzen sowie unter einem Mangel an Gold und Silber, also Edelmetallen, die man in Afrika vermutete. Der religiöse Kampf gegen die damals ja noch gar nicht völlig von der Iberischen Halbinsel vertriebenen Araber lieferte zusätzlich eine ideologische Rechtfertigung für das Vordringen in deren Herrschaftsraum. Die Krone, allen voran Prinz Heinrich der Seefahrer, der entgegen seinem Beinamen selbst nie reiste, förderte die Expansion daher aktiv, und genuesische Bankiers lieferten Geldkapital und Knowhow. 1415 begann daher die europäische Expansion mit einem vergleichsweise bescheidenen Ereignis, nämlich der Eroberung Ceutas, das ja bis heute eine mittlerweile spanische Enklave in Marokko ist. Fortan drangen die Portugiesen immer weiter entlang der afrikanischen Westküste vor und etablierten Stützpunkte an der Küste und auf vorgelagerten Inseln wie Madeira, den VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 22 Kapverdischen Inseln sowie São Tomé und Principe. Gold und Elfenbein waren zentrale Handelsgüter, daneben aber auch Sklaven, für die die 1482 gegründete Festung El Mina im heutigen Ghana der Hauptumschlagplatz wurde. Auf den Inseln im Atlantik, vor allem Madeira, wurden diese auf Zuckerplantagen eingesetzt, ein erfolgreiches Produktionssystem, das dann auch andernorts angewandt und (wie wir noch hören werden) äußerst folgenreich wurde. 1491 wurde Angola erreicht, und 1498 umsegelte Vasco da Gama schließlich Kap Hoorn und erreichte das Ziel der Bemühungen, nämlich Indien, das auf dem vom Osmanischen Reich kontrollierten Landweg nicht erreicht werden konnte. ▶▸Im Laufe des frühen 16. Jahrhunderts erkämpften sich die Portugiesen schließlich durch ihre überlegenen Kanonenschiffe den Vorrang im Seehandel des gesamten Indischen Ozeans und weiter bis hin nach Japan. Strategisch günstig gelegene islamische Handelsstützpunkte wurden erobert und mit Festungen und Militär ausgestattet. Im indischen Goa residierte der Vizekönig, aber eine noch nie dagewesene Kette von Stützpunkten über Mosambik, Mombasa, Aden (im heutigen Jemen), Hormuz (im heutigen Iran), größere Teile des heutigen Sri Lankas, Malakka im heutigen Malaysia und die als Gewürzinseln interessanten indonesischen Molukken bis nach Macao in China und Nagasaki in Japan hin. Pfeffer, Muskatnuß und Ingwer konnten so billiger nach Europa gebracht werden als über den Landweg, und diese neue Konkurrenz läutete den Niedergang der Mittelmeer-Seehäfen wie Venedig und Genua ein, die vorher die zentralen Zwischenhändler gewesen waren. Von einer unumstrittenen Dominanz der Portugiesen im Indischen Ozean kann allerdings keine Rede sein. Eher fügten sie sich in ein bereits bestehendes und auch weiterhin von z. B. arabischen und chinesischen Schiffen bedientes Handelsnetz ein, und stark reglementierte Handelshäfen wie Macao und Nagasaki dürften im chinesischen bzw. japanischen Kaiserreich niemand dazu veranlaßt haben, sich als kolonisiert anzusehen. Großflächige Eroberungen blieben gegen diese starken Staaten und bei einer portugiesischen Bevölkerung von nicht einmal einer Million Menschen unmöglich. Es ist allerdings erstaunlich genug, daß es den Portugiesen trotz nur 300 Schiffen und ständigen Personalmangels, der u. a. zu äußerst multinationalen Schiffsbesatzungen führte, gelang, dieses Handelsnetz aufzubauen und ein Jahrhundert lang zu erhalten. Das Zentrum des portugiesischen Kolonialreichs war ab 1600 Brasilien, im Jahr 1500 von Pedro Álvares Cabral als „Nebenprodukt” der Indienfahrten zufällig entdeckt. Hier blühte der Zuckeranbau, und nach 1700 brachten Gold- und Diamantenfunde im Inland einen wirtschaftlichen Aufschwung. Im Laufe der napoleonischen Kriege wurde Portugal selbst aber erobert und so sehr geschwächt, daß Brasilien 1822 die Unabhängigkeit erlangen konnte. Angola, VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 23 Mosambik und Guinea-Bissau blieben bis Mitte der 1970er portugiesisch, außerdem Goa, das 1961 von Indien besetzt und dann zurückgegeben wurde, Osttimor, das 1975 von Indonesien annektiert wurde und seit 2002 unabhängig ist, sowie Macao, das 1999 an die Volksrepublik China ging. Portugiesisch geblieben sind Madeira und die Azoren. Spanien Die Position Portugals als dominante Kolonialmacht übernahm aber bereits im 16. Jahrhundert das größere Nachbarland Spanien. Im Auftrag der Krone erreichte Cristobal Colón 1492 die Bahamas-Insel Guanahani und auf späteren Reisen auch das mittel- und südamerikanische Festland. 1494 bereits schlossen Spanien und Portugal den Vertrag von Tordesillas, der eine Linie auf etwa 46°37’ westlicher Breite zur Aufteilung der Welt benutzte: Alles östlich davon Gelegene ging an Spanien, alles westliche Gelegene an Portugal, dem damit neben Afrika und Asien auch das brasilianische Kernland zufiel. Diese Aufteilung hatte nicht lange Bestand, gab aber zumindest die grobe Entwicklungslinie vor. Die Spanier unterwarfen nun zunächst die Karibikinseln, dann Mexiko und Mittelamerika – 1521 eroberte Hernan Cortés die aztekische Hauptstadt Tenochtitlán – und schließlich Südamerika – 1533 eroberte Franzisco Pizarro die Inka-Hauptstadt Cuzco, 1541 wurde Santiago de Chile gegründet. Die Philippinen kamen 1565 als einzige asiatische Kolonie dazu; hier allerdings trieben die Spanier nur Handel, und eine Besiedlung erfolgte nicht. Auch im Südwesten der Vereinigten Staaten gab es anfangs spanische Kolonien; diese waren jedoch längst nicht so gut erfaßt und beherrscht wie die mittel- und südamerikanischen Gebiete und gingen später an die USA verloren. ▶▸Ganz anders als der portugiesische Kolonialismus in Asien, der meist auf Anpassung basierte und etwa in Macao auch viele Phänomene der kulturellen Mischung mit sich brachte, war der spanische Kolonialismus in Amerika einer der Unterwerfung. Zu spanischen Reich gehörten wie zu dem der Portugiesen Zuckerplantagen mit indianischen, später afrikanischen Sklaven auf den Karibikinseln Santo Domingo (die sich heute in die beiden Staaten Haiti und Dominikanische Republik teilt) und Kuba. Im Zentrum standen jedoch zunächst das Gold und später der hauptsächlich in Mexiko, Peru und Bolivien mit zwangsverpflichteten Indianern betriebene Bergbau. Zur Versorgung dieser Arbeitskräfte gab es Landgüter, ▶▸die sogenannten encomiendas und haciendas, die ebenfalls mit arbeitsverpflichteten Indianern betrieben wurden. Die Städte waren spanisch geprägt, während den Indianerdörfern meist als sogenannten repúblicas de indios die interne Autonomie belassen wurde. Verwaltung, Wirtschaft und kirchliche Organisation waren eng vom Mutterland kontrolliert, wohin einmal im Jahr eine Flotte mit den Exportgütern aufbrach. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 24 ▶▸Die katastrophalen Folgen der spanischen Herrschaft für die Indianer sind bekannt; Massaker, Versklavung und Epidemien sorgten etwa dafür, daß die mexikanische Bevölkerung sich in wenigen Jahrzehnten von 25 Millionen auf 1,5 Millionen reduzierte. Vielfach hatten außerdem wie etwa im Inkareich in der vorkolonialen Zeit ausgedehnte redistrutive Wirtschaftssysteme bestanden, die auch die unterschiedlichen Höhenlagen ausnutzten. Hier wirkte schon der kleinste Eingriff verheerend, da auf keinen einzelnen Beitrag verzichtet werden konnte. Da die spanische Krone eine ruinöse Ausgabenpolitik betrieb, trug die koloniale Ausbeutung kaum zu einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung Spaniens bei, sondern machte eher die Banken Antwerpens und später Amsterdams reich. Spanien wurde so allmählich selbst zu einer Peripherie innerhalb Europas und konnte Anfang des 19. Jahrhunderts dem Unabhängigkeitsstreben der Kolonien nichts entgegensetzen. Kuba und Puerto Rico blieben zunächst noch spanisch, gingen dann aber 1898 wie auch die Philippinen an die USA. Letzte Kolonien in Marokko, der Westsahara und Äquatorialguinea wurden erst im 20. Jahrhundert aufgegeben, so daß heute vom spanischen Kolonialreich nur noch die marokkanischen Enklaven Ceuta und Melilla übrig sind. Kolonialismus im 17. und 18. Jahrhundert Ab dem 17. Jahrhundert ging die koloniale Initiative an Niederländer, Franzosen und Engländer über. Nordamerika kam als neues Kolonialgebiet hinzu, ansonsten aber mußten sich diese Staaten gegen die alten Kolonialmächte Spanien und Portugal durchsetzen. Dafür lieferte im Fall von Engländern und Niederländern auch der religiöse Gegensatz zwischen Katholizismus und Protestantismus eine Rechtfertigung. Anders als im Fall von Portugal und Spanien, wo die Krone sich zwar Geld lieh, aber selbst der koloniale Hauptakteur blieb, waren es bei den neuen kolonialen Mächten private Handelsgesellschaften – gewissermaßen die ersten multinationalen Konzerne –, die die Expansion vorantrieben. Die East India Company oder die Vereenigde Oostindische Compagnie (VOC) erhielten zwar von ihrem Mutterstaat das Handelsmonopol garantiert und auch Hoheitsrechte in den Kolonien zugewiesen, aber hinter ihnen stand hauptsächlich das Kapital des wohlhabenden Bürgertums, das sich in diesen Ländern besonders früh entwickelt hatte. Im französischen Fall hielt die private Kontrolle nicht lange vor, doch übernahmen die englische und die niederländische Krone erst im 19. Jahrhundert die offizielle Herrschaftsgewalt in den Kolonien. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 25 Die Niederlande Die Niederlande, ein wie Portugal kleines, aber durch den Ostseehandel, eine leistungsfähige Landwirtschaft und nicht zuletzt auch durch Finanz- und Transport-Dienstleistungen für die älteren Kolonialmächte wirtschaftlich besonders stark gewordenes Land, beerbten die Portugiesen, denen sie nach und nach die meisten Handelsstützpunkte abnahmen. ▶▸Zusätzlich gründeten sie Kolonien in Nordamerika (New York hieß ja zunächst Nieuw Amsterdam) und im karibischen Raum. Zum Zentrum des Kolonialreichs wurde Batavia (das heutige Djakarta) auf der Insel Java, ebenfalls wichtig war die Kolonie am südafrikanischen Kap der Guten Hoffnung. Viel davon ging im 18. Jahrhundert wieder verloren bzw. wurde wie die afrikanischen Küstenforts verkauft, und die Kap-Kolonie wurde Ende des 19. Jahrhunderts von den Briten erobert. Dagegen verblieb Niederländisch-Ostindien, das zum Zentrum des späteren Kolonialreichs werden sollte. Frankreich Frankreich als katholisches Land tat sich zunächst schwer damit, in die koloniale Konkurrenz mit Spanien und Portugal einzusteigen, ▶▸begann dann aber mit Nordamerika und der Karibik, wo in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts Kanada, Louisiana und Teile der Karibik kolonialisiert wurden. Von dem 1673 gegründeten Pondicherry versuchte Frankreich zudem, ein indisches Kolonialreich aufzubauen. Der größte Teil davon – Kanada, Louisiana, das indische Territorium – ging bis etwa 1800 an die Briten verloren, und in Haiti – der französisch kolonialisierte Westteil der Insel Santo Domingo – gab es die erste erfolgreiche antikoloniale Bewegung, als sich die Sklaven 1804 erhoben und ihre Unabhängigkeit erkämpften. So blieb den Franzosen zunächst nur eine Kette von Stützpunkten, darunter Französisch-Guayana, Guadeloupe und Martinique, die Senegalmündung, Réunion und das nur noch auf ein kleines Gebiet beschränkte Pondicherry. Großbritannien Die Briten engagierten sich nach ihrem Sieg über die Armada 1588 ebenfalls zunächst in Nordamerika und Indien, dann auch in der für die Zuckerproduktion interessanten Karibik. Dort wurden im Laufe des 17. Jh. die Bermudas, St. Kitts, Barbados, Jamaika und die Bahamas kolonialisiert. Der Expansion kam eine starke Interessenübereinstimmung von Krone, Adel und wohlhabendem Bürgertum im Mutterland zugute, die ab der zweiten Hälfte des 17. Jhs. Englands Aufstieg zur führenden Seemacht und zum Pionierland der Industriellen Revolution ermöglichte. Durch die Einführung des Freihandels begünstigt, engagierten sich die Briten vor VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 26 allem im Sklavenhandel. Im Laufe des 18. Jahrhunderts konnten sie die französische Vorherrschaft in Kanada und Indien brechen, auch wenn die 13 nordamerikanischen Kolonien 1776 ihre Unabhängigkeit erklärten und im nachfolgenden Krieg auch behaupten konnten. Neben den „großen” Kolonialmächten hatten auch Schweden, Dänemark und sogar Brandenburg-Preußen koloniale Stützpunkte in der Karibik und in Afrika, die aber im wesentlichen kurzlebig waren; Groß-Friedrichsburg im heutigen Ghana etwa bestand nur von 1685 bis 1720, als es an die Niederländer verkauft wurde. Kolonialismus ab 1800 Es wird gesagt, daß der Kolonialismus im 19. Jahrhundert noch einmal neu erfunden werden mußte. Ein großer Teil der von den Europäern besiedelten Kolonien erkämpfte sich nun nämlich die Unabhängigkeit, die USA von 1776 bis 1783, das spanische Lateinamerika von 1810 bis 1824 und Brasilien 1822. Das Vorbild der Vereinigten Staaten, die Französische Revolution und ihr Ideal der egalité und nicht zuletzt auch die neue Ideologie des Nationalismus, deren Aufstieg uns noch beschäftigen wird, trugen dazu bei. Den frühesten Kolonialmächten Portugal und Spanien blieb fortan nur noch eine Nebenrolle. Der Schwerpunkt bei den noch existierenden Kolonien der anderen europäischen Mächte lag zunächst auf Handelsstützpunkten, und große Teile Afrikas und Asiens standen noch gar nicht unter kolonialer Herrschaft bzw. waren völlig unbekannt. Die Aufteilung der Welt Im 19. Jahrhundert konsolidierten sich zunächst die noch bestehenden oder jetzt erst gegründeten britischen Siedlerkolonien Kanada, Südafrika, Australien und Neuseeland sowie das französische Algerien, dazu kam die Ausdehnung der britischen Herrschaft in Indien und der niederländischen Herrschaft in Indonesien, beides Länder, die erst jetzt unter vollständige Kontrolle kamen. Die Konkurrenz vor allem zwischen Großbritannien, Frankreich und dem nachdrängenden Deutschland sowie der Einstieg neuer Mächte wie Italien, Belgien, den USA und Japan führte dann aber im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zum Zeitalter des Hochimperialismus mit der fast vollständigen Aufteilung der bislang noch nicht erfaßten Gebiete. Außerdem führten die verbesserten Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten dazu, daß es jetzt nicht mehr nur um Edelmetalle und Luxusgüter, sondern um Rohstoffe und Absatzmärkte für die industrielle Produktion der Mutterländer ging. Der technologische Fortschritt machte die europäischen Kolonialmächte nun eindeutig überlegen, und die ideologischen Rechtfertigungen des VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 27 Kolonialismus richteten sich danach aus. Während die Sklaverei sich nicht mehr mit den neuen Idealen vertrug und nach und nach aufgegeben wurde, bestand weiterhin in den Augen der Kolonialherren die sogenannte „white man’s burden”, d. h. die Pflicht der technologisch und nach verbreiteten Vorstellungen auch rassisch überlegenen Kolonialherren, den Kolonisierten westliche Zivilisation und Christentum zu bringen. ▶▸Das zuvor im wesentlichen nur mit Handelsstützpunkten versehene Afrika wurde im Zuge des sogenannten „scramble for Africa” auf der Berliner Afrikakonferenz von 1884 so gut wie vollständig aufgeteilt; nur Äthiopien und Liberia blieben selbständig, letzteres aber gewissermaßen selbst als Kolonie von befreiten und repatriierten US-amerikanischen Sklaven. In Asien erfolgte zur gleichen Zeit ebenfalls die koloniale Restaufteilung, bei der Burma bzw. Myanmar 1886 an England und Indochina 1884 an Frankreich ging; Spanien verlor 1898 die Philippinen im Krieg an die USA. China, Thailand, Afghanistan, der Iran und das Osmanische Reich blieben formal unabhängig, wurden aber trotzdem zu semikolonialen Rohstofflieferanten und Absatzmärkten, zum Teil von europäischen Mächten abhängig, zum Teil bewußt als machtlose Puffer belassen. Japans Öffnung zum Westen wurde 1854 nach jahrhundertelanger Abschließung durch amerikanische Kanonenboote erzwungen, und das Land bekam ungleiche Handelsverträge aufoktroyiert. China blieb wegen seiner Größe und der Rivalität der Kolonialmächte zwar ebenfalls unabhängig. Es mußte jedoch Handelsstützpunkte wie das britische Hongkong und Freihäfen wie Shanghai und Kanton/Guangzhou an der chinesischen Küste zulassen und 1900 die Niederschlagung des Boxer-Aufstandes durch eine beispiellose Koalition von acht Kolonialmächten hinnehmen. ▶▸Und schließlich fällt auch die Herausbildung zweier der danach flächenmäßig größten Staaten hauptsächlich in das 19. Jahrhundert: Die USA erweiterte ihr Siedlungs- und Staatsgebiet mit den bekannten Folgen für die Indianer bis zum Pazifik, und das russische Zarenreich expandierte mit oftmals nicht weniger gravierenden Folgen für die indigene Bevölkerung über Zentralasien und Sibirien bis zum Pazifik und sogar nach Alaska, das dann später an die Amerikaner verkauft wurde. Zwar handelte es sich hierbei um mit dem Mutterland räumlich verbundene Gebiete, aber die Dominanzverhältnisse unterschieden sich kaum vom „gewöhnlichen” Kolonialismus der europäischen Staaten. Die Kolonialreiche um 1900 Um 1900 war damit der Höhepunkt des imperialistischen Weltsystems erreicht, und es lohnt sich, einen Blick auf die damaligen Kolonialreiche zu werfen. ▶▸Führend war eindeutig das britische Empire. Sein Kern lag in Indien, also dem Gebiet der heutigen Staaten Pakistan, Indien, VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 28 Bangladesh und Sri Lanka, das nach Niederschlagung des Großen Aufstands von 1857/58 Vizekönigreich wurde und genauso wie „Hinterindien” (Myanmar und Malaysia) erst der britischen Textilindustrie, später dann über den Eisenbahnbau der britischen Stahl- und Kohleindustrie riesige Absätzmärkte brachte. Außerdem wurde in Indien das Opium angebaut, mit dem sich im 19. Jahrhundert der Weg in den lukrativen Handel mit China öffnete, wo nun endlich Seide, Porzellan und Tee erworben werden konnte. Zuvor hatte die Chinesen nur das schwer zu beschaffende Silber interessiert. In Afrika existierte ein geschlossenes Band britischer Kolonien vom Kap der Guten Hoffnung bis nach Kairo, und Gibraltar, Aden, St. Helena, Mauritius, Singapur und Hongkong waren weitere wichtige Stützpunkte. Die britischen Siedlungsgebiete Kanada, Australien und Neuseeland waren damals ebenfalls noch nicht in die Unabhängigkeit entlassen. ▶▸An zweiter Stelle standen die Franzosen, die ein riesiges, größtenteils zusammenhängendes Gebiet in Nord-, West- und Zentralafrika kontrollierten. Einträglicher war jedoch aufgrund von Bergbau und Kautschukproduktion das französische Kolonialgebiet in Indochina, das das heutige Vietnam, Laos und Kambodscha umfaßte. Die Niederlande bauten ihre Kolonie in Indonesien erst im 19. Jh. zur vollen Größe aus und hatten zudem mit Niederländisch-Guayana (dem heutigen Surinam) und einige Inseln auch ein Standbein in der Karibik. Belgien betrieb den Kongo-Freistaat (die heutige Demokratische Republik Kongo) zunächst als Privatunternehmen des Königs Leopold II., nach internationaler Empörung über die besonders brutale Herrschaft ab 1908 dann staatlich. Italien kolonisierte Teile Somalias, Eritrea und Libyen; Äthiopien wurde kurzzeitig erobert, aber nie wirklich kontrolliert. Grönland ist seit 1814 dänische Kolonie und bis heute nicht völlig unabhängig. Drittgrößte Kolonialmacht nach Großbritannien und Frankreich war allerdings Deutschland, das ab 1884 Togo, Kamerun, Deutsch-Ostafrika, d. h. Tansania, Deutsch-Südwestafrika, d. h. Namibia, sowie den nördlichen Teil des heutigen PapuaNeuguineas kolonisierte. Die Herrlichkeit währte nur kurz, denn schon mit dem Versailler Vertrag von 1919 waren die Kolonien wieder verloren und wurden zu Mandatsgebieten des Völkerbunds oder zu Protektoraten anderer Kolonialmächte. Die 35 Jahre kolonialer Geschchte reichten allerdings, um mit der Niederschlagung des Herero-Aufstands in Namibia 1905 einen der moralischen Tiefpunkte der Kolonialgeschichte zu setzen. ▶▸Ein Novum war zudem die Betätigung außereuropäischer Kolonialmächte. Japan konnte nach erfolgreicher Modernisierung und Industrialisierung bald die Aufhebung der ungleichen Handelsverträge erreichen und betätigte sich danach selbst imperialistisch, indem es 1895 in Taiwan und 1905 in Korea die Herrschaft übernahm. 1932 verschaffte es außerdem der Mandschurei die vorgebliche Unabhängigkeit von China, unter der Herrschaft von Pu Yi, dem VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 29 letzten der selbst ja aus der Mandschurei stammenden chinesischen Qing-Kaiser, der allerdings nur als Marionette fungierte. Die USA verhalf 1898 auf den Philippinen der Unabhängigkeitsbewegung gegen Spanien zum Sieg, nur um sich das Land dann selbst anzueignen, neben einer Reihe von Inseln im Pazifik. Und schließlich stieg auch noch Australien ein, das erst den südlichen Teil des heutigen Papua-Neuguinea von Großbritannien als Kolonie erhielt und dann nach dem Ersten Weltkrieg mit der Verwaltung der ehemals deutschen Nordhälfte beauftragt wurde, die Mandatsgebiet des Völkerbunds war. Formen der Kolonialherrschaft Die Welt war nun also aufgeteilt, und trotz des Abbaus von Standes- und Klassenschranken innerhalb der Mutterländer war das hierarchische Überlegenheitsbewußtsein gegenüber dem Rest der Welt so groß wie nie. Dort, wo es Widerstand gegeben hatte oder wo es weiße Siedler in größerer Zahl gab, drückte sich dies in einer direkten Herrschaft der Kolonialisten aus; Beispiele dafür sind Algerien, Angola, Namibia, Südafrika, Rhodesien, Mosambik, Tansania, das Hochland von Kenia und Vietnam. Andernorts zog man es vor, die einheimischen Herrschaftsformen unangetastet zu lassen bzw. zu konservieren oder zu retraditionalisieren, häufig in Form von Operettenregimen, während die wahre Macht in den Händen von Beratern und Kolonialbeamten lag. Die Briten erprobten ihre Doktrin des „indirect rule” zunächst in Indien, wo sie den höfischen Prunk der Rajs, d. h. der regionalen Fürsten, alimentierten, ihnen gleichzeitig aber jeden politischen Einfluß nahmen. Dies sparte vor allem Personal, und auch zur Blüte des Vizekönigreichs waren nie mehr als ein paar Tausend Briten in Indien. Das System des „indirect rule” wurde auch nach Afrika übertragen, etwa auf Ägypten, Uganda und Sansibar, und die Franzosen praktizierten Vergleichbares in Marokko, Tunesien, Laos und Kambodscha. Abhängigkeit von den euroamerikanischen Mächten war allerdings nicht auf die koloniale Herrschaft beschränkt. Die nun offiziell unabhängigen lateinamerikanischen Staaten blieben auf britisches und später US-amerikanisches Kapital, Handelsgüter und in Form der vielen europäischen Migranten, etwa nach Brasilien oder Argentinien, auch auf Personal angewiesen. Später bildeten Unternehmen wie der Chiquita-Vorgänger United Fruit Company Staaten im Staat heraus, kein formaler Kolonialismus also, aber auch weit entfernt von einer wirklichen Selbstbestimmung und wirtschaftlichen Eigenständigkeit. Welthandel und Migration Damit befinden wir uns bereits beim Thema Welthandel, und charakteristisch für die Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. und im 20. Jahrhundert ist, daß dieser sich immer VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 30 stärker als Freihandel gestaltete, der sich von den politischen Dominanzverhältnissen abkoppelte. In der frühen Phase des Kolonialismus herrschten noch merkantilistische Strategien vor: Jede der kolonialen Mächte versuchte, mit ihren Kolonien die eigenen wirtschaftlichen Rohstoffbedürfnisse selbst abzudecken. Nun aber dehnten sich die internationalen Warenströme aus und schlossen auch immer stärker Massengüter wie industrielle Rohstoffe wie Kohle und Baumwolle, Nahrungsmittel wie Weizen und Reis und Fertigprodukte ein. Von 1800 bis 1913 stieg das Volumen des Welthandels um das 25fache. Auch die internationale Migration intensivierte sich, nun aber ebenfalls liberalisiert, da die Sklaverei allmählich abgeschafft wurde. Dies wurde ermöglicht durch technologische Fortschritte beim Transport von Menschen, Gütern und Informationen. 1840 gab es weltweit 7200 km Eisenbahnstrecke, 1880 waren es schon 365.000 (aber selbst 1920 nur 13 % davon in Asien und Afrika), und die Schiffe erhielten nun Eisen- und Stahlrümpfe, segelten schneller und wurden schließlich mit Dampf betrieben. Die Fertigstellung des Suezkanals 1869 und des Panamakanals 1914 verkürzte langwierige Seerouten um Monate. 1866 funktionierte das erste Transatlantikkabel, und um 1880 konnte man so jeden bedeutenden Ort im britischen Empire erreichen, was die unmittelbare Kommunikation ermöglichte und die vormalige Bindung der Kommunikationsgeschwindigkeit an die des Warenverkehrs aufhob. All diese Neuerungen begünstigten die Herausbildung dualer Wirtschaftssysteme. Um die von den Kolonialregimen auferlegten Steuern zu zahlen, mußten die Einheimischen Geld verdienen, durch den Anbau von cash crops, also Agrarprodukten für den Handel, oder durch die Arbeit in Plantagen und Bergwerken, die ebenfalls für den Export produzierten. Baumwolle, zunächst aus der Karibik und dem Osmanischen Reich, nach 1800 dann aus der britischen Kolonie Ägypten und den US-Südstaaten, wurde zum Motor der Frühphase der industriellen Revolution. Der Bergbau im südlichen Afrika lieferte Gold und Diamanten, geschürft von Wanderarbeitern, die zwischen ihren Heimatgebieten und den Abbaugebieten hin- und hermigrierten. Tropische Plantagenprodukte wie Bananen aus Mittelamerika, Kolumbien und Ecuador, Palmöl und später Kakao aus Westafrika, Rohrzucker aus Trinidad, Britisch-Guayana, dem südafrikanischen Natal, Java und dem australischen Queensland, Kaffee aus Brasilien; Mexiko, Guatemala und Java sowie Tee zunächst aus China, ab Mitte des 19. Jahrhunderts auch aus dem indischen Assam und aus Sri Lanka wurden im Westen immer mehr zu Alltagsgütern. Ein wichtiger industrieller Rohstoff war vor der Zeit der Erdölprodukte außerdem der Kautschuk, der ebenfalls auf Plantagen in Brasilien und nach 1900 auch in Malaysia und Indonesien gewonnen wurde. Daß die in diesen extraktiven Ökonomien arbeitenden Einheimischen nebenher weiterhin Subsistenzwirtschaft betrieben, ermöglichte es, die Löhne niedrig zu halten. Am anderen Ende VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 der Verwendungskette halfen die kolonialen Importprodukte ebenfalls 31 dabei, die Industrialisierung in Gang zu bringen und den Konsum und damit auch die Löhne zu verbilligen. Außerdem spielten Stimulantien wie Tee und Kaffee und in Verbindung mit ihnen der Zucker auch eine nicht zu unterschätzende Rolle als Seelentröster für die Industriearbeiter (dazu gleich noch mehr). Die fortschreitende Industrialisierung und die Ausbreitung des Welthandels ging einher mit der Ausbreitung der Migration, zum einen als Binnenmigration vom Land in die Städte, zum anderen nach Übersee. Von 1800 bis 1914 verließen allein 50 Millionen Menschen Europa, darunter besonders viele Iren, Italiener, Osteuropäer und Deutsche. Über 30 Millionen gingen in die USA, doch auch Brasilien, Argentinien und viele andere Länder waren beliebte Ziele. Aber auch aus den Kolonien heraus wurde migriert. Da die Sklaverei überall abgeschafft wurde, zuletzt 1888 in Brasilien, wurde in den Plantagen und Bergwerken jetzt vielfach auf Kontraktarbeiter gesetzt, die für längere Zeiträume angeworben waren, aber häufig gleich ganz in ihrem Gastland blieben. So kommt es, daß es heute große indische Bevölkerungsgruppen in Trinidad, Südafrika, Mauritius, Myanmar, Malaysia und Singapur gibt, und in Britisch-Guayana und in Fiji stellen die Inder sogar die Mehrheit. Mehrere Millionen Tamilen aus Südindien emigrierten außerdem in den Nordteil Sri Lankas. Besonders emigrationsfreudig waren auch die Chinesen der südchinesischen Küstengebiete. In ganz Südostasien dominieren sie heute den Handel, in Singapur stellen sie die Bevölkerungsmehrheit, und die USA waren ein weiteres Ziel. Heutige multiethnische Konstellationen in den genannten Ländern, die zum Teil konfliktbeladen sind, haben ihre Wurzeln also bereits in den Massenmigrationen des Hochimperialismus. Die Dekolonisation 500 Jahre hatte es gedauert, bis die koloniale Ausdehnung zur Zeit des Ersten Weltkriegs ihren Höhepunkt erreichte, doch bloß 50 Jahre später war sie schon weitgehend Geschichte. Erste Nationalbewegungen entstanden in Indien, Ägypten und Tunesien, angeführt nicht selten von Personen, die in den Mutterländern ausgebildet worden waren. Marokko wurde der 1921 begonnene Aufstand der Kabylen des Rif-Gebirges 1926 niedergeschlagen, von französischen und spanischen Truppen, die auch vor dem Gebrauch von Senfgas nicht haltmachten. Der Zweite Weltkrieg läutete dann endgültig das Ende der Kolonialzeit ein, denn viele Kolonialmächte gingen sehr geschwächt daraus hervor. Japan hatte im Zweiten Weltkrieg die europäischen Kolonien in Südostasien erobert und dem Ruf dieser Kolonialmächte irreparablen Schaden zugefügt, und auch in den Mutterländern war der Kolonialismus immer weniger zu rechtfertigen. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 32 Von den beiden neuen Weltmächten lehnte die Sowjetunion den Kolonialismus ohnehin ab, und die USA bekehrte sich ebenfalls zu dieser Haltung, nicht zuletzt aus der Sorge, siegreiche Befreiungsbewegungen auf die jeweils andere Seite der Fronten des Kalten Krieges zu treiben. 1946 wurden als erste asiatische Kolonie die Philippinen selbständig. Besondere Signalwirkung hatte die Unabhängigkeit Indiens 1947, Indonesien folgte 1949, das französische Indochina 1954 und Malaysia 1963. Folgend auf den Sudan 1956 wurde Ghana 1957 als erster subsaharischer Staat unabhängig, und schon in den frühen 1960er Jahren waren dort kaum mehr Kolonien übrig. Der Algerienkrieg von 1954-63, der mit der Unabhängigkeit endete, zeigte den Kolonialmächten ebenfalls deutlich ihre Grenzen auf. Der größte Teil der Karibik wurde in den 1950er und 60er Jahren selbständig, die pazifischen Inseln und Papua-Neuguinea in den 1970er und 80er Jahren. Den längsten Widerstand leisteten die erste Kolonialmacht Portugal, die in Angola, Mosambik und Guinea-Bissau jahrzehntelang Krieg führte und sie erste Mitte der 70er aufgab, und die Apartheidsregime in Rhodesien, dem heutigen Zimbabwe, das 1980 selbständig wurde, und in Namibia, das erst 1990 von Südafrika in die Unabhängigkeit entlassen wurde. Auch den Zusammenbruch der Sowjetunion kann man mit einigem Recht als Dekolonisation sehen, aus der im Kaukasus und in Zentralasien eine große Zahl neuer Staaten hervorging. An die Unabhängigkeit knüpften sich große Hoffnungen, und politische Führer wie Nehru in Indien, Nyerere in Tansania oder Nkrumah in Ghana wurden weithin bewunderte Leitfiguren. Viele der neuen Nationen fanden sich in der politischen Bewegung der Blockfreien zusammen. Bürgerkriege folgten aber vielfach auf dem Fuß, Indien etwa zerfiel über den religiösen Gegensatz zwischen Hindus und Muslimen sogleich in zwei Staaten, und Ostpakistan machte sich dann als Bangladesh noch einmal von Westpakistan unabhängig, in beiden Fällen von opferreichen Kriegen begleitet. Viele der neuen Nationalstaaten waren politisch instabil, und oft führte dies zur Errichtung von Militärdiktaturen. Stellvertreterkriege zwischen von den USA und der Sowjetunion ausgerüsteten und finanzierten Staaten waren zudem an der Tagesordnung, mit dem Vietnamkrieg 1965-75 als bekanntestem Fall. Die Nachwehen dieser Konflikte reichen bis in die Gegenwart. Und auch heute kann natürlich keine Rede davon sein, daß sich die ehemaligen Mutterländer und Kolonien als Gleiche begegnen, denn das Macht- und Reichtumsgefälle besteht weiterhin. In welchen Formen es dies tut und wie sich dies kulturell auswirkt, wird uns noch beschäftigen. Es sind auch nicht alle Kolonien unabhängig geworden. Gerade wenn es sich um Inseln handelt, wäre ein Überleben ohne die Zuschüsse des Mutterlandes oft nicht möglich, und so gibt es zum Beispiel auf Guadeloupe, Martinique oder in Französisch-Guayana keine nennenswerten Unabhängigkeitsbestrebungen. Doch ist es andernorts nicht so, und so können nach der bislang VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 33 letzten Dekolonisation 2002, als die ehemalig portugiesische, später indonesisch besetzte Kolonie Osttimor nach blutigen Kämpfen unabhängig wurde, noch weitere neue Staaten hinzukommen. Ethnologische Forschung zum Kolonialismus Die koloniale Erblast ist auch für ganz und gar der Gegenwart zugewandte Ethnologen ein relevanter Faktor, denn sie prägt die Interaktion der Abkömmlinge von Kolonialherren und Kolonisierten bis heute. Mehrfach haben mir z. B. in Afrika tätige Kollegen erzählt, wie spürbar anders der Umgang mit den Einheimischen in Äthiopien ist, das im Gegensatz zu den anderen afrikanischen Ländern nie wirklich kolonisiert war. Daneben gibt es allerdings auch ein breites ethnohistorisches Forschungsfeld, das sich mit dem Kolonialismus auseinandersetzt, und ich möchte ihnen hier zwei Beispiele vorstellen. Die süße Macht: Zucker und die koloniale Weltwirtschaft Eine der bekanntesten Analysen des kolonialen Systems kommt von Sidney Mintz, heute emeritierter Professor der Johns Hopkins University in Baltimore. ▶▸In seinem Buch Sweetness and Power, zu deutsch Die süße Macht, erzählt und analysiert er die Geschichte eines uns heute recht banal vorkommenden Nahrungs- und Genußmittels, nämlich des Zuckers (Mintz 1985, 1987 [1985]). Große Teile der Studie sind deskriptiv angelegt, man erfährt viele Details etwa zur Herkunft und frühen Geschichte des Zuckergebrauchs, etwa an den europäischen Fürstenhöfen, oder auch zu gegenwärtigen Konzernstrategien, den Zucker als gesundes Nahrungsmittel darzustellen. Aber der Kern des Buchs ist eine These zur Verbindung von Kolonialismus und Kapitalismus, die durch den Zucker geschaffen wurde. Mintz beginnt mit Eindrücken von seiner ersten Feldforschung 1948 in Puerto Rico, in einer Gegend, die vom Zuckerrohranbau beherrscht war. Zur Erntezeit verwandelte sich die Landschaft in einen Dschungel, denn Zuckerrohr wird bis zu fünf Meter hoch und überragt dann alle Wege und Straßen. Doch obwohl Mintz – selbst auf dem Land großgeworden – sich auf dem Lande befand, stellte er überrascht fest, daß seine Informanten keine Bauern waren. So gut wie nichts von dem, was sie im Alltag benötigten, bauten sie selbst an oder stellten sie selbst her, vielmehr kauften sie fast alles, da sie eben selbst kein Land hatten, sondern in den Zuckerrohrplantagen gegen Lohn arbeiteten. Auch wußten seine Informanten fast nichts darüber, was mit dem Rohzucker, den ihre Arbeitgeber weiterverkauften, geschah und wer ihn VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 34 verwendete, und es interessierte sie auch nicht. Sie wußten jedoch alles über den Zuckermarkt, von dessen Kapriolen sie abhängig waren. Mintz stellt sich die Frage, wie es zu solchen Verhältnissen kommen konnte und warum der Zucker so enorm erfolgreich gewesen ist, daß die Weltproduktion seit 500 Jahren von höchstens einmal einem Jahrzehnt Pause abgesehen stetig gestiegen ist. Hierfür reicht eine lokale Perspektive nicht aus, erst recht nicht, wenn man überlokale Verbindungen dabei ausblendet. Mintz beginnt, wie er sagt, mit dem Alleralltäglichsten, was sich auf (fast) jedem Eßtisch befindet, und entwickelt von dort eine Analyse, die die Jahrhunderte und die Kontinente überspannt. Die Entwicklung der Zuckerproduktion Mintz zufolge gibt es keine sicheren Hinweise darauf, daß bereits in der Antike Zucker produziert worden ist, und auch noch um 1000 herum war er in Nordeuropa praktisch unbekannt. Die Araber bauten um diese Zeit im Mittelmeerraum Zucker an, doch wurden diese Produktionsstätten nach 1400 im Zuge der kolonialen Expansion von den atlantischen Inseln verdrängt, also Madeira, den Azoren, den Kanaren, den Kapverdischen Inseln sowie São Tomé und Principe, auf denen erst die Portugiesen, später auch andere Kolonialmächte ihre Plantagen hatten. 1493 kam der Zucker auf Columbus’ zweiter Reise in die Neue Welt, und Santo Domingo und die anderen Karibikinseln wurden wichtige Anbauorte. Schon im späten 16. Jh. gerieten die spanischen Inseln jedoch ins Hintertreffen, und die Zuckerproduktion im portugiesischen Brasilien und auf den britisch und französisch beherrschten Karibikinseln übernahm die Führung. Zucker überrundete schon Ende des 17. Jhs. den Tabak als das einträglichste Produkt der Neuen Welt. Für die größte, um 1660 auf Barbados und Jamaika in das Zuckergeschäft eingestiegene Kolonialmacht Großbritannien brachte der Zucker fortan mehr ein als alle anderen Kolonialwaren zusammen. ▶▸Der Zucker befeuerte den berühmt-berüchtigten transatlantischen Dreieckshandel: Die ihn transportierenden Schiffe fuhren nicht zwischen zwei Orten hin und her, sondern steuerten drei Stationen an. Von Europa ging es mit Fertigwaren aller Art an die afrikanische Küste, wo Sklaven eingekauft wurden. Diese wurden sodann in die Karibik und die anderen amerikanischen Zuckerkolonien verfrachtet, wo sie zur Arbeit auf den Plantagen gezwungen wurden – unter welchen Bedingungen und mit wievielen Opfern, ist denke ich allgemein bekannt. In der Karibik wurde dann Zucker geladen und nach Europa gefahren. Die Briten taten sich auf diesem Gebiet besonders hervor und gestalteten ihren Zuckerhandel nach merkantilistischen Prinzipien: Wo es nur ging, blieben Produktion, Weiterverarbeitung in Raffinerien, Handel und Transport in nationaler Hand. Und obwohl anfangs auch in andere Länder verkauft wurde, VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 35 drängte sich der nationale Absatzmarkt immer mehr in den Vordergrund. ▶▸Die Zuckerplantagen waren eine „Synthese aus Feld und Fabrik”, wie Mintz es formuliert. Da man annahm, daß Zuckerrohr genau zur Reife geschnitten und sogleich weiterverarbeitet werden muß, arbeiteten manchmal Hunderte von Sklaven in feiner, genau abgestimmer Arbeitsteilung. Oft liefen die Mühlen, die das Zuckerrohr auspreßten und den unraffinierten Rohzuckersaft gewannen, Tag und Nacht. Zwar bildete anders als später in den europäischen Fabriken die Sklaverei und nicht die freie Lohnarbeit die Grundlage. Auch ist zwischen dem späten 17. und dem frühen 19. Jh. kaum technologischer Fortschritt erkennbar, so daß die Ausweitung der Anbaufläche und der Anzahl der Arbeitskräfte die einzige Möglichkeit zur Expansion bot. Doch sonst finden sich viele Züge dessen, was ab dem späten 18. Jh. auch in den kapitalistischen Fabriken der Industriellen Revolution praktiziert wurde. Die beträchtlichen Gewinne der britischen Zuckerpflanzer wurden zudem reinvestiert und lieferten damit Kapital für die neuen Fabriken im Mutterland. Man kann den Zuckerplantagen und damit dem Kolonialismus laut Mintz also eine vorbereitende Rolle für die Industrielle Revolution zusprechen. Die Entwicklung der Zuckerkonsumtion Dies gilt auch noch in anderer Hinsicht, denn Mintz’ besonderes Verdienst ist es, nicht nur die Bedingungen der kolonialen Ausbeutung zu beleuchten, sondern auch die Folgen, die die Kolonialwaren im Mutterland zeitigten. Zucker war bis in die frühe Neuzeit ein Luxusgut, das eher als Gewürz denn als Nahrungsmittel eingesetzt wurde und dem außerdem auch medizinische Wirkungen zugeschrieben wurden. Zucker- und Marzipandekor und –figuren waren zudem am Hofe und unter den Reichen beliebt. Die neue koloniale Verfügbarkeit des Zuckers bewirkte aber nun zunächst in Großbritannien, später auch in anderen Industrieländern, daß das Luxusgut zu einem Massenartikel wurde, und auch dies hatte direkte Folgen für die industrielle Entwicklung. Zucker als Süßstoff rückte in den Vordergrund, als sich nach 1650 Tee, Kaffee und Kakao in England ausbreiteten, alles bitter schmeckende Stimulantien, zu denen der Zucker paßte. Vor allem Tee setzte sich durch, Mintz zufolge auch deshalb, weil er sparsamer verwendet werden kann, denn einige wenige Blätter oder ein zweiter Aufguß mit reichlich Zucker schmecken besser als ein zu dünner Kaffee oder Kakao. Nebenbei entalkoholisierte er das Leben, denn die Verwendung von selbstgebrautem Bier trat vergleichsweise in den Hintergrund. Um 1750 war Zucker bereits so verbreitet, daß auch die Ärmsten ihn zur Süßung ihres Tees benutzten, und von 1700 bis 1800 stieg der durchschnittliche Jahresverbrauch von 2 auf 9 Kilogramm. (Wir liegen VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 36 heute bei knapp 40.) Noch eine neue Qualität bekam der Zuckerkonsum im 19. Jh. Nun wurde nicht nur die Sklaverei, sondern zwischen etwa 1850 und 1870 auch der Handelsprotektionismus aufgegeben, was zwar die älteren britischen Zuckerkolonien unter Druck setzte, aber die Preise weiter fallen ließ. Zusätzlich gelang nun auch die Herstellung von Zucker aus Zuckerrüben. Damit wurde Zucker endgültig zur Massenware, die Weltproduktion verfünffachte sich von 1800 bis 1860 und verzehnfachte sich dann noch einmal bis 1918, von 245000 bis auf über 16 Millionen Tonnen. Zucker breitete sich nun auch in der Ernährung aus. Vor allem trat hier im hier Zeitalter vor der allgemeinen Verbreitung des Kühlschranks sein konservierender Effekt in den Vordergrund. Marmelade auf Weißbrot mit gesüßtem Tee wurde die zumindest teilweise warme, gut zu lagernde und leicht zu bereitende Standardmahlzeit der ärmeren Schichten. Gerade die Frauen und Kinder mußten oft fast ganz damit auskommen, wenn das wenige Fleisch, das man sich leisten konnte, für den Arbeiter und Ernährer reserviert war. Zucker trug also, so Mintz, ganz wesentlich zur billigen Ernährung der Arbeiter und zu den so möglichen geringen Lohnkosten bei, die die britische Industrielle Revolution trugen. Mintz liefert so eine mustergültige Globalisierungsstudie. Der Bezug auf die kleine, in intensiver Feldforschung beobachtete Gemeinschaft bildet zwar den Ausgangspunkt, aber es gelingt ihm, die größeren, ja sogar weltumspannenden Zusammenhänge zu beleuchten. Zudem erhellt er nicht nur die sozialen Folgen dieser Zusammenhänge in der Peripherie, sondern auch die im Zentrum der Weltwirtschaft, und zeigt auf, wie beide ein System bildeten, in dem der Zucker für beide Seiten tiefgreifende Veränderungen mit sich brachte. Gender und Dominanz in der Kolonialgesellschaft Neben solchen Analysen kolonialwirtschaftlicher Zusammenhänge haben Ethnologen aber auch dazu beigetragen, die Mikropolitik der einzelnen Kolonialgesellschaften zu verstehen. ▶▸Hier möchte ich beispielhaft einen Artikel der amerikanischen Ethnohistorikerin Ann Stoler von der Columbia University vorstellen (Stoler 1989). Stoler bemerkt hier eine gewachsene Aufmerksamkeit für die Produktion von Dominanz im kolonialen Alltag und nimmt es sich selbst vor, die Rolle von Geschlechterbeziehungen, Ehe und Familie in diesem Zusammenhang beleuchten. Diese haben die Kolonialisten sehr beschäftigt: „Probably no subject is discussed more than sex in colonial literature and no subject more frequently invoked to foster the racist stereotypes of European society” (1989: 635). Stoler geht dem mit Bezug auf die. Mit hauptsächlichem Bezug auf die französischen und niederländischen VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 37 Kolonialgesellschaften in Südostasien verarbeitet Stoler einerseits die Forschungsergebnisse anderer Historiker und Ethnohistoriker und andererseits die koloniale Literatur der damaligen Zeit, etwa Handbücher für koloniale Ehefrauen. Sexualbeziehungen waren, stellt Stoler fest, in keinem Kolonialsystem ein Refugium des Privaten, sondern ein Bereich der intensiven Debatte und der politischen Regelung. In Südostasien fiel diese so aus, daß in den ersten beiden Jahrhunderten die Ansiedlung europäischer Frauen in den Kolonien bewußt verhindert wurde. Die Tropen galten als gesundheitlich heikel und politisch unsicher und somit als Männersache. Stattdessen bildete für die Angestellten der Vereenigde Oostindische Compagnie (VOC) und auch für die französischen Kolonialisten das Zusammenwohnen mit einer einheimischen Geliebten die Norm und wurde so z. B. auch in der Ratgeberliteratur propagiert wurde. Dies sollte emotionale Stabilität garantieren und die vom Kontakt mit Prostituierten ausgehenden gesundheitlichen und moralischen Gefahren verhindern. Gleichzeitig senkten solche Konkubinate die erforderlichen Lohnkosten, da die standesgemäße Unterhaltung einer europäischen Ehefrau weit teurer gekommen wäre. Die einschlägigen Arbeitsverträge verboten entsprechend die Eheschließung entweder für die ersten Jahre oder sogar für den gesamten Kolonialdienst, und europäische Ehefrauen waren das Privileg der Offiziersschicht. Die koloniale Dominanzbeziehung wurde somit im privaten Raum als patriarchalische Dominanzbeziehung zwischen weißem Mann und einheimischer Frau reproduziert. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jhs. wandelte sich dies jedoch. Es wurden nun moralische Bedenken gegen die Konkubinate vorgebracht, und stattdessen galten nun die Ansiedlung europäischer Frauen in den Kolonien und die Eheschließung und Familiengründung als wünschenswert und setzten sich in den Zwischdenkriegsjahren allgemein durch. Auch wurden Bordelle jetzt oft stillschweigend toleriert. Stoler zufolge ist dies nicht mit der verbesserten Sicherheitslage und medizinischen Versorgung zu erklären, denn dies hatte schon länger gegolten. Vielmehr wurde nun, in der Spätphase des wirtschaftlich und politisch immer mehr unter Druck geratenden Kolonialismus, die Aufrechterhaltung der Grenzen zwischen Kolonialisten und Kolonisierten und die Sicherung des weißen Prestiges immer zentraler. Diesem Ziel dienten auch andere Maßnahmen: So wurden die Kolonialbeamten bereits mit 55 pensioniert und zur Rückkehr ins Mutterland verpflichtet, um den Einheimischen keine gebrechlichen Weißen zu präsentieren, und auch die Anwesenheit verarmter Europäer in den Kolonien wurde mit Argwohn betrachtet oder gleich ganz verhindert. Mir fiel hier der bekannte autobiographische Roman L'amant (zu deutsch Der Liebhaber) von Marguerite Duras ein, in dem genau diese Themen – arme Weiße und die Brisanz der Grenzüberschreitung zwischen VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 38 Kolonialisten und Kolonisierten – eine große Rolle spielen. Das geistige Rüstzeug für die verstärkte koloniale Grenzziehung in den Geschlechterbeziehungen lieferten die sich in diesen Jahren ausbreitenden rassenkundlichen Ideen. Aus diesem Blickwinkel waren besonders die aus den Konkubinaten hervorgehenden Mischlingskinder verdächtig, nicht nur der möglichen rassischen Degeneration, sondern auch der mangelnden Loyalität zu den Kolonialisten. Ehen zwischen Europäern schlossen diese Verwischung der Grenzen aus. Bedroht blieb die Grenze aber auch so, denn in der Kolonialliteratur ist keine andere Sorge so beherrschend wie die vor sexuellen Übergriffen einheimischer Männer auf Kolonialistenfrauen, so selten diese tatsächlich vorkamen. Und die Ratgeberliteratur weist gerade den Ehefrauen die Aufgabe zu, die Grenzen zu wahren und nicht durch unbedachtes Verhalten solche Übergriffe zu ermutigen. Stattdessen waren sie gehalten, ihren Ehemännern ein sorgenfreies und von europäischer Lebensart erfülltes Heim zu bereiten, um sie so gegen die einheimischen Versuchungen zu feien, und auch in der Erziehung der Kinder auf klare Grenzen zu den Einheimischen zu achten. Die vorher so wünschenswerten Konkubinate der Kolonialherren mit einheimischen Frauen wurden dagegen nun als Quelle gesundheitlicher und moralischer Übel verdammt. ▶▸Stoler betont, daß Sexualmoral und Rassismus eigenständige Kräfte im kolonialen Gefüge waren, zwar mit der wirtschaftlichen und politischen Lage in Wechselwirkung stehend, aber nicht auf sie zu reduzieren. Der vermeintlich private Bereich von Sexualität, Ehe und Familie war im kolonialen System überaus politisch, von Herrschaftsmechanismen zwar geprägt, aber seinerseits – neben den eindeutigeren Machtmitteln wie Gewehre – auch für die Durchsetzung weißer Dominanz wichtig. Insofern liefert ethnohistorische Forschung wie Stolers einen unverzichtbaren Beitrag zur Klärung der Frage, warum die koloniale Unterjochung der Welt über Jahrhunderte fortbestehen konnte. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 39 Teil III: Die Kontroverse um die wirtschaftliche Globalisierung Einleitung Im Anschluß an den Überblick über die Kolonialgeschichte möchte ich Ihnen heute die gegenwärtige politische Debatte über die Globalisierung und die wichtigsten dabei thematisierten Inhalte vorstellen. Im Gegensatz zu der meiner Vorlesung zugrundeliegenden und in der Ethnologie verbreiteten Haltung, die globalen Verflechtungen in allen Lebensbereichen zu betrachten, konzentriert sich diese politische Debatte meist auf das globale Wirtschaftssystem. Dies ist bemerkenswert, denn genauso gut könnte es ja auch um die Weltpolitik gehen. Doch deren schon lange anhaltende Globalisierung – weltumspannende Kolonialreiche, zwei Weltkriege, die beiden Weltmächte des Kalten Krieges mit ihren global verteilten Einmischungsgebieten – ist für uns gewohnter als die tiefgreifenden Transformationen der Weltwirtschaft seit den 1970er Jahren. Die Ironie an der politischen Debatte über dieses Thema liegt darin, daß sie die Abwesenheit der Politik thematisiert: Die Befürworter des freien Welthandels freuen sich über seine von staatlicher Lenkung ungestörte Dynamik, die Kritiker beklagen, daß die jüngeren Transformationen politisch zu wenig und wenn, dann auf bedenkliche Weise – nur von wenigen reichen Staaten, nur in undurchsichtigen Gremien – kontrolliert sind. Als problematisch gilt hier also ein Primat der Wirtschaft über die Politik bzw. über eine demokratisch legitimierte Politik. Im folgenden gehe ich zunächst anhand einer kurzen historischen Rückschau der Frage nach, ob die jüngere Globalisierung der Wirtschaft tatsächlich so revolutionär ist, wie oft behauptet wird. Danach werde ich die neuere Entwicklung, die daran zentral beteiligten Institutionen und die Standpunkte der Globalisierungskritiker eingehender betrachten. Mit alledem möchte ich einen für Ethnologen wichtigen Hintergrund zumindest im Überblick beschreiben, denn die Globalisierung der Weltwirtschaft hat gerade auf viele der außereuropäischen Länder, auf die sich die ethnologische Forschung traditionsgemäß ja konzentriert, tiefgreifende und auch viele nicht-wirtschaftliche Lebensbereiche entscheidend beeinflussende Auswirkungen. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 40 Globalisierung der Wirtschaft: Ein alter Hut? Die Historiker Osterhammel und Petersson beschäftigen sich in einem kurzen Buch mit der Geschichte der Globalisierung (Osterhammel und Petersson 2003) und der Frage, wie alt die heutigen weltweiten Verflechtungen sind. Ihnen zufolge gab es vor der Kolonialzeit in der Menschheitsgeschichte zwar immer wieder Globalisierungsanläufe, doch folgten auf diese regelmäßig Phasen der Deglobalisierung. Noch Anfang des 18. Jhs. konnte man kaum von Globalisierung im heutigen Sinne sprechen. Das Gewicht des Fernhandel gegenüber der lokalen und regionalen Produktion war noch gering. Außer den Niederlanden gab es keine Gesellschaft, die vorrangig dem Fernhandel ihren Reichtum verdankte, und außer den zuckerproduzierenden Sklavenhaltergesellschaften in Amerikas gab es nirgendwo überwiegende Exportproduktion. Wirtschaftlich nicht vernetzt zu sein bedeutete damals noch kein gravierendes Problem. Um 1750 waren jedoch die europäischen Handels- und Kriegsmarinen auf allen Meeren dominant, und es wurden nun bis etwa 1880 ungekannte weltwirtschaftliche Verflechtungen aufgebaut, die eine irreversible Vernetzung schufen. Mit der Baumwolle wurde ein überseeischer Rohstoff zur Grundlage der frühen Industriellen Revolution, und einmal in Fahrt gekommen, beförderten ihre Produkte – Eisenbahnen, Dampfschiffe, schwere Waffen – die weitere globale Verflechtung. 1846 schaffte Großbritannien seine Importzölle ab und gestattete auch in seinen Kolonien den Angehörigen anderer Staaten den freien Handel. Diese Vorbild machte Schule, und ab den 1870er Jahren standen alle wichtigen Währungen in einem festen Verhältnis zum Gold, was weltumspannende Handelsgeschäfte und Investitionen ohne Kurs- und Inflationsrisiken ermöglichte und multinational tätigen Unternehmen ihre Arbeit erleichterte. Ab etwa 1880 wird es alltäglich, von einer „Weltwirtschaft” zu sprechen, und in manchen Bereichen ist die globale Verflechtung zur Zeit des Ersten Weltkriegs bis heute nicht wieder erreicht worden. In diese Zeit fallen auch die ersten weltweit spürbaren Konjunkturbewegungen und – krisen. Begleitet wurde dieses Goldene Zeitalter des Freihandels technisch-organisatorischen Verflechtungen und Standardisierungen in anderen Bereich, wie z. B. der Einführung der Weltzeit 1884, der bereits angesprochenen Ausbreitung der Telegrafenkabel, der Vereinheitlichung des Postwesens, dem Versuch, Esperanto zur Weltsprache aufzubauen u. ä. Es gab damals auch schon etwa 200 INGOs (internationale Nichtregierungsorganisationen) wie etwa das Internationale Rote Kreuz, und auch politische Bewegungen wie der Suffragismus oder die Arbeiterbewegung breiteten sich international aus. Damit war laut Osterhammel und Petersson all das, was die gegenwärtige Globalisierung kennzeichnet, rudimentär schon vorhanden. Ab etwa 1880 und verstärkt durch die beiden Weltkriege folgte darauf eine Phase, die sich VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 41 nicht unbedingt als Deglobalisierung einschätzen, sondern eher als Versuch starker Nationalstaaten, die Globalisierung nach ihren Bedingungen zu formen. Der Goldstandard der Währung zerbrach am Ersten Weltkrieg, und in der Weltwirtschaftskrise ab 1929 brach der Welthandel um zwei Drittel ein. Statt eines „Weltbewußtseins” bekämpften sich – die jede für sich durchaus weltweit verbreiteten – Ideologien des Liberalismus, des Kommunismus und des Faschismus. Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen reduzierten diese ideologische Konkurrenz auf die der beiden Blöcke des Kalten Krieges und ihrer Weltordnungen. Im Lager der westlichen Industrieländer kam es zu einer neuen Blüte des Freihandels und zu kräftigem wirtschaftlichem Wachstum, doch blieben die sozialistischen Staaten davon abgeschottet. Auch viele außereuropäische Länder schützten sich mit Einfuhrbeschränkungen und der sogenannten Importsubstitution, bei der versucht wird, Weltmarktprodukte durch solche aus eigener Produktion zu ersetzen, vor der globalen Konkurrenz, und aufgrund der Rivalität der Supermächte wurde ihnen dies damals auch noch zugestanden. Japan und später den „Tigerstaaten” Südkorea, Taiwan, Singapur, Hongkong gelang damit der wirtschaftliche Aufstieg, anderen Staaten jedoch nicht, und weiterhin war es z. B. der Volksrepublik China möglich, sich so gut wie völlig aus der Weltwirtschaft und übrigens auch der Weltkommunikation (über das opferreichste Erdbeben der Moderne – das Tangshan-Erdbeben 1976 – wurde damals z. B. im Westen fast nichts bekannt) auszuschalten. Voll in die Weltwirtschaft eingebunden wurden zunächst nur die Ölstaaten, und auch in den westlichen Industrieländern regierte damals noch die – nach John Maynard Keynes benannte – keynesianische Wirtschaftslehre, nach der volkswirtschaftliche Gesundheit einen stark steuernden und lenkenden Staat erforderte. Die sozialdemokratischen Wohlfahrtsmodelle blühten, und Protektionismus war weit üblicher als heute und (was Osterhammel und Petersson nicht erwähnen) etwa für die Beziehungen zwischen den USA und Japan eine beträchtliche Belastung. Auch andere Ingredienzen der wirtschaftlichen Globalisierung wie etwa der Massenferntourismus, die Massenmigration und die Konsum- und Markenorientierung begannen erst in den 1960er Jahren ihre Blütezeit. Für die frühen 1970er Jahre ist damit – trotz aller politischen Veränderungen und trotz der erfolgten Dekolonisation – noch kein fundamentaler Unterschied zur Situation vor dem Ersten Weltkrieg festzustellen, und was gewöhnlich als Globalisierung der Weltwirtschaft diskutiert wird, geschah größtenteils danach. Die neoliberale Globalisierung seit den 1970er Jahren In den 1970er Jahren erfolgten dann aber zwei wichtige Entwicklungen. Die eine betraf den US- VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 42 Dollar, der in der westlichen Nachkriegsordnung als globale Leitwährung fungiert hatte, einmal aufgrund der überragenden Wirtschaftskraft der USA und zum anderen, weil sein Wert durch die Goldreserven in Fort Knox abgesichert war. Die wichtigsten anderen Währungen waren durch feste Wechselkurse aneinander gekoppelt; ein Dollar kostete damals z. B. vier Mark, und für das britische Pfund mußte man zwölf Mark hinlegen. Durch Spekulationsgeschäfte und durch die ab Mitte der 1960er Jahre expansive und inflationäre US-Ausgabenpolitik, die aufwendige Sozialprogramme und den Vietnamkrieg zu finanzieren hatte, geriet der Dollar jedoch unter Abwertungsdruck. 1971 gab Präsident Nixon zunächst die Goldbindung – also die Garantie, von der Federal Reserve jederzeit den Gegenwert eines Dollars in Gold erhalten zu können – auf, und 1973 wurden die vorher zwischen den Regierungen vereinbarten Wechselkurse der wichtigsten Währungen freigegeben. In den 1980er Jahren entwickelten sich frei gehandelte Währungen zur globalen Norm, und der Umfang der Devisentransaktionen wuchs rasant an (hierzu und zum folgenden siehe Autor/innen/kollektiv Telematik 2003, Müller 2002). Die zweite wichtige Entwicklung wurde durch die beiden Ölkrisen 1973 und 1979, die nicht zu stoppende Inflation und den Beginn der Massenarbeitslosigkeit in den Industrieländern angestoßen. All dies zeigte die Grenzen staatlicher Konjunktursteuerung und Wohlfahrtspolitik auf, und in der Folge setzten sich die neoliberalen Überzeugungen des Chicagoer Wirtschaftsprofessors und Nobelpreisträgers Milton Friedman und seiner Anhänger gegenüber dem Keynesianismus durch. Der Staat sollte sich ihrer Ansicht nach auf eine inflationsvermeidende Geldpolitik beschränken und sowohl seine eigene Einnahmen – d. h. die Steuern – als auch seine Ausgaben reduzieren. Die Wahlsiege von Margaret Thatcher in Großbritannien 1979 und von Ronald Reagan in den USA 1981 halfen, diese Überzeugungen politisch durchzusetzen, und die internationalen Finanzinstitutionen (dazu gleich mehr) spielten für ihre weltweite Verbreitung eine wichtige Rolle. Vor allem in vier Bereichen machte sich der Siegeszug der neoliberalen Globalisierung bemerkbar. Erstens expandierte der Welthandel. Von 1975 bis 2000 wuchs die weltweite Produktion inflationsbereinigt um jährlich 6 Prozent, der Welthandel jedoch um jährlich 13 Prozent (Autor/innen/kollektiv Telematik 2003). Besonders stark betraf dies den Handel mit Dienstleistungen und darunter wiederum wissensintensive Dienstleistungen. Begünstigt wurde dies durch erhebliche Kostensenkungen des Waren- und Informationsverkehrs. Die Schiffs- und Nagivationstechnik wurde noch einmal erheblich verbessert, die Durchsetzung der Transportcontainer hatte geradezu revolutionäre Folgen für die Transportkosten und -zeiten, und die Deregulierung der Telefonie und die Ausbreitung des Internets beschleunigte und verbilligte die Kommunikation. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 43 Zweitens wuchs die Bedeutung multinationaler Konzerne. Die grenzüberschreitenden Direktinvestionen haben sich zwischen 1982 und 2000 verdreißigfacht, zehnmal schneller als selbst der Welthandel (Autor/innen/kollektiv Telematik 2003), wozu die Marktöffnung vieler Länder – darunter auch der postsozialistischen Staaten – erheblich beitrug. Früher entstanden multinationale Konzerne meist durch die Gründung von Auslandsfilialen, die im wesentlichen verkleinerte Kopien der Zentrale waren, und dienten hauptsächlich dazu, die damals noch höheren Transportkosten zu verringern und Einfuhrzölle zu umgehen. Der überwiegende Teil der Direktinvestitionen von einem Staat in einen anderen fließt jedoch heute nicht in Neugründungen auf der grünen Wiese, sondern in grenzüberschreitende Unternehmensaufkäufe und Fusionen. Wo bei den entstehenden Konglomeraten eigentlich die Zentrale und wo die Filiale liegt, ist oft kaum mehr zu sagen, und die Produktionsschritte werden ganz nach den lokalen Bedingungen (Löhne, Fachqualifikationen, Arbeitsrecht etc.) auf die weltweiten Standorte verteilt. Gleiches gilt auch für die Gewinne, die sich der Besteuerung entsprechend verschieben lassen, etwa indem eine Konzerntochter in einem Land mit niedrigen Steuern einer anderen Tochter in einem Land mit hohen Steuern Produktionskomponenten, Dienstleitungen oder Software zu überteuerten Preisen verkauft. Diese Entwicklung ist besonders in Bereichen mit globalen Märkten (Autos, Pharmazeutika), in vormals staatlich geregelten, nun aber privatisierten Branchen (Energie, Telekommunikation) und bei Finanzdienstleistungen (Banken, Versicherungen) zu beobachten. Hierzulande vertraute Beispiele sind DaimlerChrysler, die weltweiten Einkaufstouren von Telekom und Bertelsmann, das Vordringen des schwedischen Energieunternehmens Vattenfall nach Deutschland oder die Übernahmeschlacht zwischen Mannesmann und Vodafone. An die Beteiligung japanischer Unternehmen an diesen Firmenhochzeiten sind wir schon länger gewöhnt, doch mittlerweile treten hier auch chinesische und indische Konzerne – wie die Stahlfirma Mittal, die den europäischen Hauptkonkurrenten Arcelor geschluckt hat, oder der Autohersteller Tata, an den Ford die Firmen Jaguar und Land Rover verkauft hat – auf den Plan. Nicht weniger als 60 Prozent des Welthandels, schätzt die OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development; Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), erfolgen heute innerhalb solcher multinationaler Konzerne (Liebert 2008). Drittens und in der Globalisierungsdiskussion besonders beachtet sind der Umfang und die Verflechtungen der weltweiten Finanzmärkte stark angestiegen. Mittlerweile ist es zu jeder Tages- und Nachtzeit möglich, irgendwo auf der Welt Devisen und Wertpapiere zu handeln. Der Umsatz der Devisenmärkte hat sich von 1975 bis 2000 verdreißigfacht. Nur drei Prozent dieses Umsatzes entfällt auf Handel und Direktinvestitionen (Autor/innen/kollektiv Telematik 2003). Ein Teil der restlichen Transaktionen dient der Absicherung: Wenn z. B. ein Unternehmen für VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 44 ein jetzt in den USA bestelltes, aber erst in einem halben Jahr geliefertes und dann auch zu bezahlendes Importprodukt den augenblicklichen Dollarkurs garantieren möchte, kann es bei den Banken entsprechende Optionsscheine erwerben. Die große Mehrheit der Transaktionen sind jedoch spekulativer Art, d. h. sie bauen darauf, daß die erworbene Währung zukünftig im Wert steigt, oder betreffen gleich die Optionen statt das reale Geld. Im gleichen Zeitraum ist auch der Handel mit Aktien um ein Mehrfaches schneller gewachsen als der Kapitalwert der Aktien (Autor/innen/kollektiv Telematik 2003). Banken und andere Finanzunternehmen verdienen so immer weniger mit ihrer ursprünglichen Aufgabe der Kreditvergabe und immer mehr mit Gebühren und Beratung für Devisen- und Wertpapiertransaktionen, und daher liegt diese Expansion ganz in ihrem Interesse. Obwohl die institutionellen Anleger – Versicherungen, Investment- und Pensionsfonds – an Gewicht gewonnen haben, sind die dabei zu beobachtenden Anlagestrategien kurzfristiger, spekulativer (auch durch die Einführung von Derivaten wie Optionen und Futures) und anonymer geworden, und auch vormals konservative Anleger wie etwa die semiöffentlichen deutschen Landesbanken haben in amerikanische Hypothekenfonds investiert und sind durch das Platzen der amerikanischen Immobilienblase in entsprechende Schwierigkeiten geraten. Kritiker beklagen hier „Kasino-Kapitalismus”, und tatsächlich gab es in den basalen Wirtschaftsdaten der südostasiatischen Länder wenig, was auf die Asienkrise 1997 und das Absacken ihrer Währungen vorbereitet hätte. Die Finanzwirtschaft ist gegenüber nicht recht erklärbaren, sich aber trotzdem auf sehr dynamische Weise selbst verstärkenden Schwankungen anfälliger geworden. Ein vierter Bereich, der sowohl als globalisierend als auch als deglobalisierend verstanden werden kann, sind die regionale Freihandels- und Wirtschaftsräume. Am weitesten fortgeschritten ist hier die EU, die nicht nur eine Währung, eine Zentralbank und eine gemeinsame Wirtschaftspolitik teilt, sondern auch in vielen anderen außen- und innenpolitischen Bereichen Standardisierungen und Liberalisierungen vorgenommen hat. Noch weitgehend auf den Wegfall interner Zollschranken und Investitionshemmnisse konzentriert sind andere Bündnisse wie das die USA, Kanada und Mexiko umfassende NAFTA (North American Free Trade Agreement; Nordamerikanisches Freihandelsabkommen), MERCOSUR (Mercado Común del Sur, Gemeinsamer Markt des Südens) mit den Mitgliedern Argentinien, Uruguay, Paraguay, und Brasilien, dem in der Aufnahme befindlichen Venezuela und weiteren assoziierten lateinamerikanischen Staaten sowie ASEAN (Association of Southeast Asian Nations, Verband Südostasiatischer Nationen) mit zehn südostasiatischen Mitgliedern. 2000 wurde ein Drittel des Welthandels innerhalb dieser vier Freihandelszonen abgewickelt (Autor/innen/kollektiv Telematik 2003). Intern bewirken diese Wirtschaftsräume natürlich zunehmende VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 45 grenzüberschreitende Verflechtungen, doch sind sie nach außen hin oft mit protektionistischen Maßnahmen geschützt und auch in anderer Hinsicht – wie z. B. der Immigration – sehr auf den Erhalt ihrer Grenzen bedacht. Die globalen Finanz- und Handelsinstitutionen Doch sind nicht nur indische Stahlkonzerne oder amerikanische Pensionsfonds die big players der Globalisierung. Fast noch mehr konzentriert sich die Kritik auf die internationalen Finanzinstitutionen oder IFIs, die auch als Bretton-Woods-Institutionen bekannt sind (siehe hierzu Hütz-Adams 2004, Leggewie 2003: 102-109, Miller 1997: 35-57, Müller 2002: 86-129 und die Internet-Seiten der IFIs). In Bretton Woods, einem kleinen, mittlerweile eingemeindeten Ort in New Hampshire, fand nämlich 1944 die Konferenz der Kriegsallierten statt, auf der angesichts der sich abzeichnenden Kriegsniederlage der Achsenmächte diese Institutionen geplant wurden. Zum Teil waren sie eine Lehre aus dem Ersten Weltkrieg und den sich anschließenden protektionistischen Alleingängen mancher Staaten, die zur Weltwirtschaftskrise 1929 und damit indirekt auch zum Zweiten Weltkrieg beigetragen hatten. Die neuen Institutionen sollten auf der Grundlage von stabilen Wechselkursen den freien Kapital- und Warenfluß sichern und so zum Selbstbestimmungsrecht der Völker und zu einem kollektiven Sicherheitssystem beitragen. Dies stand durchaus auch im Einklang mit den wirtschaftlichen Zielen der sich gerade zur Weltmacht aufschwingenden USA, doch war an ein multilaterales System gedacht, nicht an bilaterale, durch den stärkeren Partner diktierte Handelsbeziehungen wie innerhalb der Kolonialreiche oder später zwischen der Sowjetunion und ihren sozialistischen Verbündeten. Aus dieser Konferenz gingen drei Institutionen hervor, die alle Sonderorganisationen der 1945 gegründeten UN sind, nämlich der Internationale Währungsfonds (IWF, International Monetary Fund [IMF]), die Weltbank (World Bank) und GATT (General Agreement on Tariffs and Trade, Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen). Der IWF und die Weltbank, beide mit Sitz in Washington, haben dieselben 185 Mitglieder und verfügen über Einlagen der Mitgliedsstaaten von 600 Milliarden Dollar. Die WTO (World Trade Organization, Welthandelsorganisation) mit Sitz in Genf, die 1995 die Nachfolge von GATT antrat, hat 151 Mitgliedsstaaten, und ihre Regelungen betreffen heute nicht mehr nur wie in den GATTAnfangsjahren 20, sondern über 90 Prozent des Welthandels. Was genau tun diese Organisationen? VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 46 Internationaler Währungsfonds Der Internationale Währungsfonds wurde als gemeinsamer Fonds zur Stabilisierung der Wechselkurse und zur Verhinderung der Abwertungswettläufe der Vorkriegszeit ins Leben gerufen. Wechselkursänderungen waren fortan nur noch mit seiner Zustimmung möglich, und geriet eine der Währung durch massive Verkäufe unter Druck, wurde dem mit stabilisierenden Aufkäufen aus dem gemeinsamen Fonds oder – bei längerfristigen Problemen – mit der Vergabe von mit bestimmten Auflagen verbundenen Krediten begegnet. Noch bis in die 1970er nutzten gerade die westlichen Industrieländer diese Ressource. 1973 scheiterte das System der fixierten Wechselkurse jedoch endgültig, und der IWF hatte seinen ursprünglichen Daseinszweck damit verfehlt. In der Folge erfand sich der IWF neu, nunmehr als Kreditgeber für die oft schon hoch verschuldeten armen Länder und insofern zunehmend bereits mit den Folgen von Liberalisierung und Globalisierung befaßt. In den 1970er Jahren entwickelte sich nämlich die viele Länder des Südens betreffende Schuldenkrise. Das Geld der arabischen Ölstaaten ließ europäische und amerikanischen Banken nach neuen Anlagemöglichkeiten suchen, und viele außereuropäische Staaten bedienten sich begeistert bei den angebotenen günstigen Krediten. Bald jedoch stiegen die vom US-Finanzmarkt diktierten Zinsen, die für die Exporterlöse der Länder des Südens wichtigen Rohstoffpreise sanken, und die Wechselkurse erfuhren unvorhersehbare Schwankungen. 1982 erklärte sich Mexiko für unfähig, seine Zinsen zu zahlen, und auch andere vor allem lateinamerikanische Länder häuften gewaltige Schuldenberge auf. Damit begann ein bis heute anhaltende Prozeß der Verhandlungen über den Umgang mit diesen Belastungen, die teils durch Rückzahlungen und (selten genug) durch Streichungen reduziert, häufiger jedoch durch Umschuldungen in neue Kredite aufgefangen, aber so auch perpetuiert wurden. Der IWF übernahm hier im Verein mit der Weltbank eine neue Rolle als Organisator der Umschuldung und als mächtiger Kreditgeber, was dann gewöhnlich mit der Übernahme der sogenannten Strukturanpassungsprogramme (structural adjustment programs [SAP]; s. u.) verbunden ist. Daneben fällt auch die Standardisierung und Zentralisierung der globalen Wirtschaftsdaten in den Aufgabenbereich des IWF. Weltbank Im Gegensatz zum erst später in diesen Bereich eingestiegenen IWF waren die Weltbank und ihre beiden Einzelbestandteile, die International Bank for Reconstruction and Development (IBRD) und die 1960 hinzugekommene International Development Association (IDA), von Anfang an auf wirtschaftliche Entwicklung ausgerichtet. Zunächst betraf dies die Kriegsschäden, VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 47 bald schon trat jedoch die Entwicklung der armen Länder und ehemaligen Kolonialstaaten in den Vordergrund. Hat der IWF eine grundsätzliche Kreditwürdigkeit festgestellt, vergibt die Weltbank Kredite für von ihr als aussichtsreich beurteilte Projekte aller Art zu günstigen Zinssätzen (IBRD) oder – für die ärmsten Länder – fast zinslos oder sogar als Geschenk (IDA). Die Weltbank ist nicht nur der wichtigste einzelne Kreditgeber der armen Länder, sondern auch ein Meinungsführer im internationalen Entwicklungshilfediskurs. GATT und WTO Das Handelsabkommen GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) war zunächst nur eine Notlösung, da die eigentlich angestrebte internationale Handelsorganisation als nicht durchsetzbar erschien. Ihr standen die Schwierigkeiten der Einbeziehung der Ostblockstaaten mit ihren staatlichen Außenhandelsmonopolen und der aus politischen Gründen wie etwa den Loyalitäten im Kalten Kreig ratsame Schutz der schwächeren Volkswirtschaften vieler außereuropäischer Länder entgegen. Auch so wurden in insgesamt acht jeweils mehrjährigen Verhandlungsrunden die Zölle beträchtlich gesenkt und Dumpingpraktiken reduziert. Standardhindernisse des Prozesses waren jedoch die geschützten Agrarsektoren der reichen Länder und der Umfang der Zugeständnisse an Entwicklungs- und Schwellenländer. 1995 übernahm die WTO die mit größerer Verbindlichkeit ausgestattete Nachfolge von GATT. Ihr entscheidendes Gremium ist die alle zwei Jahre stattfindende Ministerkonferenz der Mitgliedsstaaten. Das zentrale Instrument der WTO ist das Schlichtungsverfahren: Jedem Mitgliedstaat steht es zu, ein solches zu eröffnen und darin die Import- und Handelsbestimmungen eines anderen Mitgliedstaates als “unerlaubtes Handelshemmnis” überprüfen zu lassen. Für die Entscheidungen des Schlichtungsverfahrens gilt die „Meistbegünstigung”: Einem anderen Staat eingeräumte Handelsprivilegien müssen allen WTOStaaten eingeräumt werden, und bilaterale Bevorzugungen sind verboten. Anders als GATT brechen die WTO-Entscheidungen nationales Recht, und sie sind auch – als neben dem Sicherheitsrat einzigen Fall unter den UN-Institutionen – mit Sanktionen wie Schadensersatz und Strafzöllen bewehrt. Die beschuldigten Ländern verfügen jedoch über umfangreiche Blockadeund Veto-Rechte. Im Laufe der Zeit haben sich die GATT- und WTO-Kompetenzen erweitert. Sie regeln nun nicht mehr nur den Handel im engeren Sinne, sondern auch Auslandsinvestitionen, Wettbewerbsbedingungen und Arbeitsrecht, zum Teil in Konkurrenz mit anderen UNOrganisationen wie der ILO (International Labor Organization; Internationale Arbeitsorganisation). Stein des Anstoßes für viele Kritiker sind außerdem die beiden Abkommen GATS (General Agreement on Trade in Services, Allgemeines Abkommen über den Handel mit VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 48 Dienstleistungen) und TRIPS (Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights, Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum), da sie sich in bislang aus solchen Regelungen herausgehaltene (Dienstleistungen) und moralisch umstrittene (z. B. Patente auf lebenswichtige Arzneimittel oder Gensequenzen) Bereiche einmischen. Der Washingtoner Konsens und die Kritik Zwischen den Strategien der IFIs gibt es Unterschiede; die Weltbank ist z. B. aufgeschlossener für andere als rein marktwirtschaftliche Kriterien als der IWF. Trotzdem haben sich ihre Aufgabengebiete und ihre Politiken im Laufe der Zeit angenähert, so daß sie auch in der verbreiteten Kritik an ihrer Politik häufig in einem Atemzug genannt werden. Die Arbeitsgrundlage der IFIs bildeten lange Zeit die neoliberalen Prinzipien des – niemals offiziell verabschiedeten – Washingtoner Konsens (Washington Consensus), wie der Wirtschaftswissenschaftler John Williamson sie 1989 bezeichnet hat. Der ideale Kreditnehmer von Weltbank und IWF strebt demnach nach einem ausgeglichenen Staatshaushalt, privatisiert die Staatsunternehmen, senkt die Steuern, liberalisiert Handel, Finanzen und ausländische Direktinvestitionen und sorgt für klare und respektierte Eigentumsrechte. Nur dann – so die Annahme – können die Selbstheilungskräfte des Marktes ihre Wirkung entfalten, Ineffizienzen ausmerzen und Wachstum und Wohlstand für alle bringen. Längst nicht jedem Staat, der bei diesen Institutionen vorstellig geworden ist, sagt dieses Programm zu, aber vielfach besteht keine Alternative, als sich unter der Last des Schuldendienstes, die oft einen beträchtlichen Teil der Exporterlöse auffrißt, dem Regime der „Strukturanpassungen” zu unterwerfen. Immer wieder wird den IFIs vorgeworfen, nicht mehr als die Vertreter der Wirtschaftsinteressen reichen Länder zu sein. Anders als etwa bei UN-Vollversammlungen hat nicht jedes Land eine Stimme, sondern die Stimmanteile an IWF und Weltbank bemessen sich nach den Einlagen des jeweiligen Staates. Da alle Entscheidungen von den Inhabern von mindestens 85 Prozent der Anteile gefällt werden müssen, hat die USA mit etwa 17 Prozent der Anteile ein faktisches Vetorecht, und die nächstgrößten Einleger Japan, Deutschland und Großbritannien haben es zusammen ebenfalls. Die Sitze von IWF und Weltbank befinden sich in der US-Hauptstadt, und Weltbankdirektor ist traditionsgemäß ein US-Amerikaner (momentan Robert Zoellich) und IWF-Direktor ein Europäer (momentan Dominique Strauss-Kahn). Der WTO sitzt gegenwärtig ebenfalls ein Franzose (Pascal Lamy) vor. Politische Motive der USA und der westlichen Länder werden hinter einer Vielzahl von Entscheidungen vermutet. So erhielten die lateinamerikanischen Großschuldner immer wieder neue Kredite, die letztendlich den Außenständen der westlichen Gläubigerbanken zugute kamen. Kaum hatten sich Ägypten VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 49 oder Pakistan im Golfkrieg und nach dem 11. September als kooperativ erwiesen, zeigten sich die IFIs ihren Anliegen gegenüber sehr offen. Die seit 1975 immer wieder zu Gipfeltreffen zusammenkommende „Gruppe der Sieben” (G7) – die USA, Kanada, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Japan; seit 1998 durch die (faktisch eingeschränkte) Aufnahme Rußlands zur G8 geworden – genießt besonders Vorrechte und trifft sich regelmäßig vor den entscheidenden WTO-Sitzungen mit dem Generaldirektor. Und der proklamierte Respekt für Menschenrechte war lange Zeit kein Hindernis, auch den Diktatoren der Welt IWF- und Weltbank-Mittel zukommen zu lassen Die WTO ist am aktivsten bei Industrieprodukten und Dienstleistungen, die überwiegend bzw. zu 90 % von den Industrieländern exportiert werden, während bei arbeitsintensiven Produkte, Textilien und Agrarprodukten, die zu 70 % von den ärmeren Ländern exportiert werden, weit weniger auf Liberalisierung der Märkte gedrängt wird. Gerade hier könnte jedoch eine Änderung besonders viel bewirken, denn die Agrarsubventionen der Industrieländer übertreffen das Sozialprodukt Afrikas, und eine konsequente Liberalisierung könnte – so die WTO selbst – das Dreifache der gesamten Entwicklungshilfe einbringen (Müller 2002: 108). Die EU und die USA nehmen vielfältige Ausnahmen in Anspruch, und die eigentlich verpönten bilateralen Handelsabkommen gibt es weiterhin. Die Ausweitung der WTO-Kompetenzen auf Dienstleistungen (GATS) und geistiges Eigentum (TRIPS) führt zudem zu Konflikten in den Bereichen, die in vielen Staaten wie den westeuropäischen zur Daseinsvorsorge gerechnet werden und noch nicht komplett privatisiert sind, wie etwa Strom, Wasser, Gesundheit, Bildung oder öffentlich-rechtliche Sender. Bei uns durchaus als legitim verstandene staatliche Einschränkungen – Ladenöffnungszeiten, Bauvorschriften, Umweltbestimmungen, Kennzeichnungspflicht für genmanipulierte Inhaltsstoffe, öffentliche Finanzierung von Bildungseinrichtungen, Buchpreisbindung o. ä. – werden dann zu „Handelshemmnissen”. Für alle IFIs wird auch immer wieder die geringe demokratische Kontrolle beklagt. Die z. B. an den Ministerkonferenzen beteiligten Regierungsmitglieder sind nur national gewählt, und die dortige Entscheidungsfindung ist den Blicken der Öffentlichkeit stärker entzogen als die auf nationalstaatlicher Ebene. Der britische Ethnologe Daniel Miller schreibt in seiner Studie zur Entwicklung des Kapitalismus in Trinidad (1997: 35-53), daß fast jeder, mit dem er dieses Thema diskutiert, den Bretton-Woods-Institutionen Parteilichkeit unterstellt. Er selbst hält diese für die Erklärung ihrer neoliberalen Stategien jedoch für gar nicht nötig, stattdessen liegt das Problem in der sehr viel grundsätzlicheren Herrschaft der neoklassischen Wirtschaftstheorie. Aus deren Grundannahmen – Menschen und Unternehmen als rationale Nutzenmaximierer, deren Angebot und Nachfrage VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 50 auf einem freien Markt die für alle günstigsten Preise und bestmögliche Versorgung sicherstellen – ergibt sich das von den Gründervätern der Nationalökonomie, Adam Smith und David Ricardo, ausgearbeitete Konzept der „komparativen Kostenvorteile” (comparative cost advantages). Die größtmögliche Wohlfahrt für alle ergibt sich demnach dann, wenn jede Volkswirtschaft genau das produziert, was sie relativ zu den anderen Volkswirtschaften und zu den eigenen Alternativen am kostengünstigsten herstellen kann. Nicht selbst hergestellte Güter können dann erhandelt werden. Im Klartext geht es darum, daß es genau so wenig Sinn für Deutschland macht, Kakaoplantagen anzulegen, wie für Ghana, eine industrielle Milchwirtschaft aufzubauen. Beides wäre – angefangen bei der Beheizung der Glashäuser für die deutschen Kakaosträucher – mit viel zu hohen Kosten verbunden, und beide Länder fahren besser damit, sich auf das zu spezialisieren, was sie preiswert anbieten können, und dann miteinander Handel zu treiben. Miller spricht hier von „pure capitalism” – in der Theorie ist dieses Modell vollkommen logisch, und als Lehrinhalt der weltweiten Wirtschaftsfakultäten und Business Schools wird es zur Ideologie ihrer Topabsolventen, aus denen sich das IFI-Personal rekrutiert. In der Realität herrscht jedoch das vor, was Miller „organic capitalism” nennt, und es zeigt sich immer wieder, daß die theoretisch so einleuchtenden Modelle nicht funktionieren, die stillschweigenden Voraussetzungen – perfekt funktionierende Märkte und Informationsströme mit problemlosen Einstiegsmöglichkeiten für jeden Anbieter – nicht bestehen oder der Theorie widersprechende Fälle – wie etwa die sehr stark vom Staat gelenkten Wirtschaftswunder Japans und der Tigerstaaten – existieren. Mit geradezu religiöser Inbrunst setzen sich die IFIs Miller zufolge trotzdem immer wieder für das neoliberale Standardrezept ein – Geldstabilität, Privatisierung, Abbau der Staatsausgaben, freier Außenhandel, Exportorientierung –, und es sind ironischerweise gerade ihre Schuldnerstaaten, bei denen sich all diese Strukturanpassungen auch tatsächlich durchsetzen lassen, während gegenüber dem Protektionismus der reichen Länder des Westens keine Druckmittel bestehen. Miller selbst zeigt eindringlich, wie das Rückschrauben des staatlichen Sektors in Trinidad Arbeitsplätze in großer Zahl vernichtet und die neue internationale Konkurrenz viele einheimische Unternehmen zerstört. „Ineffizient” mögen diese zwar gewesen sein, aber ein behutsamerer Übergang hätte den betroffenen Unternehmen mehr Möglichkeiten zur Anpassung gegeben und die Kosten für den jetzt fälligen Neuaufbau in vielen Bereichen reduziert. Auch das Ziel einer besseren globalen Verteilung des Reichtums haben die IFIs nicht verwirklicht. Die durch die Liberalisierung auftretenden Schwankungen der Zinssätze und Wechselkurse machen wirtschaftliche Transaktionen unsicherer und damit teurer. Selbst in Westeuropa und den USA stieg das Sozialprodukt pro Einwohner 1950 bis 1973 zwar noch um VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 51 jährlich 3,9 Prozent, von 1973 bis 1998 jedoch nur noch um jährlich 1,8 Prozent, und bei den ärmeren Ländern war teilweise negatives Wachstum zu verzeichnen (Müller 2002: 109-110, 112). 1960 war das Durchschnittseinkommen der 20 reichsten Länder der Welt 18 Mal so hoch wie das der 20 ärmsten, doch 1995 hatte sich diese Spanne verdoppelt (2002: 60). Auch geht in allen Staaten – sowohl den reichen als auch den armen und sowohl solchen mit ursprünglich geringen als solchen mit hohen Reichtumsunterschieden – die Schere zwischen den reichsten und den ärmsten Bürgern auseinander. Der Schuldendienst der ärmeren Länder entspricht dem Zweieinhalbfachen der erhaltenen öffentlichen Entwicklungshilfe (2002: 112), und 42 Staaten – die meisten im subsaharischen Afrika – gehören trotz aller Entschuldungsbemühungen auch jetzt noch zur von der Weltbank gebildeten Gruppe der heavily indebted poor countries (HIPC) oder stehen zur Aufnahme an. Eine Reihe von vergleichenden Studien zeigt, daß das Wirtschaftswachstum von Staaten unter IWF-Regime geringer war als das von Staaten, die darauf verzichtet hatten, und daß die Reallöhne sanken (2002: 114). Äthiopien hat sich durch Nichtbefolgung der Programme und Malaysia in der Asienkrise durch eine staatliche Steuerung des Kapitalverkehrs wirtschaftlich stabilisieren können. Hinzu kommt die inhaltliche Kritik an vielen besonders der in früheren Jahren von der Weltbank geförderten Entwicklungsprojekte wie etwa Staudämme, die umfangreiche Umsiedlungen erforderten, oder Agrarprojekte, denen tropischer Regenwald zum Opfer fiel. Die Kritiker ziehen unterschiedliche Konsequenzen: Sowohl von ganz links als auch von ganz rechts erschallt der Ruf nach Abschaffung der IFIs, die meisten Moderaten aber wollen sie reformieren, denn die freie Aushandlung bilateraler Abkommen oder gar die völlige Regellosigkeit würde die ärmeren Länder noch schutzloser dastehen lassen. Auch wird angeführt, daß nationale Regierungen oft anfälliger für Lobbyismus sind als die multinational besetzten IFIs. Auch bei diesen selbst ist Reformwillen vorhanden, vor allem seit der Asienkrise 1997. Mittlerweile ist ein Post-Washingtoner Konsens formuliert, der für die Kredit- und Projektvorgabe neue Ziele nennt. Der vormalige Glaube daran, daß wirtschaftliches Wachstum quasi-automatisch auch bis zu den Armen gelangt und demokratische Tendenzen fördert, ist nun erschüttert, und stattdessen wird gerechtes Wachstum und Demokratie als Voraussetzung für Wachstum gefordert. Auch ist die Staatsfeindlichkeit jetzt gemildert, und sowohl die weltweite Vielfalt der staatlichen Institutionen als auch die generelle Sinnhaftigkeit ihrer Lenkungsfunktion werden nun ausdrücklich anerkannt. Und schließlich finden NGOs jetzt stärkeres Gehör, oftmals mehr als sie in den nationalen Ministerien erlangen. Eine grundlegende Umorientierung ist jedoch auch z. B. in den Reaktion auf die jüngste Nahrungsmittelkrise nicht zu ersehen: Hier empfehlen sowohl Weltbank-Chef Zoellick als auch WTO-Chef Lamy die Stärkung des VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 52 Freihandels als das zentrale Mittel zur Beilegung, und Zoellick wendet sich gegen die von einigen armen Staaten zur Sicherung der eigenen Versorgung verhängten Exportverbote (Herbermann 2008). Die Globalisierungskritiker Multinationale Konzerne und IFIs gehören zu den wesentlichen Zielscheiben des Protestes einer sehr vielgestaltigen politischen Bewegung, deren Anhänger als „Globalisierungskritiker” oder gar „Globalisierungsgegner” bezeichnet werden (Leggewie 2003: 50-88). Bekanntermaßen ist dies nicht immer treffend, denn meist geht es gar nicht um die vollständige Ablehnung der Globalisierung, zu der diese Bewegung ihr Scherflein beiträgt, sondern vielmehr um ihre politische Gestaltung. Globalisierungskritik gibt es zwar durchaus von rechts außen, und auch Jean Marie Le Pen oder die NPD äußern sich in diesem Sinne. Überwiegend ist sie jedoch eine eher auf der linken Seite des politischen Spektrums beheimatet. Ihr „Coming Out” erlebte die Bewegung bei den Protesten gegen die WTO-Tagung in Seattle 1999 und gegen den G8-Gipfel in Genua 2001, und die Begleitung der diversen weltwirtschaftlichen Gipfeltreffen mit Protestaktionen ist seither zum festen Muster geworden, auch hierzulande beim G8-Treffen in Heiligendamm 2007. Daneben hat sie jedoch auch eigene Foren geschaffen, allen voran das erstmals 2001 im brasilianischen Porto Alegre veranstaltete Weltsozialforum, das zeitweilig bis zu sechsstellige Teilnehmerzahlen hatte und das parallel stattfindende Weltwirtschaftsforum der Spitzenpolitiker und Wirtschaftsführer im schweizerischen Davos in den Schatten stellte. Eigene Organisationen wie Attac sind entstanden, doch kennzeichnet die Bewegung eher ihre lose Vernetzung und die Überlappung mit schon länger etablierten institutionellen Strukturen wie z. B. denen von Gewerkschaften oder Kirchen. Die Bewegung wird oft mit einigen besonders prominenten Stimmen identifiziert, die allerdings eher qua Charisma als qua Amt wirken und auch längst nicht immer für alle ihre Anhänger sprechen. Dazu gehören Kritiker aus dem Apparat wie der Hedge-Fonds-Manager George Soros und der Nobelpreisträger und ehemalige Vizepräsident der Weltbank, Joseph Stiglitz, die eine Reform der IFIs fordern, aber auch immer schon außerhalb solcher Institutionen stehende Personen wie der französische Bauernführer José Bové, der aufgrund einer Attacke auf ein im Bau befindliches McDonald’s-Restaurant in Haft geriet und zu einer Art Märtyrerfigur wurde. Wissenschaftler wie der 2002 verstorbene französische Soziologe und Ethnologe Pierre Bourdieu, der Schweizer Soziologe Jean Ziegler und der als besonders scharfer Kritiker des USImperialismus bekannte amerikanische Linguist Noam Chomsky sind ebenso vertreten wie die durch ihr Buch No Logo (Klein 2000) über den Konsum- und Markenterror bekannt gewordene Journalistin Naomi Klein. Als eine führende Stimme aus den betroffenen Ländern gilt die VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 53 indische Romanautorin Arundhati Roy (The God of Small Things), die sich gegen den Bau eines Staudamms im Narmada-Tal ihrer Heimat engagierte und auf kontroverse Weise den 11. September zur logischen Folge der US-Politik erklärte, und für nicht wenige sind auch Revolutionäre wie die mexikanischen Zapatistas und ihr charismatischer Anführer, der Subcomandante Marcos, oder dem Neoliberalismus und der Bush-Administration gegenüber renitente lateinamerikanische Staatschefs wie Fidel Castro, Hugo Chávez, Luiz Inácio Lula da Silva und Evo Morales zu Helden der Bewegung geworden. (Der gerade gewählte paraguayische Staatspräsident Fernando Lugo, ein ehemaliger Bischof, wird sich hier sicherlich einreihen.) Auch Papst Johannes Paul II. äußerte sich öfters recht entschieden gegen schrankenlosen Kapitalismus und für eine Neuverteilung des globalen Reichtums. Es muß kaum betont werden, daß sich in der Kritik an der Globalisierung Stimmen zusammenfinden, die sich über wenig anderes einig sind. Die bekannteste globalisierungskritische Organisation ist das 1998 in Paris als Verein gegründete Netzwerk Attac (Association pour la taxation des transactions pour l'aide aux citoyens, Association for the Taxation of Financial Transactions for the Aid of Citizens), das auf einen Artikel des Le monde diplomatique-Chefredakteurs Ignacio Ramonet zurückgeht. Darin bezieht er sich auf den älteren Vorschlag des amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers und Nobelpreisträgers James Tobin, die sogenannte Tobin-Steuer (Tobin Tax). Die durch die Freigabe der Wechselkurse hervorgerufene Instabilität wollte dieser durch eine Steuer auf Devisentransaktionen eingrenzen, denn bereits ein Steuersatz im Promillebereich würde viele spekulative Transaktionen unrentabel machen und diesem Markt somit viel von seiner unkalkulierbaren Dynamik nehmen. Attac geht es nicht nur um diesen Effekt, sondern auch um die Verwendung der Erlöse für die Bereitstellung globaler Kollektivgüter, den Schuldenerlaß für ärmere Länder und ähnliche Maßnahmen. Vereinzelte Sympathiebekundungen bis hin zu Regierungsmitgliedern und Staatschefs hat es für diesen Gedanken zwar schon gegeben, aber eine konkrete Umsetzung ist bislang nicht in Sicht. Möglichkeiten und Grenzen der Nationalstaaten Eine vielgehörte Weisheit über die Globalisierung besagt, daß diese die Nationalstaaten in ihrer Bedeutung zurückdrängt oder gar ganz auflöst. Die wahren global players sind demnach multinationale Konzerne, transnationale Finanzinstitutionen wie der IWF und die in diesen Organisationen tätigen kosmopolitischen Eliten. Und herausgefordert werden sie heute am ehesten von den INGOs (international non-governmental organizations), d. h. den in den letzten beiden Jahrzehnten boomenden, heute auf nicht weniger als 35.000 (Müller 2002: 142) geschätzten Nichtregierungsorganisationen, die länderübergreifend tätig sind. Greenpeace oder VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 54 Amnesty International, Oxfam oder Médecins sans frontières leisten demnach eher einen Beitrag zur Lösung der globalen Probleme als die trägen und verkrusteten Nationalstaaten und werden von diesen auch immer häufiger zur Hilfe herangezogen, etwa indem bereits ein Fünftel der von den Industrienationen bereitgestellten Entwicklungshilfe über Nichtregierungsorganisationen abgewickelt wird (Leggewie 2003: 101). Und tatsächlich büßen heutige Staaten an wirtschaftlicher Souveränität ein, wenn sie wie die in der EU Aufgaben wie die Geldordnung und –schaffung an eine übergreifende Institution wie die Europäische Zentralbank auslagern oder wenn sie ihre Währungen freiwillig an den Euro – wie die nordafrikanische Zone des ehemaligen französischen Franc – oder an den Dollar – wie etwa Ecuador – anbinden. Dies mag Stabilität schaffen, legt aber die eigene Geldpolitik in die Hände fremder Regierungen. Zweifellos spielt außerdem bei der Festlegung von Steuern und Sozialleistungen die Konkurrenz der Staaten um ausländische Investoren eine gewichtige, ihren Handlungsspielraum einengende Rolle und verführt sie überdies dazu, stärker die nicht so mobile Arbeit als das jederzeit abflußbereite Kapital zu besteuern. Die Nationalstaaten werden jedoch weniger zurückgedrängt als in einen neuen Rahmen gebracht. Die Liberalisierung von Handel und Investitionen sowie die Schaffung regionaler Freihandelsräume wie der EU war das Werk reicher Staaten, und sie behalten ihre Aufsichts- und Einflußfunktion bei Banken, Börsen und IFIs. Gerade die am stärksten an der Globalisierung beteiligten Staaten haben zudem die höchsten Staatsquoten (Osterhammel und Petersson 2003: 110), d. h. geben für staatliche Investitionen und Sozialleistungen im Verhältnis am meisten aus. Und wie kaum betont werden muß, kontrollieren Staaten und Staatenbündnisse einen für die Globalisierung zentralen Faktor wie die grenzüberschreitende Migration in immer perfekterer Weise. Zudem leisten sich die reichen Staaten auch die weitestgehenden Abweichungen vom neoliberalen Credo. Das Handelsbilanzdefizit und die Staatsverschuldung der USA würde der IWF keinem seiner Schuldner durchgehen lassen, und wo es den Interesse Nordamerikas, der EU oder Japans entspricht, blüht der Protektionismus wie eh und je. So wird der Export von Schweinefleisch nach außerhalb der EU mit 54 Cent pro Kilogramm bezuschußt, so daß es auf dem Weltmarkt statt 98 nur noch 44 Cent kostet. Selbst wenn man die nötigen Transport- und Kühlungskosten hinzurechnet, bleibt dies billiger als die 1,72 Euro, die die Produktion von einem Kilogramm Schweinefleisch in Westafrika kostet. In Ghana sind die Tomatenbauern chancenlos gegen das aus der EU importierte subventionierte Tomatenmark, und in Sambia ist die Viehwirtschaft wehrlos gegen das importierte und ebenfalls subventionierte EU-Milchpulver (Zeiner und Herrmann 2008). Ein Zurückschlagen mit den eigenen protektionistischen Waffen VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 55 ist wegen der unterschiedlichen Wirtschaftsstärken aussichtslos, und steht die eigene Volkswirtschaft unter IWF-Kuratel, ist es ohnehin unzulässig. Die USA und Japan stehen der EU in dieser Hinsicht keineswegs nach. Von einem Ende der Nationalstaaten im Zeitalter der Globalisierung kann bislang also noch keine Rede sein, wohl aber davon, daß die eigene Stellung in der Weltwirtschaft immer stärker darüber bestimmt, welche Staaten tatsächlich einen Handlungsspielraum haben und welche nicht. Fluch oder Segen? Eine Bewertung der wirtschaftlichen Globalisierung der letzten drei Jahrzehnte fällt nicht leicht. Nicht nur ereignet sie sich in enger Verflechtung mit vielen anderen Prozessen, die Einschätzung hängt vielmehr auch sehr davon ab, wessen Wohlergehen betrachtet wird. Die Globalisierung hat im Weltdurchschnitt Wirtschaftswachstum und Wohlstandssteigerung zumindest nicht verhindert, und viele Menschen profitieren heute von einem größeren Güterangebot und günstigeren Preisen, angefangen dabei, daß wir heute nur noch Centbeträge fürs Telefonieren ausgeben. Sogenannte Schwellenländer wie China, Indien, die südostasiatischen Staaten oder Brasilien haben einen Wirtschaftsboom erlebt, und auch die Tatsache, daß Irland nicht mehr das Armenhaus, sondern eines der reichsten Länder Europas ist, verdankt sich sehr stark der Globalisierung. Auch darauf, daß heute nicht mehr nur wie im Jahr 1950 30 Prozent, sondern 60 Prozent der Regierungen dieser Welt gewählt werden (Müller 2002: 27), hat die Einbindung in die Weltwirtschaft zweifellos ihren Einfluß gehabt. Ebenso klar ist jedoch, daß wir in einer zutiefst ungleichen Welt leben. Die G7 stellen 12 Prozent der Weltbevölkerung, aber 64 Prozent des Weltsozialprodukts (Müller 2002: 135), die Unterschiede zwischen den Welthandelsbeiträgen der einzelnen Länder und Regionen sind gigantisch, und mit Afrika hat ein ganzer Kontinent kaum von der Globalisierung profitiert. Viele arme Länder bleiben weiterhin von Krediten völlig abhängig. Zudem wachsen in fast allen Gesellschaften die Reichtumsunterschiede. Fast die Hälfte der Menschheit muß mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen, was selbst dann, wenn es von der besten Subsistenzwirtschaft begleitet ist, kaum jemals Wohlstand bedeuten kann. Und auch ein faireres und gerechteres Wirtschaftswachstum hat nicht automatisch andere Folgen für Klima, Umwelt und Biodiversität als das jetzige. Die gegenwärtige Lebensmittelkrise zeigt all die Probleme in Reinkultur auf. Auch wenn der Anteil der Nahrungsmittel am Welthandel stark abgenommen hat, sind die Märkte für Grundnahrungsmittel und Rohstoffe längst global. Wenn daher die Nachfrage nach Fleisch und Milchprodukten in Indien, China und Brasilien steigt, was seinerseits den Futtermittelbedarf erhöht, und wenn sich gleichzeitig der Ölpreis in solche Höhen schraubt, daß die Gewinnung von VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 56 Biokraftstoffen lohnend wird, treibt dies auf der ganzen Welt die Lebensmittelpreise in die Höhe, so daß diese sich seit 2000 mehr als verdoppelt haben (Focus 2008: 217). Spekulative Geschäfte durch Investmentsfonds, die an den tatsächlichen Gebrauch der erworbenen Rechte an Reis, Weizen oder Orangensaftkonzentrat nicht einmal denken, tun das ihrige. Die Bauern sollte dies freuen, sehen sie ihre Produkte doch endlich angemessen bezahlt. Doch wo die Strukturanpassungsprogramme gegriffen und subventionierte Agrarexporte aus den Industrieländern die Märkte überschwemmt haben, ist oft keine einheimische Landwirtschaft mehr übrig, die zügig auf die sich bietenden Chancen reagieren könnte. Stattdessen müssen dort wohl oder übel die Importpreise gezahlt werden, auf die man keinen Einfluß hat. Die Folge sind Not und Unruhen von Mexiko bis Indonesien. Zu einer realistischen und verantwortlichen Ethnologie gehört es, die wirtschaftliche Globalisierung und die globale Ungleichheit im Blick zu behalten. Fast der gesamte Rest der Vorlesung wird davon handeln, daß die weltwirtschaftlichen Verflechtungen die anderen kulturellen Bereiche gerade nicht determinieren und hier statt einer heraufziehenden WeltKonsum-Kultur oder einer globalen Einheitsarmut überall aktiv genutzte Spielräume bestehen. Wenn jedoch ein einzelner Faktor genannt werden soll, der diese Spielräume am meisten einschränkt, dann sind die globalisierte Weltwirtschaft und ihre Folgen sicher der erste Kandidat. In den armen Ländern hat, wie Miller bemerkt, jeder schon einmal vom IWF gehört (1997: 3940). VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 57 Teil IV: Die politische Ökonomie des Weltsystems Einleitung In den letzten beiden Sitzungen habe ich ihnen den Verlauf der Kolonialgeschichte und der bereits in die postkoloniale Phase fallende wirtschaftlichen Globalisierung der letzten drei Jahrzehnte beschrieben. Dabei kamen auch schon ethnohistorische Forschungen zum kolonialen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zur Sprache. Heute sollen Studien im Vordergrund stehen, die sich mit den Auswirkungen der gegenwärtigen weltwirtschaftlichen Verflechtungen befassen und bereits im Zeitalter der Globalisierung spielen. Die meisten dieser Studien sind von neomarxistischen Perspektiven beeinflußt, also den in vielen Sozialwissenschaften immer noch einflußreichen Weiterentwicklungen des klassischen Marxismus. Für sie ist die Wirtschaft nicht ein sich selbst regulierendes System der Kräfte des Marktes, sondern die Grundlage von und gleichzeitig die Konsequenz aus Machtbeziehungen. Bestimmend hierfür sind Klassenkonflikte, d. h. Auseinandersetzungen zwischen Gruppen mit unterschiedlichem Zugang zu den Produktionsmitteln, die jede versuchen, ihre materiellen Vorteile und den darauf gründenden Einfluß zu wahren oder sogar noch auszubauen. Gegenüber dieser materiellen Basis übt der gesellschaftliche Überbau – die sozialen Umgangsformen, Werte und Normen, Religion und kollektive Identität – häufig eine Rechtfertigungsfunktion aus, die den Erhalt des Klassensystems stützt, oft ohne daß es den Betroffenen selbst bewußt ist. Zunächst werde ich die peasant studies der Nachkriegszeit behandeln und ihnen die bekannteste Großtheorie zum globalen Wandel, die Weltsystemtheorie von Immanuel Wallerstein, vorstellen. Den Großteil der Sitzung widme ich dann ethnographischen Studien, die sich auf der Grundlage von Feldforschungen in der Peripherie des Weltsystems um die Umsetzung und auch Ergänzung dieser Theorie bemühen. Die peasant studies Wie bereits beschreiben, hat die Ethnologie das Thema Globalisierung anfangs gemieden. Man war nicht daran interessiert, wie sich die außereuropäischen Gesellschaften durch die koloniale VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 58 und weltwirtschaftliche Erfassung veränderten, sondern wie sie vorher, in einem als ursprünglich gedachten Zustand gewesen waren, und je entlegener die Forschungsorte waren, desto mehr glaubte man davon noch erfassen zu können. In den 1950er und 60er Jahren verschob sich dieser Fokus einer salvage ethnography jedoch stärker hin zur Auseinandersetzung mit den nun unabhängigen neuen Staaten, und das Gros ihrer Bevölkerung waren keine quasi-autonomen Stammesgesellschaften, sondern seit Jahrzehnten oder sogar schon Jahrhunderten in größere Systeme eingebundene peasants. Nicht weniger als ein Viertel der Weltbevölkerung, schätzt Frank Cancian (1989: 128), gehört zu dieser Schicht. Das Wort peasant ist nicht leicht zu übersetzen, da das deutsche Wort „Bauer” sowohl mit peasant als auch mit farmer übersetzt werden kann. Ein peasant ist jedoch gerade durch den Gegensatz zum farmer gekennzeichnet. Während farmers gezielt für einen Absatzmarkt produzieren, oft mit erheblicher und schnell wechselnder Spezialisierung, und damit eher als Agrarunternehmer zu bezeichnen sind, steht für peasants die Subsistenzwirtschaft, also das Bemühen, sich mit den wesentlichen Gütern selbst zu versorgen, im Vordergrund. Nicht alles Lebensnotwendige kann jedoch selbst produziert werden, und so verkauft auch ein peasant seine Produkte auf dem Markt, um mit dem Erlös z. B. handwerkliche Produkte erwerben zu können. Drängender ist dafür jedoch oft der Zwang, mit einem Teil der Ernte bzw. mit deren Gelderlös die Steuern und Abgaben zu bezahlen, die in den historischen und gegenwärtigen peasantGesellschaften erhoben werden. Oft lastet die gesamte Nahrungsmittelversorgung der Städter und der gesellschaftlichen Eliten auf den Schultern solcher Kleinbauern. Nur selten genießen sie jedoch besondere Anerkennung, und meist befinden sie sich in einer marginalen und dominierten Position. Peasants sind jedoch keine Proletarier, denn anders als z. B. die von Mintz auf Puerto Rico beobachteten Zuckerrohrarbeiter verfügen sie gewöhnlich über eigene Produktionsmittel, d. h. Land, das ihnen selbst gehört oder gepachtet ist. Ein Vorreiter der peasant studies war der in Österreich aufgewachsene und als Jude in die USA emigrierte Ethnologe ▶▸Eric Wolf, der an der gleichen Puerto-Rico-Studie teilgenommen hatte wie Sydney Mintz. Wolfs besonderer Verdienst ist es, die Auswirkung größerer Zusammenhänge auf die Kleinbauern aufzuzeigen, besonders mit seinem Konzept der closed corporate peasant communities (etwa: „geschlossene korporierte Bauerngemeinschaften”). In einem klassischen Artikel (Wolf 1957) bezeichnet er so die indianischen Bauerndörfer in Mesoamerika – dem Zentralgebiet Mittelamerikas mit dem Südteil Mexikos und den angrenzenden südlichen Nachbarländern – und die Bauergemeinschaften auf der indonesischen Insel Java. Beide teilen ihm zufolge wesentliche soziale Merkmale. So entscheidet die Gemeinschaft über den Landzugang der einzelnen Haushalte. Entweder ist der Boden VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 59 Gemeineigentum und wird jedes Jahr neu auf die Nutzer verteilt, oder es gibt zwar private Anbauflächen, doch ist ihr Verkauf an Auswärtige verboten. Die Gemeinschaften kennen nur geringe Reichtumsunterschiede, da etwaige Überschüsse einzelner Haushalte in eine Prestigeökonomie fließen. In Java sind dies zu Ehren der Ahnen veranstaltete Festmähler (sogenannte ▶▸slametan) und Pilgerreisen nach Mekka; in Mesoamerika sind es die sogenannten ▶▸cargos, d. h. Ehrenämter im Kult eines Heiligen, vor allem während dessen jährlicher Festwoche (▶▸fiesta). Diese cargos sind mit geradezu ruinösen Ausgaben verbunden, so daß man jahrelang auf sie hinsparen muß. All diese Aktivitäten bringen soziales Prestige, verteilen aber gleichzeitig die Reichtümer einzelner auf die gesamte Gemeinschaft um. Reich zu werden, gehört ohnehin nicht zum Erwartungshorizont, und die Zurschaustellung von Luxus wird nicht geschätzt. Zudem schotten sich diese Gemeinschaften gegen Außenkontakte ab. Zuwanderung findet kaum statt, und die Zugehörigkeit ist durch Geburt definiert und nicht über Verwandtschaft. Entsprechend sind gerade in Mesoamerika die sprachlichen und kulturellen Unterschiede zwischen den einzelne Bauerngemeinden trotz geringer räumlicher Distanz oft erstaunlich groß. Die Gemeinschaften geben sich ein traditionalistisches Gepräge, und gerne werden sie als Überbleibsel der präkolumbianischen Zeit gesehen, bei denen die koloniale und postkoloniale Moderne einfach nicht angekommen ist. Man ist hier versucht, bäuerlichen Konservatismus als Erklärung ins Feld zu führen. Und tatsächlich gibt es eine entsprechende Theorie des Ethnologen ▶▸George Foster. In einem wenige Jahre später erschienenen Aufsatz (Foster 1965) sprach er vom „image of the limited good”, das in Bauerngemeinschaften verbreitet sei. Diese Werthaltung geht davon aus, daß die guten Dinge des Lebens immer in nur sehr knappen Umfang vorhanden sind und daß kleine Bauern ohnehin kaum Einfluß darauf haben, ob sie jemals etwas davon abbekommen. Ob diese Schicksalsergebenheit tatsächlich so verbreitet ist, wird mittlerweile sehr bezweifelt, aber sie würde die Selbstisolierung der closed corporate peasant communities erklären helfen. Wolf sieht jedoch andere Gründe. Ihm zufolge sind es gerade nicht lokale Faktoren, die die lokalistischen Bauerngemeinden prägen, sondern ihre Einbindung in die Rahmengesellschaft. Denn die koloniale Unterwerfung Mesoamerikas ließ auf dem Lande nichts beim Alten. Vielmehr wurde die durch Gewalt und Epidemien dezimierte Bevölkerung gezielt in neue Dörfer umgesiedelt. Diese neuen Gemeinschaften erhielten kollektives Landeigentum und die interne Selbstverwaltung, wogegen alte Bindungen wie die verwandtschaftlichen bald verblaßten. In Java waren es ebenfalls die Kolonialherren, die erstmals klare Dorfgrenzen festlegten und den neuen Dörfern ihr Land als kollektives Eigentum zuteilten. In beiden Fällen wurden die Einheimischen von den produktivsten Flächen und aus dem Handel verdrängt, und die VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 60 Erwirtschaftung von Reichtümern war ihnen so nicht mehr möglich. Die entstandenen, wirtschaftlich und politisch ganz auf sich selbst bezogenen Einheiten waren überdies einfach zu verwalten. Auch bildeten die sich selbst versorgenden, aber aufgrund der begrenzten Landflächen immer auf Zusatzverdienste bedachten Dörfler eine flexible Arbeitskräftereserve für den Einsatz in den nahegelegenen Plantagen, Bergwerken und kommerziellen Landgütern. Die Entstehung von closed corporate peasant communities ist somit eine Folge der Aufspaltung ihrer Gesellschaften in eine dominante und eine dominierte Schicht. Und wo dieser Druck nicht bestanden hat – wie etwa im vorkommunistischen China –, entwickelten sich open peasant communities mit frei verkäuflichem Land und ohne Zuzugsrestriktionen, in denen keine Wiederverteilungsmechanismen vorhanden waren und oft der Staat – z. B. als Organisator der Bewässerung – eine weit größere Rolle spielte. Bäuerliches Denken allein kann es also nicht sein, was den mesoamerikanischen und javanischen Dörfern ihre (zumindest in den 1950er Jahren noch so stark ausgeprägte) traditionalistische und lokalistische Orientierung gegeben hat. Peasant studies wie diese blendeten nicht nur die kolonialen und weltwirtschaftlichen Verbindungen weniger aus als große Teile der klassischen Ethnologie, sondern sie sorgten auch für eine stärkere Berücksichtigung der historischen Dimension. Wo globale Verflechtungen in die Betrachtung einbezogen werden, fällt es nicht mehr so leicht, die untersuchten außereuropäischen Gemeinschaften als „Völker ohne Geschichte” zu sehen, in denen die Zeit bestenfalls zyklisch verläuft und für deren Erforschung die synchrone Perspektive, wie sie sich etwa in einer einjährigen Feldforschung bietet, vollkommen ausreicht. Modernisierungs- versus Dependenztheorie Die peasant studies bilden zwar ein durchaus umfangreiches ethnologisches Gerne, aber für die allgemeine sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit den postkolonialen Gesellschaften und der Weltwirtschaft waren sie keineswegs beherrschend, wofür schon allein die neomarxistischen Anklänge sorgten. Stattdessen dominierte in der Nachkriegszeit die sogenannte ▶▸Modernisierungstheorie (modernisation theory), die gewöhnlich von Soziologen, Politologen und Ökonomen wie etwa dem amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler und Präsidentenberater ▶▸Walt Whitman Rostow und weniger von Ethnologen vertreten wurde. Ihr zufolge stand der historische Übergang der westlichen Industrieländer zu modernen Gesellschaften auch in den als traditionelle Gesellschaften verstandenen außereuropäischen Ländern bevor. Dieser Entwicklungsgang konnte zudem abgekürzt werden, indem man Technologie, Verwaltung, politische Systeme und anderes Knowhow an diese Länder weitergab. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 61 So würde sich zunächst eine duale Wirtschaft bilden, in der neben einen schrumpfenden traditionellen, auf Subsistenz zielenden Sektor ein zunächst noch kleiner moderner Sektor mit z. B. modernisierter und exportorientierter Landwirtschaft und Industrie trat. Dieser würde sich im Laufe der Zeit ausdehnen und den traditionellen Sektor schließlich ganz verdrängen. Modernisierung und Entwicklung sind damit bloß eine Frage der Zeit und der ausreichenden Unterstützung von außen. Man erkennt hier unschwer das Glaubensfundament der klassischen Entwicklungshilfe und der früheren Politik der Weltbank wieder. Daß diese Vorhersagen längst nicht immer eintrafen, war damals in den schon seit langem unabhängigen, aber wirtschaftlich keineswegs autonomen lateinamerikanischen Staaten besonders offenkundig. Dort entstand denn auch Mitte der 1960er Jahre eine alternative Theorie, die ▶▸Dependenztheorie (dependency theory), die mit Namen wie dem Soziologen und späteren brasilianischen Staatspräsidenten Fernando Henrique Cardoso oder dem emigrierten deutschjüdischen Wirtschaftswissenschaftler André Gunder Frank (vor allem Frank 1967) verbunden war. Diese Dependenztheorie wies die Idee eines für alle Staaten gleichen Entwicklungsgangs zurück und entdeckte vielmehr einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung der westlichen Industriestaaten und der Unterentwicklung der außereuropäischen Länder. In der Vergangenheit hatte die koloniale Ausbeutung für den Abfluß der Reichtümer in den Westen gesorgt, und in der Gegenwart taten es die ungleichen Handelsbedingungen und die vom Westen diktierten Preise, die zudem für Rohstoffe eher sanken und für industrielle Fertigprodukte eher stiegen. Gegen eine solche ausbeuterische Struktur kann der von den Modernisierungstheoretikern empfohlene Technologietransfer nichts ausrichten. Einige Dependenztheoretiker forderten die völlige Abkopplung von der Weltwirtschaft und ein Streben nach Autarkie, andere hingegen verlangten gerechtere Handelsbedingungen. Wallersteins Weltsystemtheorie Die bekannteste Weiterentwicklung der Dependenztheorie ist die Weltsystemtheorie (worldsystem theory) des 1930 geborenen amerikanischen Soziologen Immanuel Wallerstein (1974, 1979, 1986 [1974], 2004). Sie hat mit den Weltsystemstudien eine regelrechte Subdisziplin geschaffen, wie es in unserem größeren Nachbarfach Soziologie ja häufiger vorkommt. Einflüsse aus dem Marxismus und der Dependenztheorie nimmt Wallerstein zwar auf, entwickelt sie aber auf recht eigenständige Weise weiter. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 62 Weltreiche und Weltwirtschaften Wallersteins zentraler Begriff ist der des ▶▸Weltsystems. Im Unterschied zu den von ihm so genannten Minisystemen, wo Arbeitsteilung und Austausch nicht über den Rahmen einer einzelnen Kultur hinausgehen, vereinigen Weltsysteme kulturell unterschiedliche Einheiten in eine gemeinsame, durch Handel verbundene Arbeitsteilung. ▶▸Bei der einen Form von Weltsystemen, nämlich bei Weltreichen geschieht dies unter einem gemeinsamen politischen Dach, während in einer Weltwirtschaft die politische Integration fehlt. Wallersteins Begrifflichkeit ist hier etwas gewöhnungsbedürftig, denn Weltwirtschaften in diesem Sinne sind für ihn z. B. auch das mittelalterliche Handelssystem der Hanse oder das Netzwerk der norditalienischen Stadtstaaten wie Florenz und Siena zu ihrer Blütezeit. Zwar herrschte hier wirtschaftliche Interdependenz trotz fehlender politischer Integration, doch entsprechen diese Beispiele räumlich trotzdem nicht dem, was man mit dem Wortbestand „Welt” von Weltwirtschaft assoziiert. Kennzeichen der vorneuzeitlichen Weltwirtschaften war es Wallerstein zufolge, daß sie im wesentlichen redistributiv angelegt waren. Was an Güteraustausch stattfand, war häufig stark gelenkt und kein wirklicher Markthandel mit freier Preisbildung, und die Händlerschicht spielte eine vergleichsweise geringe gesellschaftliche Rolle. Außerdem waren diese Weltwirtschaften unbeständig und zerfielen entweder bald wieder oder gingen in Weltreiche über, indem sie eben von einer einzelnen politischen Macht unter ihre Kontrolle gebracht wurden. Die seit 1400 entstandene moderne Weltwirtschaft unterscheidet sich jedoch von den historischen Vorläufern, denn sie ist hat nach und nach die gesamte Welt einbezogen und alle anderen Weltreiche, Weltwirtschaften und Minisysteme in sich aufgesogen, ohne daß es gleichzeitig jedoch zur Herausbildung eines Weltstaates gekommen wäre. Außerdem ist sie eine kapitalistische Weltwirtschaft, und zwar schon sehr lange, nämlich seit dem 16. Jahrhundert, auch wenn dies damals Wallerstein zufolge noch „Agrarkapitalismus” war. Denn im Unterschied zur orthodoxen marxistischen Sichtweise ist für ihn jegliche Form, die Arbeitskraft zur Ware zu machen, als Kapitalismus zu bezeichnen. Das beinhaltet nicht nur die industrielle Lohnarbeit, sondern auch andere Modelle der Arbeitsorganisation, bei denen der eigentliche Produzent nicht die volle Kontrolle über die Produktionsmittel hat, so wie Pacht, Naturalpacht (share-cropping, d. h. die Bezahlung des Landzugangs mit einem Teil der Ernte), Leibeigenschaft oder Sklaverei. Zentrum, Peripherie und Semiperipherie Innerhalb der modernen Weltwirtschaft redet auch Wallersteien von einem Zentrum (core), das für ihn zur Anfangszeit im 16. Jh. in Nordwesteuropa lag, und einer Peripherie (periphery), VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 63 damals die amerikanischen Kolonien und Osteuropa. Er führt zusätzlich aber auch noch eine weitere Zone ein, nämlich die Semiperipherie (semi-periphery), die für ihn damals in Südeuropa lag. Diese bildet einen Puffer zwischen Zentrum und Peripherie, und für das Zentrum ist sie selbst Peripherie, während sie für die Peripherie eine Zentrumsfunktion ausübt. Das Wesensprinzip der modernen Weltwirtschaft ist der Abfluß des Mehrwerts in Richtung Zentrum, das sich auf Kosten von Semiperipherie und Peripherie bereichert, so wie es auch die Semiperipherie gegenüber der Peripherie tut. Die Semiperipherie ist im Gesamtzusammenhang notwendig, denn sie mildert die Verteilungskämpfe, wie Wallerstein es ausdrückt. Im Zentrum erlaubt der größere Wohlstand freiere Formen der Arbeitskontrolle und höhere Vergütungen, und in dem, was Wallerstein das „lange 16. Jahrhundert” nennt – die gesamte Zeit zwischen 1450 und 1640 – waren dies Lohnarbeit und Pacht. In der südeuropäischen Semiperipherie war die Naturalpacht üblich, und in der Peripherie herrschten die unfreisten Formen mit den geringsten Vergütungen, in Osteuropa die Leibeigenschaft und in Nord- und Südamerika die Sklaverei. Auch die Stabilität der Staatsapparate unterscheidet sich je nach Position im Weltsystem. Im Zentrum sind die Staaten stark, denn hier decken sich die Interessen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. In der Semiperipherie und in der Peripherie werden sie jedoch immer schwächer, denn hier divergieren die Interessen: Die Großgrundbesitzer wollen mit ihren Sklaven oder Leibeigenen für den Weltmarkt produzieren und haben daher andere Interessen als lokale Händler. Dies alles ist systematisch miteinander verbunden: Die politische Schwäche der Peripherie und die unfreien Arbeitsformen ermöglichen über den Mehrwertabfluß die politische Stärke des Zentrums und die dortigen freieren Arbeitsformen. Die kapitalistische Weltwirtschaft läßt keine nationalen Schranken zu. Die in der Kolonialgeschichte wiederholt eingesetzte Strategie des Merkantilismus, d. h. der Versuch, Importschranken zu errichten und die benötigten Waren in den eigenen Kolonien zu produzieren, war immer die Waffe der Zweitstärksten – im 17. Jh. die Waffe Englands gegen die Niederlande, im 18. Jh. die Frankreichs und im 19. die Deutschlands gegen die Engländer und schließlich im 20. Jh. die der Sowjetunion gegen die USA. Die Überlegenen hingegen setzten auf den Freihandel, der sich auch immer wieder durchsetzte. Die moderne Weltwirtschaft erzeugt jedoch Widersprüche, die sie in regelmäßige Krisen stürzt. Zum einen schwächt der Abzug des Mehrwerts aus der Semiperipherie und der Peripherie diese so sehr, daß sie für die Massennachfrage nach den im Zentrum produzierten Gütern ausfallen. Zum anderen müssen oppositionelle Bewegungen aller Art kooptiert, d. h. mit der Zuweisung ökonomischer Ressourcen bei Laune gehalten werden. Daher ist die moderne VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 64 Weltwirtschaft auf beständige Expansion angelegt und läuft nun, wo diese an ihre Grenzen stößt – so Wallersteins in den 1970er Jahren noch gemachte Vorhersage – auf eine sozialistische Weltwirtschaft zu. Nicht nur in diesem letzten Bestandteil ist das Marx’sche Element an Wallersteins Theorie deutlich zu erkennen. Auch der Fokus auf die Formen der Arbeitskontrolle, den Mehrwert und den Kapitalismus rührt hierher. Allerdings gibt es gewichtige Unterschiede. Denn mit Produktionsweise meinte Marx ja ein bestimmtes System, die Produktionsmittel zu verteilen und die Arbeit zu organisieren. Der Industriekapitalismus mit Unternehmer und Arbeitern ist die Form, die ihn am meisten interessiert, aber daneben unterscheidet er auch die orientalische Produktionsweise, also ein auf Zwangsabgaben an einen Herrscher und nicht auf dem freien Kauf und Verkauf von Arbeitskraft errichtetes Produktionssystem. Für Wallerstein ist dagegen eine Einheit wie bloß ein einzelnes Unternehmen oder selbst noch eine gesamte Volkswirtschaft für die Analyse zu klein und aus sich selbst heraus nicht zu erklären. Die einzige Produktionsweise, die die moderne Weltwirtschaft kennt, ist stattdessen sie selbst in ihrer Gesamtheit. Erst durch die Struktur aus Zentrum, Semiperipherie und Peripherie wird erklärlich, warum in jeder dieser Zonen unterschiedliche Formen der Arbeitskontrolle vorherrschen, und auch der klassische Industriekapitalismus im Marx’schen Sinne ist laut Wallerstein nur durch die Existenz der modernen Weltwirtschaft möglich geworden. Kritik an Wallerstein Man kann sich vorstellen, daß dieser Globalismus bei orthodoxeren Marxisten nicht auf Begeisterung stieß. Schließlich ist es ja für die politische Praxis weit schwieriger, wenn nicht nur die Eigentumsverhältnisse in einem Betrieb oder in einem Land umgewälzt werden müssen, sondern gleich ein ganzes globales System. Stärker noch aber hat Wallerstein sein Wirtschaftsdeterminismus Kritik eingebracht. Denn die Politik als eigenständige Größe kommt in seinem Entwurf praktisch nicht vor. Stattdessen erklärt das moderne Weltsystem selbst noch die Staatsstrukturen, und auch eine große Zahl von politischen Entwicklungen bis hin zum Kommunismus und zum Kalten Krieg des 20. Jahrhunderts leitet Wallerstein allein aus den Systemerfordernissen der modernen Weltwirtschaft ab. Wallerstein macht sich allerdings die Mühe, die Wirkung des modernen Weltsystems ausführlich zu schildern. In den drei Bänden seines Hauptwerks hat dies die Form einer großen Weltgeschichts-Nacherzählung, unter dem besonderen Blickwinkel der kapitalistischen Weltwirtschaft. Die Detailbegründungen zeigen ihn als kundigen Historiker und enthalten viele interesse Beobachtungen. Das gesamte weltgeschichtliche Geschehen der letzten 600 Jahre nur VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 65 mit der Wirtschaft und dazu noch über eine relativ simple dreiteilige Struktur erklären zu wollen, halten viele für zu hochgegriffen oder zumindest ergänzungsbedürftig. Auch von zumeist neomarxistischen Ethnologen, die durchaus bereit sind, der Wirtschaft und den Produktionsverhältnissen einen angemessenen Platz einzuräumen, ist Kritik gekommen. Eric Wolf, der mit seinem bekannten Werk Europe and the People Without History (Wolf 1982, 1986 [1982]) eine Art ethnologische Geschichte der europäischen Expansion vorgelegt hat, ist hier besonders zu nennen. Sein Hauptvorwurf an Wallerstein lautet, daß seine Großtheorie immer nur von ganz oben auf die Weltgeschichte schaut und wenig geeignet ist, die Geschehnisse bei den Völkern zu erklären, die bis zur Erfassung durch den europäischen Kolonialismus vermeintlich ohne Geschichte lebten. Diese Lücke füllt Wolf mit seinem ambitionierten Buch, das eine große Zahl von Fallstudien zu den Auswirkungen der europäischen Expansion auf die von ihr erfaßten Gesellschaften enthält. Es zeigt dabei immer wieder, daß diese Expansion auch schon lange vor der eigentlichen kolonialen Unterjochung dramatische Veränderungen brachte. Neben diesem historisch-ethnographischen Anliegen besteht Wolf aber auch darauf, daß die Produktionsweisen nach herkömmlichem Verständnis ihren Sinn behalten. Er unterscheidet drei davon: erstens die kapitalistische Produktionsweise (ganz im Sinne von Marx), zweitens die tributäre Produktionsweise, bei der die Produzenten einen Teil – häufig einen sehr großen Teil – ihres Überschusses an einen Herrscher abführen müssen; also das, was für viele peasants charakteristisch ist. Und schließlich drittens die verwandtschaftliche Produktionsweise, die in nicht vom Staat oder von der kapitalistischen Weltwirtschaft erfaßten Gesellschaften die Norm ist und bei der eine Arbeitsteilung höchstens nach Geschlecht und Alter erfolgt. Wolf besteht im Unterschied zu Wallerstein darauf, daß diese Produktionsweisen nicht in zu einer einzigen verschmelzen, sondern systemische Verbindungen miteinander eingehen. Und hier hat gerade der Fortbestand der verwandtschaftlichen Produktionsweise in manchen Bereichen, wie etwa der Subsistenzwirtschaft, in anderen den kapitalistischen Vormarsch z. B. von Bergwerken, Plantagen und später dann Billiglohn-Montagefabriken erst ermöglicht. Wenn man wie Wallerstein diesen gesamten Komplex als eine einzige Produktionsweise zusammenfaßt, entgehen einem laut Wolf solche Feinheiten, und gerade diese prägen außerhalb Europas oft die Lebensrealität. Im Detail erklären Wallerstein und Wolf dieselben historischen Vorgänge oft trotzdem auf ähnliche Weise, so daß sich die Differenz letztendlich vielleicht auf eine unterschiedliche Sensibilität für die Vorgänge in der Peripherie des Weltsystems reduziert. Für den WeltSoziohistoriker Wallerstein sind diese nur am Rande wichtig, für den Ethnologen Wolf aber sind sie zentral, und seine Vorgaben helfen uns daher oft mehr als Wallersteins Theorie. Die letztere VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 66 ist aber trotzdem klar und nachprüfbar formuliert und hat den Reiz aller mutigen Versuche, komplexe Geschehnisse auf den Punkt zu bringen. Soroako im Weltsystem Neben den neomarxistischen Vorgaben der peasant studies hat auch die Weltsystemtheorie viele ethnologische Forschungen beflügelt, und vor allem in den 1970er und 80er Jahren bildeten diese das beherrschende Genre der ethnologischen Globalisierungsliteratur – einer Globalisierungsliteratur avant la lettre, wie man gleich betonen muß, denn das Schlagwort existierte noch gar nicht, und es wurde eher von „Weltsystem”, „politischer Ökonomie” oder „peripherem Kapitalismus” gesprochen. Diese Studien teilen Wolfs und Wallersteins Sinn für ökonomische Abhängigkeiten, bemühen sich aber auch um eine ethnographische Ergänzung, die die Peripherie des Weltsystems nicht bloß als das willenlose Opfer mächtiger Prozesse ansieht, sondern die aktive Reaktion der außereuropäischen Gesellschaften auf die neuen Verbindungen in den Vordergrund stellt. Ich möchte ihnen zunächst zwei ältere Monographien aus dieser Richtung vorstellen, beide von Ethnologinnen verfaßt und auf Südostasien bezogen. Mit dem Bergbau und mit Billiglohn-Montagefabriken konzentrieren sie sich außerdem auf zwei für den weltweiten Vormarsch des Kapitalismus sehr wesentliche Branchen. Von den Anfängen bis zur Nickelmine Die erste Studie ist das Buch Stepchildren of Progress der an der Australian National University tätigen Ethnologin Kathryn Robinson (Robinson 1986). Von 1977-79 hat sie 21 Monate und 1980-81 noch einmal 2 Monate in der Kleinstadt Soroako im Zentrum der Insel Sulawesi geforscht, nur ein paar Hundert Kilometer nördlich übrigens vom Feldforschungsort von Professor Rössler in Makassar. Seit den 1970er Jahren ist Soroako der Standort einer der größten Nickelminen der Welt, Eigentum einer indonesischen Tochterfirma des kanadischen multinationalen Konzerns Inco. Robinson analysiert die dadurch ausgelösten sozialen Transformationen, und ihr Fokus sind die ursprünglichen Einwohner, die Soroakaner. Diese standen dem Projekt keineswegs feindselig gegenüber, fühlen sich heute aber als seine „Stiefkinder”, wie es der Buchtitel formuliert. Soroako hat historisch nie eine auffällige Rolle gespielt. Es liegt am Matano-See in bergiger Umgebung, in einem vormals von politischer Zersplitterung und Kriegführung geprägten Gebiet. Ab dem 19. Jh. geriet die Gegend zunehmend unter den Einfluß des Bugis-Königreichs Luwu an der Küste. (Die Bugis sind die Ethnie der Seefahrer und Händler an den Küsten Sulawesis und VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 67 der Nachbarinseln.) Von diesen wurde auch der Islam übernommen. Kurz nach 1900 ergriffen die Niederländer die koloniale Kontrolle und führten durch die Erhebung von Steuern nicht nur die Geldwirtschaft, sondern auch den Naßreisanbau ein. Nach dem Krieg und der Unabhängigkeit 1950 war das ganze Gebiet Teil einer islamischen Rebellion gegen die Regierung Sukarno, die erst mit dem Putsch Suhartos 1965 endete. Die Dörfler assoziieren diese Phase mit großen Entbehrungen, aber sie brachte ihrem vormals eher mit geringer Strenge gehandhabten Islam größere Orthodoxie, etwa eine stärkere Trennung der Geschlechter und den Verzicht auf selbstgebrannten Palmwein. Nach seiner Machtübernahme suchte der Diktator Suharto die politische Annäherung an den Westen und die wirtschaftliche Entwicklung mit einem weltmarktgerechten Modernisierungskurs. Ausländischen Investoren wurden Steuerbefreiungen und andere Vergünstigungen eingeräumt, in der Hoffnung darauf, daß die wirtschaftlichen Projekte auch für Indonesien Geld, Infrastruktur und Knowhow abwerfen würden. Nickel hatten in Soroako schon die Niederländer und im Krieg kurze Zeit die Japaner gefördert, nun aber trat Inco, einer der weltgrößten Produzenten, auf den Plan. 1969 begann die Aufbauphase, 1978 schließlich die volle Produktion in sowohl einer Mine als auch einer Fabrik zur Weiterverarbeitung, ▶▸die ihrerseits über eine Eisenbahnlinie mit einem Seehafen verbunden ist. Beide Produktionsstätten liegen etwa fünf Kilometer vom Dorf entfernt. Sozialgeographie, Wirtschaft und Sozialordnung Soroakos Der Nickelabbau beherrscht das Dorf bzw. die Stadt mittlerweile so sehr, daß sie offiziell nicht mehr ▶▸Desa Soroako, sondern Desa Nikkel heißt. („Desa” bedeutet Dorf.) Die etwa 1000 ursprünglichen Einwohner wohnen weiterhin hauptsächlich im alten Teil des Dorfes am See, aber nebenan ist ein neues Dorf gewachsen, das vorwiegend von Immigranten aus anderen Teilen Sulawesis bewohnt wird. Und dazu gibt es jetzt den „townsite”, d. h. eine moderne Kleinstadt mit einem eigenen Geschäftszentrum und ausgedehnten Wohnanlagen für die Beschäftigten von Inco. Die räumliche Segregation ist dabei sehr ausgeprägt: ▶▸Das aus dem Ausland entsandte Topmanagement wohnt in geräumigen Villen im Bereich C, die nächste, bereits einen größeren Anteil von Indonesiern umfassende Rangstufe in Bereich D. Der Bereich F für die gewöhnlichen Angestellten besteht dagegen aus Firmenwohnungen nach einheimischem Zuschnitt, die gegenüber dem direkt benachbarten Dorf nur den Vorteil von Strom- und Wasserleitungen haben. Generell gilt, daß die Entfernung der Wohnung vom Dorf der Höhe der Position in der Firma und auch der Entfernung des eigenen Herkunftsorts vom Dorf entspricht: Top-Positionen bei Inco bekleiden aus Kanada oder Australien entsandte expatriates, VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 68 die am dorffernsten wohnen. Schon die Koreaner und Filipinos unter den Angestellten verdienen weniger, und die von den anderen indonesischen Inseln kommenden Indonesier noch weniger, nur ein Viertel von dem, was ein Ausländer für dieselbe Position erhält. Die am schlechtesten bezahlten, keine Ausbildung erfordernden Positionen sind zum großen Teil mit Ortskräften gefüllt, vorwiegend aus Sulawesi, dort allerdings aus allen möglichen Regionen und längst nicht nur aus Soroako. Mehr als 3000 Beschäftigte hat die Firma zum Zeitpunkt der Feldforschung, davon nur etwa 200 Frauen, und mehr als 8000 Bewohner leben zu etwa gleichen Teilen im Dorf am See und im townsite. Obwohl die Vergütungen bei Inco sehr unterschiedlich ausfallen, ist die Beschäftigung dort sehr begehrt. Zusätzlich zum regelmäßigen Einkommen berechtigt sie zu Leistungen wie der Nutzung des Firmenkrankenhauses, die anderen nicht offenstehen. Bedingt letztendlich durch den Weltmarkt, auf dem der Nickelpreis stark schwankt, ist jedoch auch der Arbeitskräftebedarf Incos unstet und allgemein hinter die Aufbauphase zurückgefallen. 40 Jahre ist zudem die Altersgrenze für die ungelernten Arbeiten, so daß sich längst nicht für alle der ursprünglichen Dörfler die Hoffnung auf einen dauerhaften Arbeitsplatz erfüllt hat. Von ihnen hat ein Viertel der Haushaltsvorstände weder bei Inco noch sonst eine feste Anstellung. Vor Incos Kommen hätte dies die Dörfler wenig bekümmert, denn da besaßen sie ihre Produktionsmittel noch selbst. Reisanbau wurde auf direkt an das Dorf angrenzenden bewässerten Feldern betrieben, zudem auch auf brandgerodeten Feldern in größerer Entfernung, auf denen auch Gemüse, Knollenfrüchte, Bananen und anderes produziert wurde. Die Naßreisfelder waren gleichmäßiger verteilt als sonst in Indonesien, und völlig Landlose bildeten nur einen kleinen Teil der Bevölkerung. Brandrodungsfelder konnte jeder zudem nach Belieben anlegen, denn der Regenwald hatte nach allgemeiner Auffassung keinen Eigentümer und wurde auch für die Jagd und für das Sammeln von Rattan und anderen Produkten genutzt. Robinson stellt für die Zeit vor Inco fest, daß zwar bereits eine Klassenstruktur im Entstehen war, hauptsächlich darüber, daß einige Bewohner durch den Handel Wohlstand erwarben und diesen dann in neues Land und in die als Arbeitstiere beim Reisanbau wichtigen Wasserbüffel umsetzten. Doch diese Ansätze wurden durch die vielfältigen Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Dorfbewohnern und die so bedingte Umverteilung abgemildert. Mittlerweile steht die Mehrzahl der Alteingesessenen aber bei Inco oder bei den diversen Dienstleistern der Firma (z. B. als Busfahrer, Bauarbeiter oder Gärtner in den Villen des Managements) im Brot. Oft sind dies nur Gelegenheitsanstellungen, die nicht sehr gut entlohnt werden. Die eigene Subsistenzwirtschaft ist aber nur noch sehr begrenzt in der Lage, die Deckungslücken zu füllen, denn das beste Land des Dorfes mit den Naßreisfeldern wurde 1972 VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 69 von Inco aufgekauft. Einige Alteingesessene setzen den Anbau auf brandgerodeten Feldern fort, doch sind diese weiter entfernt als früher, und auch die alten Jagd- und Sammelorte sind nun häufig entweder Minengebiet oder davon beeinträchtigt. Das von Inco durchgesetzte Verbot von Feuern nahe dem townsite und von Wasserbüffeln in der Nähe der Villen-Gärten bringt zusätzliche Hindernisse. Die Haushalte, die noch Anbau betreiben – oft nur mit den übrigbleibenden Arbeitskräften, die nicht bei Inco und bei den Servicebetrieben unterkommen – sind nicht einmal mehr beim Grundnahrungsmittel Reis in der Lage, den eigenen Bedarf zu decken. Die Alt-Soroakaner waren allerdings auch gar nicht besonders erpicht darauf, weiter Reisbauern zu sein, und der Aufkauf des Landes durch Inco war ursprünglich sehr willkommen. Doch wurden die dafür gezahlten Preise 1974 ohne Beteiligung der Eigentümer ausgehandelt, direkt zwischen Inco und einer höheren Regierungsebene. Die festgesetzten Beträge wurden als zu niedrig und zudem willkürlich festgelegt empfunden, so daß ein Großteil der Alteigentümer die Annahme verweigerte und durch den gemeinschaftlichen Einsatz eines Rechtsanwalts auch Zugeständnisse erreichte. Inco zahlte irgendwann das Doppelte der ursprünglichen Beträge und stellte zudem Kompensationsland an anderem Ort in Aussicht. Doch floß das Geld an die erwähnte Regierungsebene, und von dort war es 1981 immer noch erst zum Teil an die Alteigentümer gegangen, und auch das Kompensationsland blieb umstritten. Inco wusch seine Hände in Unschuld, da es ja gezahlt hatte, allerdings insgesamt auch nicht mehr, als eine einzige Villa für einen Angestellten des Top-Managements kostet. Dies hat die Möglichkeiten der Dörfler beeinträchtigt, sich neue Existenzen aufzubauen, etwa über Geschäfte oder Mietwohnungen für die vielen Zuzügler. Am ehesten sind hier noch diejenigen erfolgreich gewesen, die die anfänglich angebotenen zu niedrigen Zahlungen angenommen hatten. Den Handel dominieren ohnehin die Neueinwohner, und auch bei der Vergabe von neuen Baugrundstücken sind die alten Soroakaner häufig zu langsam gewesen. Denn ihnen war zwar zugesichert worden, daß sie hier bevorzugt werden würden, doch bevor die Vorgänge – wiederum sehr schleppend – in Gang kamen, hatten sich andere durch Beziehungen oder Bestechung bereits bedient. Gewohnheitsrechte an dem früher nur zum Brandrodungsfeldbau genutzten Land, das niemals formell registriert worden war, wurden von der Bezirksregierung ohnehin nur sehr selten anerkannt. Die meisten Haushalte verfolgten daher zur Feldforschungszeit eine Mischstrategie mit einer Vielzahl von Beschäftigungen sowohl im formalen als auch im informellen, d. h. ohne offizielle rechtliche Absicherung auskommenden Sektor. Frauen bestellen Felder und fangen Fisch, man betreibt Kleinhandel, nimmt Mieter auf, verdingt sich als Hausmädchen, sammelt Rattan und VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 70 schlägt Holz, verrichtet unregelmäßige Jobs und/oder nutzt die Gaben und Kredite der Reicheren. Manche Haushalte sind so arm, daß es kaum für die eigene Ernährung und gar nicht für das eigentlich nur niedrige Schulgeld der Kinder reicht. Andere, vor allem die mit festen Anstellungen bei Inco, profitieren jedoch von der neuen Situation und von dem sehr viel breiteren Angebot an Konsumgütern, das ganz allgemein die Ansprüche steigen läßt. Die Schere zwischen Arm und Reich geht also bei den Alteingesessenen immer weiter auf, und das Wirtschaften individualisiert sich, wobei die Erträge auch weniger bereitwillig mit anderen Haushaltsmitgliedern und Verwandten geteilt werden, als dies früher der Fall war. Rassische und ethnische Hierarchien Zudem stehen die Soroakaner in der neuen, durch Inco bestimmten Hierarchie ganz unten. Dies ist eine sowohl rassistisch als auch ethnisch geprägte Hierarchie. Robinson hatte hier Kontakte zu beiden Seiten, also auch zu den weißen expatriates, und ihre Schilderungen bestimmter Vorfälle zeigen deutlich, daß sie hier öfters zwischen die Fronten geriet und schwierige Situationen zu bewältigen hatte. Wie schon erwähnt bekleiden Weiße, Asiaten aus anderen Ländern und Indonesier von anderen Inseln in dieser Reihenfolge die Spitzenpositionen bei Inco, und nicht nur ihre Wohnorte sind segregiert, sondern auch ihr Sozialleben. Im Firmenrestaurant, das alle besuchen, sitzt man trotzdem getrennt, und auch im Krankenhaus und in dem von Inco betriebenen Laden gibt es separate Bereiche. Das Unwissen der Weißen über die Indonesier ist häufig groß. An einem gemeinsam veranstalteten United Nations Day etwa servieren weiße Frauen unter den Organisatorinnen Schweinefleisch, ohne daran gedacht zu haben, daß unter den beteiligten Indonesierinnen viele Musliminnen sind. Auch mokieren sich Weiße, die den aus dem Wald aufsteigenden Rauch bemerken, über die vermeintliche Kurzsichtigkeit des Abbrennens, ohne zu wissen, daß dies für den Anbau geschieht. Eine Lehrerin in der von der Firma für die Kinder der Angestellten betriebenen Schule versucht die Grenzen aufzuweichen, doch als sie geht, wird wieder stärker segregiert, und nach einer Schlägerei zwischen weißen und nichtweißen Kindern gibt es unterschiedliche Schul- und Pausenzeiten, so daß sich die beiden Gruppen gar nicht mehr begegnen können. Bestimmte Auswüchse schreibt Robinson dem schlechten Gewissen der Weißen zu. Ein Dauerproblem der selbst ziemlich unterbeschäftigten Ehefrauen sind z. B. ihre Hausmädchen. Ein solches zu haben, ist eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit, auch wenn es das erste Mal im Leben ist, doch die Sorge, diese Dienstleistungen zu hoch zu bezahlen, ist ein ständiges Konversationsthema unter den Herrinnen. Auch regiert die Doppelmoral, wenn etwa Diebstähle und Einbrüche durch die Indonesier beklagt werden, aber die eigene Verwendung von VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 71 Firmenmaterialien z. B. zum Hausbau als gutes Recht gilt. „The pervasiveness of hierarchy and status differences in Soroako infused all relations with an exaggerated concern with inequality”, formuliert Robinson (Robinson 1986: 251). Und so führt auch der Besuch des Dorfmarkts für die weißen Ehefrauen nicht zur Freude über die allgemein sehr geringen Preise, sondern im Gegenteil zum Gefühl, betrogen zu werden, wenn die Bugis-Händler sie beim Feilschen immer wieder an ihren eigenen Reichtum erinnern und sie so zum Einlenken bewegen wollen. Auch anfangs aufgeschlossenere Bekannte Robinsons übernehmen schließlich die Vorurteile der anderen Weißen, und die Segregation schrumpft im Laufe der Zeit nicht, sondern wächst eher noch. Nur wenige scheinen sich hier offener zu verhalten; immerhin berichtet Robinson von einer Ehefrauen-Initiative, die dabei hilft, eine Klinik im Dorf weiterzubetreiben. Die Weißen sind durchaus nicht unbeliebt. Anfangs wird z. B. ihre Anwesenheit bei Hochzeiten als Ehrengäste gesucht, um so den eigenen Status zu steigern, auch wenn dies peinliche Situationen heraufbeschwört, wenn etwa die weißen Gäste in Shorts kommen und aus hygienischen Ängsten nichts von dem essen, was ihnen angeboten wird. Weiße Chefs stehen zudem im Rufe, die Fähigkeiten ihrer Untergebenen fairer zu bewerten, als es indonesische Chefs tun. Die höherrangigen indonesischen Angestellten dagegen fühlen sich deutlich diskriminiert, was ja wie schon gesagt schon bei ihrem geringeren Gehalt anfängt. Jedoch bilden die zahlenmäßig bei weitem überlegenen Indonesier keine geeinte Front gegen die Weißen, sondern sind eher mit ihrer Differenzierung voneinander beschäftigt. Die ethnische Hierarchie unter den Indonesiern entspricht der auch generell im Land verbreiteten, bei der die Bewohner Javas und Sumatras einen höheren Rang einnehmen als die der „äußeren Inseln” wie eben Sulawesi. ▶▸Genau so ist es auch bei Inco, wo die niedrigste, zahlenmäßig größte Kategorie der ungelernten Arbeiter komplett aus Leuten aus Sulawesi besteht, von denen drei Viertel vor Ort angeworben wurden. Bei den „managers” – also den in einer vorgesetzten Position Arbeitenden – ist dagegen nur noch ein Viertel aus Sulawesi, und nur 3 Prozent sind lokal angeworben. Die Hierarchie drückt sich wie bereits erwähnt in der Wohnsituation aus und bestimmt auch den sonstigen Umgang miteinander. Bessergestellte indonesische Ehefrauen aus dem townsite unterhalten zu denen im Dorf höchstens patronageartige Beziehungen, etwa indem sie sie zur Hilfe beim Kochen von Festmählern bitten und sie dafür bezahlen. Auch in der Frauenvereinigung sind es diese indonesischen Ehefrauen von anderen Inseln, die die Leitungsämter bekleiden und es als ihre Aufgabe ansehen, den anderen Lebensstil und Kultur zu vermitteln. Die Kategorie der alteingesessenen Soroakaner hat dabei durchaus noch Bestand. Zwar nehmen die Ehen mit Zugezogenen zu, von 1970 etwa einem Drittel auf 1980 etwa zwei Drittel. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 72 Die gemeinsame Vergangenheit, die nur mit einem einzigen anderen Dorf geteilte Sprache, der Islam und schließlich auch die gemeinsamen Erfahrungen in der Zeit seit dem Kommen Incos erzeugen aber weiterhin ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. In einer Reihe von Fällen verhindert dies aber den Solidarschluß mit anderen in ähnlicher Lage, etwa in den Landkonflikten gegen Zugezogene oder in der großen Bereitschaft, die immer wieder von Inco in Aussicht gestellten, letztendlich aber kaum eingelösten Privilegien für die Alteingesessenen anzunehmen. Auch beschweren sich die Soroakaner zwar über die ethnischen Bevorzugungspraktiken vieler indonesischer Vorgesetzter, aber hauptsächlich darüber, daß sie dabei mangels Vorgesetzten mit lokaler Herkunft nicht selbst zum Zuge kommen. Die Bevorzugung der „eigenen Leute” an sich ist dagegen für sie etwas ganz Normales. Rasse und Ethnizität maskieren – so formuliert es Robinson – also die tatsächlichen Klassenverhältnisse und geben ihnen eine vermeintlich „natürliche” Grundlage, die eben in den durch Abstammung oder kulturell erworbenen spezifischen Fähigkeiten der einzelnen Gruppen liegt. Die weniger Privilegierten sind eher damit beschäftigt, sich untereinander abzugrenzen, als sich zu solidarisieren und ihre gemeinsamen Interessen zu vertreten, was das Geschäft für Inco natürlich sehr erleichtert. Robinsons Fazit ist skeptisch: Daß sich der in der Entwicklungsideologie des indonesischen Staates erhoffte Modernisierungsschub einstellt und allen beteiligten Indonesiern Wohlstand bringt, ist nicht zu ersehen; eher sind es bestimmte Gruppen, die profitieren, während vor allem die alteingesessenen Soroakaner eher leer ausgehen. Robinson besteht darauf, daß die Interaktionen der verschiedenen am Nickelprojekt beteiligten und davon betroffenen Gruppen keinesfalls nur aus der lokalen Dynamik heraus erklärbar sind. Vielmehr ist es die Weltsystemsintegration, die hier entscheidend wirkt, z. B. eben über die Schwankungen des Nickelpreises, die sich unmittelbar in der Zahl der Arbeitsplätze niederschlagen. Auch für Robinson steht fest, daß die Entwicklung der einen ursächlich mit der Unterentwicklung der anderen zusammenhängt, genauso wie für die Dependenztheoretiker und für Wallerstein. Wie genau die lokalen Gemeinschaften eingebunden werden, betont sie aber, steht durch den Charakter des Weltsystems keinesfalls fest; hier sind vielmehr Mikrostudien wie die ihre erforderlich, die zudem aufzeigen, daß die Soroakaner und andere keineswegs passive Opfer sind, sondern ihre Form der Weltsystemeinbindung zwar unter beträchtlichen Sachzwängen, aber eben doch aktiv mitgestalten. Auch ist es im Gegensatz zur marxistischen Lehre nicht nur die wirtschaftliche Basis, die den gesellschaftlichen Überbau bestimmt, sondern dieser hat durchaus auch sein Eigenleben, wie sie selbst ja durch ihre Analyse der ethnisch-rassischen Grenzziehungen sehr deutlich demonstriert. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 73 Geister zwischen Microchips Die zweite Studie stammt von der chinesischstämmigen Malaysierin Aihwa Ong, heute Ethnologieprofessorin an der University of California in Berkeley. Ihre Feldforschung überschnitt sich mit der von Robinson und fand gar nicht so weit entfernt in Malaysia statt. Wir wechseln allerdings das kapitalistische Genre, denn statt einer Mine stehen nun ausländische Montagefabriken im Vordergrund, die sich die niedrigen Lohnkosten zunutze machen, und statt Männern sind es Frauen, die dort arbeiten (Ong 1987). Historischer Hintergrund Ong verbrachte 1979-80 14 Monate in ▶▸Kuala Langat in der malaysischen Provinz Selangor. Dies ist eine weniger periphere Gegend als Soroako, hier liegen vielmehr die Hauptstadt Kuala Lumpur, der internationale Flughafen und ein großer Hafen nicht weit entfernt. In vorkolonialer Zeit gab es hier malaiische Sultanate an den Flußmündungen, denen gegenüber die Subsistenzwirtschaft betreibenden Siedlungen im Landesinneren tributpflichtig waren. Ab 1874 intensivierten die Briten per „indirect rule” ihre koloniale Kontrolle, da sich für sie mit der Zinngewinnung und Plantagen, u. a. für den nach der Jahrhundertwende boomenden Kautschuk, lohnende Möglichkeiten boten. Chinesische und indische Kontraktarbeiter wurden dafür eingeführt, aber auch Migranten von Sumatra, Java und anderen indonesischen Inseln. Diese zugezogenen Malaiien wie auch die alteingesessenen Malaiien waren für eine Rolle als peasants vorgesehen, nicht zuletzt auch um die Nahrungsmittelversorgung der Bergwerks- und Plantagenarbeiter zu sichern, und die Einrichtung von sogenannten „Malay Reservations”, wo nur innerethnischer Landverkauf erlaubt war, sollte Landspekulation und die Herausbildung eines landlosen Proletariats verhindern. Der kommunistische Guerilla-Widerstand der Nachkriegszeit änderte die Bedingungen, denn nun waren etwa für Sicherheitsdienste Arbeitskräfte knapp. Allerdings kontrollierten die Bauern damals noch ihre eigenen Produktionsmittel, was der Lohnarbeit ihren Reiz nahm. Mit der Unabhängigkeit 1957 sollte sich dies jedoch ändern, denn nun waren es vor allem die Beamten des neuen Staates, die Land anhäuften. Hinzu kam das islamische Erbrecht, das allen Kindern einen Anteil sichert, und ein allgemeines, politisch durchaus gewolltes Bevölkerungswachstum. Ende der 1970er Jahre ist somit der Landmangel eine verbreitete Sorge. Im Schnitt hat jeder Haushalt in dem von Ong besonders untersuchten Dorf nur noch etwa 1,4 ha, und ein Viertel der Haushalte hat überhaupt keine Anbauflächen, während Wohlhabende große Besitztümer ihr eigen nennen. Zudem gibt es zahlreiche Großplantagen in Firmenhand, wo Öl- und Kokospalmen, Kautschuk und Tee wachsen, und manche der Kleinbauern pflanzen Kaffee und VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 74 Kakao. Die Preise für Land steigen stetig und machen es für Kleinbauern immer illusorischer, ihre Flächen zu vergrößern. Frauen in den Montagefabriken der Sonderwirtschaftszonen Die meisten Haushalte verfolgen daher ähnliche Mischstrategien wie in Soroako, wobei der eigene Anbau gegenüber der Lohnarbeit immer mehr in den Hintergrund tritt, vor allem für die jüngere Generation. Für diese ist vielmehr eine gute Schulbildung der Weg in die angesehensten Beschäftigungen im Staatsdienst und als white-collar-Angestellte, zudem ein durchaus nicht unmöglicher Weg, da für die besten Schüler Stipendien ausgelobt werden. Tatsächlich sind die meisten Männer jedoch als gewöhnliche Arbeiter tätig, sowohl in Festanstellungen als auch auf Gelegenheitsbasis. Nicht selten arbeiten sie auch in den Plantagen, die anders als früher nicht nur auf Chinesen und aus Indien stammende Tamilen, sondern auch auf Malaiien zurückgreifen. Die Arbeit als Bauer wird eher verachtet, so sehr auch ihre allmähliche Aufgabe für die gesamte Gegend die wirtschaftlichen Verhältnisse verschlechtert. Ein Novum ist, daß sich nun auch Frauen in großem Stil in der Lohnarbeit betätigen. Anders als früher erhalten sie eine Schulerziehung. Allerdings ist bei Mädchen die Bereitschaft der Eltern geringer, diese auch über die Mittelschule hinaus auszudehnen, und in den letzten Schuljahren fallen die Noten der Mädchen oft schon stark ab, da sie stärker zur Haushaltsarbeit herangezogen werden. Im Unterschied zu früheren Zeiten werden nun zwischen dem Schulabschluß und der Heirat einige Jahre der Lohnarbeit eingelegt, und diese bringt sowohl den Haushalten der Eltern und Geschwister als auch über das Angesparte den zukünftigen Haushalten der Töchter willkommene Einkünfte. Töchter bleiben seltener ganz ohne Arbeit als Söhne, und sie weigern sich seltener, ihren Lohn auch tatsächlich dem gesamten Haushalt zur Verfügung zu stellen. Die Arbeitgeber der jungen Frauen sind vor allem die Montagefabriken multinationaler Konzerne, für die Freihandelszonen eingerichtet worden sind. Für die malaysische Regierung war die Förderung der Leichtindustrie auf dem Lande Ende der 1960er Jahre ein Weg, der wachsenden Verarmung und politischen Unruhe der Bauern zu begegnen, die über die Landflucht auch den Druck auf die Städte erhöhte. In den Sonderwirtschaftszonen genießen ausländische Investoren bis zu zehn Jahre währende Steuerbefreiungen, können Profite und Kapital ungehindert ins Land hinein- und wieder hinaustransferieren und müssen nur minimale Zollgebühren entrichten. Mindestlöhne existieren ebenfalls nicht, und obwohl die Möglichkeit des Anteilserwerbs durch Malaysier als erwünscht gilt, ist die Beschäftigung von mindestens 40 Prozent Malaiien in allen Positionen die einzige harte Bedingung. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 75 Die Kleidungs-, Nahrungsmittel- und Elektronikfirmen, die diese Vorteile nutzen, stellen überwiegend ledige junge Frauen im Alter von 16 bis 25 Jahren ein. Bei den drei japanischen Fabriken in der Sonderwirtschaftszone nahe Ongs Feldforschungsdorf sind über 80 Prozent der 2000 Mitarbeiter weiblich. Frauen werden gerade dann als überlegen betrachtet, wenn die Arbeit monoton ist und Geduld, aber auch manuelles Geschick und ein gutes Auge verlangt, und das ist in allen drei Fabriken der Fall, denn zwei stellen Mikrochips her und eine Musikelektronik. Überdies sind die Löhne für Frauen niedriger. Die Verheiratung beendet gewöhnlich das Arbeitsverhältnis, viele Frauen steigen jedoch noch früher aus, nach nur drei bis vier Jahren. Denn die Arbeit erfolgt in zwei oder sogar drei regelmäßig wechselnden Schichten, ist anstrengend und körperlich belastend. Vor allem die Präzisionsarbeit mit Mikroskopen strengt die Augen so sehr an, daß sie nur wenige Jahre möglich ist. Dazu tragen die Arbeitsbedingungen bei, denn hohe Geschwindigkeiten werden verlangt bzw. durch Akkordanteile der Entlohnung gefördert. Die Zufriedenheit mit den Bedingungen und Löhnen ist sehr begrenzt, oft bringen nur die Zuschläge für Überstunden oder Nacht- und Sonntagsschichten wirklich etwas ein. Viele der Frauen hoffen ohnehin darauf, später bessere Anstellungen zu finden, für die sie ihre Schulausbildung oft auch durchaus qualifiziert. Vor allem der Staatsdienst ist das große Ziel. Wirksame gewerkschaftliche Vertretungen existieren nicht. Sie sind zwar nicht verboten, aber nur, wer mehr als drei Jahre gearbeitet hat, kann Mitglied werden, und ein Streikrecht fehlt. Für die Einhaltung der Zeit- und Qualitätsstandards ist fast ausnahmslos männliches Vorarbeiter- und Aufseherpersonal zuständig, und die wenigen Frauen, denen diese Positionen angeboten werden, lehnen sie nicht selten deshalb ab, weil sie fürchten, daß ihnen die entsprechende Autorität fehlt. Eine Auflehnung gegen die patriarchalische Herrschaftsordnung findet also nicht statt, im Gegenteil teilen die Frauen die Ansicht, daß die Männer für die vorgesetzten Positionen geeigneter und Frauen dafür zu sehr von Emotionen geleitet sind. Auch in ihren Familien sind die Frauen wie bereits erwähnt gegenüber ihren männlichen Geschwistern die zuverlässigeren und bereitwilliger zur Haushaltskasse beitragenden Verdiener, die zusätzlich zu ihrer Anstellung auch noch Haushaltsarbeit erledigen. Trotzdem bricht die traditionelle Verfügungsgewalt der Eltern über ihre Töchter allmählich auf; Ehemänner suchen sie sich nämlich jetzt selbst aus oder wählen zumindest unter mehreren ihnen vorgestellen Kandidaten, während dies früher Sache der Eltern war. Auch Scheidungen sind nicht mehr selten und Wiederverheiratungen mit einem der Frau stärker zusagenden Partner durchaus verbreitet. Ong liefert eine ganze Reihe von Fallbeispielen zu den dadurch entstehenden Konflikten, in denen etwa durch gemeinsames Ausreißen oder voreheliche Schwangerschaften immer wieder auch Ehen mit mißliebigen VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 76 Partnern erzwungen werden. Auch sind die Frauen durchaus aktive Konsumentinnen. Moralische Sorge und Geisterattacken Der so gewonnene Spielraum hält sich nach mitteleuropäischen Vorstellungen immer noch in sehr engen Grenzen, aber für die malaysische Gesellschaft ist er bereits ungewohnt genug und gibt vielen gesellschaftlichen Kräften Anlaß zur Sorge. Von der Sensationspresse bis hin zu Intellektuellen werden die Arbeiterinnen als von Konsum, Vergnügungssucht und sexueller Zügellosigkeit bedroht dargestellt, offenbar in stark übertriebener Weise, was Ongs Informantinnen ziemlich erbost. Trotz ihrer Beiträge zum Wirtschaftswachstum und zu den Haushaltsbudgets hat kaum jemand ein gutes Wort über die Arbeiterinnen zu verlieren, und die einzige Möglichkeit für sie, eine positive Gender-Identität zu gewinnen, scheint die Hingabe an besonders asketische islamische Richtungen zu sein. In diesem Kontext interpretiert Ong die Besessenheit durch Geister, die in den Umkleide- und Gebetsräumen, aber auch in den Arbeitshallen regelmäßig vorkommt. Die befallenen Frauen reden mit fremden Stimmen, schlagen um sich und fallen zu Boden, oft lassen sie sich kaum bändigen. Manchmal steckt dies an, und in einem Fall werden 40, in einem anderen sogar 120 Frauen gleichzeitig ergriffen. Den Frauen zufolge sind es wütende Rachegeister (▶▸kenah hantu), Ahnengeister (▶▸datuk), Erdgeister, Grabgeister oder Wertiger, die von ihnen Besitz ergreifen, und eine Ursache wird darin gesehen, daß die Sonderwirtschaftszone über den Gräbern der Ureinwohner errichtet worden ist. Geistheiler (▶▸botoh) sind in der Lage, mit ihren Ritualen die Geister in die Schranken zu weisen, und sind daher in den Fabriken regelmäßige Gäste. Auch neue Gebäude werden von ihnen gesegnet, bevor man sie in Betrieb nimmt. Die Firmenleitungen scheinen dies zu tun, um die Frauen zu beruhigen, und sprechen selbst von „Hysterie” oder vermuten ein nicht ausreichendes Frühstück als Auslöser. Für sie offenbart sich hier schwer auszurottender dörflicher Aberglaube, also ein unliebsames Stück Tradition, daß von den Frauen mit in die kapitalistische Moderne der Halbleiterherstellung gebracht wird. Ong interpretiert die Besessenheiten jedoch anders. Für sie sind sie ein Fall von unbewußtem Widerstand, gegen die den Frauen auferlegte kapitalistische Arbeitsdisziplin und gegen ihre weiterhin untergeordnete, ihrem wirtschaftlichen Beitrag nicht gemäße soziale Stellung. Eine offene Auflehnung findet wie schon gesagt nicht statt, eher rechtfertigen die Frauen ihre Kontrolle durch männliche Aufseher und paternalistische Firmenleitungen auch noch selbst. Außer Tränen, wenn die Kritik der Aufseher zu hart wird, oder sehr gelegentlichen Fällen von Sabotage, Dienst nach Vorschrift oder dem Auflauern und Verprügeln der Aufseher durch männliche Verwandte der Frauen haben sie wenige Möglichkeiten, sich zur Wehr zu setzen. Und VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 77 so tun es gewissermaßen die Geister für sie, auf recht wirksame Weise, denn im Falle einer Massenbesessenheit ist erst drei Tage später und nach intensivem Einsatz von Geistheilern wieder an die Fortsetzung der Produktion zu denken. Billiglohnfabriken wie die beschriebenen gibt es im ost- und südostasiatischen Raum heute zuhauf, und kaum ein von uns benutztes Elektronikgerät ist nicht durch die Hände solcher Arbeiterinnen gegangen. Ong gelingt es sehr gut, die Einbindung dieser neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten in den lokalen malaysischen Kontext aufzuzeigen. Die Lohnarbeit der Frauen verändert die Haushaltsökonomien und auch die familiären Beziehungen, als ein weiterer Faktor neben vielen anderen weltsystemsbedingten Einflüssen auf die lokale Wirtschaft. Auch Ong zeigt allerdings auf, daß es nur mit der Erfassung der Produktionsverhältnisse nicht getan ist. Die lokalen gender-Vorstellungen sind eine weitere wichtige Dimension, und ihr wirtschaftsbedingter Wandel ist von Reibungen nicht frei, die im religiösen Idiom des Geisterglaubens ihren Ausdruck finden. An diesem hat Ong allerdings kein großes Interesse, wie man kritisch bemerken muß: Die Beschreibungen der Besessenheiten sind eher knapp, und in welches religiöse Vorstellungssystem sich die Geister einordnen, wird kaum klar. Auch steht für Ong meiner Ansicht nach etwas zu fest, daß es sich bei den Besessenheiten um einen unbewußten Widerstandsakt gegen die kapitalistische Arbeitsdisziplin handelt. Da eben unbewußt, ist natürlich mit der emischen Sichtweise nicht viel anzufangen, aber man hätte sich hier schon etwas genauere Untersuchungen gewünscht, etwa dazu, ob die besessenen Frauen in irgendwelchen Punkten von den nichtbesessenen abweichen. Möglicherweise war dies aber schon allein aufgrund der Tatsache nicht möglich, daß Ong gar keinen Zutritt zu den Fabriken hatte, geschweige denn dort selbst teilnehmende Beobachtung machen konnte; zumindest sagt sie nirgendwo, daß sie in den Fabriken war. Trotz dieser Mängel zeigt allerdings auch Ong auf, wie die ethnographische Forschung in der Lage ist, die Makroperspektive der Weltsystemtheorie und ähnlicher Ansätze zu ergänzen. De-Kapitalisierung der Globalisierung? In gewisser Weise führt Ong allerdings auch schon über das neomarxistische Paradigma hinaus. Der Wille zur analytischen Sezierung und auch zur Demontage des Kapitalismus ist deutlich zu spüren, und mit dem historischen Wandel der Landeigentumsverhältnisse und der Haushaltsökonomien analysiert sie dafür klassische Felder. Doch steht die Dimension gender stärker im Vordergrund als bei manchen früheren Studien, was einerseits dem Gegenstand, andererseits aber sicherlich auch den neueren theoretischen Strömungen geschuldet ist. Zudem VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 78 bringt sie auch eine ganze Reihe von poststrukturalistischen und postmodernen Theoretikern ins Spiel, etwa den Machtbegriff Michel Foucaults, der Macht ja weniger als durch klare Akteure ausgeübt, sondern als den gesellschaftlichen Strukturen und diskursiven Formationen selbst innewohnend ansieht. Damit gibt Ong bereits vor, wie sich auch ein großer Teil der ethnologischen Beschäftigung mit dem Thema Globalisierung seither entwickelt hat. Statt Kapitalismus und Klasse stehen nun Identität und Transnationalismus im Vordergrund, Themen, die ich auch noch behandeln werden. Meiner Meinung nach ist die Ablösung aber zum Teil etwas zu weit gegangen. Sicherlich ist der Marxismus als politisches Leitbild nicht mehr vermittlungsfähig, um es gelinde auszudrücken. Aber gerade in Gesellschaften mit eklatantem Macht- und Reichtumsgefälle, wie sie sich in der Gegenwart zunehmend herausbilden und gerade außerhalb Europas vielfach zu finden sind, ist ein genauer Blick auf die Produktionsverhältnisse und auf die Systemzusammenhänge zwischen begüterten Gesellschaften wie der unseren und den sehr viel ärmeren des Südens nach wie vor sehr sinnvoll. Flexible Kleiderfabrikation im ländlichen Mexiko Abschließend möchte ich noch auf eine neuere ethnographische Studie eingehen. Sie zeigt nicht nur, was aus Eric Wolfs closed corporate peasant communities im Zeitalter der Globalisierung geworden ist, sondern bringt auch eine neomarxistisch-weltsystemtheoretische Perspektive mit dem Thema des Vorkapitels – dem von multinationalen Konzernen und den internationalen Finanzinstutionen vorangetriebenen neoliberalen Umbau der Weltwirtschaft – zusammen. Die amerikanische Ethnologin Frances Rothstein von der Montclair State University hat sie über das mexikanische Bauerndorf verfaßt, in dem sie bereits 1971 erstmals Feldforschung gemacht hat und in das sie seither immer wieder – zuletzt 2004 – zurückgekehrt ist (Rothstein 2007). Ihre Forschungen schließen damit den gesamten Zeitraum der eigentlichen Globalisierung der Weltwirtschaft ein. Bauern zu Proletariern Es handelt sich um ▶▸San Cosme Mazatecochco im mexikanischen Bundesstaat Tlaxcala, etwa 15 Kilometer von der Millionenstadt Puebla und etwa 100 Kilometer von einer der weltgrößten Megacities, Mexiko-Stadt, entfernt, das mit seinen wenigen Tausend Einwohnern irgendwo zwischen Dorf und ländlicher Kleinstadt liegt. Die meisten Bewohner sind Nachfahren der Tlaxcaltken, d. h. der ethnischen Gruppe, die sich mit Cortés gegen die Azteken verbündete und VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 79 in der Folge gegenüber den anderen Indigenen diverse Privilegien genoß. 1950 sprachen hier noch 85 Prozent der Bevölkerung Nahuatl. Fast jeder war damals peasant und lebte vom Anbau von Kürbis, Bohnen und Mais (also der bekannten milpa) auf meist kleinen Landstücken, die man den örtlichen Großgrundbesitzern abgekauft hatte, und von saisonaler Lohnarbeit für Bewohner des größeren und reicheren Nachbarorts. So wie Wolf es vorsah, gab es hier wenig soziale Differenzierung, die gemeinschaftlichen Feste standen im Mittelpunkt des Soziallebens, und der Kontakt zur Außenwelt war trotz der relativen Nähe der Großstädte gering. Dies läßt mich vermuten, daß Wolf San Cosme als eine seiner closed corporate peasant communities eingeordnet hätte. Von den 1940er Jahren bis in die 1970er verfolgte der Staat Mexiko eine Politik der Industrialisierung und der Importsubstitution, bei der statt einer Öffnung der Märkte für ausländische Waren und Kapital die eigenständige Erzeugung der benötigten Güter im Vordergrund stand. Es ereignete sich wie auch andernorts in der Welt ein (relativ zum deutschen oder japanischen natürlich eher maßvolles) Wirtschaftswunder, das die Herausbildung einer neuen Mittelklasse beförderte. In San Cosme bekam man davon anfangs jedoch wenig mit, denn die staatliche Förderung richtete sich auf die Industrie und auf landwirtschaftliche Großunternehmen, während sie Subsistenzbauern links liegen ließ. Den peasants in San Cosme mit ihren kleinen Besitzungen boten sich keine Expansionsmöglichkeiten, und so konnte Rothstein bereits bei ihrem ersten Aufenthalt beobachten, daß eine wachsende Zahl von ihnen täglich nach Puebla oder für die ganze Woche nach Mexiko-Stadt pendelte, um dort in den damals aufblühenden Textilfabriken zu arbeiten. 1980 betraf dies fast die Hälfte der arbeitenden Männer. Die Lohnarbeit brachte den Pendlern und ihren Haushalten einen gewissen Wohlstand, der den der ausschließlichen Bauern übertraf. Manche von den Pendlern orientierten sich neu, indem sie Taxis, Lastwagen oder Läden erwarben und auf die Schulerziehung ihrer Kinder setzten. Über den durch die Gewerkschaften ausgeübten politischen Druck profitierte auch der gesamte Ort, der nun mehr Infrastruktur wie Straßen, Elektrizität, Leitungswasser und Gesundheitsversorgung erhielt. Tiefgreifende Umwälzungen erfolgten jedoch nicht, denn die Pendler wohnten und arbeiteten in Gruppen aus dem Heimatort zusammen und behielten ihren Lebensmittelpunkt in San Cosme. Ihre Haushalte führten zudem die Landwirtschaft fort, und Gewinne wurden durchaus auch in den Landkauf investiert, so daß mancher vormalige Pendler auch wieder zum campesino-Dasein zurückkehrte. Auch die Verwandtschaftsbeziehungen durch Heirat und ▶▸compadrazgo (d. h. die Patenschaft; in diesem Fall gewöhnlich mit nicht verwandten Personen) behielten ihre Bedeutung. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 80 Proletarier zu (Schein?-)Selbständigen Daß sich dies schlagartig änderte, führt Rothstein auf die bereits in Teil 3 angesprochene Schuldenkrise zurück. Anfang der 1980er Jahre fielen die Preise für das von Mexiko exportierte Erdöl, die Zinsen stiegen und die Reichen brachten ihr Kapital ins Ausland. 1982 erklärte sich Mexiko außerstande, die Rückzahlung seiner Auslandsschulden fortzusetzen. Nun traten der IWF, die Weltbank und die US-amerikanische Regierung auf den Plan und verordneten dem Land das Rezept des Washingtoner Konsens, nämlich öffentliche Einsparungen, Privatisierungen, Freihandel und einen Ausbau der exportorientierten Produktion. Die einheimischen Textilfabriken sahen sich nun preiswerter ausländischer Konkurrenz ausgesetzt. 80 Prozent der Firmen brachen zusammen, und im folgenden Jahrzehnt gingen mehr als 100.000 Arbeitsplätze in der Branche verloren. In San Cosme behielt nur etwa die Hälfte der Arbeiter ihren Job, oft mit beträchtlichen Lohnabstrichen, während die Lebenshaltungskosten für alle Bewohner in den vielfach als „verlorenes Jahrzehnt” für Lateinamerika bezeichneten 1980er Jahren rasant stiegen. Auch die Hoffnung auf Bildungskarrieren etwa im Schul- oder Gesundheitssektor für die eigenen Kinder erwies sich nun, wo gerade in diesen Bereichen besonders starke Einsparungen stattfanden, als trügerisch. Bei Rothsteins Besuch 1984 war el crisis in aller Munde, und die Bewohner San Cosmes reagierten mit der Bildung kostensparender Großfamilienhaushalte, der Intensivierung des ja immer noch vorhandenen Anbaus und dem Rückgriff auf Selbstgemachtes statt Gekauftes. Ende der 1980er Jahre kam ein neuer Trend auf. Mit der Textilindustrie bereits vertraut, begannen die Bewohner, sich selbständig in Kleiderproduktion und –handel zu betätigen. Dies ist eine eher indirekte Folge der wirtschaftlichen Globalisierung, denn eigentlich blühten damals in Mexiko die sogenannten ▶▸maquiladoras oder maquilas auf, d. h. Fabriken, in denen zumeist aus den USA importierte vorgefertigte Einzelteile – etwa Elektronik oder auch Kleidungsbestandteile – zusammengefügt und dann wieder exportiert werden. Mit dem Abbau der Zollschranken hatte sich dies vor allem in den Grenzregionen zu lohnen begonnen, doch Ende der 1980er Jahre drangen die ersten maquilas auch schon bis nach Tlaxcala vor, wo die Löhne noch billiger waren. Die meisten Bewohner von San Cosme wählten jedoch nicht die formale Beschäftigung in diesen Fabriken, sondern versuchten ein in der Produkthierarchie noch darunter liegendes Segment zu bedienen. Sie nähten nur für den nationalen Markt vorgesehene und z. B. auf Wochenmärkten verkaufte Billigbekleidung für diejenigen, die sich die Produkte der maquilas nicht leisten konnten. Es kommt in den 1990er Jahren zu einem Boom, und bald haben Hunderte von Haushalten in San Cosme sogenannte ▶▸talleres, d. h. oft winzige Werkstätten entweder in an das Haus angebauten Räumen oder in der eigenen Wohnung, und VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 81 viele Einwohner verkaufen diese Kleider auch selbst. Das Schneidern wird so populär, daß auch die Jugend es immer häufiger der Fortsetzung der Schulerziehung vorzieht. Kennzeichnend für diesen Bereich ist die große Flexibilisierung. Der Kapitalaufwand zum Erwerb der ersten Nähmaschinen ist gering, das Nähen der meist unkomplizierten Kleidung läßt sich ebenfalls recht schnell erlernen, und die eigene Familie und Verwandtschaft kann ohne großen Aufwand einbezogen werden. Entsprechend ändern sich die Größen und Zusammensetzungen dieser informellen Unternehmen ständig. Die weitaus meisten reichen nicht über eine Handvoll Personen, oft nur eine Familie, hinaus, aber einige haben auch zweistellige Zahlen von Angestellten, meist aus der eigenen Verwandtschaft und Nachbarschaft rekrutiert. Die Produkte wechseln je nach Marktlage, und auch zwischen Kleiderproduktion und –handel und zwischen dem Arbeiten in Eigenregie und der Übernahme von maquila-Aufträgen für größere Unternehmen finden häufige Gewichtsverlagerungen statt. Zudem sind die talleres Teil von Gesamtstrategien, die durchaus auch weiterhin Lohnarbeit einzelner Haushaltsmitglieder, den eigenen Anbau, andere informelle Wirtschaftsaktivitäten wie etwa den Verkauf von Snacks und zukunftsorientierte Elemente wie die Investition in die Schulbildung der Kinder enthalten können. Frauen haben hier nicht selten neue ökonomische Möglichkeiten, die ihnen in den Zeiten der für die Männer reservierten Lohnarbeit verwehrt waren. Andererseits sind es gerade sie, von denen oft die größte Flexibilität – etwa durch die parallele Versorgung der Kinder – erwartet wird. Das einzige, was nicht mehr vorzukommen scheint, sind die stabilen Verhältnisse früherer Tage, wo zunächst jeder ein campesino war und später dann die Fabrikarbeiter auf langjährige Beschäftigung im selben Unternehmen bauen konnten. Rothstein sieht dies aus einer recht orthodoxen marxistischen Perspektive. Ihr zufolge verschleiern die kleinen Familienunternehmen die wahren Verhältnisse, denen zufolge die Bewohner San Cosmes keine Unternehmer, sondern weiterhin Arbeiter in einem kapitalistischen System sind. Das letztere und seine Produktionsbedingungen bleiben bestimmend, während die von anderen Autoren in jüngerer Zeit gerne hervorgehobene Konsumtion nachrangig ist. Zwar tritt nun in San Cosme an die Stelle der früheren Eigenidentifikation als Arbeiter (obrero) die jeweilige Spezialisierung, d. h. man bezeichnet sich z. B. als Näher oder als Zuschneider, und eine gewerkschaftliche Interessenvertretung gibt es nicht mehr. Doch verkaufen laut Rothstein auch die scheinbar selbständigen Werkstattbetreiber weiterhin ihre Arbeitskraft zu nicht von ihnen selbst bestimmten Bedingungen auf einem Markt. Nur harte und lange Arbeit, die sich von den Bedingungen der maquiladoras kaum unterscheidet, und die Kostenersparnis durch die niedrige oder überhaupt nicht erfolgende Entlohnung von Familienmitgliedern und Verwandten erlauben es ihnen, dort konkurrenzfähig zu bleiben. Trotz aller andauernden familiären und VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 82 verwandtschaftlichen Solidarität beginnt eine vormals egalitäre Gemeinschaft sich nun sozial zu differenzieren, und die erfolgreichen Unternehmerfamilien erwerben durch aufwendige Familienfeiern oder den Bau luxuriöser Häuser soziales Renommee. Auch betont die jüngere Generation immer mehr den individualistischen Konsum und zeigt sich am kirchlichen Leben oder der Pflege der Verwandtschaftsbeziehungen weniger interessiert. Der Boom der talleres ist überdies nicht von Dauer: 2004 stellt Rothstein fest, daß die zumeist illegale Arbeitsmigration in die USA zum beherrschenden Trend geworden ist, während sich die Kleiderproduktion aufgrund chinesischer Billigimporte, die der WTO-Beitritt Chinas 2001 ermöglicht hat, immer weniger lohnt. Die Bewohner von San Cosme selbst stellen allerdings weniger die wechselhaften und kaum kontrollierbaren Verhältnisse, in denen sie leben, oder die zunehmenden sozialen Unterschiede und den Rückgang gemeinschaftlicher Bindungen in den Vordergrund. Stattdessen bewertet fast jeder die mit Straßen, Busverkehr, eigenen Fahrzeugen, dem Fernsehen und Internetcafes sehr verbesserte Anbindung an die weitere Welt, den gestiegenen materiellen Lebensstandard und die große Vielfalt der jetzt vorhandenen Konsumoptionen als wünschenswerte Entwicklung, die höchstens nicht schnell genug geht oder manchen Mitbürger zu materialistisch werden läßt. Und auch Rothstein sieht den für die flexiblen Wirtschaftsstrategien erfolgenden Rückgriff auf die lokalen Familien- und Verwandtschaftsbande durchaus nicht nur negativ, sondern als eine von ihren Informanten selbstbestimmte Strategie. Klar scheint jedoch, daß die weltwirtschaftliche Verflechtung den Bewohnern von San Cosme Mazatecochco auch in Zukunft immer wieder von ihnen selbst kaum kontrollierten Wandel bringen und flexible Reaktionen abverlangen wird. Kritisch anzumerken ist bei Rothsteins Monographie die Diskrepanz zwischen der von ihr behaupteten Flexibilisierung der Verhältnisse und ihrer eigenen Darstellungsweise. Diese bleibt nämlich reichlich summarisch, und wo einmal die Vielfalt der Strategien aufgezeigt werden soll, erschöpft sich dies zumeist in der Aufzählung einzelner Fallbeispiele. Hier wäre sicherlich eine systematischere Analyse, wie sich z. B. Haushalts- und Verwandtschaftszusammensetzung, Bildungsstand, Vorerfahrungen in der Lohnarbeit oder die Größe des Ackerlands auf die gewählten Wirtschaftsstrategien und erzielten Erfolgen auswirken, möglich gewesen, und auch ein stärkeres Bemühen um Quantifizierung und konkrete Zahlen hätte nicht geschadet. Die Stärken einer über nun schon mehr als drei Jahrzehnte andauernden Langzeitbeziehung zwischen Feldforscherin und Feldforschungsort kommen allerdings deutlich zum Tragen. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 83 Teil V: Globalisierungstheorien der 1980er und 90er Jahre Im vorangehenden Teil habe ich ihnen die peasant studies und die auf Wallersteins Weltsystemtheorie reagierenden ethnographischen Studien vorgestellt. Diese eint eine mehr oder minder neomarxistische Ausrichtung, die sich vor allem auf wirtschaftlich begründete Machtund Klassenbeziehungen konzentriert. Lange Zeit ist es hauptsächlich diese theoretische Richtung gewesen, in der ein Interesse für weltumspannende Zusammenhänge bestand. Ab dem Ende der 1980er Jahre kann man allerdings auch von einer zweiten Richtung sprechen, in der nicht mehr nur die Produktionsverhältnisse, sondern auch „weichere” Bereiche wie etwa Medien, Religion, politische Ideologien oder Nationalismus berücksichtigt werden. Hier wird erstmals auch tatsächlich von Globalisierung gesprochen und die übergreifende Frage nach der Richtung der globalen Kulturentwicklung gestellt, so daß man eigentlich erst hier von einer expliziten ethnologischen Globalisierungstheorie sprechen kann. Vor allem zwei Ethnologen haben sich dabei hervorgetan, nämlich der in den USA lehrende Inder Arjun Appadurai und der Schwede Ulf Hannerz. Ich halte es für keinen Zufall, daß beide selbst nicht aus dem „Zentrum” der Weltethnologie (die USA und mit Abstrichen Großbritannien), sondern höchstens aus der „Semiperipherie” stammen; Hannerz selbst zumindest hält dies für bedeutsam (Hannerz 1989: 215). Ihre Ideen und die eines geistesverwandten Soziologen, des Briten Roland Robertson, möchte ich Ihnen heute vorstellen, und wenn ich ab der nächsten Sitzung einzelne Bereiche der kulturellen Globalisierung – wie etwa Warenkonsum oder Massenmedien – bespreche, werden ihre Konzepte wiederkehren. Wir werden sehen, daß dies in allen Fällen der Größe des Themas entsprechend sehr weitreichende, nicht immer ausführlich begründete und mitunter unscharfe Entwürfe sind. Es wäre hier ein Leichtes, sich an einzelnen Details festzubeißen und dort Mängel aufzuzeigen. Ich möchte stattdessen eher das wohlmeinende Verstehen praktizieren und mich dort, wo etwas fehlt, um das eigenständige Weiterdenken bemühen. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 84 Arjun Appadurai: Entkoppelung, Deterritorialisierung und Imagination Arjun Appadurai ist Professor an der New School University in New York, nach vorherigen Stationen an den anderen Spitzenuniversitäten Chicago, Pennsylvania und Yale, und ist einer der bekanntesten amerikanischen Ethnologen. Neben seinen meist ethnohistorisch ausgerichteten Forschungen zu Indien ist vor allem der von ihm herausgegebene und mit einer vielzitierten Einleitung versehene Sammelband The Social Life of Things (Appadurai 1986) sehr bekannt geworden. Dort steht die Globalisierung zwar noch nicht im Zentrum. Aber der vertretene Ansatz, sich bei der Erforschung von Austausch- und Konsumtionsvorgängen nicht immer nur auf die Menschen, sondern auch einmal auf die Dinge zu konzentrieren und ihren Bewegungen nachzuspüren, läßt sich in Appadurais Globalisierungstheorie mit ihrem Interesse für weltweite Kulturflüsse durchaus wiederfinden. ▶▸Zur Globalisierung hat sich Appadurai in einer Reihe von Artikeln und in einem 1996 erschienenen Buch, Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globalization (Appadurai 1996), geäußert. Mit seinem besonders häufig zitierten Artikel „Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy” (Appadurai 1990) werde ich beginnen. Entkoppelte „-scapes” In diesem Aufsatz definiert Appadurai die Spannung zwischen kultureller Homogenisierung und kultureller Heterogenisierung als das zentrale Problem der gegenwärtigen globalen Interaktionen. Daß eine globale Homogenisierung, also eine weltweite Vereinheitlichung der Kultur, stattfindet, ist eine gerade außerhalb der Ethnologie verbreitete Annahme. Oft wird sie als Amerikanisierung oder als „commoditization”, wie er sagt, also als Kommerzialisierung und Unterwerfung unter die westliche Konsumkultur imaginiert. Tatsächlich findet laut Appadurai aber überall die ▶▸Indigenisierung (indigenization) von Kulturimporten statt, d. h. ihre Anpassung an die eigene Lebenswelt. Oft ist es zudem weniger eine Amerikanisierung, die von den Menschen problematisiert wird, sondern stattdessen die Indonesianisierung in Irian Jaya, d. h. dem indonesisch beherrschten Teil Neuguineas, die Indisierung in Sri Lanka oder die Vietnamisierung in Kambodscha, in allen Fällen also die übermäßige Ausrichtung an der Kultur der nationalen Mehrheit oder des in der jeweiligen Weltregion beherrschenden Landes. Die Vorstellung von einer globalen kulturellen Vereinheitlichung findet somit keine Bestätigung, und ein Zentrum-Peripherie-Modell in der Art der Dependenztheoretiker und Wallersteins ist selbst dann unzureichend, wenn man von mehr als nur einem Zentrum ausgeht. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 85 Stattdessen ist die neue „global cultural economy”, wie Appadurai sie nennt, sehr viel komplexer. Die in ihr verlaufenden kulturellen Flüsse und Ströme finden vor allem in fünf Bereichen statt, in deren Bezeichnungen er immer wieder das Suffix „-scape” verwendet. Die fünf „-scapes” sind laut Appadurai ▶▸ethnoscapes, mediascapes, technoscapes, finanscapes und ideoscapes. „-Scape” aus dem Wort „landscape” ist ja im Englischen recht produktiv, z. B. in „seascape” und „townscape”, und dies macht sich Appadurai bei diesen Neologismen zunutze. Die fünf Bereiche sind ihm zufolge ebenfalls als Landschaften zu sehen, und wie auch in einer richtigen Landschaft kann der Standort des Betrachters wechseln, so daß es sich um „deeply perspectival constructs” mit fließenden, unregelmäßigen Formen handelt. Diese fünf „-scapes” sind die Bausteine für das, was Appadurai in Anlehnung an Benedict Anderson – den wir später beim Thema Nationalismus noch kennenlernen werden – als „imaginierte Welten” (imagined worlds) bezeichnet. „Ethnoscapes” sind dabei die von den Menschen gebildeten Landschaften, vor allem von den sich bewegenden Personen und Gruppen wie Touristen, Immigranten, Flüchtlinge, Exilanten und Gastarbeiter. Stabile, an einem festen Ort verankerte Gemeinschaften und Netzwerke existieren natürlich weiterhin, doch viele Vorgänge sind nur aus den Wechselbeziehungen zwischen diesen stabilen und den sich bewegenden Gruppen zu erklären. Zudem wird die Möglichkeit zur Bewegung immer wichtiger, und die angesteuerten Ziele liegen immer ferner. „[M]ore persons and groups deal with the realities of having to move, or the fantasies of wanting to move” (Appadurai 1990: 297), und indische Dorfbewohner z. B. denken dabei längst nicht nur an Poona oder Madras, sondern auch an Dubai oder Houston. „Technoscapes” bezeichnet sowohl die globale Verteilung von Technologien als auch die Tatsache, daß diese ebenfalls in Bewegung sind. Multinationale Unternehmen sind zentral daran beteiligt. Auch hier gilt, daß keine einfache Logik wie etwa die der politischen Herrschaft oder der Marktrationalität alles erklären kann, sondern daß es um wesentlich unübersichtlichere Vorgänge geht. „Finanscapes” ist die globale Kapitalverteilung, die sich immer schneller und auf immer schwerer zu verfolgende Weise wandelt, oft mit beträchtlichen Auswirkungen der kleinsten Zeit- oder Prozentwertdifferenzen etwa auf den Aktienmärkten. Zusammen bilden diese drei „-scapes” zwar keineswegs eine einheitliche, fest verfugte Basis, aber doch eine Art Grundlage für die nächsten beiden. Diese sind zum einen die „mediascapes”, worunter Appadurai sowohl die Verteilung der elektronischen Möglichkeiten, Informationen zu produzieren und zu verbreiten, versteht, als auch die Weltbilder, die von diesen Medien geschaffen und transportiert werden. Medien aller Art verbreiten große und komplexe Repertoires von Bildern und Erzählungen und schaffen vor VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 86 allem bei denjenigen, die von den dargestellen Zentren räumlich entfernt sind, „imaginierte Welten” mit teilweise fantastischen Zügen. „Ideoscapes” sind ebenfalls Verkettungen von Bildern, wie Appadurai sagt, aber sie sind politischer Natur und mit den Ideologien der Staaten und den Gegenideologien der sozialen Bewegungen verbunden. Sie bestehen aus den Komponenten der Weltsicht der Aufklärung, also aus Begriffen wie Freiheit, sozialer Wohlfahrt, (individuellen) Rechten und dem, was er als den „master term” bezeichnet, nämlich der Demokratie. Was diese Begriffe in ihrer jeweiligen lokalen Aneignung genau bedeuten, ist unterschiedlich, und daß sie oft sehr viel mehr beschworen als tatsächlich umgesetzt werden, steht außer Frage. Das mindert allerdings nicht ihren Einfluß und die Notwendigkeit für politische Akteure, auf sie bzw. auf die Forderungen nach ihnen zu reagieren. Der wesentliche Punkt ist für Appadurai, daß das gegenseitige Verhältnis dieser fünf „-scapes” durch ▶▸„disjuncture”, also zu deutsch etwa „Entkoppelung”, gekennzeichnet ist. Gemeint ist, daß die „-scapes” kein fest zusammengeschnürtes Paket sind, sondern sich unabhängig voneinander bewegen und verändern. Japan, so eines seiner Beispiele, hat sehr eifrig politische Ideen aus dem Westen importiert, aber immer nur sehr wenige Immigranten akzeptiert, wo also die „ideoscape” verbunden ist, ist die „ethnoscape” es nicht. Die gegenseitige Autonomie der „-scapes” ist zudem der wesentliche Motor für Konflikte und kulturellen Wandel, etwa wenn die „ideoscapes” Ideen in Umlauf bringen, die sich mit der Realität der „ethnoscape” und der gewaltsamen Unterdrückung bestimmter ethnischer Gruppen nicht decken. Deterritorialisierung, Staat und Nation Ein weiterer zentraler Begriff Appadurais ist der der ▶▸Deterritorialisierung (deterritorialization); nicht sein eigener übrigens, das Wort stammt von den französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari. Definiert wird der Begriff bei Appadurai nicht, „deterritorialisiert” ist aber ganz offensichtlich jemand bzw. etwas, der/das sich von einem vormaligen Territorium entfernt und/oder die Kontrolle über dieses Territorium verloren hat. Deterritorialisierung kann sowohl Menschen als auch Ideen betreffen, wobei es Appadurai aber vorrangig um die Menschen geht. In der Deterritorialisierung sieht Appadurai eine der zentralen Kräfte der gegenwärtigen Welt und auch eine Wurzel für weltweite Fundamentalismen wie den islamischen oder den hinduistischen. Gleichzeitig schafft die Deterritorialisierung neue Märkte für Film- oder Reisegesellschaften, die dem Bedürfnis nachkommen, mit dem Heimatland Kontakt zu halten. Und manchmal kann dieses Heimatland komplett die Erfindung deterritorialisierter Gruppen sein. Er nennt als Beispiel ▶▸Khalistan, d. h. den unabhängigen Staat, den radikale Anhänger der VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 87 Sikh-Religion für sich gefordert und in den 1980er Jahren auch per Waffengewalt durchzusetzen versucht haben. Sikh-Migranten- und Flüchtlingsgemeinschaften in Großbritannien, Kanada und den USA waren hier laut Appudarai die treibenden Kräfte. Nicht nur Menschen, sondern auch Geld, Kapital und Waren können deterritorialisiert sein bzw. so empfunden werden, und dies kann gleichfalls zu Besorgnis bei den Einheimischen führen. Appadurai bringt hier das Beispiel des damaligen Los Angeles, also das der späten 1980er Jahre, in dem der Aufkauf von Immobilien durch japanische Firmen Ängste vor einer Übernahme der Stadt auslöste. Trotz aller Deterritorialisierung behält der Nationalstaat laut Appadurai jedoch eine wichtige Rolle. In vielen Gesellschaften, so Appadurai, „the nation and the state have become one another’s projects” (Appadurai 1990: 303). Nationen oder Gruppen mit nationalen Amibitionen versuchen, die Kontrolle über ein Staatsterritorium zu gewinnen, während Staaten ihren Bürgern die Vorstellung nationaler Einheit vermitteln wollen, indem sie die vorhandenen ethnischen Unterschiede in einer übergeordneten Gemeinschaft auflösen oder auf das FolkloristischMuseale beschränken. Überall in der Welt, heißt es recht dramatisch, hängen sich Staat und Nation „gegenseitig an der Kehle” – „state and nation are at each’s throats” (Appadurai 1990: 304). Staaten sehen sich gedrängt, in punkto Medien, Technologie und Reisen offen zu sein, was die moderne Konsumkultur befördert, doch genau dies bringt neue ethnoscapes, mediascapes und ideoscapes herein, die die Staaten und ihr Nationenkonzept unter Druck setzen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Trennungen (disjunctures) zwischen den ideoscapes und den anderen –scapes besonders radikal ausfallen, also z. B. wenn durch die mediascapes geschürte Konsumerwartungen auf durch die vorherrschende finanscapes geleerte Kassen stoßen. Appudarai zufolge ergibt sich hier ein Paradox, daß er als für die heutige ethnische Politik zentral ansieht. Gerade die primordialen, d. h. die häufig als grundlegend gedachten sozialen Bindungen aufgrund gemeinsamer Sprache, Hautfarbe, gegenseitiger Verwandtschaft oder Nachbarschaft, werden immer stärker globalisiert. Zwar wird in der ethnischen Selbst- und Fremdidentifikation Identität mit Lokalität verbunden, d. h. der jeweils abgegrenzten Gruppe wird ein bestimmtes Territorium zugeschrieben. Doch geschieht dies immer häufiger durch Personen, die selbst durch Migration, Exil u. ä. räumlich weit verteilt sind. Moderne Massenmedien erlauben es dann, den Kontakt zueinander zu erhalten und die gemeinsame Imagination des Heimatlandes zu pflegen. Die Globalisierung der Kultur ist also nicht gleichbedeutend mit ihrer Homogenisierung. Instrumente der Kulturvereinheitlichung existieren durchaus, wie z. B. Waffen, Werbetechniken, Sprachhegemonien oder Kleidungsstile. Diese werden allerdings indigenisiert und repatriiert, d. h. lokalen Zwecken angepaßt. Die Staaten sehen sich dabei in einer immer heikleren Rolle, VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 88 oftmals können sie nicht mehr als die Schiedsrichter der Repatriierung sein, und während zu viel Offenheit die Gefahr des Kontrollverlusts birgt, führt zu wenig Offenheit wie im Fall Nordkoreas zur Isolation. Kulturelle Homogenisierung und kulturelle Heterogenisierung „kannibalisieren” einander, wie Appadurai es wiederum recht dramatisch formuliert (Appadurai 1990: 307). Es gibt in der heutigen Welt einen „contest of sameness and difference”, mit zum Teil tragischen Folgen wie ethnischen Konflikten und Menschenrechtsverletzungen, aber auch mit positiv zu bewertenden wie der Erweiterung vieler „Hoffnungs- und Fantasiehorizonte” (Appadurai 1990: 308), wie er es ausdrückt, oder mit der Rolle der Weltöffentlichkeit etwa bei der (damals noch nicht so lange zurückliegenden) Abschaffung der Apartheid in der Republik Südafrika. Die Rolle der Imagination In seinem Buch Modernity at Large (Appadurai 1996) baut Appadurai diese Themen aus und illlustriert sie ausführlicher. Er betont hier vor allem die Zentralität zweier Phänomene, nämlich der Medien und der Migration – also „mediascapes” und „ethnoscapes” –, die einen besonders starken Einfluß auf eine dritte Größe, die Imagination, haben. ▶▸„The world we live in today is characterized by a new role for the imagination in social life”, sagt er, und weiter “More persons in more parts of the world consider a wider set of possible lives than they ever did before” (Appadurai 1996: 31). Die Imagination weist dabei drei besondere Kennzeichen auf. Sie ist erstens nicht mehr an bestimmte auf sie gewissermaßen spezialisierte Bereiche wie Kunst, Mythos oder Ritual gebunden, die von spezialisierten Praktikern beherrscht werden, sondern sie findet im ganz normalen Leben durch ganz normale Menschen statt. Dabei ist zweitens Imagination nicht gleich Fantasie oder Weltflucht, und die sie befeuernden Medien sind nicht nur Opium für das Volk, sondern sie können durchaus Mittel des Widerstands, der Ironie, der Selektivität und ganz allgemein der ▶▸agency sein, ein gegenwärtig in den Sozialwissenschaften sehr populäres Schlagwort, das sich am besten als „individueller Handlungsspielraum” übersetzen läßt. Imagination ist „staging ground for action, and not only for escape” (Appadurai 1996: 7), wie Appadurai es ausdrückt. Drittens schließlich ist Imagination nicht nur eine Fähigkeit von Individuen, sondern auch von Kollektiven, und durch kollektiven Konsum von Massenmedien können Imaginationszusammenschlüsse entstehen, die nicht mehr nur einzelne Nationen als „imagined communities” (im Sinne von Anderson 1983) betreffen, sondern auch über nationale Grenzen hinausgehen. Er nennt hier die von der Fatwa des Ayatollah Khomeini 1989 ausgelöste Kontroverse um die Satanic Verses von Salman Rushdie als Beispiel, ein Phänomen also, das über die Vermittlung der Massenmedien in kürzester Zeit zwei weltweite Koalitionen – eine zur VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 89 Verteidigung des von Rushdie vermeintlich beleidigten Islam, eine zur Verteidigung der künstlerischen Freiheit und ganz allgemein der aus der Aufklärung hervorgegangenen demokratischen Werte – mobilisierte. „… the transnational worlds of liberal aesthetics and radical Islam met head-on, in the very different settings of Bradford and Karachi, New York and New Delhi” (Appadurai 1996: 9). Die dabei geführte Diskussion berührte so grundsätzliche Fragen wie die Politik des Lesens, den Stellenwert der Zensur, die Würde der Religionen oder die Freiheit, sich auch bei nur indirekter Textkenntnis ein Urteil zu erlauben. Kritische Bewertung Die Behauptung von der zentralen Rolle der Imagination hat insgesamt weniger Widerhall gefunden als Appadurais frühere Ideen, und man kann sich sicher darüber streiten, ob hier wirklich in jüngster Zeit so massive Veränderungen erfolgt sind, wie Appadurai behauptet. Die Mobilisierungs- und Verbreitungsmöglichkeiten für alle möglichen Ideen, wie man die bestehenden Verhältnisse oder auch bloß das eigene Leben verändern könnte, haben sicherlich sehr stark zugenommen. Der Einfallsreichtum als solcher, vermute ich, ist aber innerhalb der Menschheit wohl eher eine konstante, nicht beliebig vermehrbare Größe. Auch kann man sich fragen, ob die bei Appadurai zentrale Dialektik zwischen Nationen, die Staaten werden wollen, und Staaten, die Nationen werden wollen, nicht etwas zu prominent dargestellt ist. Hier ist sicherlich der Zeithintergrund in Rechnung zu stellen, denn um 1990 kam es ja mit dem Zusammenbruch des Kommunismus überall in der Welt zu neuen staatlichen Grenzziehungen mit ethnisch-nationaler Legitimation, nicht nur als Staatszerfall, sondern wie im deutschen oder jemenitischen Fall auch als Wiedervereinigung getrennter Staaten, deren Bürger sich trotzdem davon überzeugten, eine nationale Gemeinschaft zu sein. Im 1996er Buch verschärft Appadurai seine Behauptungen allerdings noch; „the nation-state, as a complex modern political form, is on its last legs” (Appadurai 1996: 19), heißt es da, während die neuen Formen der Öffentlichkeit der verschiedenen Diaspora-Gemeinschaften auf dem Vormarsch sind. Das erscheint mir übertrieben, denn selbst in einem die staatliche Souveränität relativ stark einschränkenden Staatenbund wie der EU ist es keineswegs so, daß sich die nationalen Grenzen in Luft aufgelöst hätten. Der Begriff der Deterritorialisierung ist allerdings durch Appadurais Vermittlung in das ethnologische Vokabular eingegangen, und die Beschäftigung mit deterritorialisierten Gruppen, also etwa Arbeitsmigranten, Flüchtlingen, Diasporagemeinschaften und transnational lebenden Gruppen ist sicherlich gerade auf der ethnographischen Ebene diejenige Komponente des Globalisierungsthemas, die in unserem Fach am intensivsten betrieben wird. Und auch die diversen „-scapes” haben eingeschlagen. Hier kann man sich sicherlich fragen, was genau denn z. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 90 B. „technoscape” gegenüber einfach bloß „Technologie” bringt. Appadurai redet von „deeply perspectival constructs”, die sich wie eine Landschaft je nach Standpunkt unterschiedlich darstellen, aber dann ist die Frage, wie man über etwas so Subjektives so generelle Theorien aufstellen kann. Mit solchen Widersprüchen steht Appadurai allerdings nicht allein: Auch bei anderen Autoren findet man postmodern-modische Bekenntisse zur Situations- und Standpunktsgebundenheit allen Wissens, während gleichzeitig die eigenen Aussagen ganz offensichtlich übergreifende Gültigkeit beanspruchen. Ungeachtet solcher Einwände ist die „disjuncture” der „-scapes”, also die Teilautonomie der Einzelbereiche, die sich im sehr unterschiedlichem Tempo der Übernahmen äußert, sicherlich eine fruchtbare Idee. Tatsächlich bedeutet ja z. B. die Übernahme westlicher Konsummuster nicht automatisch die Übernahme westlicher Vorstellungen zum Verhältnis der Geschlechter, und viele Reibungspunkte gehen gerade aus dieser Entkoppelung der unterschiedlichen Bereiche hervor. Die Liste der „-scapes” bedarf allerdings der Erweiterung. Kaum vorstellbar, daß Appadurai sie heute formulieren würde, ohne nicht zumindest auch noch „religioscapes” zu nennen, denn die religiös motivierten Institutionen und Konflikte der Gegenwart sind ja gerade im Fall der sogenannten Weltreligionen nicht einfach eine Sonderform ethnischer oder nationaler Konflikte und somit mit „ethnoscape” schlecht zu fassen. Vielleicht wäre hier auch an eine Erweiterung von „ideoscapes” zu denken, denn das säkulare Wertepaket der Aufklärung ist längst nicht das einzige, das über den ganzen Globus verteilte Anhänger hat. Ulf Hannerz: Globale Ökumene und Kreolisierung Ulf Hannerz von der Universität Stockholm hat sich insgesamt noch intensiver als Arjun Appadurai der Globalisierung gewidmet und dazu erst eine Reihe von Artikeln veröffentlicht (Hannerz 1989, 1990), deren Inhalte dann in einem längeren Kapitel seines 1992 erschienen Buchs Cultural Complexity zusammengefaßt sind (Hannerz 1992: 217-267). 1996, also im selben Jahr wie Appadurai mit Modernity at Large, hat er dann auch noch ein eigenes Buch mit dem Titel Transnational Connections: Culture, People, Places (Hannerz 1996) nachgelegt, das die früheren Ideen breiter ausführt, ohne dabei komplett neue Gedanken zu bringen. Bekannt wurde Hannerz als Stadtethnologe, mit Feldforschungen in den Schwarzenvierteln der USHauptstadt Washington und im nigerianischen Kafanchan, aber mehr noch mit dem 1980 erschienenen, stärker theoretisch ausgerichteten Buch ▶▸Exploring the City (Hannerz 1980), das eines der Standardwerke der Stadtethnologie ist. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 91 Die globale Ökumene und ihre Subkulturen Hannerz zufolge ist es die historische Tendenz der Ethnologie, die Welt als Mosaik zu sehen, mit den einzelnen Kulturen als Steinen, die jeder an einem bestimmten Platz verortet und mit scharfen und eindeutigen Rändern versehen sind. Dies wird der heutigen Weltsituation allerdings nicht mehr gerecht, und stattdessen gilt nunmehr, daß alle Kulturen Teil eines größeren Ganzen sind und von diesem beeinflußt werden. ▶▸„All cultures are now subcultures of global culture, in part defined by their embeddedness in the whole” (Hannerz 1989: 201). Wie sehr sich diese Einbettung an den einzelnen Orten auswirkt ist unterschiedlich, vorhanden ist sie aber in jedem Fall. In seinem Buch spricht Hannerz sogar davon, die Pluralform „Kulturen” überhaupt aufzugeben und nur noch von Kultur in der Einzahl zu sprechen. Denn Kulturen kommen immer seltener als klar abgegrenzte und autonome Pakete daher, und stattdessen reisen ihre einzelnen Elemente getrennt um den Erdball. Laut Hannerz existiert in der heutigen Welt ein „global traffic in meaning”, auf den mit einer ▶▸ „macroanthropology of culture”, d. h. einer Makro-Ethnologie, reagiert werden muß (Hannerz 1989: 202). Für die weltweite Makro-Kultur hat auch er einen Begriff; statt wie bei Appadurai „global cultural economy” heißt er ▶▸„global ecumene”, d. h. globale Ökumene. Als Ökumene bezeichneten die alten Griechen die gesamte bewohnte Welt. Der Boas-Schüler ▶▸Alfred Kroeber hat den Begriff einmal in einer ganz ähnlichen Weise für einen von Einfluß- und Abhängigkeitsbeziehungen durchzogenen sozialen Raum verwendet, und dieser liegt laut Hannerz auch in unserer heutigen Welt vor (Hannerz 1996: 6-7). Radikaler Diffusionismus Als Grundlage einer Makro-Ethnologie der globalen Ökumene sind marxistische Ansätze und Wallersteins Weltsystemtheorie vorgeschlagen worden, aber dieser werden diesem Anspruch nur zum Teil gerecht. Denn Wallersteins Interesse an Kultur beschränkt sich laut Hannerz – und da ist ihm Recht zu geben – weitgehend auf ihre ideologische, d. h. die politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse stützende Funktion. Und auch bei anderen Autoren dieser Richtung wird die Ebene der Bedeutungen und der symbolischen Ausdrucksformen hauptsächlich in ihrer Abhängigkeit von der wirtschaftlich-politischen Weltsytemseinbindung und den Vorgaben des Zentrums gesehen. ▶▸„We get the history of the impact of the center on the periphery, rather than the history of the periphery itself”, wie Hannerz sagt (Hannerz 1989: 207). Ein Grund könnte ihm zufolge sein, daß sich viele Weltsystemstudien auf die frühe und mittlere Kolonialzeit beziehen, wo die Anbindung noch nicht so umfassend war und viele VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 92 kulturelle Bereiche noch nicht so stark berührte. Im 20. Jh. und speziell nach dem Zweiten Weltkrieg und der Dekolonisation hat der globale Kulturverkehr aber sehr zugenommen. Meist von oben herab werden in vielen Gesellschaften fortlaufend neue institutionelle Strukturen für Verwaltung, Wirtschaft und Industrie eingeführt, die denen des globalen Zentrums nachgebildet oder von ihnen inspiriert sind. Immer mehr Menschen in außereuropäischen Gesellschaften beschließen und/oder werden dazu gebracht, sich an diesen Institutionen zu beteiligen, und durch die Ausbreitung der Schulerziehung auch dazu befähigt. Die hinzukommende wachsende Mobilität der Menschen bewirkt, daß die Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie immer stärker auch kulturelle Ströme beinhalten, also Ideen und Symbole und nicht nur Wirtschaftsgüter. (Hannerz’ hier zu spürende Beschränkung des Kulturbegriffs auf den symbolischen Bereich ist sicher dem Einfluß der amerikanischen Ethnologie geschuldet; andere Autoren fassen Kultur durchaus weiter.) In der Analyse dieser Situation gehen viele Autoren gerade auch außerhalb der Ethnologie von dem aus, was Hannerz ▶▸ „radikalen Diffusionismus” (radical diffusionism) nennt (Hannerz 1989: 206), d. h. von einer globalen kulturellen Angleichung durch die Übernahme westlicher Muster. (Der Diffusionismus war ja bekanntlich eine theoretische Richtung innerhalb der Ethnologie, die sich auf Kulturübernahmen und Ketten der Kulturausbreitung konzentriert hat, und „radikaler Diffusionismus” steigert diese Orientierung, indem er gar keine andere Möglichkeit der Kulturentwicklung mehr zuläßt.) Kultur ist aber Hannerz zufolge grundsätzlich differentiell – also ungleichmäßig – verteilt und stellt ein breiteres Repertoire zur Verfügung, als es jedes einzelne Individuum nutzt. Die Perspektiven und Horizonte der einzelnen Individuen haben sich durch die Globalisierung erweitert, und Hannerz schildert hier die vielen Versuche seiner Informanten im nigerianischen ▶▸Kafanchan, ihn für diverse Import-Export-Geschäfte mit dem westlichen Ausland zu gewinnen. Anfangs war ihm dies lästig, da er er als Stadtethnologe hauptsächlich daran interessiert war, wie das urbane Leben in Kafanchan selbst funktioniert. Später erkannte er jedoch, daß die sich in solchen Plänen kundtuenden Fantasien ein wichtiger Bestandteil eben dieses Lebens in einer Stadt war, die im globalen System zwar nur eine periphere Rolle spielt, aber trotzdem eingebunden ist. Die Perspektiven der einzelnen Individuen und Gruppen bleiben dabei unterschiedlich, und die für sie Orientierung und Vorbilder liefernden Zentren sind es ebenfalls. Für manche war dies in der Vergangenheit Maos China, für andere das Skandinavien der Wohlfahrtssysteme, für wieder andere das Indien der Weltentrücktheit usw., so daß keine einheitlichen Ergebnisse zu erwarten sind. Es bestehen bei den verschiedenen globalen Zentren auch nicht unbedingt Isomorphien zwischen wirtschaftlichem und sonstigem Gewicht; Japan, so nennt er ein Beispiel, VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 93 strahlt kulturell weniger aus als andere ähnlich reiche Länder, und wenn, dann häufig Dinge, die nicht speziell als japanisch zu erkennen sind. Eine besondere Bedeutung haben laut Hannerz die regionalen Zentren, wie etwa Mexiko in Mittelamerika oder Ägypten im arabischen Raum. Daß es aber auch außerhalb von Wirtschaft und Politik Zentren und Peripherien gibt, daß die Beziehungen zwischen diesen ungleich sind und daß dies Auswirkungen auf den Erfolg der jeweiligen kulturellen Exportprodukte hat, ist Hannerz zufolge nicht zu bestreiten. Kreolisierung Neben der Vielfalt der Zentren ist der Idee des „radikalen Diffusionismus” weiterhin entgegenzuhalten, das das Importierte nicht so bleibt, wie es ist. Übernommene Technologien und symbolische Formen werden vielmehr umgearbeitet und den eigenen lokalen Bedürfnissen angepaßt. Hannerz nennt hier nigerianische Beispiele: In der World Music von Fela Kuti oder King Sunny Ade oder in den Romanen des Literatur-Nobelpreisträgers Wole Soyinka begegnen sich Nigerianisches und globale Einflüsse. In seinem Feldforschungsort Kafanchan ist eine große Zahl nigerianischer Kirchen damit beschäftigt, ihre jeweils eigene Variante des Christentums zu entwickeln und auszuleben. Und im nigerianischen Fernsehen gibt es zwar „Dallas” und andere US-Produkte, aber daneben auch einheimische Serien, die im Vergleich die populäreren sind. Diese befassen sich außerdem explizit und zum Teil ironisch mit der Globalisierung, etwa in den häufiger auftretenden Figuren, die sich mit der nicht wirklich gekonnten Zurschaustellung globaler Lebensstilelemente zum Gespött machen. Hannerz benennt diese mit Umwidmungen und Verschmelzungen verbundenen Übernahmen als ▶▸Kreolisierung (creolization). Der Begriff erscheint ihm passender als etwa der von anderen Autoren verwendete der ▶▸Hybridisierung (hybridization), denn Kreolisierung – so sagt er – konnotiert Kreativität und Ausdrucksreichtum. Auch betont er, daß kulturelle Mischungen nicht notwendigerweise abweichend oder zweitklassig sind (Hannerz 1996: 66). Der Begriff Kreolisierung stammt – wie Hannerz nicht eigens dazusagt, aber man trotzdem wissen sollte – aus der Linguistik. Dort bezeichnet man als ▶▸Kreolsprachen solche wie z. B. das Haitianische, die aus der Verschmelzung der Elemente verschiedener Sprachen entstanden sind, üblicherweise denen einer grammatisch stark vereinfachten Kolonialsprache – im Haitianischen ist dies Französisch – mit denen einheimischer Sprachen. Zunächst entsteht dabei eine Pidgin-Sprache, aber wenn diese von der Zweit- und Verkehrssprache zur Muttersprache wird, spricht man von Kreolsprache. Gewöhnlich gewinnen Kreolsprachen gegenüber Pidgins auch wieder an grammatischer Komplexität. Die kulturelle Kreolisierung kombiniert laut Hannerz ebenfalls Verschiedenheit, VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 94 Verbundenheit und Innovation und findet im Kontext von globalen Zentrum-PeripherieBeziehungen statt, meist über Kontinentalgrenzen hinweg. Sie bleibt von politischer und wirtschaftlicher Ungleichheit geprägt, und so wenig man ihren Wert schmälern sollte, so wenig ist es andererseits angezeigt, sie bedingungslos zu feiern. Typischerweise findet sich Kreolisierung weniger in der allerfernsten Peripherie als eher etwas näher zum Zentrum des globalen Systems, also etwa in einer Stadt wie Kafanchan. Oftmals bildet Kreolisierung ein Kontinuum, in dem bestimmte Schichten, z. B. die besonders reichen und gebildeten, mehr von der Zentrumskultur übernehmen und andere weniger. Nicht übersehen werden darf schließlich auch, daß Kreolisierung auch im Zentrum des Weltsystems stattfindet, gerade in den Weltstädten mit ihren zahlreichen Immigrantengemeinden, aber auch – so darf man das Konzept wohl weiterdenken – in der Übernahme von Rastalocken, chinesischen Schriftzeichen oder marokkanischen Lampen in deutsche Lebensstile, wobei all diese Kulturimporte ja Bedeutung und Kontext ändern. Oder in ▶▸Chicken Tikka Masala, oft als „CTM” abgekürzt, einem in den indischen Restaurants und Imbissen in Großbritannien angebotenen Gericht, das vielen als die eigentliche britische Nationalspeise gilt. Dies ist auch gar nicht so unangemessen, denn erfunden wurde es genau dort, nämlich in Großbritannien, und nicht etwa in Südasien. Beim Döner Kebap gibt es da sicherlich Parallelen, denn der spielt meines Wissens in der türkischen Küche auch eine geringere Rolle als in der deutschen Ernährung. Die Übernahmen globaler Kulturelemente richten sich also nach lokalen Bedürfnissen aus. ▶▸„The cultural flow from center to periphery ... does not enter a void, nor does it wash out everything that comes in its way” (1989: 212), wie Hannerz formuliert. Vielfältige Einschränkungen existieren hier zwar, aber keine deterministischen Beziehungen. Auch kann von einer völligen Auflösung des Lokalen und der face-to-face-Interaktionen keine Rede sein; die meisten Menschen betrachten stattdessen weiterhin das, was sie selbst erleben, als realer als z. B. das im Fernsehen Gesehene, und aus dem direkten sozialen Umgang erwächst mehr kulturelle Innovation als aus dem Medienkonsum. Hannerz stellt sich die Frage, ob es durch die Globalisierung eigentlich mehr Kultur oder weniger gibt. Im Gegensatz zum „radikalen Diffusionismus” geht er von einer Zunahme aus. Wissenschaft, Staatsführung, Waren und Werbung bringen ständig neue Formen hervor, nicht zuletzt durch die besagte Kreolisierung. Gleichzeitig verfügen wir heute über bessere Techniken, die Dinge aufzuzeichnen und festzuhalten. Somit funktioniert dasjenige, was er als ▶▸„natural, haphazard forgetting of old culture” (1996: 24) bezeichnet, nicht mehr so gut, d. h. nicht mehr benötigte Kultur geht nicht mehr so beiläufig verloren wie früher einmal. Aus der gelebten Alltagspraxis verschwinden viele Konzepte und Praktiken aber tatsächlich, und er nimmt an, daß VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 95 dadurch die gesamte kulturelle Spannweite der Menschheit schrumpft. Das, was übrigbleibt, ist allerdings dichter und mit mehr Detailvielfalt besiedelt, ▶▸„more crowded, with more detail and more continuously generated new microvariations on the same theme”, wie Hannerz es ausdrückt (1996: 24). Zudem steht dem einzelnen Individuum eine sehr viel breitere Palette von Kultur als in früheren Zeiten zur Verfügung. Hannerz’ Antwort auf die Frage „mehr Kultur oder weniger” ist also ambivalent: weniger kulturelle Grundelemente, doch diese mit mehr Detailvariation und größerer Verbreitung. Ethnologie des Kontakts Für die von ihm vorgeschlagene „macroanthropology” findet Hannerz ein Vorbild bei der Linguistin ▶▸Mary Louise Pratt. Diese hat nämlich gefordert, statt immer nur einer „linguistics of community”, also einer Linguistik der Gemeinschaften, auch eine „linguistics of contact”, also eine Linguistik des Kontakts, zu betreiben, d. h. sich z. B. damit zu beschäftigen, wie Sprache zwischen statt bloß innerhalb der sozialen Schichten verwendet wird, wie Menschen in ihren Zweitsprachen miteinander interagieren etc (Hannerz 1989: 210-211). In ähnlicher Weise wird es laut Hannerz für die globalisierungsbewußten EthnologIn gerade dann besonders interessant, wenn es Konfrontationen, Durchdringungen und Durchflüsse gibt, wenn also – wie er sagt – Diversität organisiert wird. Als konkret zu untersuchende Beispiele nennt er Bilingualismus, den kolonialen Diskurs, die Ausbreitung der Schriftlichkeit in oralen Kulturen oder die Entstehung von kosmopolitischen Kulturen im akademischen und literarischen Bereich. Er selbst ist hier mit gutem Beispiel vorangegangen und hat sich in seinem neusten Buch mit Auslandskorrespondenten beschäftigt, also einer für die Wahrnehmung der Welt zentralen Berufsgruppe (Hannerz 2004). Kritische Bewertung Hannerz’ Globalisierungstheorie läßt sich nicht so leicht zusammenfassen wie Appadurais, was zum Teil damit zu tun hat, daß sie vorsichtiger und bescheidener formuliert und nicht so stark auf den rhetorischen Effekt ausgerichtet ist. Er bringt auch über das soeben Vorgetragene hinaus eine große Zahl von nützlichen Detailüberlegungen. Manchmal würde man sich mehr ethnographische Illustration wünschen, und gelegentlich ist eine Tendenz zu einem elitären Kulturverständnis nicht zu übersehen, wenn z. B. Fallbeispiele aus Kunst, Literatur oder Musik eine größere Rolle spielen als die gewöhnlichen Konsumartikel des Alltags. Das Kreolisierungskonzept ist allerdings sicherlich fruchtbar. Vielfach liegt der Wert von Hannerz’ Überlegungen auch in der Aufforderung zu mehr Nüchternheit, etwa wenn er entgegen dem, was VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 96 manche gerade soziologische Autoren über den nur noch digital lebenden und alle kulturellen Einflüsse flugs verschmelzenden modernen Menschen verbreiten, die fortdauernde Bedeutung des lokalen Lebens oder die Prägung der Kreolisierung durch Beziehungen der Ungleichheit betont. Die Ähnlichkeiten mit Appadurai sind vielfältig – dort heißt es „global cultural economy”, hier „global ecumene”, dort „indigenization”, hier „creolization”, und auch andere Ideen Appadurais wie die Entkopplung der einzelnen „-scapes” lassen sich bei Hannerz wiederfinden. Aber gerade in Hannerz’ wiederholtem Aufruf dazu, die Neuheit der gegenwärtigen Globalisierung und ihrer Teilprozesse nicht zu übertreiben, liegt ein Unterschied. Zuzustimmen ist Hannerz ohnehin dahingehend, daß auch Ethnologen nicht umhin kommen, sich mit Globalisierung zu beschäftigen, und auch darin, dies nicht einfach darauf zu reduzieren, daß man bei den weiterhin lokalen Feldforschungen einfach nur das Globale miterfaßt. Verallgemeinerungsversuche sind daneben ebenfalls nötig, wenn wir uns nicht mit denen anderer zufriedengeben wollen. Wie Hannerz es sehr treffend ausdrückt: ▶▸„If we are to have something to say about what happens with cultures in the world as it is now, to policy makers, to intellectuals, or to a wider public, we need an interpretive frame for the big picture, not only a multitude of miniatures. And if we turn out to have nothing to say about such matters, we will very likely be uncomfortable about some of the things that get said instead.” Roland Robertson: Globalisierung und Weltbewußtsein Ich möchte Ihnen noch einen dritten theoretischen Beitrag vorstellen, nämlich den des britischen Soziologen Roland Robertson. Er gehört zur eher qualitativen Fraktion der Soziologie, bei der die Berührungspunkte mit der Ethnologie oft zahlreich sind, und der Faktor Kultur spielt bei ihm eine größere Rolle als bei vielen seiner Kollegen. Stärker fachtypisch ist sicherlich der ausgiebige Bezug auf berühmte Fachkollegen, deren Schriften auf Anschlußmöglichkeiten oder auch Widersprüche zu den eigenen Ideen abgeklopft werden; Ethnologen sind es hier eher gewohnt, mit ethnographischen Fallbeispielen, also dem Verweis auf die empirische Realität zu argumentieren. ▶▸Robertson liefert aber in seinem Buch mit dem schlichten Titel Globalization (Robertson 1992) ein Modell zur Struktur der „global consciousness”, also des Bewußtseins von der Welt, das auch für Ethnologen interessant ist. Robertson betont, daß zur Globalisierung nicht nur das Zusammenwachsen der Welt gehört, sondern auch das Bewußtsein der Menschen für diesen Umstand, daß es sich also um einen reflexiven Prozeß handelt. ▶▸„Globalization as a concept refers both to the compression of the world and the intensification of consciousness of the world as a whole” (Robertson 1992: 8), wie VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 97 er es formuliert. Dieser Vorgang schreitet seit Jahrhunderten voran, hat aber besonders im 20. Jh. sehr an Fahrt gewonnen, und zwar sowohl was das Zusammenwachsen als auch das Wissen darum betrifft. Sein Modell dazu nennt Robertson das „global field” oder auch die „globalhuman condition”, und wie in der Grafik zu sehen, wird es von vier Referenzpunkten aufgespannt. Diese sind zunächst die nationalen Gesellschaften und die Individuen oder passender, da es ja um Arten und Weisen geht, die Welt zu denken, die „Selbste” (selves). Dazu kommt das „world system of societies”, worunter er die Beziehungen zwischen den nationalstaatlichen Gesellschaften versteht, und die gesamte Menschheit, d. h. „humankind”. Jede der insgesamt sechs möglichen Beziehungen zwischen diesen vier Referenzpunkten ist ein Spannungsverhältnis, bei dem sich die beiden Pole gegenseitig relativieren. Dieses Modell, so Robertson, kann dabei helfen, zu analysieren, wie sich Individuen und Kollektive die Einheit der modernen Welt vorstellen und wie sich selbst in ihr sehen, was durchaus auch die Möglichkeit einschließt, diese Einheit als solche schlichtweg abzustreiten. Jede der vier Komponenten behält ihre Autonomie, aber jede ist auch durch die Existenz der anderen drei eingeschränkt. Robertson führt das Modell kaum aus, aber das können wir vielleicht auch selbst leisten. ▶▸Zwischen den Selbsten und den nationalen Gesellschaften handelt es sich um den bekannten, die politischen Philosophen aller Zeitalter beschäftigenden Gegensatz zwischen dem Individuum und seiner Gesellschaft und die Frage nach der angemessenen Verteilung der Rechten und Pflichten zwischen beiden. ▶▸Jede einzelne nationale Gesellschaft wird aber auch durch die Existenz der anderen relativiert, zu denen sie in irgendwelche Formen von Beziehungen treten muß, und seien es so defensive wie etwa diejenigen, die Nordkorea zu anderen Staaten unterhält. ▶▸Für das Individuum bedeutet wiederum die Existenz vieler nationaler Gesellschaften eine Relativierung der Ansprüche jeder einzelnen, teilweise auch die Möglichkeit, von einem Nationalstaat in einen anderen, den eigenen Vorstellungen gemäßeren zu migrieren, ob nun legal oder nicht. Die nationalen Gesellschaften können sich ihrerseits mißliebiger Individuen entledigen, wenn sie etwa illegale Migranten abschieben. Eine vierte Instanz ist schließlich die gesamte Menschheit, und es gibt eine nicht geringe Zahl von Organisationen und Wertsystemen, die sich auf ihr Wohl beziehen bzw. sich darüber legitimieren, angefangen bei der UN oder bei der Deklaration der Menschenrechte. ▶▸Die Idee der Menschheit findet ihre Grenzen im von der Realpolitik bestimmten internationalen Umgang der Nationen miteinander, ▶▸in den Ansprüchen jeder einzelnen Nation, die aus der Bruderschaft aller Menschen eine kleine, erwählte Gemeinschaft herausschneidet und sie mit Staatsbürgerrechten ausstattet, die sie anderen vorenthält, ▶▸und in den Selbsten, die eben nicht einfach nur Mensch sind wie jeder andere auch, sondern gleichzeitig unverwechselbare VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 98 Individuen. ▶▸Robertsons Schema läßt sich meines Erachtens auf viele globale Probleme und Vorgänge anwenden und wendet überhaupt den Blick auf ein Thema, für dessen Erforschung gerade wir Ethnologen prädestiniert sind, nämlich wie sich Menschen im Zeitalter der Globalisierung die Welt denken und auf welche der vier Eckpunkte sie dabei mit welchen Zielen Bezug nehmen. Insbesondere die Tatsache, daß die Menschheit als gedachte Größe oftmals etwas ganz anderes ist als die internationale Staatengemeinschaft, erscheint mir wichtig. Es fehlt vielleicht eine Ebene unterhalb der der nationalen Gemeinschaften, so etwas wie die eigene ethnische Gruppe in Vielvölkerstaaten oder ähnliches, doch mag dies auch einfach nur eine Sonderform der nationalen Gesellschaft sein, die zu den anderen drei Eckpunkten des globalen Felds in einem ähnlichen Verhältnis wie diese steht. Daß in diesem Modell die Ausbreitung des westlichen Kapitalismus und des Imperialismus nicht auftauchen, bestreitet Robertson nicht, er argumentiert hier aber, daß diese Aspekte schon ausgiebig diskutiert worden sind und sie vielmehr einer Ergänzung bedürfen, die kulturelle Faktoren stärker berücksichtigt. (Auch er versteht also Kultur als ein hauptsächlich symbolisches Phänomen.) Stattdessen taucht das Individuum auf, das man bei einem solch großen Thema wie Globalisierung vielleicht gar nicht vermutet hätte. Doch ist es gerade eine Folge der Globalisierung, sagt Robertson, daß die Individuen ein größeres Bewußtsein für die eigene soziale, ethnische, regionale und ganz persönliche Positionierung entwickeln, und dies geschieht im Spannungsfeld mit den anderen drei Eckpunkten. Fazit Appadurai und Hannerz sind sicherlich die einflußreichsten Globalisierungstheoretiker in der Ethnologie, aber es gibt auch noch weitere. ▶▸Gewissermaßen die „Nummer Drei” ist Jonathan Friedman, ein amerikanischer Ethnologe an der Universität Lund in Schweden, der ebenfalls eine große Zahl von Artikeln und mit Cultural Identity and Global Process (Friedman 1994) auch ein Buch zum Thema geschrieben hat. Er sieht – ganz kurz gesagt – Globalität eher als eine Struktur denn als ein Konglomerat aus bestimmten definierbaren Inhalten an. Es geht für ihn daher weniger darum, sich auf Einzelphänomene wie etwa die Kreolisierung bestimmter Kulturelemente zu konzentrieren, sondern eher darum, die Rolle dieser Kulturelemente in einer durch globale Bezüge gekennzeichneten sozialen Situation zu klären. Und für den in diesem Zusammenhang zentralen Faktor Identität ist Modernität nur eine mögliche Grundorientierung. ▶▸Traditionalismus, Primitivismus – d. h. die Abkehr von den gängigen kulturellen VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 99 Errungenschaften, etwa von der modernen Konsumwelt – und Postmodernismus – d. h. die mal spielerische, mal zynische Distanz zu allen Positionen, deren man sich eklektisch bedient, ohne sich einer einzelnen ganz zu verschreiben, sind andere Möglichkeiten. Sie alle sind nur im Gegensatz zueinander und im durch die globalen Beziehungen geschaffenen Rahmen zu erklären. Friedman ist auch ansonsten anregend, aber nicht leicht zusammenzufassen, so daß ich sie auf seine Texte verweise. ▶▸Auch von anderen Ethnologen gibt es vielfältige, meist dann etwas weniger ausführlich ausfallende Ideen und Kommentare zum Thema Globalisierung oder auch zu Einzelaspekten; letztere werde ich in den noch folgenden Sitzungen dort einbringen, wo es sich anbietet. Viele von ihnen teilen die zentralen Aussagen Appadurais und Hannerz’, und es läßt sich so etwas wie eine mainstream-Position der Ethnologie zur Globalisierung skizzieren. Der sich mit Globalisierung überhaupt befassenden Ethnologen, so muß man betonen, denn viele Kollegen, die das weniger tun, gehen z. B. durchaus noch von der Homogenisierungserwartung des radikalen Diffusionismus aus. Wenn es allerdings einen Punkt gibt, in dem sich so gut wie alle ethnologischen Kommentatoren der Globalisierung einig sind, dann ist es die Tatsache, daß die gegenwärtige globale Situation keine generelle Vereinheitlichung oder Verwestlichung der Kultur mit sich bringt. Denn die Importe kommen von überall her, nicht nur aus Nordamerika und Europa, und es gibt kulturelle Flüsse aus den Peripherien in das globale Zentrum. Außerdem werden die Kulturübernahmen den lokalen Bedürfnissen angepaßt und mit lokaler Kultur verschmolzen. ▶▸Hannerz sagt dazu Kreolisierung, Appadurai Indigenisierung, aber es gibt durchaus auch noch andere Begriffe wie etwa Domestizierung (domestication) – von dem amerikanischen Ethnologen Joseph Tobin vorgeschlagen (Tobin 1992) – oder den besonders populären der Hybridisierung (hybridization), den vor allem der indische, an der Harvard University lehrende Literaturwissenschaftler Homi Bhabha verbreitet hat. Roland Robertson hat den Begriff der „Glokalisierung” (glocalization) popularisiert, und früher hätte man – vor allem in der Religionsethnologie – von Synkretismus (syncretism) geredet. Die lokale Ebene bestimmt die Ausrichtung dieser kulturellen Verschmelzungen und verliert deshalb auch nicht ihre Bedeutung. ▶▸Die wirtschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse in der Welt geben damit die Geographie der übrigen kulturellen Bereiche keineswegs vor, hier herrscht vielmehr „disjuncture” im Sinne Appadurais. Staaten und Nationen, oft im Bemühen darum, das jeweils andere erst noch zu werden, spielen in dieser globalen Kulturgeographie eine unverminderte Rolle. Es steigt jedoch allgemein die Anzahl und der Einfluß der vielen Menschen, Dinge und Ideen, die sich jenseits ihrer Ursprungsterritorien befinden, also in Appadurais Begriff deterritorialisiert sind, gerade auch bei der Dynamik zwischen Staaten und Nationen. Und VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 100 schließlich bringt die Globalisierung nicht nur wirtschaftsbedingte Einschränkungen, sondern auch Beflügelndes mit sich, wenn sich durch die verbesserten Transportmöglichkeiten für Menschen, Dinge und Ideen die materiellen und immateriellen Ressourcen, die an den einzelnen Orten verfügbar sind, vermehren und Kreativität und Imagination anregen. In den noch folgenden Sitzungen – das ist die Mehrheit – werde ich auf die Einzelbereiche der Globalisierung eingehen und neben diversen Fallbeispielen die jeweils für diese Bereiche entworfenen Theorien schildern. Den Anfang macht in der nächsten Sitzung die Konsumtion, also der Bereich, der in der populären Wahrnehmung der Globalisierung häufig eine besonders herausgehobene Stellung einnimmt. Dringt Coca Cola wirklich in die kleinste Hütte, und was hat das für Folgen? VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 101 Teil VI: Die Globalisierung des Warenkonsums Ethnologische Konsumforschung Ich habe im letzten Teil die Globalisierungstheorien der 1980er und 90er Jahre von Ethnologen wie Arjun Appadurai und Ulf Hannerz vorgestellt. Diese enthalten viele einzelne Komponenten, aber auch so etwas wie einen ethnologischen Konsens zum Globalisierungsthema. Und dieser lautet, daß die in den vorherigen Kapiteln besprochenen globalen wirtschaftlichen Abhängigkeiten die Entwicklung in anderen kulturellen Bereichen keineswegs determinieren. Hier betonen die besagten Autoren vielmehr die Eigenständigkeit der Kulturübernahmen und -anpassungen und sprechen von „Kreolisierung” und „Indigenisierung”. Ob dies auch beim modernen Warenkonsum so ist, wird heute die zentrale Frage sein. Die Präsenz westlicher Konsumartikel selbst in den entferntesten Winkeln dieser Erde und der Vormarsch von Pepsi, Nike, Sony und all den anderen Marken wird ja häufig als besonders charakteristisch für die gegenwärtige Weltsituation betrachtet, und gerade hier sind die Kritiker besonders zahlreich. Naomi Kleins Buch No Logo (Klein 2000) etwa wurde zu einem Manifest der Globalisierungskritiker. Die Frage ist, ob es tatsächlich so aussieht. Wird wirklich alle Welt zu Marken-Junkies, wenn sie mit den Produkten der multinationalen Konzernriesen und ihrer Werbemaschinerie in Berührung kommt, oder findet auch hier wieder „Glokalisierung” statt? Die Ethnologie ist heute immer besser gerüstet, darauf eine Antwort zu geben. Konsumtion ist ursprünglich ein vernachlässigter Bereich gewesen, vielleicht weil er in den typischerweise von Ethnologen untersuchten Gesellschaften als simple Bedürfnisbefriedigung mit nur geringer symbolischer Bedeutung angesehen wurde. Stattdessen konzentrierten sich Ethnologen mit Interesse an wirtschaftlichen Vorgängen auf die Produktion und die Distribution der Güter, und die Klassiker handeln z. B. vom Kula-Ring der Trobriander, also von einem Austauschsystem mit Prestigefunktion (Malinowski 1922). Dies hat sich allerdings in den letzten Jahrzehnten geändert. Konsumtion und besonders die moderne Konsumkultur sind nun ebenfalls Objekt von Feldforschungen und theoretischen Annäherungen, und besonders die über den Konsum gesendeten sozialen Botschaften und seine Verbindung mit individueller und kollektiver Identität finden dabei Beachtung. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 102 Mecca Cola: Antiamerikanismus als Brause Ich möchte statt einer weiteren Einleitung themengerecht mit einem Werbespot beginnen. (Film ab; siehe http://www.mecca-cola.com/en/tvads.php) Wahrscheinlich ist den meisten von ihnen der Sinn des arabischen Textes entgangen, aber nicht der Schriftzug „Mecca Cola” auf der PETFlasche. Mecca Cola World wurde 2002 in Paris von dem tunesischstämmigen Journalisten Tawfik Mathlouthi gegründet. Dieser hatte bereits auf seinem eigenen Radiosender eine unter arabischsprachigen Franzosen und Migranten populäre Talkshow und dachte nun über einen Weg nach, wie man Cola trinken konnte, ohne die USA, die Politik von Präsident Bush und das, was er den „zionistischen Faschismus” der israelischen Regierung nennt, zu unterstützen. Wahrscheinlich haben sie im Werbespot das Foto der US-Soldatin Lynndie England mit dem nackten Gefangenen am Hundehalsband aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghreib bemerkt, das diese politische Botschaft unterstreicht. Heraus kam Mecca Cola. Ein Verkaufsslogan lautet „Don’t drink stupid, drink committed!” („Trink nicht dumm, sondern engagiert!”), und entsprechend wird nach guter islamischer Sitte der Zehnte, d. h. zakat, gegeben, und zwar gleich doppelt: 10 Prozent der Verkaufserlöse gehen an humanitäre Projekte in Palästina, weitere 10 Prozent an ebensolche Projekte im jeweiligen Herstellungsland. Bargeld wird dabei nicht ausgezahlt, wenn man dem Gründer glauben darf, und es werden Schulbücher oder Medikamente geliefert, nicht etwa Unterstützung für militante palästinensische Gruppen. Dies ist natürlich nicht einfach nur Kreolisierung, sondern die Globalisierung wird gewissermaßen gegen sich selbst gewendet, ein bißchen wie bei dem in der ersten Sitzung beschriebenen Fall der Pont-des-Arts-Kopie in Kyoto. Das Design der Marke Coca Cola wird so weitgehend imitiert, daß Coca Cola wohl keinerlei Probleme hätte, dies gerichtlich zu untersagen, wenn das denn für die Konzerngewinne wirklich eine Rolle spielen würde und nicht bloß unliebsame Publicity für den Imitator brächte. Gleichzeitig ist die Marke aber als ein politisches Statement gegen die US-amerikanische Nahostpolitik und wohl auch den Imperialismus im weiteren gedacht, oder sie versucht zumindest, mit diesem Statement den Verkaufserfolg zu erhöhen. Nicht untypisch im Licht dessen, was wir von Appadurai über Deterritorialisierung gehört haben, ist es ein tunesischer Franzose der zweiten Generation, überdies in der Weltstadt Paris lebend, der Mecca Cola entwickelt hat. Man kann sich natürlich fragen, wie konsequent es ist, die kulturellen Formen des Gegners so weit zu übernehmen und nur in Details zu ändern. Und auch unter Muslimen ist Mecca Cola nicht unumstritten, denn viele lehnen es ab, den Namen der heiligen Stadt für die Verkaufsförderung eines schnöden Softdrinks zu gebrauchen. Insgesamt scheint Mecca Cola allerdings Erfolg zu haben, nicht nur in Europa in Kiosken mit muslimischer Kundschaft und in VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 103 französischen Supermärkten, sondern auch im Nahen Osten. Dort gibt es auch schon weitere Cola-Varianten wie Qibla Cola und Zamzam Cola, die ebenfalls dem Bedürfnis Rechnung tragen, US-amerikanischen Konzernen, aber nicht dem importierten Stück Trinkkultur aus dem Weg zu gehen. Brasilianische Weintrauben und die Frischobstwelle Ein Strang der ethnologischen Forschung zu Waren und Konsum untersucht die Ketten der Weitergabe, die sie bedingen und die heute oftmals weltumspannend sind. Auch im Fall von Mecca Cola gibt es solche Ketten, die auf der einen Seite von der Produktions- und Abfüllstätte über den Groß- und Einzelhandel bis hin zu den Verbrauchern führen, auf der anderen Seite aber auch von den diversen Rohstoff- und Teilelieferanten, etwa den Herstellern von PET-Flaschen, hin zur Produktionsstätte. Durch die immer billigeren Transportmöglichkeiten für Massengüter bedingt sind die Glieder solcher Ketten räumlich immer weiter verstreut, und unabhängig davon wissen die einzelnen Glieder oft recht wenig über die anderen Glieder bzw. sind auch gar nicht weiter daran interessiert. Aber auf sehr tiefgreifende Weise miteinander verknüpft sind sie häufig trotzdem. Wir haben mit Sidney Mintz’ Buch bereits ein Beispiel solche einer Warenkettenanalyse (englisch auch „commodity chain analysis”) kennengelernt, die herausstellt, daß ein solch banales Alltagsgut wie der Zucker letztendlich ein Motor der industriellen Revolution war, natürlich ohne daß dies dem karibischen Plantagensklaven oder dem englischen Industriearbeiter bewußt war. Und ähnliche Analysen gibt es von ethnologischer Seite auch für den heutigen Warenkonsum. Die Globalisierung von frischem Obst und Gemüse Im Sammelband Commodities and Globalization: Anthropological Perspectives von Haugerud, Stone und Little finden sich zwei Analysen zur Bedeutung der „non-traditional crops” (NTC), also der „nicht-traditionellen Anbauprodukte” (Collins 2000, Little und Dolan 2000). Das sind diejenigen Feldfrüchte, die in einer bestimmten Gegend nicht zu Hause sind, sondern neu eingeführt werden und für den Export bestimmt sind. Es geht also um Marktproduktion und nicht wie vielfach beim traditionellen Anbau um Subsistenzwirtschaft. Die Ausbreitung der „non-traditional crops” ist mit den veränderten Konsumgewohnheiten in den westlichen Industrieländern verbunden. Kaum eine Ausgabe des Ihnen regelmäßig zugehenden PR-Magazins der Krankenkasse Ihres Vertrauens verzichtet ja darauf, Ihnen den möglichst häufigen Konsum von frischem Gemüse und frischem Obst nahezulegen. Und wir sind VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 104 es gewohnt, daß wir ganzjährig eine große Auswahl von Gemüse- und Obstsorten kaufen können. Die klassische Spargelsaison ist mittlerweile so sehr verlängert, daß man sie kaum mehr als solche bezeichnen kann, und frische Erdbeeren oder Avocados können Sie eigentlich immer erhalten. Gleichzeitig macht fast niemand mehr Gemüse oder Obst für die Wintermonate ein, wie es in der Generation meiner Eltern noch allgemein verbreitet war. Die meisten Konsumenten machen sich wenig Gedanken darüber, was dahinter steht, aber wenn man es einmal tut, ist offensichtlich, daß dies ohne fortgeschrittene Kühl- und Transporttechnologie, Welthandel und weit verstreute Anbauregionen mit einer entsprechenden Staffelung der Erntezeiten nicht möglich wäre. Nach Getreide und Ölsamen stehen Frischobst und –gemüse mittlerweile mit einem Anteil von 13 Prozent an dritter Stelle der weltweiten Agrarexporte, und damit haben sie z. B. den Zucker und auch andere landwirtschaftliche Rohstoffe überflügelt. Wie Little und Dolan in ihrem Beitrag ausführen (Little und Dolan 2000), liegt dies nicht zuletzt daran, daß der Anbau von NTC eines der Standardrezepte sind, das IWF und Weltbank bei Strukturanpassungsprogrammen vertreten. Weintraubenproduktion in Brasilien In ihrem Beitrag “Tracing Social Relations in Commodity Chains: The Case of Grapes in Brazil” untersucht die Agrarsoziologin Jane L. Collins, wie sich die Einführung der Weintraubenproduktion im Saõ-Francisco-Tal der brasilianischen Bundesstaaten Bahia und Pernambuco ausgewirkt hat (Collins 2000). Der weltweite Weintraubenkonsum wächst rasant, in den USA z. B. stieg der Import von 14.000 Tonnen 1970 auf 400.000 Tonnen 1990, eng verbunden mit der Erwartung der Konsumenten, Weintrauben zu jeder Zeit kaufen zu können. Weintrauben bleiben allerdings ein Luxusprodukt, das man im Gegensatz zu Kartoffeln oder Zwiebeln im Laden liegen läßt und durch etwas anderes ersetzt, sobald die wahrgenommene Qualität nicht den Erwartungen entspricht, also z. B. wenn die Trauben fleckig oder angefault sind. Dies zu verhindern, erfordert bei diesem sensiblen Produkt lückenlose Kühlketten, die auch einen wesentlichen Teil der Produktionskosten ausmachen. Und dies bestimmt letztendlich auch sehr stark die Produktionsbedingungen in Brasilien. Zwischen 1987 und 1993 hat das Land seine Weintraubenexporte verzehnfacht. Das untere SaõFrancisco-Tal war in den 1970er Jahren noch ein für den armen Nordosten Brasiliens typisches, dürregeplagtes Gebiet mit traditionell betriebenen großen Viehfarmen, wenig kapitalisiert und mit einer wie Leibeigene gehaltenen Landarbeiterschaft. Seit der Vollendung eines von der Weltbank geförderten und die Umsiedlung von 65.000 Menschen erfordernden Staudamms 1979 hat sich dies jedoch grundlegend gewandelt, denn nun ist Bewässerung möglich, und VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 105 multinationale Konzerne investieren in diesem Bereich große Summen. Auf knapp einem Zehntel der bewässerten Anbaufläche standen 1993 Weingärten, insgesamt 4000 Hektar, wo es 15 Jahre zuvor noch keinen einzigen gegeben hatte. Groß- und Kleinfarmen Der Anbau wird dominiert von großen Betrieben; 18 von ihnen teilen sich drei Viertel der Fläche. Das restliche Viertel umfaßt aber etwa 300 kleine Farmen mit jeweils unter 6 Hektar Fläche. Für große wie kleine Produzenten gab es staatliche Kredite und technische Unterstützung, und tatsächlich gelingt es den kleinen Farmen eher besser als den großen, exportfähige Weintrauben zu produzieren und nicht nur Ausschuß, der dann für bloß noch die Hälfte oder ein Drittel des Preises auf den lokalen Märkten verkauft werden muß. Außerdem haben sie, da oft Familienbetriebe, auch bei den Arbeitskosten Vorteile. Diese sind im Weinbau beträchtlich, vor allem wenn die Trauben exportfähig sein sollen, denn dann sind genaue Standards bezüglich Größe, Gewicht, Zuckergehalt, Makellosigkeit und Pestizidrückständen einzuhalten. Dies erfordert eine Vielzahl von Arbeitsschritten wie Düngung, Kontrolle und Pestizidauftrag, Rückschneiden alter oder unproduktiver Triebe, fachgerechte Ernte und Sortierung usw., die fortlaufend anfallen und entsprechende Fachkenntnisse erfordern. Im Jahr kommen 1500 Arbeitstage pro Hektar zusammen, also genug für 6 Vollzeitkräfte, während es z. B. bei Mangos nur 500 sind und bei anderen Anbauprodukten noch viel weniger. Auf den großen Farmen treibt dies die Kosten in die Höhe, denn die Arbeiter bleiben nur, wenn sie neben einem Lohn auch noch Unterkunft und Serviceleistungen geboten bekommen, und sie müssen von Kontrolleuren überwacht werden, denen ihrerseits wieder Kontrolleure übergeordnet sind. Dies alles entfällt bei einer kleinen Farm in Familieneigentum, die auf auch mit weniger Lohn und Überwachung motivierte Haushaltsmitglieder zurückgreifen kann. Entsprechend liegen die Arbeitskosten der kleinen Weintrauben-Farmen im Nordosten Brasiliens um 70 Prozent und die gesamten Produktionskosten um 45 Prozent niedriger als die der großen Farmen. Man könnte also fast vermuten, daß hier die Quadratur des Globalisierungskreises einmal gelingt. Denn sonst wird ja gerne angenommen, daß eine zunehmende Exportorientierung kleine, lokale Produzenten zugunsten multinationaler Konzerne aus dem Markt drängt und statt selbständiger Bauern ein landloses Proletariat schafft, das sich nicht mehr selbst versorgen kann und den Wechselfällen des Marktes schutzlos ausgeliefert ist. Hier aber haben wir einmal ein Exportprodukt für den Weltmarkt, bei dem tatsächlich die kleinen Produzenten im Vorteil sind. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 106 Das Makellosigkeitgebot und die Vertriebsbedingungen Doch können sie diesen Vorteil nicht nutzen, wie Collins feststellt. Und dies liegt hauptsächlich an der Sensibilität des Produkts und damit – letztendlich – daran, daß wir alle im Supermarkt bei Weintrauben so wählerisch sind. Nach der Ernte müssen die Weintrauben binnen Stunden in gekühlten Lagerhäusern sein und dann mit Kühlwagen zu den Häfen und von dort mit Kühlschiffen nach Rotterdam gebracht werden, und dies alles, ohne daß die Kühlkette auch nur ein einziges Mal unterbrochen werden darf. Und in der Organisation dieses Transports sind die kleinen Farmer im Nachteil, denn mit ihren geringen Produktmengen und ihrem oft auch fehlenden politischen Gewicht können sie keine ähnlich niedrigen Preise und zeitnahen Transporttermine aushandeln wie die großen Produzenten. Glücklicherweise standen den kleinen Farmern 1993 zwei Ausweichmöglichkeiten zur Verfügung, denn sowohl eine Vertriebsgesellschaft einiger der großen Firmen als auch eine französische Exportgesellschaft kauften ihre Trauben auf, zumindest dann, wenn die eigene Produktion für die Aufträge nicht reichte. Doch würde schon der Ausfall einer dieser beiden Zwischenhändler die für die Kleinproduzenten günstige Konkurrenz beenden, und der Ausfall beider würde viele von ihnen komplett aus dem Markt drängen. Die Zukunft der kleinen Weintraubenfarmer ist also mit großen Risiken behaftet, weil das Distributionssystem so stark monopolisiert ist. Unsere Vorstellungen von der makellosen Weintraube wirken sich aber auch noch in anderer Hinsicht aus. Denn sie haben die Arbeiterschaft feminisiert; 1993 waren zwei Drittel von ihnen Frauen. Männer erledigen die körperlich schwereren Arbeiten, aber die letztendlich für die Produktqualität und das Aussehen der Trauben wichtigeren Arbeiten – Auswählen, Zurückschneiden, Verpacken etc. – werden auf den großen Farmen von Frauen gemacht. Aus vier Gründen reduziert das die Arbeitskosten: Erstens gibt es weltweit Beispiele dafür, daß die speziellen für eine entlohnte Arbeit nötigen Kenntnisse schon allein deshalb entwertet werden, weil sie Frauen verrichten; fachliche Fähigkeiten werden etwa zu einer quasi-angeborenen größeren Fingerfertigkeit herabgewürdigt. Frauen erhalten in den Weingärten nur den Minimallohn, Männer erhalten mehr. Die häuslichen Verpflichtungen der Frauen rechtfertigen zum zweiten, sie nur in temporären Arbeitsverhältnissen zu beschäftigen, wodurch bestimmte staatliche vorgeschriebene Vorrechte für Arbeitnehmer entfallen. Gewerkschaften üben außerdem bei der Aufnahme von Frauen Zurückhaltung, so daß drittens auch in dieser Hinsicht für die Produzenten wenig Ärger zu erwarten ist. Und viertens beschweren sich Frauen weniger schnell über die beiden ihnen bei der Arbeit übergeordneten Kontrollinstanzen. Diese vier Bedingungen sind nicht auf Brasilien beschränkt, und so arbeiten auch in anderen lateinamerikanischen Ländern, im Senegal oder in den schnittblumenexportierenden Ländern VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 107 Nord- oder Ostafrikas sehr große Zahlen von Frauen in der Produktion von NTC. Collins zieht das Fazit, daß die Homogenität der Ware, die wir im Supermarkt verlangen, im Fall des Frischobst- und –gemüsehandels neue Formen der Differenzierung fördert, speziell die Segregierung der Geschlechter, und ganz allgemein die Ersetzung traditioneller Landwirtschaft durch die Produktion dessen, was in den reichen Ländern gerade en vogue ist. Und sie verlangt, diese Verbindungen wie im Fall der Weintrauben stärker offenzulegen, also nicht nur zu untersuchen, wie sich lokale Gemeinschaften auf abstrakte globale Kräfte einstellen, sondern stärker die durch Handel und Regulierungen aller Art geschaffenen Beziehungen zwischen Produzenten und Konsumenten in den Blick zu nehmen. Venezianische Glasperlen, ostafrikanische Pastoralnomaden und das New Age Sie werden bei dieser ethnologischen Analyse der Weintrauben-Warenkette vielleicht einwenden, daß die Produktion sehr im Vordergrund steht und wir über die Distribution und stärker noch die Konsumtion wenig erfahren. Der immer stärkere Hang zum Frischobst und die Bevorzugung fleckfreier Ware wird vielmehr als aus dem Alltag bekannt vorausgesetzt. Mit ihrem Fokus auf der Produktion ist Collins’ Studie der älteren neomarxistischen Forschung, wie ich sie Ihnen bereits vorgestellt habe, noch recht nahe. Es gibt allerdings auch ethnologische Analysen von Warenketten, die bei den globalen Verbindungen stärker auf die Konsumtionsseite eingehen und auch den im Fall der Weintrauben eher zu vernachlässigenden symbolischen Gehalt der Waren stärker in den Vordergrund stellen. Die mporo-Ketten der Samburu Die amerikanische Ethnologin Bilinda Straight von der Western Michigan University hat mit dem Artikel „From Samburu Heirloom to New Age Artifact: The Cross-Cultural Consumption of Mporo Marriage Beads” eine solche Studie vorgelegt (Straight 2002). Bei den Samburu, einer pastoralnomadischen Ethnie in Kenia, wo sie selbst zu einem seltsamerweise nicht näher bezeichneten Zeitpunkt Feldforschung gemacht hat, tragen die Frauen ab ihrer Heirat mporo genannte Halsketten, in denen rote Glasperlen eine zentrale Rolle spielen. Diese roten Perlen wurden einst in Venedig hergestellt, und zwar bewußt als Handelsgüter für außereuropäische Regionen. In letzter Zeit finden diese Glasperlen jedoch wieder zurück in den Westen, wo sie besonders bei Käuferinnen mit New-Age-Interessen begehrte Schmuckstücke geworden sind, und mit welchen Vorstellungen beide Seiten die Perlen verbinden, ist Thema von Straights VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 108 Artikel. Die ungefähr einen Zentimeter langen, ovalen Glasperlen sind sogenannte „white heart beads”, die aus dunkelrotem Glas mit einem weißen Kern bestehen und dem Karneol, einem Halbedelstein, ähneln. Die Globalisierung des Handels mit „beads” – also im Unterschied zu „pearls” den Perlen, die nicht in Austern gewachsen sind – hat eine lange Geschichte. Handelsnetze für Glasperlen von den Herstellungsstätten in Ägypten und am Roten Meer bis hinunter nach Tansania sind schon für das zweite Jahrhundert belegt, und Perlen aus Stein, Holz, Knochen und Muscheln werden in Afrika schon seit 5000 Jahren gehandelt. Mit der kolonialen Expansion nahm der Handel mit europäischen Glasperlen stark zu, und auch die im 15. Jh. einsetzende venezianische Produktion ist fast schon von Anfang an auch nach Afrika exportiert worden, zunächst über arabische Zwischenhändler. Die spezielle rote Glasperlensorte in den mporo-Ketten wird seit etwa 1800 in Venedig hergestellt und gelangte offenbar über Händler aus den verschiedensten europäischen Ländern an die ostafrikanische Küste und von dort über Araber, aber auch über europäische Reisende ins Landesinnere. Schon um die Wende zum 20. Jh. waren sie in der Region der Samburu außerordentlich begehrt, wie europäische Händler damals berichteten, und offensichtlich ersetzten oder ergänzten sie einen bereits älteren Handel mit lokal produzierten Perlen aus Karneol, wie sie bereits in 4000 Jahre alten Fundstätten am Turkana-See auftauchen. Diese einheimischen Karneolperlen waren jedoch ein knappes Gut, und in der vorund frühkolonialen Zeit wurden immer nur einzelne von ihnen auf Giraffenhaare gezogen als Ketten verwendet. Ab 1900 waren die roten Glasperlen jedoch durch das koloniale Handelssystem einige Jahrzehnte lang preiswert und in großen Mengen verfügbar. Die Symbolik der Perlenketten Dies hat bei den Halsketten zu einer Ästhetik der Fülle geführt. Es handelt sich jetzt um schwere Gebilde aus vielen Schichten von regelrechten Kettenbündeln, die im Laufe der Zeit sowohl komplexer als auch regelmäßiger in der Anordnung geworden sind. Je größer die Fülle, desto größer die Schönheit und auch das Prestige dieses Schmucks. Der Halskettenschmuck einer Samburu-Frau hat zudem heute, wo die Perlen vor Ort schon seit einigen Jahrzehnten nicht mehr zu kaufen sind, einen regelrechten Lebenszyklus. Ihre ersten Perlen erhalten die Frauen von ihren Familien, wenn sie alt genug sind, mit den jungen Männern aus der Altersgruppe der Krieger Beziehungen einzugehen (offensichtlich sexuelle Beziehungen; Straight ist hier unnötig undeutlich). Von diesen jungen Männern erhalten sie viele weitere Perlen, allerdings noch nicht die roten mporo-Perlen. Später heiraten sie dann, gewöhnlich Männer, die wesentlich älter sind als sie selbst, was ihre Beziehungen zu den jungen Kriegern beendet, aber ihren Halskettenvorrat VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 109 auf den Zenit treibt. Denn nicht nur erhalten sie viele weitere Perlen als Teil der Heiratstransaktionen, ihre Mütter geben den Bräuten auch eine aus dem eigenen Vorrat gefertigte mporo-Kette, die über allen anderen getragen wird und das symbolische Zeichen dafür ist, daß die Braut nun Kinder gebären kann. Wachsen jedoch später ihre eigenen Töchter und die von Verwandten heran, verschenken die Frauen immer mehr von ihren mporo-Perlen, bis schließlich nur noch ein kleiner Vorrat übrigbleibt. Mporo-Perlen sind also für die Samburu-Frauen symbolisch mit Fruchtbarkeit und mit dem erstrebten Reichtum sowohl an Kindern als auch an Rindern verknüpft, wobei die eine Ressource – die Kinder – mit der Möglichkeit zur Vermehrung der anderen Ressource – wenn diese zu Arbeitskräften heranwachsen – verbunden ist. Und diese symbolische Verknüpfung, so Straight, macht einen Großteil ihrer Anziehungskraft aus. In jüngeren Jahren werden die mporo-Perlen jedoch zusehends nicht mehr von Frau zu Frau weitergegeben, sondern verkauft, eine Entwicklung, die für Straights Informantinnen zwiespältig ist. Denn eigentlich ist es nicht richtig, etwas an Fremde zu veräußern, was mit dem „Schmutz” (latukuny) des eigenen Körpers behaftet ist; vielmehr sollte dieser an die eigenen Töchter gehen, denn für deren Fruchtbarkeit ist der Kontakt mit dem latukuny der Mutter unerläßlich. Das angebotene Geld reicht aber offenbar aus, um diese Bedenken letztlich doch zu überwinden. Für den Erwerb von Nahrungsmitteln darf der Erlös allerdings nicht verwendet werden, denn das würde bedeuten, gewissermaßen die eigene Fruchtbarkeit zu konsumieren. Der spirituelle Reimport der Perlen Die so auf den Markt gelangenden mporo-Perlen und –Halsketten landen bei ausländischen Touristen, die Kenia besuchen, und in den mittlerweile in den USA sehr zahlreichen, in so gut wie jedem Einkaufszentrum zu findenden Läden, die Perlen und Ketten anbieten. (Hierzulande scheint es nicht anders zu sein.) Straight berichtet von Mode- und Lifestylezeitschriften, in denen die Models wie auch die in den exotischen, häufig in der Wüste angesiedelten Szenerien auftauchenden Einheimischen solche Ketten tragen oder in denen der Eigentümer eines amerikanischen Geschäfts für solche Ketten in einer Art Reisebericht dabei begleitet wird, wie er sie in Afrika im Busch campend erhandelt. Die amerikanischen Perlenläden finden sich häufig in den besseren Vierteln, und dort hängen Beispielketten in großer Zahl. Ebenfalls zum Verkauf stehende Bücher informieren nicht nur über die historischen Hintergründe der Perlen und darüber, wie sie in Afrika getragen wurden bzw. werden. Sie leiten überdies auch darin an, wie man aus den Perlen nicht nur ästhetisch befriedigende Ketten, sondern auch mit magischen oder heilenden Kräften ausgestattete Amulette anfertigen kann. Und im Laden einer Kirche der für VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 110 New-Age-Einflüsse offenbar besonders zugänglichen protestantischen Demomination, den Unitarian Universalists, verkauft eine Künstlerin die Perlen als „Meditationsperlen” in besonderen Arrangements. Straight stellt fest, daß die Mitglieder dieser Kirche und andere Frauen, die diversen NewAge- und neuheidnischen (neopagan) Vorstellungen anhängen, einen Hang zu Objekten aus allen möglichen außereuropäischen Kulturen haben, die sie als mit besonderer spiritueller Kraft und Energie aufgeladen empfinden. Dafür ist ganz wesentlich, daß diese Objekte tatsächlich im Alltag benutzt worden sind, und besonders Schalen und Gefäße aller Art sowie die Perlen stehen dabei hoch im Kurs. In verschiedenen Geschäften und auf einer Händlerkonferenz stößt Straight zudem auf eine weitere Attraktion der Perlen: Die Verkäufer/innen erzählen ihr, daß die Ketten auf Elefantenhaare aufgezogen werden, letztere aber wegen des Rückgangs der Art und der heutigen Schutzmaßnahmen nicht mehr zur Verfügung stehen. Daher hätten die Perlen für die Ostafrikanerinnen keinen Nutzen mehr. Die umsatzförderliche Implikation dieser tatsächlich nicht zutreffenden Geschichte – in Wahrheit werden Palmenfasern und Giraffenhaar benutzt – ist, daß es sich hier trotz der außereuropäischen Herkunft um eine politisch korrekte Ware handelt, deren Kauf zudem ein Stück bedrohte Kultur vor dem Untergang bewahrt. Denn auch ganz allgemein wird verbreitet, daß es sich beim Tragen dieser Halsketten in Ostafrika um eine bereits untergegangene Praxis handelt, wiederum fälschlich, denn tatsächlich besteht sie ja fort. Die mythischen, naturnahen und spirituellen Dimensionen Afrikas verbinden sich im Reiz der Perlen also mit einem nostalgischen Element. Am anderen Ende der Warenkette, bei den Samburu, ist es das Konzept der Fülle – von Perlen, Kindern, Rindern und Prestige, in enger Verbindung miteinander –, das die Perlen attraktiv macht, und seitdem sie nicht mehr zu kaufen sind, ist ihre matrilineare Vererbung und die damit verbundene Symbolik hinzugekommen. Die gleichen Perlen tragen also an beiden Enden der Warenkette ganz unterschiedliche Bedeutungen, und für diese Bedeutungen sind letztlich die Bedürfnisse der Konsumentinnen – also der Samburu-Frauen bzw. der modebewußten und/oder spirituell interessierten amerikanischen Mittelklässlerinnen – entscheidend. Straight verwendet den Begriff nicht, aber deutlich haben wir es hier auf beiden Seiten mit dem zu tun, was Hannerz Kreolisierung und Appadurai Indigenisierung nennen. Die Perlen als solche bleiben zwar unverändert, aber ihre Anordnung zu Ketten ist jeweils lokal bestimmt, und die Bedeutungen sind es vollständig. Wahrzeichen der Globalisierung? Einen Aspekt betrachtet Straight allerdings meines Erachtens zu wenig. Die Ethnographie der US-amerikanischen Perlenfans fällt nämlich etwas knapp aus, und die Afrika-Klischees, die die VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 111 Frauen in die Perlen hineinprojizieren, klingen in Straights Darstellung so stereotyp, daß es schon wieder verdächtig ist. Vielleicht ist es tatsächlich so, vielleicht ist es aber auch einem generellen Trend speziell in der jüngeren amerikanischen Ethnologie geschuldet, der die theoretische Auskleidung gegenüber der Ethnographie sehr in den Vordergrund stellt. So dringt auch Straight erst nach mehreren Seiten nicht sehr ergiebiger theoretischer Erwägungen zu ihrem Fall vor und läßt selbst so elementare Angaben wie etwa Zeitpunkt und Umstände ihrer Feldforschung unerwähnt. Vielleicht könnte ihr gerade deshalb auch die Bedeutung eines Aspekts entgangen sein, der in ihren Schilderungen durchschimmert. Denn die Tatsache, daß die Perlen ursprünglich aus Europa stammen, ist durchaus ein in sowohl im kenianischen Souvenirladen als auch in den amerikanischen Geschäften und den dort verkauften Büchern präsentes Faktum. Den Kundinnen entgeht nicht, daß sich die Perlen in längst vergangenen Jahrhunderten aus Europa auf die Reise nach Afrika gemacht haben, dort für eigene Zwecke verwendet worden sind und jetzt wieder in den Westen zurückgelangen. Ich halte es für keineswegs ausgeschlossen, daß die so geschaffene Verbindung der Zeitalter und Kontinente einen beträchtlichen Anteil am Appeal der Perlen hat; und es ist ein so naheliegender Aspekt, daß es sich sicherlich gelohnt hätte, auch ihn zu kommentieren. Sebago-Bootsschuhe in Dakar Nun zu einer dritten Warenkettenanalyse, die gegenüber den symbolisch neutralen Weintrauben und den durch ihren praktischen Gebrauch symbolisch stark aufgeladenen mporo-Perlen endlich auch einmal die symbolische Macht der Marken ins Spiel bringt. Es geht um Bootsschuhe, mit denen der amerikanische Hersteller Sebago seit den 1960er Jahren vor allem auf dem europäischen Markt erfolgreich ist. Die amerikanischen Ethnologin Liza Scheld hat untersucht, welche Bedeutungen mit ihnen in der senegalesischen Hauptstadt Dakar verknüpft werden, und nimmt dies zum Anlaß für eine allgemeinere Kritik an den etablierten Vorstellungen zu Weltstädten und global cities. Importmode und Prestige in einer afrikanischen „global city” Den gebräuchlichen, zumeist aus der Soziologie oder anderen Nachbardisziplinen stammenden Vorstellungen zu Weltstädten zufolge ist Dakar keine solche. Im Welthandel hat sie wie Senegel überhaupt eine eher marginale Position, und es finden sich keine Konzernzentralen oder andere Schaltstellen der globalen Finanz-, Informations- und Warenflüsse wie etwa in New York, London oder Tokyo, den drei Metropolen, die die niederländisch-amerikanische Soziologin VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 112 Saskia Sassen in ihrer bekannten Studie als die einzigen global cities identifiziert (Sassen 1991). Wie Scheld betont, aber gar nicht einmal in allen Details darstellt, hat die Agglomeration heute jedoch fast drei Millionen Einwohner, und Dakar hat seit seiner Zeit als urbanes Zentrum des französischen Kolonialreichs in Westafrika seinen kosmopolitischen, an ein internationales Netzwerk von Städten angeschlossenen Status nicht verloren. Das Bewußtsein um diese Rolle beeinflußt auch die Konsumtion der Bewohner, vor allem junger Städter. Unter ihnen erfreuen sich die Bootsschuhe der amerikanischen Firma Sebago seit schon mehr als zwanzig Jahren größter Beliebtheit, und zwar vor allem die Modelle mit weißen Sohlen. Sie gelten als langlebig und bequem, da man mit ihnen auf den vielen sandigen Wegen dieser Hafenstadt gut laufen und sie für den Moscheegang leicht ausziehen kann. In einer Gesellschaft, in der persönliche Geltungsansprüche und Rivalitäten sehr stark über Mode ausgetragen werden, steht allerdings ihre symbolische Bedeutung im Vordergrund. SebagoSchuhe werden mit einem als „italien” bezeichneten Stil verknüpft, zu dem auch etwa LacosteHemden gehören und den einer von Schelds Informanten wie folgt beschreibt: „It is seductive, cool. It's comfortable. When one wears this style one feels like an engineer, a man, a good student, an intelligent person.” Andere Informanten heben hervor, wie erst das Tragen solcher Schuhe die eigene Person als weltläufigen Städter kennzeichnet, zu dem jedermann Beziehungen sucht. Für diesen Distinktionsgewinn legen die Anhänger dieses Stils beträchtliche Summen hin: 80 bis 100 US-Dollar kosten die Originale und immerhin noch 30 bis 35 Dollar die chinesischen Imitate, während z. B. selbst ein Beamtenhaushalt mit etwa 300 Dollar im Moment auskommen muß. Transnationale Verbindungen Sebago selbst ist mittlerweile global. Das Unternehmen begann im US-Bundesstaat Maine als Hersteller von Billigschuhen, die dann in den 1960er Jahren auf dem bis heute größten Markt, nämlich Europa, „entdeckt” wurden. Die Produktion ist mit einem Zweigwerk in der Dominikanischen Republik und der Verlagerung auf Zulieferer in Portugal ebenfalls globalisiert. Interessanterweise ist sich die Firma Sebago, bei der Scheld nachgefragt hat, der Beliebtheit ihrer Schuhe in Westafrika durchaus bewußt. Der dortige Verkauf entspricht etwa 10 Prozent des europäischen Marktes. Trotzdem unterhält das Unternehmen dort keine Filialen und macht auch keine Werbung. Den Import und Verkauf übernehmen stattdessen senegalesische Kofferhändler, die zwischen dem Ausland und Dakar hin- und herpendeln und dabei jeweils 80 bis 100 Paare einführen. Wie ihnen das gelingt, wird nicht gesagt, und ich könnte mir vorstellen, daß hier die Zöllner partizipieren. Dieser informelle Handel wird dadurch erleichtert, daß es neben dem alten Migrationsziel VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 113 Frankreich mittlerweile mit Italien und den USA im Vergleich zugänglichere und eher noch beliebtere Alternativen gibt. Die Senegalesen arbeiten dort in Industriebetrieben, im Niedriglohn-Dienstleistungssektor und im Straßenhandel für Touristen, und in Städten wie New York oder Rom haben sich komplette Infrastrukturen für alle ihre Bedürfnisse entwickelt, vom informellen Restaurant über den Friseur zu Geldwechsel- und Reisegesellschaften, so daß ein dortiger Aufenthalt nicht einmal mehr Sprachkenntnisse erfordert. In diesen Städten gewesen zu sein oder mit ihnen assoziierte Konsumgüter wie die Sebago-Schuhe zu besitzen, gilt in Daker als besonders statusträchtig, und die so gekennzeichneten Personen werden entsprechend als V.F. („venant de France”), V.A. („venant d’Amerique”) und V.I. („venant d’Italie”) bezeichnet, wobei V.A. und V.I. am begehrtesten sind. Scheld unterstreicht die Bedeutung der Konsumtion für die Schaffung und Formung transnationaler Flüsse; ihr zufolge wird diese im Vergleich zur Produktion und Distribution bislang vernachlässigt. Sie spricht sogar davon, daß die Konsumgüter und der eng mit ihnen verknüpfte Fluß der Menschen die Grenzen zwischen den Städten erodiert. Für die Senegalesen, die es bis dorthin geschafft haben, wird New York und die dortige, mittlerweile auf ca. 20.000 Personen geschätzte senegalesische community immer mehr zu einem Nobel-Vorort von Dakar. Es wird damit genauso lokal angeeignet wie die Sebago-Schuhe, denn auch diese sind laut Scheld weniger als der Versuch der Übernahme eines westlichen Lebensstils zu verstehen. Sie erhalten ihre Bedeutung vielmehr vollständig aus den Bedingungen und Bedürfnissen der senegalesischen Gesellschaft. Dirty Drinking: Die Domestizierung des Biers in Japan Nach diesen drei Blicken auf transnationale Warenketten und die kulturellen Auswirkungen an ihren Enden möchte ich nun noch zwei Studien vorstellen, die sich stärker damit befassen, wie importierte Konsumgüter und –praktiken in einheimische Lebenswelten integriert werden. Die erste führt uns vom Luxus- und Prestigekonsum zu einem vergleichsweise banalen Alltagsgut zurück, nämlich dem Bier. Seit den 1930er Jahren wird auch in Japan in größerem Umfang Bier gebraut, übrigens in enger Anlehnung an deutsche Vorbilder, und mittlerweile ist zwei Drittel der in Japan getrunkenen Menge an alkoholischen Getränken Bier, zumeist aus der Produktion von nur vier großen Firmen. Sake oder – wie in Japan üblicher – nihonshû gilt zwar als das alkoholische Nationalgetränk, macht aber selbst nur noch etwas mehr als ein Fünftel des Gesamtkonsums aus und geht auch in absoluten Zahlen zurück, und dies, obwohl der Alkoholkonsum insgesamt rasant angestiegen ist. Und auch bei den Spirituosen hat der Whiskey VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 114 den einheimischen Schnaps shôchû, der aus allen möglichen Zutaten gebraut werden kann, überholt. Wein ist zudem seit den 1980er Jahren stark im Kommen, vor allem unter den Frauen, so daß sich die japanischen Trinkvorlieben immer weiter globalisieren. „Den Becher erwidern” Stephen R. Smith, Soziologe im Department of East Asian Studies der Wittenberg University in Ohio, hat sich in seinem Artikel „Drinking Etiquette in a Changing Beverage Market” mit den sozialen Auswirkungen dieses Kulturwandels und der allgemeinen Veränderungen auf dem Getränkemarkt beschäftigt (Smith 1992). Der Vormarsch des Biers in Japan erzwingt ihm zufolge regelrecht die Veränderung der herkömmlichen Trinksitten. Diese sind nämlich durch ein Ritual der Reziprozität gekennzeichnet, das sogenannte henpai (wörtlich „die Tasse/den Becher erwidern”). Alkohol wurde traditionell in Japan nämlich meistens in Gesellschaft zu festlichen Anlässen getrunken, und noch zur Vorkriegszeit war Alkohol gleichbedeutend mit Sake. Festliche Trinkgelage folgen einer einheitlichen Dramaturgie (siehe dazu auch Moeran 1998). Nach einem eher formalen Beginn mit Ansprachen, bei dem die Teilnehmer auf den zugewiesenen Plätzen bleiben und die formelle Hockposition einnehmen, und der dann häufig folgenden Mahlzeit kommt mit dem Fortschreiten der Zeit und des Alkoholkonsums irgendwann der Moment, wo die Teilnehmer sich im Raum zu bewegen beginnen. Mit einem Sake-Servierfläschchen (tokkuri oder o-choko) genannt machen sie sich auf den Weg zu anderen Teilnehmern und gießen ihnen Sake bis zum Rand in die sakazuki genannten, ziemlich kleinen Tassen oder Becher ein. Wie auch die Servierfläschchen sind diese meist aus Porzellan, manchmal auch aus Holz, trübem Glas oder anderen Materialien. Der Empfänger dieser Dienstleistung trinkt den Becher leer, schüttelt ihn danach aus oder wischt einmal mit der Hand darüber und gießt nun seinerseits dem Spender Sake in denselben Becher ein, den dieser sodann leert. Man unterhält sich dabei und danach eine Weile, bevor der erste Eingießer mit dem Sake-Fläschchen weiter zue nächsten Person zieht; der Becher bleibt zurück. Gibt es in der gemeinsam trinkenden Gruppe Rangunterschiede, sind es die rangniederen bzw. jüngeren Teilnehmer, die in Bewegung sind und den Sake-Austausch initiieren, während die ranghöheren an ihrem Platz bleiben. Smith schildert einen Fall, wo einer der Fahrer sich dem Firmendirektor nähert und der gesamte Austausch vor allem beim sichtlich angespannten Fahrer etwas sehr Gezwungenes hat; auch muß er um die Einschenk-Erwiderung des Direktors ausdrücklich bitten. In dem einen Fall, wo ich selbst einmal auf einer Feier war, auf der henpai praktiziert wurde, ging es allerdings sehr viel lockerer zu. Smith erinnert an die bekannte Theorie des französischen Ethnologen Marcel Mauss zum VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 115 Gabentausch, die dieser in seinem klassischen Werk Le don niedergelegt hat (Mauss 1925, 1968). Ihm zufolge verpflichtet die Gabe in sehr starkem Maße, und der Beschenkte muß sie erwidern, um Unheil von sich selbst fernzuhalten. So ist es auch im Fall des henpai, denn es einfach zu verweigern ist nicht vorgesehen, und dementsprechend sorgt es dafür, daß die Individuen Reziprozitätsbeziehungen eingehen, die sie einander verpflichten und so den Gesamtzusammenhalt der Gruppe stärken. Bier, Whiskey und die Grenzen der Reziprozität Henpai funktioniert jedoch nicht mit Bier. Dieses wird zwar aus vergleichsweise kleinen Gläsern getrunken, und auch hier gilt wie immer in Japan, daß man in Gesellschaft Alkohol nie sich selbst, sondern immer nur den anderen einschenkt. Aber die Gläser sind trotzdem größer als die sakazuki und nicht leicht in einem Zug zu leeren, und danach bleiben auf dem klaren Glas die Schaumrückstände und Fingerabdrücke sichtbar, so daß man es nicht so gut einander anbieten kann wie die sakazuki, bei denen der klare Sake zwar eine fühlbare Klebrigkeit, aber keine sichtbaren Spuren hinterläßt. Bier leistet also einem weniger sozialen Trinken Vorschub. Nicht anders ist es auch bei Whiskey. Dieser ist in Japan zwar nur für einen kleinen Teil der alkoholischen Getränkemenge, aber immerhin für fast ein Viertel der reinen Alkoholmege verantwortlich. Das Whiskeytrinken findet häufig in sehr kleinen Bars statt, wo die Wirtin eingießt, oder in etwas größeren hostesu bâ, wo hosutesu genannte junge Frauen die Getränke eingießen, Konversation machen, mit den männlichen Gästen schäkern usw., solange es sich nicht um eine Gruppe handelt, bei der die weiblichen oder die jüngsten Mitglieder das Einschenken übernehmen. Oftmals haben die vornehmlich männlichen Kunden in den Bars ihre eigene, mit Namensschild versehene Flasche, die immer dann zum Einsatz kommt, wenn sie wiederkommen. Am häufigsten wird Whiskey als mizuwari getrunken, d. h. mit Wasser und Eis versetzt, und das ständige Nachfüllen der Gläser mit Whiskey, Eis und Wasser hält die damit betraute Person beschäftigt. Doch fehlt dieser Dienstleistung das reziproke Element des henpai, denn es ist immer die hosutesu oder die Wirtin, die eingießt, und nur als besondere Geste des Danks oder der Zuneigung übernimmt dies auch einmal der Gast. Ohnehin breiten sich jedoch die individuellen Trinksitten und vor allem der allein stattfindende Alkoholkonsum aus. Smith meint, daß henpai durch die früher noch üblichere Sitte begünstigt wurde, daß alle in einer Gesellschaft nach Möglichkeit das Gleiche trinken. Jetzt ist das Alkoholangebot explosionsartig gewachsen, und so bestellt jeder etwas anderes und trinkt es für sich. Dies trifft sich allerdings nicht meinen Beobachtungen bei japanischen Trinkgelagen, wo einfach alles bestellt wird, was die Karte hergibt – Bier, Sake, shôchû, Wein, Whiskey etc. – VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 116 und viele auch mehreres davon durcheinander trinken, selten zu ihrem Besten. Recht zu geben ist Smith allerdings dahingehend, daß im Handel und in den allgegenwärtigen Getränkeautomaten Ein-Personen-Bierdosen oder Sakegläser mit Abziehdeckel im Angebot sind, die zum individuellen Trinken gedacht sind und denen das reziproke Element fehlt. Smith schließt, daß die Art des Bier- und des Whiskeykonsums in Japan zweifellos Elemente der Domestizierung (domestication) aufweist. Dies ist das Wort, das der Herausgeber des Sammelbands, Joseph J. Tobin, anstelle von „Kreolisierung” bzw. „Indigenisierung” benutzt. In meinen Augen ist dies kein schlechtes Wort, weil es sowohl das Element der Zähmung beinhaltet als auch über die Wortwurzel domus (lateinisch für „Haus”) das Heimischwerden bzw. -machen des importierten Produkts betont. Smith zufolge findet diese Domestizierung bei Bier und Whiskey in Japan aber in einem Gesamtkontext der Verwestlichung, der Modernisierung und der Individualisierung statt, als sich gegenseitig verstärkende Prozesse. Hier wäre es sicherlich angezeigt, diese Prozesse schärfer zu trennen und die Kausalbeziehungen genauer zu bezeichnen; es ist z. B. eher die Individualisierung, die den Konsum von Ein-PersonenSakegläsern befördern dürfte, als umgekehrt. Auch sinkt die Menge des in Gesellschaft konsumierten Alkohols nur relativ gesehen; absolut ist sie beständig gestiegen. Henpai mit seiner besonderen reziproken Komponente ist allerdings ohne Sake tatsächlich nicht möglich. Allerdings ist auch hier zu bedenken, das dies nicht nur ein Ritual der Reziprozität ist, sondern auch eines der Hierarchien, die ja dadurch ihren Ausdruck finden, wer jeweils die Initiative ergreift und sich dadurch als rangniedriger einordnet. Henpai federt solche Hierarchien durch einen Akt des persönlichen Austauschs ab, aber vielleicht – so meine Vermutung – gibt es im heutigen Japan auch nicht mehr so viele strikt hierarchische Gruppen, die des henpai bedürfen, um ungleichen Beziehungen ein menschliches Gesicht zu geben. Die neue Glokal-Authentizität Ich möchte es hier nicht versäumen, eine neuere Entwicklung zu berichten, die Smith noch nicht beobachten konnte. Seit den 1990er Jahren ist der Biermarkt in Japan liberalisiert worden, und dies hat zur Gründungen vieler Klein- und Kleinstbrauereien geführt, die den vier etablierten Großkonzernen Kirin, Asahi, Suntory und Sapporo jetzt Konkurrenz machen. Diese sind unter dem allgemeinen Begriff ji-biru („Bier des Bodens”, d. h. Bier aus lokaler Produktion) bekannt, und sie verkaufen sich gewöhnlich auch über ihren besonderen symbolischen Appeal, da sie preislich den etablierten Marken keine Konkurrenz machen können. Hier ist nun ein besonders interessanter Fall von Globalisierung bzw. Glokalisierung zu vermelden. Um untergäriges Bier wie Pils oder Lager brauen zu können, braucht man nämlich relativ niedrige Temperaturen und VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 117 entsprechend aufwendige und teure Kühlung. Daher setzt sich bei diesen Minibrauereien eher das obergärige Bier durch, und zwar häufig der sogenannte kerushi taipu – nichts anderes als „Kölsch-Typ”, also etwas uns Wohlvertrautes. Ich war bei meiner Feldforschung in Kyoto nicht wenig erstaunt, daß dort ein Machiya bîru genanntes Bier hergestellt und verkauft wird, benannt nach den traditionellen Wohnhäusern in Kyoto, deren Wiederentdeckung eines meiner Forschungsthemen war. Und dieses warb ebenfalls damit, kerushi taipu zu sein, und die innerhalb einer größeren Brauerei mit seiner Herstellung befaßte junge Frau hatte in Köln bei Päffgen ein längeres Praktikum absolviert. Weihnachten und Konsum in Trinidad Mein letzter ethnographischer Fall betrifft die Globalisierung und Kreolisierung eines Festes, das in besonderem Maße als mit dem modernen Warenverkehr verknüpft gilt. Es handelt sich um das Weihnachtsfest, das in seiner modernen Form ja immer wieder als Orgie des Konsums kritisiert wird. Zu diesem Thema erschien 1993 der Sammelband Unwrapping Christmas, herausgegeben von Daniel Miller, Professor am University College London (Miller 1993b). Miller ist wohl derjenige Ethnologe, der sich am breitesten und interessantesten mit der modernen Konsumkultur auseinandergesetzt hat. 1987-89 und dann noch einmal 1990 hat er eine ethnographische Feldforschung auf der karibischen Insel Trinidad durchgeführt, aus der nicht weniger als drei Monographien zur dortigen Konsum- und Internetkultur (Miller 1994, 1997, Miller und Slater 2000) sowie eine große Zahl von Artikeln hervorgegangen sind. Einer seiner eigenen Beiträge zum Sammelband befaßt sich daher mit Weihnachten in Trinidad und wie es dort einerseits ein Fest des Konsums, andererseits aber paradoxerweise auch ein Fest des AntiMaterialismus ist (Miller 1993a). Trinidad bildet mit der kleineren Nachbarinsel Tobago einen seit 1958 unabhängigen Staat mit einer Bevölkerung von etwas mehr als einer Millionen Einwohner, also etwa so viel wie Köln. 1498 „entdeckte” Columbus die von Arawak- und Kariben-Indianern bewohnte Insel, und Seuchen sorgten bald für das Verschwinden der Ureinwohner als distinkter Gruppen. Die Insel war zunächst eine spanische Kolonie, wie bereits der Name („Dreifaltigkeit”) anzeigt, die eher wenig genutzt wurde. Sie ging im 18. Jh. an die Briten, die hier Zucker und Kakao in Plantagen anbauten. Zunächst geschah dies mit afrikanischen Sklaven, nach 1834 dann mit Kontraktarbeitern hauptsächlich aus Indien. Heute sind jeweils etwa 40 Prozent der Bevölkerung Africans (lokal auch „negroes” genannt) und Indians (d. h. Südasiaten). Der Rest führt sich auf eine große Zahl von Einwanderungswellen aus aller Welt zurück, und viele Trinis haben VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 118 ethnisch gemischte Ahnenreihen. Religiös ist mit Christentum, Hinduismus, Islam und Voodoo ebenfalls eine breite Auswahl vorhanden. Wie überhaupt die gesamte Karibik ist Trinidad damit ein Ort mit einer besonders globalisierungsgeprägten „ethnoscape” im Sinne Appadurais und gilt auch den Trinis als ein melting pot ohne tiefe historische Wurzeln, was die heutzutage hohen Emigrationsraten hauptsächlich in andere englischsprachige Länder weiter verstärkt. Nach einer langen Zeit als Armenhaus brachten Erdölfunde in den späten 1970ern und frühen 80ern einen Wirtschaftsboom, und heute ist Trinidad die am meisten industrialisierte Insel der Karibik. Steeldrums, Calypso, Soca und Karneval sorgen aber für ein Image, daß eher durch andere kulturelle Bereiche geprägt ist. Hausputz und Hausbesuche Weihnachten wird in Trinidad nicht weniger geliebt als der berühmte Karneval und von allen ethnischen Gruppen und auch von Hindus und Muslimen gefeiert. Geschenke an Kinder, Verwandte und enge Freunde spielen dabei eine Rolle, aber für den Konsum wesentlicher ist die Tatsache, daß sich die Familien gegenseitig darin übertreffen, in den vorangehenden Tagen und Wochen das Haus von oben bis unten zu putzen und oftmals auch neu anzustreichen. Die Möbel werden ebenfalls auf Vordermann gebracht, und die Polsterer sind mit Aufträgen ausgebucht, Sofas und Sessel auszubessern. Größere Anschaffungen an Mobiliar, Kleidern oder auch neuen Whiskeyflaschen werden ebenfalls bevorzugt in dieser Zeit getätigt; die Trinis beschenken also eher sich selbst als andere. Der Höhepunkt der Vorbereitungen, zu denen auch die ansonsten in der Hausarbeit wenig involvierten Männer ihren Beitrag leisten, wird an Christmas Eve, also an Heiligabend erreicht. (Im Gegensatz zu unseren Sitten ist ja im angelsächischen Raum erst der Erste Weihnachtstag, also Christmas Day, der eigentliche Festhöhepunkt.) Idealerweise ist die Familie bis spät in die Nacht damit beschäftigt, den Hausputz abzuschließen, spezielle Festspeisen und -getränke zuzubereiten, Weihnachsdekorationen anzubringen und die getätigten Anschaffungen aus den Kartons zu holen, wo sie bis zu diesem Moment, manchmal über Wochen und Monate, verharrt haben. Den Abschluß der Vorbereitungen bildet schließlich das Aufhängen der entweder frisch gewaschenen oder neu gekauften Vorhänge. Am Christmas Day ist dann das gemeinsame Mahl der Familie der private Höhepunkt der Feierlichkeiten; es gibt ein besonders opulentes Festessen, das auch importierte Äpfel und Weintrauben einschließt, die besonders stark mit der trinidadianischen Vorstellung vom Weihnachtsfest verbunden sind. Dieses Essen ist ein ruhiges Zwischenspiel zwischen der Betriebsamkeit der Vorbereitungen und der nun folgenden Hausbesuche. Bis Sylvester, aber zunehmend auch darüber hinaus, macht man nämlich die Runde bei seinen Verwandten, VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 119 Freunden und Kollegen, oftmals auch solchen, die man sonst kaum besucht, und setzt sich gegenseitig die weihnachtlichen Speisen und Getränke vor. Heim und Welt Miller fragt sich, warum es das Haus und nicht die Personen sind, für das am meisten eingekauft wird, und warum sich so viele der Einkäufe in der Weihnachtszeit konzentrieren. Er kommt, wie er selbst sagt, zu einer funktionalistischen Antwort. Am Christmas Day konsolidiert sich auf symbolische Weise die Familie, und die ganze Nation vergewissert sich der Zentralität von Heim und Familie, bevor sich ab dem Zweiten Weihnachtstag das nun gewissermaßen abgesicherte Haus nach außen hin öffnet und die Besuche in anderen Häusern beginnen. Zudem soll beim Weihnachtsfest idealerweise alles so bleiben wie es, häufig aus einer nostalgisch verklärten Perspektive, immer gewesen ist. Weihnachten bildet hier den Gegenpol zum Karneval, der kein Familienfest ist und wo der ständige Wandel und das gespannte Warten auf die Neuerungen in Stil, Kleidung und Musik bestimmend sind. Darüber hinaus wird Weihnachten mit einer sehr traditionellen Ethnizität in Verbindung gebracht; es gilt nämlich als „spanisch”, d. h. als mit den ursprünglichen Kolonialisten, aber auch den indianischen Ureinwohnern und ganz allgemein mit gemischten Ahnenlinien verbunden. Gerade zur Weihnachtszeit erinnern sich viele Trinis dieser Wurzeln, auch in ihren eigenen Ahnenreihen. „Spanisch” steht in einem vagen Gegensatz zu den hauptsächlichen ethnischen Optionen African, Indian oder Weißer und ist älter und traditioneller als diese; außerdem fehlt hier die Verbindung mit Sklaverei und Schuldknechtschaft, die die anderen Identitäten belastet. Das „spanisch” assoziierte Weihnachtsfest erhält so eine zeitliche Tiefe und transzendiert die aktuellen ethnischen Frontstellungen; selten erlebt sich die Nation als so einig wie zu Weihnachten. Zwar ist die Geschichte der Insel eine der Fragmentierung und Diskriminierung, zum Weihnachtsfest aber „tremendous effort is invested in creating a self-image of bounded society, nostalgic common culture, and sentimental roots” (Miller 1993a: 146), und laut Miller leistet das Fest dies so sehr wie nichts Anderes in Trinidad. In diesem national geteilten Ritual der familiären Häuslichkeit haben die Konsumgüter laut Miller einen wichtigen Platz. Früher war das religiöse Element stärker, und die Mitternachtsmesse an Heiligabend bildete den Höhepunkt. Nun steht das weltliche Ritual des Auspackens und Aufstellens der neuen Konsumgüter im Vordergrund. Sie werden so in den engen Nexus einbezogen, der zwischen Haus, Familie, der diese Ideale stützenden christlichen Religion und der gesamten Nation konstruiert wird, und erfahren so eine Art weltlicher Segnung. Auch viele Trinis machen sich Sorgen über den modernen Konsum und seine antisozialen VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 Elemente, doch das Weihnachtsfest verbindet die Waren mit 120 einem positiven Assoziationskomplex, ja es ist regelrecht eine „sacralization of shopping” (1993a: 149), wie Miller es ausdrückt. „Christmas has come unambiguously to embody one particular consumption ideal, to increase goods and to consume them as sociality”(1993a: 152). Es ist daher, sagt Miller, in seinen ganzen Auswirkungen geradezu anti-materialistisch. Miller scheint sich seiner Sache sehr sicher zu sein, denn was die Informanten zu alledem sagen, taucht nur selten auf oder wenn, dann aus der Zeitung oder Anrufsendungen im Radio entnommen. Allerdings beansprucht Millers Interpretation auch gar nicht, eine emische zu sein, und damit wären eher andere ethnologische Untersuchungen als die Aussagen der Informanten in der Lage, ihre Gültigkeit zu überprüfen. Fazit Lassen Sie uns zum Abschluß noch einmal überlegen, was die theoretischen Konzepte wie etwa das der Kreolisierung zum Verständnis der Fallbeispiele beitragen. Ohne Zweifel sind sie diese alle weltverbindend und –umspannend, letztendlich auch in Trinidad, wo zwar durchaus auch lokale Waren zum Weihnachtsfest konsumiert werden, der vom Fest gelieferte Rahmen aber importiert ist. Kreolisierung finden wir im Fall der trinidadischen Weihnacht, bei Mecca Cola, bei den roten venezianischen Glasperlen und bei den Sebago-Bootsschuhen in Dakar. Ihnen allen werden neue Zwecke und Bedeutungen hinzugefügt. Zum Teil geschieht dies bewußt, wie im Fall der euroamerikanischen Liebhaberinnen antiken Modeschmucks, die ja die Nutzungsgeschichte der Glasperlen sozusagen mitkonsumieren, und im Fall des trinidadischen Weihnachtsfestes, wo viel darüber diskutiert wird, wie sehr sich das Weihnachtsfest auf die euroamerikanischen Weihnachtssitten ausrichten sollte; zum Teil geschieht es sogar als Zeichen des Widerstands, wie bei Mecca Cola. Bei den brasilianischen Weintrauben und auch beim Gebrauch der Perlen durch die Samburu-Frauen finde ich das Konzept der Kreolisierung allerdings weniger ergiebig. Es scheint nicht so, daß die nunmehr in größerer Fülle in den Supermärkten vorhandenen Weintrauben eine Umdeutung erfahren, eher sind es symbolisch neutrale Produkte, die durch das neue Massenangebot sogar das noch wenige, was an ihnen einmal symbolisch war, nämlich den Luxuscharakter, einbüßen. Und für die Samburu-Frauen haben die roten Perlen und die mporo-Ketten zwar einen reichhaltigen Bedeutungskontext, aber der hat so gut wie gar nichts mit der europäischen Provenienz der Perlen zu tun, die den Frauen gleichgültig zu sein scheint. Daß in diesen beiden Fällen der symbolische Gehalt gering bzw. komplett von dem VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 121 ursprünglichen kulturellen Kontext abgetrennt ist, hat mit einem Aspekt der Konsumgüter zu tun, der nicht übersehen werden sollte, nämlich ihrer Materialität. Der materielle Charakter der Dinge ist mit ihren Gebrauchsformen verknüpft, und so kann es dazu kommen, daß wie im Fall der Weintrauben auf der Konsumentenseite gar nichts passiert, weil man dem Produkt seine neuen Herkunftsorte nicht ansieht, daß die Glasperlen einen völlig neuen kulturellen Kontext erhalten oder daß das Bier mit seinen „schmutzigen” Schaumresten den mit dem „sauberen” Sake möglichen Tassentausch ausschließt und so die Trinksitten und ihren sozialen Gehalt verändert. Kreolisierung von Konsumgütern findet also statt, aber die Dinge – oder zumindest manche Dinge – haben ihr Eigenleben, das den Möglichkeiten der Umdeutung auch Grenzen setzen kann. Wir werden uns auch beim nächsten Mal mit der modernen Konsumkultur befassen. Es geht dann allerdings nicht mehr um Waren, sondern um Massenmedien, speziell um das Fernsehen, denn die Frage nach weltweiter Homogenisierung oder im Gegenteil Kreolisierung stellt sich dort ebenfalls. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 122 Teil VII: Die Globalisierung des Fernsehens Einleitung Wie bereits im letzten Teil erwähnt, wird gerade die Konsumtion als Bereich wahrgenommen, in dem sich Globalisierung besonders stark durchsetzt und allen Jeans und Coca-Cola – oder zumindest Mecca-Cola – verschafft. Nach dem Warenkonsum möchte ich heute das Fernsehen behandeln. Die Bedeutung der Massenmedien spielt ja in den Globalisierungstheorien eine große Rolle, Appadurai z. B. gesteht wie ja bereits geschildert den „mediascapes” ein von den anderen „-scapes” unabhängiges Eigenleben zu und macht vor allem sie für die seiner Ansicht nach gesteigerte Rolle der Imagination in der modernen Welt verantwortlich. ▶▸Schon 1962 hat der Kommunikationswissenschaftler Marshall McLuhan in seinem Buch The Gutenberg Galaxy (McLuhan 1962) den Begriff des „globalen Dorfs” (global village) geprägt. Für ihn ist dies eher ein Zeitalter als ein Ort, nämlich die auf die Epoche des Buchdrucks folgende der elektronischen Kommunikation. Im Gegensatz zu späteren Verwendern des Schlagworts steht er ihm allerdings ambivalent gegenüber; die Herausbildung einer solidarischen Weltgemeinschaft ist ihm zufolge möglich, ebenso gut aber auch die eines globalen Überwachungsstaats. Faktisch haben sich viele Massenmedien weltweit ausgebreitet, und es stellt sich damit die Frage, auf welche Weise sie übernommen werden. Interessant ist besonders, ob mit dem Import der Technologien auch ein Import der Medieninhalte verbunden ist oder ob zwischen den beiden eine Entkopplung im Appadurai’schen Sinne besteht. Mit diesem Thema beschäftigt sich das wachsende Feld der ethnologischen Forschung zu den Massenmedien. Deren gibt es bekanntlich viele, Zeitschriften und Bücher, das Radio – das übrigens bei McLuhan noch im Vordergrund steht –, der Kinofilm, Tonträger, Videos und DVDs oder das Internet wären zu nennen. Ich werde mich im folgenden auf das Fernsehen konzentrieren, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen ist das Fernsehen ein besonders mächtiges Medium, wie wir alle wissen, und auch ein besonders kontroverses, dem gerne moralische und intellektuelle Gefahren aller Art zugeschrieben werden. ▶▸”[T]elevision is one of the most powerful information disseminators, public opinion molders, and socializing agents in today's world” (Kottak 1990: 11), schreibt der Ethnologe Conrad Kottak, und weiter ▶▸„... its effects are comparable to those of humanity's most powerful traditional institutions – family, church, state, and education” (Kottak 1990: 9). VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 123 Kottak belegt dies mit einer Anekdote aus seiner Einführungsvorlesung: Niemals sonst steigt die Stimmung so sehr wie dann, wenn er die Konventionen der Verwandtschaftsdiagramme erklärt. Dazu zieht er nämlich eine eine bekannte amerikanische Fernsehfamilie als Beispiel heran und läßt sich die an die jeweilige Diagrammstellen passenden Namen zurufen. ▶▸„Whenever I give my Brady Bunch lecture, Anthropology 101 resembles a revival meeting. Hundreds of young natives shout out in unison names made almost as familiar as their parents’ through television reruns” (Kottak 1990: 6). Daten von Eurodata TV Worldwide zufolge lag 2007 der durchschnittliche tägliche Fernsehkonsum in Deutschland bei 210 Minuten und im Durchschnitt der untersuchten 80 Länder bei (http://www.obs.coe.int/online_publication/expert/miptv2008_braun.pdf). 187 Da Minuten stellt sich tatsächlich die Frage, was man denn früher eigentlich stattdessen gemacht hat und wer die Stellen im sozialen Gedächtnis besetzt hielt, die jetzt die Moderatoren, Schauspieler, Sportstarts usw. einnehmen. Die nötige Stromversorgung engt das Fernsehen zwar gegenüber Druckmedien ein, aber andererseits erreicht es auch diejenigen, die nicht lesen können. Fernsehen ermöglicht LiveÜbertragungen und erlaubt so die Teilhabe an globalen Ereignissen wie etwa den Olympischen Spielen oder Fußball-Welt- und Europameisterschaften, die wir alle in der Gewißheit gucken können, daß es gleichzeitig auch Milliarden anderer tun. Dabei transportiert es Bilder und wirkt damit auf uns visuell orientierte Wesen ungleich stärker und realistischer als das Radio, mit dem die Gleichzeitigkeit ja ebenfalls möglich ist. Und schließlich bringt es uns diese Bilder in den privaten Raum des eigenen Zuhauses, was auch denjenigen den Konsum erlaubt, die dieses Zuhause nicht oder nur unter Restriktionen verlassen können, wie z. B. in nicht wenigen Gesellschaften den Frauen. Mein zweiter Grund für die Konzentration aufs Fernsehen ist pragmatischer Art: Hier gibt es bereits eine größere Zahl von ethnologischen Studien, mehr als zu Konsum anderer Massenmedien wie etwa dem Lesen oder dem Internet-Surfen, so daß auch schon einige kulturübergreifende Erkenntnisse vorliegen. Insgesamt handelt es sich allerdings weiterhin um ein relatives neues Feld, und die frühesten mir bekannten Veröffentlichungen sind von 1990. Es bietet sich hier also ein reiches Betätigungsfeld für Sie, und erste Magisterarbeiten zur Ethnologie des Fernsehens sind am Institut bereits geschrieben worden. Fernseh-Erstkontakt in Amazonien Ich beginne mit einer Studie zur Einführung des Fernsehens an einem Ort, wo es vorher keines VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 124 gab. Das liegt ja hier bei uns lange zurück; ich selbst kann mich zwar noch daran erinnern, daß wir zuhause unseren ersten Fernseher bekamen, aber die meisten von ihnen dürften immer mit einem Hausgott gelebt haben. Um so interessanter ist es für westliche, mit dem Fernsehen groß gewordene Ethnologen, zu beobachten, was sich in den Erstkontakten mit diesem Medium abspielt. ▶▸Richard Pace, Ethnologe an der Middle Tennessee State University, hat dies für die Gemeinde Gurupá im brasilianischen Bundesstaat Pará über insgesamt 13 Monate ethnographischer Feldforschung zwischen 1983 und 1991 verfolgt (Pace 1993). Die fast 400 Jahre alte Kleinstadt am Ufer des Amazonas ist mit 3600 Einwohnern – viele davon mit indianischen Vorfahren – nicht ganz klein, aber doch abgelegen: Sie ist vom Regenwald umzingelt, und die einzigen Verkehrsverbindungen mit der Außenwelt sind das Boot und ein gelegentliches Flugzeug nach Belém, der Hauptstadt des Bundesstaats. Die nationalen Zentren, Rio de Janeiro und Saõ Paulo, liegen mehr als 3000 km entfernt. Der Wohlstand ist hier nicht zuhause, Leitungswasser gibt es nur für zwölf und Elektrizität für sechs Stunden am Tag, und der weitaus größte Teil der Einwohner ist im brasilianischen Kontext als arm zu klassifizieren. Über Jahrhunderte erfuhr man in Gurupá über die weite Welt nur das, was Händler und Reisende erzählten. Ab den 1950er Jahren kam das meist batteriebetriebene Radio hinzu, das mittlerweile verbreitet ist, aber nicht annähernd so starke Folgen gehabt hat wie das Fernsehen. Dieses kam 1982 in Form der ersten drei Geräte in die Gemeinde. Anfangs verlief der Zuwachs schleppend, beschleunigte sich aber sehr, als man nach Einrichtung einer für alle nutzbaren Satellitenschüssel nur noch das Gerät selbst kaufen mußte. 1991 gab es daher schon etwa 200 Fernseher, zumeist in den Häusern der Wohlhabenderen. Fernseher und sozialer Umgang Zugang zum Fernsehen hat in Gurupá trotzdem jeder, denn es ist schon aus Statusgründen üblich, die Fernseher so im Haus zu postieren, daß man durch die offen stehenden Fenster auch von außen zusehen kann. Es ist guter Ton, niemand davon abzuhalten, und bei der Bürgermeisterin läuft der Fernseher zum Nutzen der Allgemeinheit offenbar auch dann, wenn sie und ihr Mann gar nicht zuhause sind. Verwandte und enge Freunde der jeweiligen Familie, tendenziell aus der gleichen eher begüterten Schicht, dürfen ins Haus kommen, aber auch für sie sind die sozialen Konventionen vereinfacht worden, denn den Mitguckern wird anders als sonstigen Gästen kein Kaffee serviert. Damit widerspricht Gurupá aber trotzdem den landläufigen Theorien von der Vereinsamung durch Fernsehen, wie Pace betont, denn der soziale Kontakt mit Familie, Nachbarn, Freunden und sogar Fremden nimmt eher zu. Er schildert allerdings auch, daß es nicht VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 125 üblich ist, sich beim Fernsehen zu unterhalten, und damit handelt es sich wohl häufig um einen sozialen Kontakt mit nur kurzen Gesprächen. Das Haus wird durch das Mitschauen durchs Fenster öffentlicher, aber auch ein gegenläufiger Trend erfolgt, denn obwohl sonst die Straße den Männern und das Haus den Frauen zugeordnet ist, gilt es hier für Frauen und Kinder nicht als unziemlich, ebenfalls auf der Straße zu stehen und durchs offene Fenster Fernsehen zu gucken. Zu dieser Vermischung der Geschlechter gibt es keine Parallele im sonstigen sozialen Leben, und Pace sieht dies als eine Art symbolische Verlängerung des Hauses und der in ihm geltenden sozialen Konventionen auf den Straßenbereich unmittelbar vor dem Fenster. Auch der soziale Rhythmus des Gemeindelebens hat sich durch das Fernsehen geändert. Geguckt wird in den sechs Abendstunden, in denen es Strom gibt und auch die besonders beliebten Programme laufen. Dies fällt aber mit der Zeit zusammen, die früher für die Promenade durch die Hauptstraßen reserviert war. Wie ja häufig in den mediterran beeinflußten Ländern treibt es am Abend fast jeden auf die Straße oder die Piazza, um dort Freunde und Bekannte zu treffen, Klatsch auszutauschen, zu flirten etc. In Gurupá hat sich dies jedoch vor allem an Wochentagen sehr reduziert, denn um 21 Uhr kommt die novela, also die telenovela, von der ich gleich noch mehr erzählen werde, und diese zu schauen hat für so gut wie jeden Vorrang. Das Nachtleben setzt erst danach wieder ein. Auch soziale Ereignisse wie Parties, religiöse Feste und sogar die Abendschule werden so angesetzt, daß sich keine Überschneidungen ergeben. Läuft einmal etwas Interessantes außerhalb der gewöhnlichen Zeit, wie etwa Fußballspiele oder ein Präsidentenbegräbnis, werden die Stromzeiten entsprechend ausgedehnt und der Mehrverbrauch durch Kürzungen an anderen Tagen wieder wettgemacht. Fernsehen und Weltsicht 87 Prozent der zu diesem Punkt von Pace befragten Informanten in Gurupá bewerten das Fernsehen positiv, ein im internationalen Vergleich außerordentlich hoher Wert. Die beliebtesten Programme sind Nachrichten, Sport – vor allem Fußball – und die ▶▸telenovelas, d. h. die Seifenopern, während die importierten Programme z. B. aus den USA meist weniger populär sind. Besonders die telenovelas werden mit großer Faszination verfolgt, viele Informanten Pace’ kennen sich noch in den feinsten inhaltlichen Verästelungen aus, und die Ereignisse und Charaktere nehmen in den Alltagsgesprächen einen breiten Raum ein. Erstmals besteht damit in Gurupá ein regelmäßiger Kontakt zur brasilianischen mainstreamKultur bzw. dem, was für diese stilbildend ist, nämlich dem Lebensstil der Oberschicht in Rio und Saõ Paulo, wo die telenovelas häufig spielen. Der Vergleich der eher armen Gemeinde mit VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 126 diesem Vorbild fällt wenig vorteilhaft aus: Pace weist nach, daß die Bewohner mit mehr und bereits länger andauerndem Fernsehkonsum eher dazu neigen, Gurupá für im Vergleich mit Belém unterentwickelt und das Leben in Belém für besser zu halten. Auf die Dauer kann dies laut Pace bedeuten, daß Klassengegensätze innerhalb der Kleinstadt stärker wahrgenommen werden, und die Funktion der sozialen Anpassung und Einlullung, die dem Fernsehen sonst gerne zugeschrieben wird, würde sich mit einer solchen Entwicklung nicht vertragen. Auch die realen weltweiten Ereignisse drängen sich nun in die Alltagskonversation. Dies betrifft nicht nur die zumeist eher mit Zynismus bedachte brasilianische Politik, die damals gerade im Begriff war, sich von der Militärdiktatur zu verabschieden. Pace gerät ebenfalls in Gespräche über das amerikanische Raumfahrtprogramm, Armut in den USA oder den internationalen Terrorismus. Wie er feststellt, ist dies nicht nur ein Strohfeuer. Stattdessen suchen viele Bewohner z. B. über die lokale Bücherei und andere Quellen tatsächlich mehr Information zu den durchs Fernsehen vorgestellten Themen, und er stellt in seinen Befragungen fest, daß das Ausmaß des Fernsehkonsums mit dem Ausmaß des sonstigen Konsums von Druckmedien und Radio korreliert ist. Auch hier treffen also die euroamerikanischen Gewißheiten über die schädliche Auswirkung des Fernsehkonsums auf Bildung, Schulerfolg u. ä. nicht zu. Pace liefert nur eine Momentaufnahme und ist sich sicher, daß sich die Situation in ein paar Jahren bereits transformiert haben wird, auch dadurch, daß die Bewohner dann mehr Erfahrung mit dem Medium haben werden. Denn zum Zeitpunkt der Studie liegt der Durchschnitt der Fernseherfahrung noch unter einem Jahr und die tägliche Sehdauer unter einer Stunde. Bereits jetzt schon galt aber laut Pace: „Gurupá was forever changed” (1993: 187). Fernsehen in Brasilien Ich bleibe noch beim brasilianischen Fernsehen, weil dazu die besten ethnologischen Ergebnisse vorliegen. In den 1980er Jahren wurde unter der Leitung von Conrad Kottak von der University of Michigan ein größeres Forschungsprojekt zum Thema in einer ganzen Reihe von brasilianischen Orten durchgeführt; Pace’ Studie in Gurupá war Teil dieses Projekts. ▶▸Kottak hat darüber mit Prime-Time Society eine Monographie veröffentlicht (1990). Deren Reiz liegt nicht nur in den dort präsentierten brasilianischen Ergebnissen, sondern auch in der vergleichenden Perspektive zum Fernsehgebrauch in den USA und den dazu entwickelten Theorien. Außerdem verbindet das Buch auf stärker standardisierten Verfahren beruhende quantitative Ergebnisse mit recht gekonnten qualitativen Fallstudien. Diese beziehen sich VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 127 ebenfalls auch auf die USA, wenn Kottak etwa über Effekte des teleconditioning unter seinen Studenten räsonniert, die anders als es früher üblich war einfach während der Vorlesung hinausgehen, um die Toilette zu besuchen oder sich Getränke zu holen, oder wenn er Star Trek als Symbolserie für den amerikanischen Multikulturalismus und den Glauben an den team spirit deutet. Brasilien steht allerdings im Vordergrund, und insgesamt liefert Kottak die bisher wohl beste Einführung in die ethnologische Fernsehforschung. In Brasilien gibt es das Fernsehen seit 1950, und 1979 hatte das Land das fünftgrößte Fernsehpublikum der Welt, größer als in allen anderen lateinamerikanischen Ländern zusammen. 1990 hatten bereits drei Viertel der brasilianischen Haushalte Fernsehen. Es gibt zwar eine größere Zahl von lokalen und nationalen Sendern, der Markt wird aber zum Zeitpunkt der Forschung in ungewöhnlichem Ausmaß von einem einzigen Sender namens ▶▸Globo dominiert, dessen Einschaltquoten regelmäßig über 50 und zum Teil nahe bei 100 Prozent liegen. Kottak beschreibt, daß es diesem Medienkonzern besonders gut gelungen ist, sich mit der bis in die 1980er Jahre hinein regierenden Militärdiktatur zu arrangieren, aber auch die Vorlieben der Brasilianer zu treffen. Und hier gilt für Brasilien insgesamt dasselbe wie in Gurupá: Sport, vor allem Fußball, Nachrichten, Comedy und Shows werden gerne gesehen, ausländische Serien sind weniger populär, aber mehr als alles andere liebt die Nation die telenovelas, und unter diesen vor allem die von Globo. Fernsehinhalte, telenovelas und Kultur Globo sendet sechs Mal die Woche um 6, 7 und 8 Uhr abends telenovelas, unterbrochen von den Abendnachrichten. Anders als (daily) soaps sind diese novelas endlich; nach 150 bis 180 Folgen, also nach sechs bis sieben Monaten, beginnt eine neue. Bemerkenswert ist die im internationalen Vergleich hohe handwerkliche Qualität der Serien: Die besten brasilianischen Schauspieler werden engagiert, bei der Ausstattung wird nicht gespart, und die Serien haben bekannte und für ihre Leistungen gefeierte Autoren und werden nicht von anonymen Teams geschrieben. Wie in fast allen Fernsehserien konzentrieren sich die telenovelas auf einen festen Kreis von Hauptpersonen, und diese erleben Liebe und Leid, Dramatisches, Triumphe und zu Tränen Rührendes in ständig wechselnden Mischungen. Doch haben die telenovelas auch viele spezifische Züge, die Kottak vor allem im Vergleich mit US-amerikanischen Fernsehserien herausarbeitet. Deutlich wird hier, wie stark sich bei einem vermeintlich global einheitlichen Format nationale Kulturelemente durchsetzen. Zunächst einmal sind die telenovelas häuslicher angelegt. Viel weniger Serienszenen als in den USA spielen in der Öffentlichkeit oder bei der Arbeit, und auch der Umgang mit Fremden – VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 128 Polizisten, Außerirdischen, Massenmördern, überhaupt allen Gesetzeshütern und –brechern – spielt eine weit geringere und weniger schicksalsträchtige Rolle. Im Zentrum steht vielmehr häufig die Familie, interessanterweise aber eine andere Familie als in den USA: ▶▸Families of procreation, also Ehen und Eltern-Kind-Beziehungen, zerbrechen häufig schnell, während die families of orientation, also Großeltern, Geschwister, Onkels, Kusinen etc. und der wiederum freud- oder leidvolle Umgang mit diesen Verwandten prominenter ist. Intrigen und Morde geschehen natürlich auch in diesem Kreis, Problemthemen wie Inzest oder Mißbrauch, die in den US-Serien durchaus vorkommen, werden hingegen ausgespart bzw. wurden seinerzeit von der Zensur kassiert. Frauen stehen mehr im Vordergrund als in US-amerikanischen Serien, zum Teil weil die Serien eben zuhause spielen. Schwarze kommen dagegen selten und nur in subalternen Rollen vor, und auch vorrangig ein schwarzes Publikum anzielende Sendungen wie die Cosby Show gibt es nicht. Kottak begründet dies damit, daß zwar in Brasilien nicht unbedingt der Rassismus gegen Schwarze, aber doch die klaren, abgegrenzten und für die eigene Identität wichtigen ethnischen und rassischen Kategorien wie in den USA fehlen. Es herrscht also, wie auch schon andere festgestellt haben, gewissermaßen Rassismus ohne Rassen. Klasse ist ein sehr viel präsenterer Faktor als in den USA, denn Brasilien fehlt einerseits das egalitäre Ethos der USA, und es hat andererseits auch tatsächlich die größeren Reichtumsunterschiede. Viele der Figuren sind mit dem Versuch des sozialen Aufstiegs beschäftigt, etwa nach dem Muster „arme, aber schöne und herzensgute Frau liebt und bekommt nach vielen Verwicklungen und Intrigen reichen Mann”; vielfach spielen die Serien ohnehin in der Oberschicht. Viel häufiger als in US-Serien sind die tatsächlich gelingenden Aufstiege jedoch mit glücklichen Zufällen und sozialen Beziehungen, etwa einem plötzlich auftauchenden Erbonkel oder der Entdeckung der eigenen Vertauschung bei der Geburt, verbunden. Karriere durch individuelle Leistungen, harte Arbeit und Selbstüberwindung, wie sie in den USA so gerne glorifiziert wird, ist dagegen weniger wichtig. Auch die Tabus verlaufen etwas anders als in den USA. Hinsichtlich Nacktheit und Sex wagt das brasilianische Fernsehen mehr, Gewalt ist dagegen weit weniger präsent, selbst wenn manche städtische Fernsehstation in Rio oder Saõ Paulo sehr auf lokale Verbrechensnachrichten setzt. Die Altersbeschränkungen und –empfehlungen bei Gewaltdarstellungen sind strikter als in den USA, Gewalt fehlt auch in der mehr spielerischen Form etwa der Roadrunner-Cartoons, und auch im Bereich des Kinofilms findet sich zu den slasher-Filmen à la Halloween keine brasilianische Entsprechung. Wenig reicht an den Einfluß der telenovelas heran, und wenn die 8-Uhr-novela, meist ein Krimi, in der letzten Folge die Auflösung bringt, sitzt mitunter so gut wie die gesamte über VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 129 Fernsehen verfügende Nation vor dem Bildschirm. Und novelas sind sogar in der Lage, die Sprache zu beeinflussen: Elite-Kinder in den Serien reden ihre Eltern mit der informellen Form der 2. Person Plural an (entsprechend dem „du”), und dies breitet sich nun auch in der Mittelund Unterschicht aus, in der vorher die formelle Form (entsprechend dem „Sie”) vorherrschte. Die Evolution des Fernsehkonsums Ein Grund dafür, das Projekt auf Brasilien zu konzentrieren, war die Tatsache, daß das Fernsehen hier noch nicht völlig durchgesetzt ist. Wie in Gurupá haben viele Menschen erst seit kurzem oder noch gar nicht Zugang zu diesem Medium, wenn nicht sogar überhaupt zu irgendeinem Massenmedium, falls ihnen auch das Radio fehlt und sie – wie nicht wenige Brasilianer – nicht lesen können. Das Fernsehen wird in solchen Fällen zu „the only gate to the global village”, wie Kottak formuliert. Wie die Frühphase des Kontakts mit dem Fernsehen abläuft und was passiert, wenn das Fernsehen das erste Massenmedium ist, konnte hier also noch beobachtet werden, anders als in Gesellschaften, wo es für die meisten immer schon da gewesen ist. Für das Projekt wurden daher vier ländliche Standorte – Gurupá, Arembepe, Cunha und Ibirama – ausgesucht, in denen jeweils ein/e schon mit dem Ort vertraute Feldforscher/in mit teilnehmender Beobachtung, aber auch mit für alle einheitlichen Fragebögen dem Einfluß der Fernsehens nachging. Zwei städtische Feldforschungsorte – Niteroi und Americana – wurden aus Vergleichsgründen später noch hinzugefügt. Mit den Fragebögen erfaßte Kottaks Crew eine Reihe von Einstellungen und Verhaltensweisen, zum Teil zum Fernsehen selbst, zum Teil aber auch zu anderen Fragen wie etwa Geschlechterbildern, dem wahrgenommenen Grad öffentlicher Sicherheit, dem Gebrauch anderer Massenmedien usw. Diese abhängigen Variablen wurden dann mit solch konventionellen Faktoren wie Alter, Geschlecht, Einkommen, Schulbildung etc. des jeweiligen Informanten in Verbindung gebracht, aber auch mit zwei weiteren, ▶▸nämlich zum einen der Menge des täglichen Fernsehkonsums („current viewing level”) und zum anderen der Länge der häuslichen Fernseherfahrung („home TV exposure”) in Jahren, eben weil das ja für viele z. B. in Gurupá so ein kurzer Zeitraum ist. In allen Fällen wurden auch Informanten ganz ohne Fernseherfahrung einbezogen, denn nur so lassen sich eventuelle Fernseheffekte identifizieren. Kottak gelangt zu dem Ergebnis, daß der Kontakt mit dem Fernsehen in Phasen verläuft und die unterschiedlichen Feldforschungsorte unterschiedliche Phasen repräsentieren. Phase I ist durch den Neuigkeitswert des Fernsehens gekennzeichnet, und mehr als die transportierten Botschaften ist es das Medium selbst, das eine faszinierende Wirkung ausübt und die Blicke aller VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 130 am Bildschirm kleben läßt. Gurupá ist noch in dieser Phase. Arembepe und Cunha befinden sich dagegen schon in Phase II. Auch in dieser ist das Fernsehen noch nicht universal verbreitet, doch beginnt der Fernsehkonsum bereits selektiver zu werden, und auch eine eigenständige Interpretation und Umarbeitung der Fernsehbotschaften findet statt. Hier sind laut Kottak die statistisch gesehen deutlichsten Zusammenhänge zwischen Fernsehkonsum und den im Projekt untersuchten abhängigen Variablen zu finden, und für etwa 10 bis 15 Jahre wird hier die größte Rezeptivität für das Medium erreicht. In Phase III ist das Medium bereits allgemein verbreitet, und der Fernsehkonsum produziert keine so deutlich meßbaren Effekte mehr. Ibirama liegt zwischen der vorherigen und dieser Phase, während die beiden städtischen Feldforschungsorte schon ganz zu ihr gehören. Von Phase zu Phase wird auch die Einstellung zum Medium an sich immer kritischer, und die Wertschätzung des Fernsehens sinkt sowohl mit der Länge der Fernseherfahrung als auch mit der Höhe des Einkommens. Phase IV ist dann erreicht, wenn so gut wie jeder lebenslangen Fernsehkonsum hinter sich hat, was zwar nirgendwo in Brasilien der Fall ist, wohl aber in den heutigen USA. Und schließlich formuliert Kottak im Epilog auch noch eine Phase V, die durch stärkere Diversität und Aktivität des Zuschauers gekennzeichnet ist und auf die die USA mit der immer weiteren Ausbreitung von Videorekordern und Kabelfernsehen gerade zusteuerte. Diese fünfte Phase hat sich seither mit der Ausweitung von Satelliten- und Bezahlfernsehen, digitalen Rekordern, interaktiven Elementen und Film-on-demand-Projekten sicherlich noch stärker verbreitet, ist aber, wenn ich es richtig sehe, für das Fernsehverhalten der meisten auch in unserer Gesellschaft weiterhin noch nicht alleinbestimmend. Kottaks Stufen wirken ein wenig wie die alten evolutionistischen Stufenmodelle, und wie bei diesen wird Diversität im Raum in ein zeitliches Nacheinander umgesetzt. Für eine eingehende Überprüfung bräuchte man natürlich Langzeitstudien. Allerdings präsentiert Kottak nichts, was der Gültigkeit der Phasen widerspräche, und eine interessante Hypothese sind sie in jedem Fall. Soziale Effekte des Fernsehens In sozialer Hinsicht findet Kottak die verbreitete Sorge, daß Fernsehen zu Isolation führt, nicht bestätigt. In den Phasen I und II, wo noch nicht jeder ein Gerät hat, bringt es im Gegenteil mehr sozialen Kontakt, da gemeinsam mit Gästen oder an öffentlichen Orten geguckt wird, oder eben durch das offene Fenster wie in Gurupá. Erst in den Phasen III und IV ändert sich dies, mit einem gewissen Hang zur family of procreation, also dem gemeinsamen Gucken mit Ehepartner und Kindern. Daneben wirkt das Fernsehen auch indirekt, indem es für den sozialen Umgang Gesprächsthemen und Anschauungsmodelle bietet. Kottak berichtet von einer Information in VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 131 Arembepe namens Sonia, einer kürzlich erst zugezogenen Ehefrau und Mutter, die unter extremer Schüchternheit leidet und den Kontakt mit anderen meidet, so daß das Interview mit ihr besonders quälend verläuft. Ein Jahr später jedoch ist Sonia sehr viel routinierter im sozialen Umgang, macht nun regelmäßig Besuche und ist auch kein schwieriger Interviewpartner mehr. Ganz eindeutig geht dies für Kottak darauf zurück, daß ihre Familie mittlerweile einen Fernseher erworben und sich Sonia dort die notwendige Weltläufigkeit abgeschaut hat. Pace’ Erkenntnis, daß die Fernsehnutzung in Gurupá mit der Nutzung anderer Medien verknüpft ist, gilt auch allgemein. Es besteht in Brasilien ein starker statistischer Zusammenhang zwischen dem Umfang des Fernsehkonsums und der Lesemenge. Ganz offensichtlich ist also das Fernsehen hier Fenster zur Welt, wie auch die Informanten selbst immer wieder lobend hervorheben, und weckt eine Neugier, für deren Stillung andere Massenmedien herangezogen werden. Vielgucker sind allgemein mißtrauischer gegenüber Politikern, sie geben offensichtlich von der Werbung angeregt mehr Geschenke, und sie haben weniger traditionelle Vorstellungen zu Alters- und Geschlechterrollen, letzteres nicht bloß als Korrelation, sondern als tatsächlicher Effekt des Fernsehens, wie Kottak bekräftigt. Und schließlich trägt Fernsehen in Brasilien zur nationalen kulturellen Homogenisierung bei. Die ausländischen Serien sind weit weniger beliebt als die einheimischen telenovelas. Diese aber bringen nun den Lebensstil der Oberschicht Rios und Saõ Paulos auch in solch vergessene Nester wie Gurupá, und so wenig die Vorbilder dort auch erreicht werden können, liefern sie doch Orientierung. Dasselbe geschieht Kottak zufolge auch beim Karneval, der mittlerweile landesweit übertragen wird. Selbst lokale Feste, die Tausende Kilometer entfernt von Rio abgehalten werden, richten sich daran aus, meist durch Imitationen, manchmal aber auch in negativer Weise durch die bewußte Zurückweisung bestimmter mit dem Karneval assoziierter Elemente. Ein kulturelles Zusammenrücken der Nation ist also deutlich zu beobachten, statt „global village” bildet sich also eher ein „national village”. Einschränken muß man hier, daß weltweit gefeierte Feste wie Weihnachten und Neujahr bei den Vielguckern und in den Orten mit langer Fernseherfahrung eher an Bedeutung zu- und lokale Feste eher abnehmen, so daß hier die globale Ebene überwiegt. Hier dürfte allerdings nach dem von Daniel Miller über Trinidad Gehörten ein genauerer Blick erforderlich sein, ob denn diese Feste wirklich auch ihre transnationalen Züge behalten. Umgekehrt sind die brasilianischen telenovelas selbst erfolgreiche Exportprodukte. Brasilianische Fernsehproduktionen, allen voran die novelas, sind in über 100 Länder rund um den Globus verkauft worden. Ich habe über Bekannte von Menschen auf der japanischen Insel Kyûshû, im russischen Jaroslawl und in Taiwan gehört, die brasilianische telenovelas mit großer VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 132 Begeisterung im Fernsehen verfolgten. In Deutschland sind zwar auch schon einige von ihnen bei Privatsendern gelaufen, doch der Erfolg scheint wie überhaupt in Nordamerika und Westeuropa eher geringer zu sein. Es gibt weitere Fälle, auch bei den Fernsehdramen und Seifenopern aus anderen Ländern. ▶▸Die japanische Serie Oshin z. B., die im eigenen Land geradezu legendären Erfolg hatte, hat in Nordamerika und Westeuropa zwar nie große Bedeutung erlangt, sich aber trotzdem in 59 Länder verkauft, zum Teil mit spektakulärem Erfolg. Damit sind Oshin und die brasilianischen telenovelas Fälle von Globalisierung, die der Vermittlung des üblichen Zentrums der globalen Kulturströme, also des Westens, nicht zu bedürfen scheinen, die also gewissermaßen von Peripherie zu Peripherie reisen (wenn man denn im Fall Japans von Peripherie reden kann). Dafür ist auch der Begriff „Süd-Süd-Globalisierung” geprägt worden. Hier werden sie vielleicht einwenden, daß dies nicht stimmt. Tatsächlich ist die telenovela ja zumindest als Gattungsbezeichnung und in ihrer Grobstruktur (tägliche Ausstrahlung mit festgelegtem Ende, Liebesirrungen und –wirrungen) eingedeutscht worden. Offenbar war hier also eine Kreolisierung nötig, um auch bei uns die kulturelle Akzeptanz zu schaffen, die mit den lateinamerikanischen Originalen nicht herzustellen war. Brasilien ist hier, muß man allerdings hinzufügen, nicht das einzige Vorbild, denn zeitgleich hat sich die Form auch in Mexico unter dem gleichen Namen entwickelt, und auch andere lateinamerikanische Länder produzieren heute ihre telenovelas. Themen und Ergebnisse der ethnologischen Fernsehforschung Die Studien des Kottak-Projekts zum Fernsehen in Brasilien sind zwar sicherlich die gründlichsten innerhalb der Ethnologie, aber es gibt auch noch eine ganze Reihe weiterer. Aus diesen schälen sich bereits einige wiederkehrende Themen und Ergebnisse heraus. Ich werde diese im weiteren thematisch geordnet vorstellen und dabei die ethnographischen Fallbeispiele, wieder mal aus aller Welt, nach und nach einführen. Die Massenverbreitung des Fernsehens Es gibt Hinweise darauf, daß sich gerade in den 1970er und 80er Jahren eine kulturelle Verschiebung erster Ordnung ereignet hat, denn eine ganze Reihe von außereuropäischen Ländern haben in dieser Zeit den Übergang zum Massenfernsehen erlebt, ▶▸wie sie der Tabelle VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 133 entnehmen können, in denen ich das en passant gefundene einmal zusammengestellt habe. Weltweit gab es 2003 nicht weniger als 1,4 Milliarden Fernsehgeräte (http://www.nationmaster.com/graph/med_tel-media-televisions), so daß man angesichts der Tatsache, daß der Trend zum Zweit- und Drittgerät und zur Kleinfamilie längst nicht überall so stark ist wie bei uns, wohl davon ausgehen muß, daß die Mehrheit der Weltbevölkerung mittlerweile Zugang zu Fernsehen hat. Milliarden Menschen weltweit dürften sich also gegenwärtig in den Phasen I, II und III des Kottakschen Modells befinden, vor allem wohl in Phase II. Phase III ist die universale Ausbreitung, aber noch ohne lebenslängliche Fernseherfahrung, Phase II ist die Vorstufe, in der das Fernsehen sich zwar stark ausbreitet, aber noch nicht flächendeckend vorhanden ist und in der die statistischen Effekte des Mediums am klarsten sind. Gut möglich, daß wir uns also gegenwärtig in derjenigen historischen Phase befinden, in der das Fernsehen seine größte kulturprägende Wirkung entfaltet und in der die meisten Menschen leben, die den Übergang zu diesem Medium miterlebt haben. Es wird viel über das Internet und seine gesellschaftlichen Folgen geredet, aber mir scheint, daß man darüber global gesehen das Fernsehen nicht gleich vergessen sollte und daß dieses weiterhin eindeutig das globale Leitmedium ist. Persönliche Aneignungsweisen So gut wie alle ethnographischen Studien, die sich mit den Zuschauern beschäftigen, sind sich darüber einig, das man mit Verallgemeinerungen über die Wirkung des Fernsehens auf sie sehr vorsichtig sein muß. Denn sie stellen fest, daß die einzelnen Individuen äußerst unterschiedliche Botschaften aus dem Gesehenen herausziehen, die oft wenig mit den Intentionen der Produzenten zu tun haben, und daß es sich hierbei um einen aktiven Aneignungsprozeß handelt. ▶▸Lila Abu-Lughod von der Columbia University, eine der aktivsten Fernsehforscherinnen, stellt dies für ihre ägyptischen Informanten fest (Abu-Lughod 1995, 2005). Die Fernsehserien heißen dort ▶▸musalsal und sind kürzer, mit 15 bis 30 Folgen, die aber trotzdem täglich ausgestrahlt werden und ganz ähnliche Genre-Merkmale aufweisen wie die telenovelas. Eine 1988 erstmals ausgestrahlte und in ungewöhnlicher Weise über die wichtigste Fernsehsaison – den Ramadan – mehrere Jahre fortgesetzte Serie namens ▶▸Hilmiyya Nights begeisterte viele ob ihrer Qualität und ihres Inhalts. Neben den üblichen menschlichen Irrungen und Wirrungen und dem Lebensstil der Oberklasse wird hier nämlich auch die Geschichte der ägyptischen Nation von der Kolonialzeit bis heute aufgerollt, und dies brachte auch Akademiker dazu, begeistert zu gucken und über die Inhalte zu diskutieren. Unter den armen, sich als Haushaltshilfen verdingenden Kairenerinnen, mit denen Abu-Lughod Fernsehen guckte und die sie dazu befragte, waren es VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 134 allerdings weniger die intendierten politischen Aspekte, die Interesse fanden. Sie begeisterten sich vielmehr für eine weibliche Hauptfigur, eine glamouröse, aber auch intrigante Adlige und femme fatale, die immer wieder ihren eigenen Willen durchsetzte. Ihre Willenskraft und Unabhängigkeit imponierte diesen Frauen, deren eigenes Leben der vielfältigen Beschränkungen dem der Serienfigur kaum ferner sein könnte. Hingegen schienen sie die moralische Botschaft, die im letztlich tiefen Fall dieser Hauptfigur bestand, kaum wahrzunehmen. Abu-Lughod dehnt ihre Beobachtungen auf ein oberägyptisches Bauerndorf bei Luxor aus. Von dessen Lehmziegelhäusern mit blaugestrichenen Holzpforten könnte der Glamour der Reichenvillen und der Großraumbüros in den Serien ebenfalls nicht ferner liegen. Trotzdem laufen die Fernseher hier fast die ganze Zeit. Abu-Lughod stellt hier eine hohe Selektivität der Interpretationen fest: Die Aspekte, von denen aus sich eine Verbindung zur eigenen Lebenserfahrung herstellen läßt, werden miteinander diskutiert. Andere, teils mit aufklärerischer Absicht in die staatlich kontrollierten und zensierten Serien eingebrachten Punkte werden aber einfach ignoriert. Die verbreitete Gewohnheit, die Menschen der eigenen Umgebung und ihr Verhalten im Gespräch miteinander unaufhörlich zu kommentieren und zu bewerten, setzt gegenüber den Serienfiguren allerdings weitgehend aus. Viele im Dorf besitzen ein geradezu enzyklopädisches Wissen über diese Figuren und die sie darstellenden Schauspieler, doch handeln die Serien laut Abu-Lughod von völlig anderen Problemen in völlig anderen Lebenssphären. Die Figuren gehören nicht zur lokalen moralischen Gemeinschaft, und was sie tun oder lassen, hat damit keine Konsequenzen für die eigene Lebensführung. ▶▸„Television ...is considered a world unto itself, with its own rhythms, standards, and conventions. It need not bleed fully into daily life, even if it is an intimate part of it”(2005: 241). Selbst als einmal eine Serie in einem Dorf spielt und dort ein Rachemord vorkommt, wollen Abu-Lughods Informanten keinen Bezug zu ihrem eigenen Leben erkennen, und dies, obwohl lebhafte Erzählungen über genau einen solchen vor einem Jahrzehnt im eigenen Dorf passierten Rachemord durchaus noch kursieren. ▶▸„What they experienced through television added to, but did not displace whatever else already existed”, stellt Abu-Lughod fest (1995: 203). Dies setzt natürlich den Möglichkeiten, mit den gesendeten Inhalten gezielt gesellschaftliche Entwicklungen anzustoßen, seine Grenzen. ▶▸Purnima Mankekar, indische Ethnologin an der Stanford University, von der es mittlerweile ebenfalls eine Monographie zum Thema gibt (Mankekar 1999), hat Ähnliches in Wohnvierteln der unteren Mittelklasse und der Arbeiter in New Delhi beobachtet (Mankekar 1993). Auch in Indien sind die Serien das beliebteste Genre; anders als in Brasilien kommt hier als thematische Quelle die hinduistische Mythologie wie z. B. mit der Bhagavadgita oder andere Epen hinzu. Eine Informantin hat ihre eigene Theorie zur Wirkung des Fernsehens: Sie selbst, VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 135 die nicht lesen kann, ließen die Serien zunächst kalt, bis in irgendeiner das Schicksal einer besonders unglücklichen Frau geschildert wurde, sie die Parallelen zu ihrer eigenen damaligen Lage als Schwiegertochter wahrnahm und dann überhaupt nicht mehr aufhören konnte zu weinen. Und auch bei anderen Informantinnen stellt Mankekar fest, daß diese sich zwar gerade von den zu ihrem eigenen Leben passenden Inhalten gefühlsmäßig stark ergreifen lassen, aber gegenüber anderen Intentionen der Handlungen so gut wie immun sind und durchaus fähig bleiben, eine kritische Distanz zum Gesehenen aufrechtzuerhalten. Die patriotische Selbstaufopferung eines Soldaten für die indische Nation etwa wird ignoriert, seine als Witwe in einer in Indien ja äußerst schwierigen Position zurückbleibende Frau erfährt dagegen alles Mitgefühl, obwohl sie eigentlich nur ein bloßer Nebenaspekt der Handlung ist. Akzeptanz und Widerstand den intendierten Inhalten gegenüber treten also gleichzeitig auf, und Mankekar betont, daß solche Erkenntnisse nur durch ethnographische Forschung bei den Fernsehkonsumenten zu gewinnen sind. Serien, Familie und Gender Fernsehserien, die dort transportierten Bilder und die Reaktion darauf stehen auch im Zentrum einiger weiterer ethnologischer Fernsehstudien. Denn die Serien dringen über das Fernsehgerät nicht nur in den privaten Bereich der Zuschauer vor, sie führen diese vielmehr auch ihrerseits in private Bereiche, so fiktional diese auch sein mögen. Wie sich dies auf Familie und Gender auswirkt, ist daher eine naheliegende Frage. Mankekar stellt in dem schon erwähnten Artikel fest, daß sehr häufig Frauenfragen im Zentrum der Fernsehserien stehen, und bringt dies in Verbindung mit der staatlichen Konstruktion indischer Weiblichkeit. Denn obwohl es auch privat produzierte Serien gibt, ist das Fernsehen fest in staatlicher Hand und transportiert von der Regierung gewünschte Inhalte. Diese Bilder führen allerdings zu Widersprüchen. Mankekar beobachtet etwa, wie ein Ehepaar eine Serie schaut und sich der Ehemann über eine dort gezeigte Braut begeistert, die ihren eigenen Ehemann gleich am ersten Tag nach der Hochzeit und in heroischer Zurückstellung ihrer eigenen Gefühle dazu drängt, in den Krieg zu ziehen und Indien auf dem Schlachtfeld zu verteidigen. Ähnliches scheint er nun auch von seiner Ehefrau zu erwarten, die sich z. B. seiner Meinung nach nicht weigern sollte, ihren kleinen Sohn später zur Armee gehen zu lassen. Die Ehefrau sieht sich in der Defensive, denn solche Opfertaten liegen ihr fern, und natürlich ist es für Frauen auch wesentlich folgenreicher als für Männer, verwitwet und kinderlos zurückzubleiben. Allgemein propagieren die Serien Patriotismus, produktive Arbeit und selbstlosen sozialen Aktivismus für die Frauen, die sich vor allem dann, wenn die eigenen Ehemänner solche VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 136 Erwartungen übernehmen, steigenden Ansprüchen gegenübersehen. Oft sind die Frauengestalten durchaus vielschichtig. Heirat und Familie aber bleiben selbstverständliche Größen. All das klingt so, als hätten die indischen Frauen vom Fernsehen wenig zu erwarten, höchstens staatlich gelenkte Vorgaben, sich nicht nur für die Familie, sondern auch noch für die Nation aufzuopfern. Ich bin allerdings nicht sicher, ob hier nicht auch neue Möglichkeiten eröffnet werden. Denn zwar sitzt bei dem besagten Ehepaar der Mann vor dem Fernseher, während die Frau – wie die anderen von Mankekar beobachteten Frauen auch – eigentlich immer nur flüchtig zugucken und zuhören kann, da sie nebenher die Hausarbeit machen muß. Und ebenfalls klar ist, daß sie sich nicht traut, ihrem Ehemann mehr als halbherzig zu widersprechen, als dieser andere Frauen bewundert, die das Vaterland über ihr Eheglück stellen. Aber tatsächlich verbringt das Ehepaar seine Zeit gemeinsam und diskutiert über Geschlechterrollen, selbst wenn die Ethnologin dies angestoßen hat, und ob dies auf Dauer immer nur zu neuen Bestätigungen der patriarchalischen Ordnung führen wird, ist noch die Frage. Die Tatsache, daß die Familie, genauer die family of procreation, gemeinsam fernsieht statt sich an getrennten Orten zu amüsieren, wird auch von Kottak für Brasilien bemerkt und als ein sie anderen verwandtschaftlichen Bindungen gegenüber stärkendes Element identifiziert. Abu-Lughod macht auf einen weiteren Aspekt aufmerksam (Abu-Lughod 1995). Sie zitiert den ägyptischen Literaturnobelpreisträger Nagib Machfus, der beklagt, daß durch das Fernsehen im eigenen Heim die alte Kultur der Kaffeehäuser und professionellen Erzähler verschwindet. Solche Sentimentalitäten übersehen ihr zufolge allerdings, daß die Frauen von dieser alten Kultur ausgeschlossen waren, nun aber mit dem Fernsehen über ein eigenes Fenster zur Welt verfügen. Der Einfluß des Fernsehens auf die Geschlechterordnung hat eine politische Dimension, und diese bemerkt auch ▶▸Lisa Rofel von der University of California in Santa Cruz in ihrem Artikel „Yearnings” (Rofel 1994). Sie berichtet hier über die gleichnamige Serie, laut der New York Times der Einzug der soap opera in die Volksrepublik China, die 1991 gerade einmal anderthalb Jahre nach der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung gesendet wurde. Aufgrund des riesigen Erfolges wurde sie schließlich nicht mehr wie geplant dreimal wöchentlich, sondern täglich für gleich drei Stunden gesendet, so daß die gesamten 50 Episoden in einem Monat ausgestrahlt waren. Für das Autorenteam, das bekannte Romanciers einschloß, war der Nationalstolz ein Beweggrund, denn sie wollten den sich ausbreitenden Genre-Importen aus Taiwan und Lateinamerika etwas Eigenes entgegenstellen. An mehr als publikumswirksame Unterhaltung war nicht gedacht, aber auch hier wurden Diskussionen angestoßen, die weit darüber hinausgingen. Die Handlung verfolgt einige Familienschicksale durch die turbulente Zeit der VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 137 Kulturrevolution (1966-76) und die seither erfolgten Umwälzungen, und an tragischen Wendungen, verlorengegangenen und wiedergefundenen Babys und unerwidert bleibender Liebe ist kein Mangel. Doch hat sie auch ihre politischen Dimensionen bzw. diese werden von den Informanten wahrgenommen. Zum einen bedient sich die Serie beim Genre des ▶▸suku („Bitternis erzählen”), d. h. den Berichten von Intellektuellen über die in der Kulturrevolution erlittenen Mißhandlungen und Erniedrigungen, für Rofel eine Strategie, den eigenen Anspruch auf einen angemessenen Platz im nationalen Gefüge zu untermauern. Eine solche in der Kulturrevolution leidende Intellektuellenfamilie spielt in der Serie eine wichtige Rolle. Zum anderen stellt die Serie das Leiden einer Frau in den Vordergrund, die sich für die eigenen Kinder aufopfert und dadurch ihre Karrierechancen ruiniert. Daß dies zu so vielen Diskussionen gerade unter den Zuschauerinnen führt, liegt auch daran, daß keine der Hauptfiguren ohne tragische Erfahrungen davonkommt und die meisten auch durchaus ambivalente Züge haben. Die leidende Protagonistin ist damit für die einen eine Heldin, für die anderen dagegen ein Versuch, die emanzipatorischen Errungenschaften der Mao-Zeit zurückzudrehen und zu einem konventionellen Frauenbild der familienorientierten Selbstaufopferung zurückzukehren. Letztendlich ging die öffentliche Alltagsdiskussion über die Serie für Rofel darum, wer die Nation besser repräsentiert: Sind es die Intellektuellen, können es die Frauen sein, und wenn ja, dann welche? Serien, Nation und Klasse Dem Einfluß des Fernsehens auf die nationale Imagination geht auch der Kommunikationswissenschaftler ▶▸James Lull von der San Jose State University nach. Einige Jahre vor Rofel, noch vor der Demokratiebewegung, hat er in den 1980er Jahren in China geforscht, zwar ohne Chinesischkenntnisse, aber mit Assistentin und Übersetzerin und einem feldforschungsartigen Vorgehen, das für brauchbare Ergebnisse sorgt (Lull 1991). Neben einer ausführlichen Analyse des Fernsehsystems und der Fernsehverbreitung, die damals bereits in allen großen Städten universal war, beschäftigt er sich exemplarisch mit bestimmten Sendungen. Eine davon ist eine ebenfalls sehr melodramatisch angelegte Serie namens ▶▸Xin Xing, auf englisch „New Star”, die 1986 gesendet wurde. Zentraler Handlungsstrang ist der Antagonismus zwischen zwei Parteikadern in der Provinz, der eine ein junger, idealistischer Reformer, der andere, ihm vorgesetzte ein Betonkopf der alten Schule, aber darum herum blüht ein ausgiebiges Geflecht von Liebes- und Haßbeziehungen der verschiedensten Personen, die das Ganze verkomplizieren. Auch hier gibt es kein eindeutig zu interpretierendes Ende und großen Spielraum bei den Möglichkeiten, die einzelnen Personen moralisch zu bewerten. Und dies VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 138 feuerte offenbar die Alltagsdiskussionen über die Serie an, die ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreichten. Lull zufolge brachte dies eine völlig neue Erfahrung, nämlich das der nationalen Zuschauergemeinschaft und des Bewußtseins, diese Serie gemeinsam mit dem ganzen Land zu verfolgen. Die Wirkungsmacht dieser Erfahrung, aber auch die Tatsache, daß man aus Fernsehbildern die verschiedensten Dinge herauslesen kann und sie nicht einfach nur das von der politischen Führung angestrebte Propagandainstrument sind, trug für Lull ganz wesentlich zum Aufkommen der Demokratiebewegung bei. Lila Abu-Lughod stellt gleich ihr gesamtes Buch unter die nationale Perspektive, denn ihr zufolge ist Fernsehen „one of the richest and most intriguing technologies of nation building in Egypt” (2005: 8). Das Fernsehen wurde dort 1960 eingeführt und war im damals säkular, panarabisch und sozialistisch ausgerichteten Staat ausdrücklich als Instrument der Erziehung und Aufklärung gedacht, daß die Modernisierung und wirtschaftliche Entwicklung der Nation voranbringen sollte. Bis heute spielt die Vermittlung von der Regierung gewünschter politischer Inhalte eine wichtige Rolle, sowohl im vergleichsweise hohen Anteil der Informationsprogramme als auch in den fiktionalen Inhalten der Serien. Die nationale Einheit soll gestärkt und die sie bedrohenden Kräfte wie der transnationale islamische Extremismus in Schach gehalten werden, wenn z. B. in den Serien geldgierige und rachsüchtige Terroristen auftreten, wenn die gerne als hinterwäldlerisch geschmähten Ägypter aus dem oberägyptischen Süden als positive Helden fungieren oder wenn Muslime und Kopten (d. h. ägyptische Christen) toleranten Umgang miteinander pflegen. Die guten Helden verkörpern häufig auch andere moderne Ideale wie Bildungsstreben, weibliche Selbstbestimmung, soziale Verantwortlichkeit und Patriotismus und obsiegen darin gegen irrationale Traditionen, patriarchalische Willkür, Gier und islamistische Eiferer. Auch die beteiligten Autoren, Regisseure und Schauspieler interpretieren ihre Arbeit gerne als patriotisch-aufklärerischen Dienst an der Gemeinschaft, durchaus auch dann, wenn sie regimekritisch eingestellt sind und sich immer wieder erst gegen die Zensur durchsetzen müssen. Der große Erfolg des ägyptischen Fernsehens ist außerdem für die Bürger eine Quelle des Nationalstolzes. Denn es ist allgemein bekannt und wird mit Stolz hervorgehoben, daß die aufwendigen und qualitativ hochwertigen Serien des Staatsfernsehens und ihre Stars im ganzen arabischen Raum beliebte und seinen Fernsehmarkt dominierende Exportprodukte sind. Wie bereits erwähnt, erreichen die patriotischen und modernistischen Botschaften der Serien ihre Adressaten durchaus nicht immer, und Abu-Lughods Informanten im Dorf bei Luxor sehen zwar begeistert Fernsehen, aber krempeln aufgrund des Gesehenen keineswegs ihr gesamtes Leben um. Auch hat in den 1990er Jahren mit einer verstärkten Globalisierung des Konsums und VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 139 mit dem Aufkommen von Satellitenfernsehen und ersten Privatsendern der Einfluß der alten Ideologie der nationalen Entwicklung nachgelassen. Sowohl die globale Konsumkultur in den immer längeren und besseren Werbespots und im luxuriösen Lebensstil der Oberschicht, in der manche der Serien spielen, als auch der moderate Islamismus, dessen Werte zusehends zur Grundlage für die Selbst- und Fremdzensur werden, erhalten im Programm immer mehr Raum. Abu-Lughod zufolge bedingt dies aber keine Auflösung der Nation. Ganz im Gegenteil wird diese ihr zufolge naturalisiert, denn in der lebhaften und auch durchaus kontroversen Diskussion der Serieninhalte in Zeitungskolumnen wie in Alltagsgesprächen ist immer wieder Ägypten die selbstverständliche Einheit, über deren Wohl und Wehe nachgedacht und innerhalb derer verglichen wird. Auch der eigentlich ja universale Islam transzendiert dabei die Nation nicht, sondern wird gewissermaßen als eine Art religiöse Subkultur eingebunden. Es ist im nationalen Interesse, ihm seinen angemessenen Platz zu geben, und der gute Islam ist in den Serien derjenige, der sich in den Dienst der nationalen Sache stellt. Durch Abu-Lughods gesamtes Buch zieht sich aber auch ein zweiter Hauptaspekt, nämlich der der Klasse. Die in den Serien gezeichneten Werte und Bilder sind nämlich die der städtischen Mittelschicht, und dies drückt sich besonders dann sehr deutlich aus, wenn die dieser Schicht entstammenden Autoren die Verhältnisse in anderen Bevölkerungsgruppen und Landesteilen imaginieren. So berichtet Abu-Lughod von einer Serie, in der eine Bauerntochter als Hausbedienstete nach Kairo geht und dort bei der Arbeit immer wieder durch das offene Fenster den Unterricht einer nahegelegenen Schule verfolgen kann. Sie bekommt nur Bruchstücke mit und versteht diese auf recht komische Weise falsch, aber irgendwann geht ihr Traum in Erfüllung. Als ihr Vater sie nach einigen Jahren abholen will, um sie mit einem von ihm selbst ausgesuchten Ehemann zu verheiraten, entzieht sie sich dem durch Fortlaufen, und die Schwester ihrer Hausherrin verschafft ihr schließlich eine kleine Arbeitsstelle in der Stadt und die Möglichkeit, selbst zur Schule zu gehen. Das Bauerndasein wird dabei denunziert: Nicht nur der Traum von der Bildung läßt das Dienstmädchen davonlaufen, sondern auch die Abscheu vor dem Schmutz und den Flöhen, und auch die familiären und verwandtschaftlichen Bindungen an ihren Heimatort erscheinen nirgendwo in einem positiven Licht. Deutlich handelt es sich hier um städtisch geprägte Zerrbilder des Nicht-Städtischen, und diese existieren auch gegenüber Oberägypten, wo das von Abu-Lughod besonders beobachtete Dorf liegt. Auch in prinzipiell versöhnlich gemeinten Serien, in denen die guten Helden aus dieser Region stammen, erringen diese ihre positive Rolle immer nur dadurch, daß sie die lokalen Sitten und Bindungen ablegen und z. B. Bildungskarrieren verfolgen oder westliche Kleidung tragen. Hinzu kommen sehr stereotype Darstellungen des lokalen Dialekts und der VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 140 einschlägigen kulturellen Merkmale, die bei den negativen Figuren regelrecht zur Karikatur werden, und auch an Blutrache-Verwicklungen – für die die Region berüchtigt ist – darf es nie fehlen. Erst in jüngeren Jahren scheint sich dies zu bessern, und die Traditionen werden nun auch in einem positivem Licht dargestellt. Abu-Lughod sieht hier einen Zusammenhang mit der Ausbreitung islamischer Frömmigkeit, denn die ländlichen Sitten bieten eine religionsfreie Traditionsalternative zum Islam. Mit der kritischen Analyse dieser urbanen Mittelklasse-Fantasien scheint Abu-Lughod aber recht alleine zu bleiben. Sie erwähnt Intellektuelle, denen diese ebenfalls aufstoßen, doch ihre gewöhnlichen Informantinnen stören sich weit weniger daran. So stellen weder die städtischen Haushaltshilfen in Kairo noch die Dorfbewohner den in den Serien vermittelten Wert der Formalbildung in Frage. Dazu gäbe es durchaus Anlaß, denn die Schulen sind schlecht, die Lehrer oft korrupt, teurer Nachhilfeunterricht ist unerläßlich, und auch mit guten Abschlüssen gibt es nicht immer Arbeitsstellen. Und die oberägyptischen Informanten sind schon über das kleinste Versatzstück ihrer Lokalkultur in den Serien erfreut, während sie die Klischeebilder über ihre eigenen Lebensverhältnisse nicht monieren. Das Fernsehen spielt also seine gewichtige Rolle darin, auch diese marginalisierten Gruppen in die nationale Gemeinschaft hineinzuziehen, aber gibt ihnen keine Anleitung darin, die Mechanismen der eigenen Marginalisierung zu durchschauen. Das Fernsehen in der (Globalisierungs-)Kritik Fast so etwas wie eine Konstante der ethnologischen Fernsehforschung ist die Entdeckung, daß die amerikanischen und sonstigen internationalen Importe zwar gesehen werden, im Vergleich damit aber die einheimischen Produktionen populärer sind. Dies gilt für Brasilien, Nigeria, Ägypten, Indien und China (Abu-Lughod 1995: 193, Hannerz 1992: 244, Kottak 1990: 16, Lull 1991: 92-126, 136, Lyons 1990: 444, Mankekar 1993: 546) sowie meiner eigenen Kenntnis nach auch für Japan. Hier besteht also tatsächlich „disjuncture” innerhalb der „mediascape”: Die Übernahme einer einheitlichen Medientechnologie ist nicht unbedingt mit der Übernahme der Medieninhalte verbunden und das Fernsehen eher ein Instrument, um neue Differenz zu produzieren. Auch begrenzte Importe können aber natürlich schon Besorgnis auslösen, und welche Form dies in Belize, dem seit 1981 unabhängigen ehemaligen Britisch-Honduras, annimmt, beschreibt Richard Wilk von der Indiana University (Wilk 1993). Weniger als auf die Inhalte der Sendungen konzentriert er sich auf den öffentlichen und den Alltagsdiskurs über das Fernsehen. Dieser sieht im Fernsehen gerne ein Problem, vor allem, weil es der weithin konstatierten VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 141 Amerikanisierung des Landes und der Aufgabe nationaler Eigenständigkeit Vorschub leistet, aber auch wegen einer großen Zahl von anderen bedenklichen moralischen Folgen, die dem üblichen Vorwurfsrepertoire an das Medium entsprechen. Es hat auch schon politische Versuche gegeben, das Fernsehen einzuschränken, denen allerdings kein Erfolg beschieden war. Die Bedenken sind bei den Linken stärker als bei den Rechten und bei den Oberschichtler stärker als in der Unterschicht, aber trotzdem verbreitet. Wilk zufolge verkennt die Furcht vor der Amerikanisierung durch Fersehen aber, wie stark der kritische Diskurs über das Medium die nur 300.000 Menschen zählende Nation synchronisiert. Denn darüber, daß das Fernsehen schwerwiegende Veränderungen mit sich bringt und nichts mehr so läßt, wie es war, sind sich alle sehr viel einiger als über die konkrete Art und Bewertung der Veränderungen. Die Belizeaner haben also einen gemeinsamen Fixpunkt, ▶▸„a cultural and historical watershed, allowing people to create a new and mythical past when children respected their parents, and social justice and good morals were the norm” (Wilk 1993: 237). Überdies haben sie mit dem Fernsehen ein gemeinsames Anderes, was es ihnen erleichtert, sich selbst und ihre eigene Kultur – über Musik, Essen, Tanz und Sprache – in Abgrenzung dazu zu definieren. ▶▸„Paradoxically, television imperialism may do more to create a national culture and national consciousness in Belize than 40 years of nationalist politics and 11 years of independence” (Wilk 1993: 241). Amerikanisierung und nationale Abgrenzung sind auch in Puerto Rico ein Thema. Diese karibische Insel verweilt nämlich in einer Art kolonialer Beziehung mit den USA, mit der sie als Freistaat assoziiert ist. Die eigenen spanischen kolonialen Wurzeln und ein unabhängiges Selbstverständnis stoßen dabei an die Grenzen der finanziellen Abhängigkeit vom großen Nachbarn. ▶▸Arlene Dávila von der Syracuse University beschreibt, wie sich dies im Fernsehkontext äußert (Dávila 1998). Ihr Untersuchungsgegenstand ist die Comedy-Serie El Kiosko Budweiser. In dieser spielen zwei bekannte ältere Komiker ein geistig nicht gerade brillantes, ständig miteinander streitendes, vulgäres, aber sehr volksnahes und populäres Paar, Epifanio und Susa, das gemeinsam einen kiosko, also eine einfache Getränkebude und Stehbar, betreibt. Es gibt eine Reihe von festen Nebenfiguren, aktuelle Themen werden regelmäßig aufgegriffen, und immer wieder sind es Fremde wie etwa Migranten von anderen Karibikinseln, von denen die beiden Helden übervorteilt werden. Die Serie ist sehr populär und wird in einem von amerikanischen Sendern und Kabelnetzwerken dominierten Markt als einheimisches Produkt wahrgenommen und von Dávilas Informanten auch sehr stark danach bewertet. Es geht also oft weniger darum, ob man selbst die Serie mag, sondern darum, welches Bild sie Fremden von den Puertoricanern vermitteln könnte. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 142 Das Sponsoring durch Budweiser, eine amerikanische Biersorte, tut dem interessanterweise keinen Abbruch, denn große Getränkeschilder gehören nun einmal zu einem kiosko, und Budweiser wird zugutegehalten, daß es in seinen Werbestrategien schon immer die lokale Eigenständigkeit respektiert und z. B. Kulturveranstaltungen gesponsort hat. Ohnehin steht im Vordergrund, daß die Serie lokal produziert worden ist, „from here and made by us”, wie die Informanten es formulieren (Dávila 1998: 463). Gleichzeitig entzieht sich die Serie aber nicht dem multinationalen Kapitalismus, und die vertretenen Gender- und Rassebilder sind äußerst stereotyp. Dávila sieht also sowohl widerständige als auch angepaßte Elemente und geht ganz allgemein davon aus, daß Medienprodukte häufig vieldeutig sind und breiten Interpretationsspielraum lassen. Fazit Die vorgestellten ethnologischen Fernsehstudien zeigen, daß sich mit diesem Medium zwar eine einheitliche Technologie immer weiter ausbreitet, aber bei den Inhalten keine simple Vereinheitlichung festzustellen ist. Im Gegenteil wird gerade im Fernsehbereich viel neue Kultur produziert. Diese bezieht sich außerdem häufig auf elementare Sozialbeziehungen wie die der Familie und der Geschlechter. Gerade bei den im privaten Raum spielenden Serien ist zu bedenken, daß dieser im tatsächlichen Alltag oft nicht für Fremde zugänglich ist, so daß man je nach Gesellschaft außerhalb der eigenen Familie und Verwandtschaft oft wenig darüber weiß. Daß dann Darstellungen solcher privaten Räume, in wie stark auch immer fiktionalisierter Weise, die Fantasie beflügeln und auch zur Reflexion der eigenen privaten Lebensbedingungen anregen, liegt denke ich auf der Hand. Für eine ethnologische Fernsehforschung wird also auch zukünftig Raum sein, gerade weil wir ja uns intensiver mit Familie und Verwandtschaft beschäftigen und mehr dazu wissen als viele andere Sozialwissenschaften. In der Inhalts- und Rezeptionsanalyse sind in der geschilderten ethnologischen Fernsehforschung ereits gute Ergebnisse erzielt worden. Schwächer ausgeprägt ist die Produktionsanalyse: Ethnographien von Fernsehstationen und Produktionsteams sind bislang Mangelware, was ich nicht so recht verstehe, denn eigentlich müßten hier wie auch etwa in Zeitungsredaktionen die geringsten praktischen Probleme für die teilnehmende Beobachtung bestehen. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 143 Teil VIII: Ethnizität und Nationalismus Ethnizität Im vorigen Teil spielte beim Thema Fernsehen die Nation bereits eine gewichtige Rolle, und diese möchte ich heute stärker in den Blick nehmen und mich mit Ethnizität und Nationalismus befassen. Wie vielfach hervorgehoben, auch z. B. durch Appadurai und Hannerz, bleiben diese im Zeitalter der Globalisierung wichtige Phänomene. Auf den ersten Blick mag dies überraschend erscheinen: Die populäre Vorstellung vom „radikalen Diffusionismus”, wie Hannerz sie nennt, geht ja davon aus, daß der Kontakt der Kulturen ihre Unterschiede zum Verschwinden bringt. Tatsächlich aber blühen Ethnizität und Nationalismus: Gegenwärtig gibt es über 190 unabhängige Staaten in der Welt, das sind fast drei mal so viele wie 1946, als es erst 66 waren (http://www.isanet.org/archive/npg.html), und ohne die entsprechenden Nationalgefühle wäre kaum einer von ihnen entstanden. Ethnische Bewegungen und ethnische bzw. als ethnisch deklarierte Konflikte findet man ebenfalls überall. Die Mehrzahl der gegenwärtigen Bürgerkriege hat eine ethnische Komponente, und auch innerhalb stabiler Staaten sind die Beziehungen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Ethnien nicht immer frei von Spannungen. Ethnizität und Nationalismus sind mitunter als ein Relikt früherer, vormoderner Zeiten gesehen worden, das in modernen Gesellschaften von selbst seinen Platz verlieren würde. Doch zeigt die Realität, daß dem keineswegs so ist. Schon für Ethnizität besteht der Verdacht, daß die Globalisierung sie genauso gut fördert wie überwindet, und für Nationalismus ist dies vollends der Fall, denn dieser ist ein Phänomen der letzten 250 Jahre und eine nicht entgegen, sondern gerade aufgrund der Globalisierung in alle Welt gelangte politische Ideologie. Das Wort „Ethnizität” (ethnicity) gehört noch nicht lange zum konzeptuellen Instrumentarium der Ethnologie, und erst in den 1960er Jahren begann eine intensivere Beschäftigung mit diesem Phänomen. Mittlerweile ist es allerdings eines der verbreitetsten Forschungsthemen überhaupt. Dies liegt nicht nur an einem Paradigmenwechsel im Fach, sondern ist auch eine Reaktion auf die wachsende Prominenz von ethnischen Diskursen und ethnischer Politik in der Welt. Außerdem tun sich andere Disziplinen zum Teil schwer damit, Ethnizität angemessen zu behandeln, so daß die Ethnologie hier besonders gefordert ist. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 144 Begriffsbestimmung Ethnizität und Ethnologie haben die Wortwurzel gemeinsam, nämlich ethnos, altgriechisch für „Volk”. Eine „ethnische Gruppe” (ethnic group) oder synonym auch „Ethnie” ist also nichts anderes als ein Volk, sollte man meinen. Mit Völkern assoziiert man aber im allgemeinen nach Millionen zählende Kollektive wie etwa die Deutschen oder die Norweger, und diese sind größer als diejenigen Einheiten, mit denen sich die Ethnologie klassischerweise beschäftigt hat. Von Navajo, Karimojong oder Toda wurde stattdessen eher als „Stamm” (tribe) geredet. In der politischen Ethnologie hat tribe ja im Kontrast zu band, chiefdom und state eine sehr spezifische Bedeutung, doch außerhalb dieses Teilbereichs und erst recht außerhalb der Ethnologie ist das Wort oft eher unscharf verwendet worden. Fast immer assoziiert es aber eine im Vergleich zu Volk geringere Größe und größere Ursprünglichkeit oder Primitivität: Stämme findet man in Afrika, aber nicht in Köln oder wenn doch, dann höchstens im Karneval oder unter Freizeitindianern. Aus Sicht der Ethnologie ist eine solche Unterscheidung natürlich nicht zu halten. Die zur Bildung von Völkern oder Stämmen führenden sozialen Prozesse sind dieselben, und so wird heute „ethnische Gruppe” als Sammelterminus verwendet. Auch Kollektive wie soziale Rassen – z. B. Schwarze in den USA – oder die salopp als „Bindestrich-Identitäten” bezeichneten Gruppen – z. B. Deutschtürken – werden unter ethnische Gruppen gefaßt, auch wenn man diese kaum als Volk oder als Stamm bezeichnen würde. Denn die sozialen Mechanismen bei der Bildung all dieser Gruppen sind sich sehr ähnlich. Versucht man einmal, „ethnische Gruppe” ohne Bezug auf Volk oder Stamm zu definieren, stellt man allerdings fest, daß dies gar nicht so einfach ist. ▶▸Segal und Handler setzen „ethnic group” einfach synonym zu „cultural group” (1996: 393), aber dann wären auch religiöse oder politische Gruppen ethnische Gruppen, wie Georg Elwert richtig bemerkt (1999), und die Ethnologen wären es vielleicht auch. Insofern halte ich Elwerts Fassung für besser: ▶▸ „Ethnie, eine familienübergreifende und familienerfassende Gruppe, die sich selbst eine (u. U. auch exklusive) kollektive Identität zuschreibt. Dabei sind die Zuschreibungskriterien, die die Außengrenze setzen, wandelbar. Sie beanspruchen jedoch Dominanz gegenüber anderen Zuschreibungskriterien. … Mit familienübergreifend und familienumfassend … wird implizit auf die Erblichkeit der Zuordnung hingewiesen, unabhängig davon, ob der Vererbende selbst durch Geburt oder Beitritt in die E. aufgenommen wurde.” (Elwert 1999: 99-100) Hier sind neben dem Aspekt der Selbstzuschreibung, auf den ich noch zurückkommen werde, zwei Bestandteile wichtig. Zum einen ist dies die Dominanz gegenüber anderen Kriterien. Ethnische Zugehörigkeiten überschneiden Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Klasse, Beruf und andere soziale Merkmale; die Mitglieder einer ethnischen Gruppe sind vielmehr in VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 145 dieser Hinsicht vielfältig. Zum anderen ist die Erblichkeit wichtig. Üblicherweise erhält man seine ethnische Zugehörigkeit von den Eltern, und sie ist im Gegensatz etwa zu der Zugehörigkeit zu einer Klasse nicht ohne weiteres zu erwerben oder abzulegen. Zwar kommt es durchaus vor, daß sich die ethnische Selbstidentifizierung in einem Leben ändert. Dann hat dies aber gewöhnlich die Form der Aktivierung einer als im Prinzip immer schon vorhanden gedachten ethnischen Zugehörigkeit, etwa wenn Angehörige einer ethnischen Minderheit sich als solche zu erkennen geben, statt wie vorher diesen Umstand zu verbergen und als Teil der Mehrheit durchzugehen. Wenn ich selbst aber ab morgen Japaner sein und als solcher von anderen Japanern anerkannt werden wollte, hätte ich es schwer, selbst dann, wenn ich mich erfolgreich um die japanische Staatsbürgerschaft bemühen würde. Elwert erwähnt die Kultur gar nicht, und auch das hat seinen Grund. Die weitaus meisten ethnischen Gruppen verwenden zwar kulturelle Merkmale wie etwa Sprache, Religion, Kleidung, Wirtschaftsweise o. ä. als Zuschreibungskriterien. Aber physische Merkmale spielen oft ebenfalls eine Rolle, mitunter sogar die einzige. Dies ist bei den sogenannten sozialen Rassen der Fall. Die Schwarzen in den USA, die African Americans, z. B. definieren sich als ethnische Gruppe über ihre Hauptfarbe bzw. werden darüber definiert. Was sie ansonsten an gemeinsamer Kultur haben, ist eher Folgeerscheinung dieser ihrer Abgrenzung als ihre Ursache, denn ihre als Sklaven ins Land verschleppten Vorfahren kamen ja aus unterschiedlichen Regionen Afrikas und wurden ethnisch ganz bewußt gemischt, um sie besser kontrollieren zu können. ▶▸Äußerliche Merkmale wie etwa Hautfarbe, Gesichtsschnitt, Haarfarbe und –form haben, wie Sie noch aus dem Einführungsseminar wissen werden, mit tatsächlichen genetischen Übereinstimmungen und Unterschieden wenig zu tun. Viele wichtige genetische Merkmale schlagen sich nicht im Aussehen nieder, und ähnliches Aussehen hat oft keine genetischen Korrelate. Und prinzipiell schränken weder das Aussehen noch die genetischen Merkmale den Kulturerwerb ein. Trotzdem ist es ein Faktum, daß in vielen Gesellschaften Menschen nach ihrem Aussehen kategorisiert und diesen Kategorien bestimmte kulturelle Merkmale zugeschrieben werden, nicht selten in der fälschlichen Annahme, daß diese angeboren sind. Und sind solche falschen Annahmen tief genug verwurzelt, können sie als self-fulfilling prophecies wirken, indem sich die so Diskriminierten tatsächlich an ihnen ausrichten bzw. gar keine andere Wahl haben, als es zu tun. Jazz liegt schwarzen Amerikanern genauso wenig im Blut wie weißen, aber trotzdem gibt es überdurchschnittlich viele schwarze Jazzmusiker. Gerne werden Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in einen Topf geworfen. In ihren Konsequenzen sind sie natürlich oft insofern ähnlich, als es in beiden Fällen um soziale Ausgrenzung geht, und häufig treten beide Faktoren ohnehin vermischt auf. Aber ob man die VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 146 Merkmale der ausgegrenzten Gruppe für erworben, d. h. kulturell, oder angeboren hält, ist trotzdem ein Unterschied. Denken Sie etwa an die britische Boulevardpresse: Dort werden regelmäßig vor den einschlägigen Länderspielen die krudesten nationalen Klischees über die krauts – also die Deutschen – oder die frogs – die Franzosen – ausgepackt. Das hat fremdenfeindliche Züge, ist aber nicht rassistisch, insofern als nicht behauptet oder suggeriert wird, daß die betreffenden Klischeemerkmale angeboren sind. Auch generell ist Rassimus in der ansonsten ja wenig zimperlichen britischen yellow press tabu. Zudem haben nicht alle Gesellschaften mit rassistischen Tendenzen soziale Rassen, d. h. über das Aussehen gebildete Ethnien. In Brasilien gilt zwar Hellhäutigkeit allgemein als erstrebenswert, und Diskriminierung dunkelhäutiger Menschen z. B. durch die Polizei ist verbreitet. Auch gibt es ein differenziertes Vokabular, um die unterschiedlichen Typen des Aussehens zu bezeichnen. Aber ethnische Gruppen, die allein über das Aussehen gebildet werden, fehlen. Vielmehr ist so gut wie jeder Brasilianer, also Angehöriger der Mehrheitsethnie, und als Separat-Ethnien werden nur die diversen indianischen Gruppen angesehen. Und schließlich kann es auch dadurch noch komplizierter werden, daß mit rassistischen Argumenten ausgegrenzte Gruppen gar nicht anders aussehen als die sie ausgrenzende Mehrheitsethnie. Dieser Fall liegt bei den ▶▸burakumin in Japan vor. Diese ein oder zwei Millionen Menschen umfassende Gruppe umfaßt die Nachfahren von Personen, die nach buddhistischen und shintoistischen Vorstellungen verunreinigende oder einfach als sozial verdächtig angesehene Tätigkeiten verrichtet haben, etwa den Umgang mit Fleisch und Tierprodukten wie z. B. Leder, den ganzen Bereich der Bestattungen, Gärtnerei oder die fahrenden Künstler und Schausteller. In der Tokugawa-Zeit (1603-1868) standen diese damals noch eta oder hinin („Nicht-Menschen”) genannten Gruppen außerhalb der Ständeordnung. Mit der Moderne wurde diese zwar offiziell abgeschafft, aber die Diskriminierung dieser Personen und ihrer Wohnviertel setzt sich bis heute fort und erscheint erst in den letzten Jahren allmählich aufzubrechen. Dies wäre eigentlich problemlos möglich, denn hinsichtlich des Aussehens oder der sprachlichen und anderen kulturellen Merkmale unterscheiden sich die burakumin in nichts von den gewöhnlichen Japanern. Ob diese Kategorie also in einigen Jahrzehnten immer noch Bestand haben wird, ist eine interessante Frage. Primordialismus und Konstruktivismus Eine der zu Ethnizität vertretenen wissenschaftlichen Positionen wird mitunter als Primordialismus (primordialism) bezeichnet (z. B. Sokolovskii und Tishkov 1996). Dieser Position zufolge sind es primordiale, d. h. grundlegende Merkmale einer Person wie Sprache VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 147 oder Religion, die sie dazu bringt, sich mit anderen Personen zusammenzuschließen, die diese Merkmale teilen, und sich von solchen Personen abzugrenzen, die sie nicht teilen. Die Bildung von Ethnien ist also ein ganz natürlicher Vorgang, und mitunter wird auch versucht, dafür Ursachen z. B. in unserer biologischen Natur zu finden. So ist etwa für den Humanethologen Irenäus Eibl-Eibesfeldt Fremdenfeindlichkeit eine genauso normale Eigenschaft des Menschen wie das Fremdeln bei kleinen Kindern. Ein primordialistisches Denken hatten auch die frühen Theoretiker des Nationalismus, etwa die romantischen Philosophen Johann Gottfried Herder (1744-1803) und Johann Gottlieb Fichte (1762-1814). Diese nahmen an, daß man zusammen mit der Muttersprache ein spezifisches Denken und Fühlen erwirbt; Herder etwa sprach vom „Volksgeist”, der alle Lebensäußerungen einer so konstituierten Gemeinschaft durchdringt. Mit dem Primordialismus ist es allerdings heute ähnlich wie mit der Theorie von der globalen kulturellen Homogenisierung: Man findet zumindest in der Ethnologie eigentlich niemanden, der sie uneingeschränkt vertritt, so verbreitet primordialistische Vorstellungen auch im Alltagsdenken, in manchen Politikerhirnen oder bei Amateurethnologen wie Eibl-Eibesfeldt sein mögen. Stattdessen kennzeichnet die moderne Ethnologie eine Position, die Konstruktivismus (constructivism) genannt worden ist: Ethnische Gruppen sind demnach ein Produkt sozialer Interaktion, und diese wird von den objektiv bestehenden kulturellen oder phänotypischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden nicht determiniert. ▶▸Besonders einflußreich gewesen ist hier die Einleitung zum 1969 erschienenen Sammelband Ethnic Groups and Boundaries des norwegischen Ethnologen Fredrik Barth, pensionierter Professor an der Universität Oslo (Barth 1969). Er beklagt dort zunächst, daß die Herausbildung ethnischer Gruppen in der Ethnologie als die natürliche Folge geographischer und sozialer Isolation gesehen worden ist. Tatsächlich ist es jedoch im Gegenteil gerade der Kontakt zwischen den Gruppen – durchaus auch freundlicher Kontakt –, der ethnische Grenzziehungen erhält, und ethnische Gruppen sind häufig die Bausteine übergreifender Sozialsysteme. Und deshalb muß sich die ethnologische Forschung auf eben diese Grenzziehungen konzentrieren und die Art, wie sie im sozialen Umgang hergestellt und aufrechterhalten werden. ▶▸„The critical focus of investigation … becomes the ethnic boundary that defines the groups, not the cultural stuff that it encloses” (Barth 1969: 15). Denn der „cultural stuff” deckt sich nicht notwendigerweise mit den ethnischen Einheiten, oder wie Barth sagt: ▶▸„… we can assume no simple one-to-one relationship between ethnic units and cultural similarities and differences” (Barth 1969: 14). Schon allein die Anpassung an unterschiedliche Rahmenbedingungen kann in derselben ethnischen Gruppe zu kultureller Vielfalt führen, und unabhängig davon heben die Akteure manche kulturellen Züge – etwa VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 148 Kleidung, Sprache, Hausformen oder den allgemeinen Lebensstil, aber auch grundlegende Werthaltungen – als für ihre Gruppe emblematisch hervor, während die Verschiedenheit der Mitglieder hinsichtlich anderer Merkmale ignoriert wird. Und auch eine kulturelle Annäherung zwischen zwei Gruppen muß nicht das Verschwinden der ethnischen Grenzen bedeuten. Dementsprechend gilt: ▶▸„The features that are taken into account are not the sum of ‚objective’ differences, but only those which the actors themselves regard as significant” (Barth 1969: 14). Ethnische Grenzziehung impliziert also ein Gegenüber und damit auch die Existenz eines ▶▸ „polyethnischen Sozialsystems” (poly-ethnic social system), wie Barth es nennt. In diesen ist der ethnische Status laut Barth anderen Statusformen wie Geschlecht oder Rang übergeordnet und zwingend, in dem Sinne, daß er nicht einfach zeitweilig beiseite gelassen werden kann. Die Mitglieder der einzelnen ethnischen Gruppen sind durch ihre jeweiligen Wertorientierungen in ihrem Handeln eingeschränkt, wie auch durch die gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnisse, die sich z. B. durch die Besetzung unterschiedlicher ökonomischer Nischen ergeben. Und natürlich können sich ethnische Gruppen auch in einer Konkurrenzsituation befinden. Dauerhaft sind in solch einer Situation vor allem die Grenzen, dagegen nicht unbedingt das kulturelle Territorium, das sie jeweils einschließen, und auch nicht unbedingt die Zuordnung der Individuen. ▶▸Barth weist gleich auf mehrere ethnographische Beispiele hin, die dies belegen, etwa die Yao in Südchina, die in jeder Generation etwa 10 Prozent von Angehörigen anderer Ethnien durch Adoption oder Einheirat aufnehmen, oder die feldbauenden Fur im Darfur-Gebiet des Sudan, die (zumindest noch in den 1960er Jahren) auf relativ einfache Weise Baggara werden konnten, wenn sie deren pastoralnomadischen Lebensstil annahmen. Weitere Merkmale Viele andere Ethnologen haben das von Barth eingeführte Modell spezifiziert oder ergänzt und zahllose Fallbeispiele zusammengetragen. Dabei ist darauf hingewiesen worden, daß ethnische Kategorien sowohl auf Selbst- als auch auf Fremdzuschreibung beruhen. Eine Selbstzuschreibung, die niemand akzeptiert – wie etwa wenn ich ab morgen Japaner sein möchte –, bleibt folgenlos, und umgekehrt gibt es Fremdzuschreibungen ethnischer Zugehörigkeit, vor allem solche diskriminierender Art, die von den Betroffenen gar nicht oder nur mit Widerwillen akzeptiert werden. Mitunter haben Personen auch mehrere Ebenen der ethnischen Identifizierung, die hierarchisch aufeinander aufbauen. ▶▸Die Tukano im kolumbianischen Regenwald teilen sich z. B. in 16 exogame Sprachgruppen auf (Jackson 1995). Jedes Individuum heiratet also einen Partner, der eine andere Sprache spricht, und entsprechend beherrschen viele Tukano mehreren VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 149 dieser Sprachen. Aus strategischen Gründen werden diese Sprachgruppen manchmal als grupos étnicos bezeichnet, um dann die Tukano insgesamt als Nation bezeichnen zu können, also etwas sehr viel Größeres und Respektableres; in anderen Situationen sind aber die Tukano in ihrer Gesamtheit die ethnische Gruppe. Auf einer noch höheren Ebene können sich Tukano als Kolumbianer identifizieren. Welche der drei Ebenen in einer gegebenen sozialen Situation relevant ist, hängt dabei vom Gegenüber ab: Einem Mitglied einer anderen Sprachgruppe gegenüber ist man das Mitglied der eigenen Sprachgruppe, anderen Regenwald-Indianern wie den Jívaro oder Yanomami gegenüber ist man Tukano, Venezolanern gegenüber ist man Kolumbianer. Nicht alle übergeordneten Ebenen müssen allerdings hierarchisch aufeinander aufbauen. Für die Tukano ist es z. B. auch möglich, sich als ▶▸indígena zu identifizieren, da durch den zunehmenden politischen Aktivismus der lateinamerikanischen Indianer eine übergreifende soziale Identität im Entstehen ist. Diese steht quer zu den nationalen Identifikationen wie etwa Kolumbianer, Brasilianer usw. ▶▸Eriksen bringt in seiner recht brauchbaren ethnologischen Einführung außerdem das Beispiel Guayanas (Eriksen 1993: 47-48). Dort sind die beiden größten ethnischen Gruppen die Africans und die East Indians, d. h. die Nachfahren der afrikanischen Sklaven und der indischen Kontraktarbeiter, die früher auf den Zuckerplantagen gearbeitet haben. Genau diese beiden Gruppen – Africans und East Indians – findet man wie bereits bei Miller gehört auch in Trinidad. Begegnen sich Bewohner der beiden Staaten, tritt allerdings keine pan-indische oder pan-afroamerikanische Identität, sondern stattdessen die nationale Identität – also Trinidadianer oder Guayaner – in den Vordergrund, so daß hier die hierarchische Ordnung der Identifikationen gewahrt bleibt. Ethnizität kann je nach Individuum und je nach sozialer Situation unterschiedlich wichtig sein. Manchen bedeutet ihre ethnische Identität viel, anderen sind z. B. berufsbedingte Identitäten wichtiger, oder sie legen überhaupt keinen Wert auf kollektive Gruppenzugehörigkeiten. Hier ist allerdings zu beachten, daß dies nicht immer nur auf der eigenen freien Entscheidung beruht und man oft nicht aus seiner ethnischen Haut heraus kann, da ja eben auch die Fremdzuschreibung wichtig ist und man sich ihrer z. B. dann, wenn das Aussehen oder die perfekte Beherrschung einer Muttersprache involviert ist, gar nicht erwehren kann. Mitunter wird eine These vertreten, die im Unterschied zu Primordialismus und Konstruktivismus auch als Instrumentalismus (instrumentalism) bekannt ist, nämlich daß ethnische Mobilisierung immer politischen und wirtschaftlichen Interessen dient, die sie letztendlich zu kaschieren hilft. Die wahren Gegensätze sind dann oft die zwischen Klassen, und die Ethnisierung des Diskurses ermöglicht es den Mächtigen, die Machtlosen über diesen „Hauptwiderspruch”, wie die einschlägige Vokabel des VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 150 Marximus lautet, zu täuschen, wozu dann Disziplinen wie die Ethnologie auch noch ihren wissenschaftlichen Segen geben. Daß Ethnizität häufig instrumentalisiert wird, ist tatsächlich nicht zu leugnen und ein in der Beschäftigung mit ihr immer mitzuberücksichtigender Faktor. Aber es gibt auch zahlreiche Beispiele für das Fortbestehen ethnischer Identitäten und Grenzziehungen, wo dies keinem der Beteiligten offensichtliche wirtschaftliche oder politische Vorteile bringt. Ethnizität ist also keine bloße Erfindung der Ethnologie und nicht vollständig auf ihre instrumentale Funktion zu reduzieren. Daß sich Ethnizität je nach Typus der ethnischen Gruppe ganz unterschiedlich darstellt, muß ebenfalls beachtet werden. Manche ethnischen Gruppen sind Mehrheiten, andere Minderheiten, manchen sind immigriert, andere nicht, manche setzen sich aus einer Verschmelzung zweier bereits bestehender ethnischer Gruppen zusammen (z. B. Japanese Americans oder Deutschtürken), andere nicht, manche beruhen auf phänotypischen Merkmalen, andere nur auf kulturellen, wieder andere auf eine Mischung aus beidem. Daß dies jeweils zu ganz unterschiedlichen sozialen Situationen und Umgangsweisen mit Ethnizität führt, muß wohl kaum betont werden. Und schließlich halte ich es für wichtig, ethnische Gruppen und kulturelle Gruppen analytisch zu trennen. Ethnische Gruppe haben eine subjektive Komponente; ob jemand einer bestimmten Ethnie angehört, kann aus der Perspektive des Konstruktivismus gesehen nicht durch Beobachtung, sondern nur durch Befragung ermittelt werden. Kulturelle Merkmale sind dagegen objektiv feststellbar. Verschiedentlich haben Ethnologen beides in einen Topf geworfen, ▶▸Appadurai etwa schreibt: „I suggest that we regard as cultural only those differences that express, or set the groundwork for, the mobilization of group identities” (Appadurai 1996: 13). Kultur ist demnach das, was in der ethnischen Abgrenzung benutzt wird. Dies verengt meines Erachtens aber die Perspektive und raubt der Ethnologie ihr kritisches Potential. Ethnische Gruppen haben oft weniger kulturelle Gemeinsamkeiten miteinander und weniger kulturelle Unterschiede zu den Mitgliedern anderer Gruppen, als sie selbst wollen, und zu verstehen, wie dann trotzdem Gemeinsamkeit konstruiert wird, ist der eigentlich interessante Punkt. Auch sollte man weiter darauf hinweisen können, daß Serben und Kroaten oder Hutu und Tutsi sich trotz ihrer in der jüngsten Vergangenheit ausgiebig ausgelebten Todfeindschaft kulturell kaum unterscheiden. Die Formierung als ethnische Gruppe kann aber natürlich kulturelle Folgen hat und zu einer Homogenisierung führen, etwa indem die zur jeweiligen ethnischen Identität als passend empfundenen Sitten bewußt gepflegt werden. Solche Homogenisierung kann die Folge bewußter Fördermaßnahmen, aber auch eine „self-fulfilling prophecy” sein, bei der durch die bloße dauerhafte Existenz einer ethnischen Grenze die sozialen Interaktionen vorstrukturiert VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 151 werden und dies dann irgendwann wirklich kulturelle Unterschiede produziert. Ethnizität und Globalisierung im Nordwesten Ghanas Wie Barth betont, bedarf Ethnizität der Abgrenzung und blüht vor allem in „polyethnischen Systemen”. Und hier besteht nun ein klarer Zusammenhang mit der Globalisierung, denn die Massenmigrationen der letzten Jahrhunderte haben die Existenz solcher Systeme sehr befördert, und sie haben auch westliche populäre und wissenschaftliche Vorstellungen über Völker, Stämme und Nationen verbreitet, an denen sich die ethnische Grenzziehung ausrichten konnte. Nicht selten haben die Kolonialverwaltungen die ethnischen Gruppen, die sie vorzufinden meinten, tatsächlich selbst erst geschaffen, was allerdings der Wirksamkeit der einmal etablierten Kategorien keinen Abbruch tun muß. Ein anschauliches Fallbeispiel dafür liefert ▶▸Carola Lentz, Ethnologieprofessorin an der Universität Mainz (Lentz 2000). Wie mittlerweile auch eine ganze Reihe anderer Autoren weist sie darauf hin, daß in der vorkolonialen Zeit in Afrika oft keine klaren ethnischen Gruppen auszumachen sind. Im Nordwesten Ghanas werden zwar heute, wie auf der Karte zu sehen, bestimmte Territorien mit bestimmten ethnischen Gruppen in Verbindung gebracht, und in vorkolonialer Zeit gab es hier tatsächlich zwei Sprachen, nämlich Dagara und Sisala, die den entsprechenden heutigen ethnischen Gruppen zugrundeliegen. Größere politische Einheiten aber fehlten. Die soziale Organisation war vielmehr zum einen durch Patriclans gekennzeichnet, die über einzelne Siedlungen hinausreichten und der Aufnahme von Außenseitern gegenüber vergleichsweise offen waren, und zum anderen durch die sich um die sogenannten Erdschreine bildenden Netzwerke religiöser Verehrung. Beide Formen der sozialen Assoziation banden Menschen mit unterschiedlichen Sprachen bzw. unterschiedlichen Dialekten derselben Sprache ein. Und tatsächlich verwenden die heutigen Dagara und Sisala füreinander Bezeichnungen, die sich auf ihre seßhafte bzw. pastoralnomadische Lebensweise beziehen, nicht auf davon unabhängige kulturelle Aspekte. Die heutigen Ethnonyme (d. h. Ethniennamen) wurden stattdessen von Außenseitern aufgebracht. ▶▸Die islamischen und zum Teil urbanisierten Wala belegten ihre heidnischen Nachbarn mit dem Terminus Grunshi, der wörtlich „Fetisch-Verehrer” bedeutet. ▶▸MandeDyula-Händler aus dem Westen führten die Bezeichnung Lobi und womöglich auch Dagara ein. Es ist laut Lentz unwahrscheinlich, daß diese Abgrenzungen anfangs bereits einem Zusammengehörigkeitsgefühl bei den so bezeichneten Gruppen entsprochen hat, aber als Franzosen und Briten sich die Region aneigneten, übernahmen sie die ethnischen Bezeichnungen ihrer Übersetzer, und diese waren eben Wala bzw. Mande-Dyula. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 152 Wer genau denn jeweils Dagara, Sisala oder Lobi war, erwies sich im Laufe der Zeit als sehr flexibl. Die ethnischen Bezeichnungen als solche sind aber außerordentlich stabil geblieben, und auch die als Bezeichnung Lobi hat sich gehalten, obwohl sie als diskriminierend empfunden wird. Dazu haben zum einen die kolonialen Stereotypen vom afrikanischen Stamm beigetragen. Diesen zufolge ist ein solcher Stamm ein nach außen hin klar abgegrenztes und intern homogenes Gebilde unter der Herrschaft eines Königs, Häuptlings oder einer anderen Autoritätsperson. Dies war eine durchaus interessengeleitete Vorstellung, denn mit solchen wohlorganisierten Einheiten war indirect rule am besten zu praktizieren. Doch drangen solche Vorstellungen über den Schulunterricht auch in die einheimischen Köpfe, und politische Führer aller Art eigneten sie sich immer dann an, wenn sie sich davon einen Vorteil versprachen. Entsprechend sind die kolonialen Verwaltungsbezirke oft bestimmten Ethnien oder Teil-Ethnien zugeschrieben worden, und dies setzt sich auch in der postkolonialen Zeit fort. Hier ist die Frage nach der Henne und dem Ei oft schwer zu klären, nämlich ob die Ethnie das Territorium schuf oder das Territorium die vorher so gar nicht bestehende Ethnie. ▶▸Lentz sieht dies alles als „an effective co-production of history and culture by local chiefs and elders, on the one hand, and, on the other, colonial officers” (Lentz 2000: 116). Von Beginn der kolonialen Erfassung an mangelt es eigentlich nicht an der Einsicht, daß ethnische Gruppen anfänglich gar nicht die bestimmenden Faktoren der lokalen Sozialorganisation waren, sondern daß diese anderen, durchaus flexiblen Prinzipien folgte. Aber dieselben Autoren, die das Konzept des Stamms und seine Anwendbarkeit auf Nordwest-Ghana relativierten, blieben in ihren weiteren Ausführungen oft trotzdem bei den kritisierten ethnischen Einheiten. Diese Widersprüchlichkeit gilt, wie Lentz bemerkt, für Kolonialbeamte genauso wie für die ethnologische Forschung. Dagara-Intellektuelle der Gegenwart tragen ihrerseits zur Ethnisierung des Diskurses bei. Während für die Dorfbewohner die Migrationsgeschichten ihrer Patriclans den wichtigsten historischen Rahmen bilden und sie ohnehin stärker mit der Durchsetzung von Landrechten in der Gegenwart beschäftigt sind, ist für die Intellektuellen die Frage nach den Ursprüngen zentral. Und die größte Anhängerschaft hat hier die These, daß die Dagara aus dem alten Königreich ▶▸Dagomba stammen, wo sie Ende des 15. Jhs. eine Rebellion anzettelten, die blutig niedergeschlagen wurde, und danach auswanderten. Diese Geschichte hat eine Reihe von Vorzügen: Sie begründet die ethnische Einheit der Dagara trotz ihrer nicht zu übersehenden sprachlichen und sonstigen kulturellen Vielfalt, denn diese kann durch den Kontakt mit den an den Zielorten der Migration bereits ansässigen Gruppen erklärt werden. Sie verschafft der zumeist als primitiv ausgelegten Staatslosigkeit der Dagara – in einem Kontext, wo es ja VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 153 durchaus präkoloniale Staaten gegeben hat – den positiven Nimbus der Freiheitsliebe und demokratischen Gesinnung. Sie paßt zur generellen Richtung der Migrationen der einzelnen Patriclans, die ebenfalls Richtung Nordwesten verlief, wenn auch tatsächlich zu unterschiedlichen Zeitpunkten und nicht als geschlossene Gruppe. Und sie fügt sich ein in das allgemeine Format der westafrikanischen Geschichte, wie sie in Schule und Universität unterrichtet wird. Gewöhnliche Dörfler zeigen sich von dieser Version zumeist noch unbeeindruckt, aber sie spielt auf der akademischen Ebene und in der externen Repräsentation der Dagara eine wachsende Rolle. Auch die Arbeitsmigration in den Süden des Landes ist eine nicht zu unterschätzende Größe, denn hier werden Arbeitern aus derselben ethnischen Gruppe sogenannte tribal headmen zugewiesen, zum Teil auch für neu geschaffene Obereinheiten wie z. B. ▶▸ NTfos – das sind alle Bewohner des Nordwestens, also des „Northern Territory” –, zum Teil aber auch für feinere ethnische Unterteilungen auf mehreren Hierarchieebenen. Da die Migranten häufig nach Hause reisen, gewinnen diese Unterteilungen auch im Nordwesten selbst an Bedeutung. Insgesamt ergibt sich so ein Bild, an dem eine Vielzahl von Akteuren mitgewirkt hat, Kolonialbeamte und Ethnologen genauso wie einheimische politische Führer und Intellektuelle. Die mangelnde räumliche Deckung zwischen ethnischen Gruppen, kulturellen Merkmalen und Territorien tut dem Fortbestand der ethnischen Identifikation als solcher aber keinen Abbruch. Ähnlich gelagerte Fälle, in denen ebenfalls vermeintlich stabile ethnische Gruppen die Produkte sehr dynamischer sozialer Prozesse sind, kennt die Ethnologie mittlerweile zu Dutzenden. Nationalismus Dieses dynamische Moment gilt uneingeschränkt auch für das Phänomen des Nationalismus. Nationen sind eine Spezialform von ethnischen Gruppen, nämlich solche, die sich über den Bezug auf ein Territorium konstituieren, auf das sie exklusiven politischen Anspruch erheben, üblicherweise in Form eines unabhängigen Staates oder einer ihm – z. B. durch weitreichende Autonomierechte wie im schottischen oder katalanischen Fall – möglichst nahekommenden Weise. Die Nation als politisches Konzept ist jünger, als man denken sollte, und geht nicht weiter als bis ins 18. Jh. zurück. Trotzdem hat sie enormen Erfolg gehabt, und im 18. und 19. Jh. wurde der Nationalstaat nicht nur in Europa zur unumstrittenen Norm, sondern in der Folge auch weltweit. Bedingt durch Migration und die häufig willkürlichen kolonialen Grenzziehungen besteht die erwünschte Kongruenz von Nation und Staat tatsächlich in vielen Fällen aber nicht, und so sind Nation und Staat heute „at each’s throat” (Appadurai 1990: 304), wie wir ja schon VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 154 bei Appadurai gehört haben. Ethnien mit Nationenanspruch bemühen sich um ein Staatsgebiet, und gleichzeitig bemühen sich Staaten darum, den sie bewohnenden Ethnien das Gefühl zu vermitteln, daß sie alle zu einer einzigen Nation gehören und keinen Grund zu separatistischen Sehnsüchten haben. Diese Dynamik ist für die Weltpolitik der letzten beiden Jahrhunderte sicherlich eine der folgenreichsten gewesen. Und gerade in den letzten zwanzig Jahren haben die auf den Zusammenbruch der Sowjetunion und Jugoslawiens folgenden neuen Staatsgründungen, aber auch die Wiedervereinigungen Deutschland und Jemens eindrücklich gezeigt, welche Kraft das Konstrukt von der Nation entwickeln kann. Vorgestellte Gemeinschaften der Gleichzeitigkeit Die Ethnologie beschäftigt sich erst seit den 1980er Jahren mit dem Nationalismus, allerdings mittlerweile recht intensiv. Und kein zweiter Text war dabei so einflußreich wie der eines Nichtethnologen, nämlich des Politologen und Indonesien-Spezialisten Benedict Anderson, mittlerweile emeritierter Professor an der Cornell University. ▶▸Sein 1983 erschienenes Buch Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism (Anderson 1983, 1988 [1983]) hat eine ganze Perspektive geprägt und nebenbei auch einen sehr populären Begriff, nämlich den der vorgestellten Gemeinschaft: Anderson definiert Nation wie folgt: ▶▸„Sie ist eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän. Vorgestellt ist sie deswegen, weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert” (Anderson 1988 [1983]: 15). Begrenzt ist die Nation deshalb, weil keine Nation sich mit der gesamten Menschheit gleichsetzt. Dies ist anders als etwa bei den Anhängern mancher Religionen, die davon träumen, daß eines Tages alle Menschen zu ihrem Glauben konvertiert sein werden. Und eine Gemeinschaft ist sie deshalb, „weil sie, unabhängig von realer Ungleichheit und Ausbeutung, als ‚kameradschaftlicher’ Verbund von Gleichen verstanden wird” (Anderson 1988 [1983]: 17). Buchdruck, Landessprachen und Synchronität Anderson führt das Aufkommen dieser vorgestellten Gemeinschaften in Europa auf ein Zusammenspiel einer Reihe von miteinander verbundenen Kräften zurück, nämlich dem Niedergang des Lateins bei gleichzeitigem Aufstieg der Landessprachen, dem Buchdruck und einer neuen Art und Weise, Zeit und Gleichzeitigkeit zu imaginieren. Vor dem Aufkommen der Nation im 18. Jh. hatten religiöse Gemeinschaften und dynastische Reiche größeres Gewicht. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 155 Religiöse Gemeinschaften wie die des Islam oder des Christentum wurden durch eine heilige Sprache zusammengehalten und erhoben einen universalen Wahrheitsanspruch. Und in dynastischen Reichen war es der Bezug auf einen von Gott legitimierten Herrscher, der das einigende Bindeglied lieferte, während ein auf horizontalen Beziehungen der Untertanen miteinander beruhendes Zusammengehörigkeitsgefühl nebensächlich war. Ethnische Bindungen hatten in beiden Fällen nur nachrangige Bedeutung. Doch die religiöse Abstützung sowohl der Christenheit als auch der christlichen Kaiser und Könige bekam Risse, als immer mehr außereuropäische Religionen bekannt wurden und so das Christentum immer stärker als bloß eine Religion unter vielen relativierten. Und einen weiteren Einfluß hatte der Buchdruck. Bücher waren laut Anderson „gewissermaßen das erste auf moderne Weise massenproduzierte Industriegut” (Anderson 1988 [1983]: 40): Schon zwischen Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks 1560 und 1600 wurden 20 Millionen und im folgenden Jahrhundert 150 bis 200 Millionen Bücher gedruckt. Dies geschah laut Anderson unter kapitalistischen, von einer Profitlogik gelenkten Bedingungen, so daß nach der Deckung des Lesebedarfs der kleinen, lateinkundigen Elite ein neuer Markt erforderlich wurde. Und diesen fanden die Verleger in den jeweiligen Landessprachen, die ein weit größerer Kreis von potentiellen Lesern verstand. Daß auch die protestantische Reformation Wert auf den Gebrauch der Landessprachen legte, um ein tatsächliches Verständnis der Bibelinhalte durch die Gläubigen zu garantieren, kam als weiterer Grund hinzu. Das Lateinische verlor damit an Bedeutung, die Landessprachen erlebten eine Aufwertung und avancierten schließlich auch zu Verwaltungssprachen. Staatsgebiete wurden so allmählich auch zu Sprachgebieten, was es in der Zeit der dynastischen Reiche nicht gegeben hatte. Die Ausbreitung einer Schriftsprache führte dann ihrerseits zu einer Verlangsamung des sprachlichen Wandel, anfangs eher ungesteuert, später auch als Ergebnis einer bewußten vereinheitlichenden Sprachpolitik. Der Buchdruck förderte aber laut Anderson nicht nur die Landessprachen und damit die Herausbildung von unterscheidbaren Sprachterritorien, sondern auch eine andere Zeitvorstellung, nämlich die von einer homogenen, inhaltlich neutralen Zeit, die gleichmäßig und in einer mit Uhr und Kalender bestimmbaren Weise von der Vergangenheit in die Zukunft voranschreitet, ohne das ein festgelegtes Endziel vorliegt. Im Mittelalter war das Zeitverständnis laut Anderson ein anderes: Die wirklich wichtigen Dinge, nämlich die biblischen Ereignisse, waren der Zeit praktisch enthoben und ewig wahr. Daher war es unproblematisch, z. B. bei Bilddarstellungen der alt- und neutestamentarischen Gestalten die aktuelle Kleidermode zu verwenden, und im Gegenteil hätten historisch korrekte Darstellungen die Ereignisse historisiert und damit VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 156 relativiert. Doch als der christliche Einfluß nachließ und der Buchdruck aufkam, erfolgte laut Anderson ein Übergang zu heutigen Zeitvorstellungen. Die im 18. Jh. aufblühenden Romane schilderten eine Vielzahl von Ereignissen, die parallel stattfanden, und die Zeitung als, wie Anderson sagt, eine extreme Form des Buchs – ein „Eintagesbestseller” – berichtet ebenfalls nicht nur zeitgleich stattfindende Ereignisse, sondern wird auch von einer großen Zahl von Menschen gleichzeitig gelesen. Dies alles machte Gleichzeitigkeit leichter vorstellbar, und es förderte die Fähigkeit, sich als in einer Schicksalsgemeinschaft mit den eigenen Landsleuten verbunden zu sehen, auch denjenigen, die einem selbst nicht persönlich bekannt waren. Die Ausbreitung des Nationalismus Der erste Kontinent, auf dem sich der Nationalismus politisch durchsetzte, war interessanterweise der amerikanische. Dort erkämpften im späten 18. und frühen 19. Jh. die USA und die lateinamerikanischen Länder ihre Unabhängigkeit. Im Fall Lateinamerikas entstand eine große Zahl solcher Staaten. Dies ist vor allem im Fall der spanischen Kolonien erklärungsbedürftig, denn die staatstragende Oberschicht sprach dieselbe Sprache wie im kolonialen Mutterland und wie in den anderen neuen Staaten. Trotzdem spalteten sich Kolumbien, Ecuador, Peru, Bolivien usw. auf und gingen sogar so weit, auch denjenigen einen Platz in der jeweiligen nationalen Gemeinschaft einzuräumen, die als Indigene des Spanischen gar nicht mächtig waren. Warum also entstand kein einzelner Nationalstaat, der das gesamte spanische Kolonialgebiet umfaßte? Die Antwort liegt für Anderson darin, daß die neuen Staaten in den vorangegangenen Jahrhunderten alle bereits Verwaltungseinheiten gewesen waren, durchaus mit historisch zufälligen Umrissen, die sich aber im Laufe der Zeit verfestigt hatten. Nicht nur waren Kommunikation und Wirtschaftsverkehr über die Verwaltungsgrenzen hinweg oft schwierig, auch die Verwaltungsbeamten wurden bei ihrem Aufstieg durch die Hierachie von einem Ort zum anderen, aber immer innerhalb derselben Grenzen versetzt, wobei sie sich begegneten und ein auf das jeweilige Territorium bezogenenes Gemeinschaftsgefühl entwickelten. Der Aufstieg in die höheren Verwaltungsebenen des kolonialen Mutterlands blieb ihnen jedoch versperrt. Dies beförderte bei zum einen die nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen und zum anderen die Tendenz, die Umrisse der bisherigen Territorien zu erhalten, als genau diese Schicht die Führung in den neuen Staaten übernahm. Die erst etwas später siegreichen europäischen Nationalismen hatten jeweils ihre eigenen Schriftsprachen und mit dem Frankreich der Revolution von 1789 auch ein Vorbild, auf das VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 157 bewußt hingearbeitet werden konnte. Für ihre geistige Unterfütterung war vor allem die Ausbildung der vergleichenden Sprachwissenschaft und der vergleichenden Geschichtswissenschaft ab Ende des 18. Jhs. wesentlich. Für Lexikographen, Grammatiker, Philologen und Literaten – denken Sie etwa an die Gebrüder Grimm – war die damalige Epoche ein goldenes Zeitalter, wie Anderson sagt. Die Verbreitung der Landessprachen setzte den Gedanken durch, daß alle Sprachen inklusive des Lateins gleichrangig sind und daß es keine privilegierte Schicht von Sprechern (wie eben im Mittelalter die Lateinkundigen) geben kann. Anderson unterscheidet einen Volksnationalismus mit solchen egalitären Zügen und einen „offiziellen” Nationalismus. Der letztere war die Antwort der dynastischen Herrscher von Vielvölkerstaaten auf die nationalistische Herausforderung, und gewöhnlich bestand er darin, daß eine für alle verbindliche Staatssprache von oben herab festgelegt wurde. Dieser offizielle Nationalismus begann sich bereits im 19. Jh. nach außerhalb Europas auszubreiten, wo er z. B. in Japan und Thailand übernommen wurde. Der Erste Weltkrieg bedeutete dann das Ende des Zeitalters der Herrscherdynastien, und durch die Gründung des Völkerbunds als Vorläufer der Vereinten Nationen wurde der Nationalstaat nun zur unumstrittenen Norm. Das Konzept der Nation breitete sich dann mit der Dekolonisierung vollends aus. Oft geschah dies in einer Mischung aus Volks- und offiziellem Nationalismus mit einer einheitlich festgelegten Nationalsprache, die manchmal eigens für diesen Zweck adaptiert wurde, wie etwa Bahasa Indonesia, ein Dialekt des Malaiischen, der indonesische Staatssprache wurde. Auch in den neuen Nationen regierte eine zweisprachige Elite, die in der Kolonialzeit – genauso wie ein Jahrhundert zuvor auch schon die lateinamerikanischen Beamten – die Erfahrung gemacht hatte, daß die eigenen Aufstiege nie bis die Spitzenposition im Mutterland führten. Und diese Elite hatte Modelle für den Nationalismus parat, die in den kolonialen Klassenzimmern vermittelt worden waren. Dieser Nationalismus bezog sich zwar auf das koloniale Mutterland, doch als Denkfigur einmal angeeignet, konnte er mit neuen Inhalten gefüllt werden, als die eigene koloniale Verwaltungseinheit ihre Unabhängigkeit erlangt hatte. Andere Nationalismustheorien Andersons hier in aller Kürze geschilderter Ansatz ist unter Ethnologen vor allem deshalb so beliebt, weil er sich damit beschäftigt, wie sich Individuen auf ihre Nation einschwören lassen. Er läßt sich außerdem weiterspinnen; moderne Medien wie das Fernsehen bieten zur Vorstellung einer sich gleichzeitig durch die Geschichte bewegenden nationalen Gemeinschaft ganz andere Möglichkeiten als die Druckmedien. Anderson sagt heute selbst, daß es vor allem der „longdistance nationalism” der elektronischen Medien und des Internets ist, der gegenüber der der VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 Lage zur Entstehungszeit seines Buch zu ergänzen 158 wäre (http://www.culcom.uio.no/aktivitet/anderson-kapittel-eng.html). Das Konzept der vorgestellten Gemeinschaften findet man in der Literatur sehr häufig, und auch Appadurais Überlegungen von der gesteigerten, von den mediascapes beflügelten Rolle der Imagination in der globalisierten Welt haben hier eine Wurzel. Andere Theoretiker des Nationalismus stellen strukturelle Faktoren stärker in den Vordergrund und gehen weniger von den Bedürfnissen des Individuums, sondern von wirtschaftlichen und sozialen Funktionen aus. ▶▸So hat z. B. Ernest Gellner, britischer Sozialphilosoph und Ethnologe, in seinem im gleichen Jahr wie Imagined Communities erschienenen und ebenfalls einflußreichen Buch Nations and Nationalism (Gellner 1983) die Industrialisierung zur Mutter aller nationalen Dinge erklärt. Die in den Fabriken tätigen Arbeiter waren zum einen häufig Migranten vom Lande und somit aus ihren gewohnten sozialen Zusammenhängen herausgerissen; Verwandtschaft, Feudalbeziehungen oder Religion konnten ihre soziale Integration daher nicht mehr leisten. So war es eine größere Einheit, die der Nation, die sich als neues Ordnungsprinzip anbot. Zum anderen benötigten die Fabriken Arbeiter mit einheitlichen Fertigkeiten und einheitlichem kulturellen Hintergrund. Diese kulturelle Homogenisierung leisteten die Schulen, deren Besuch damals zur Pflicht wurde. Andere Autoren betonen daneben auch die Rolle der Armeen, die sowohl ihrerseits die kulturelle Homogenisierung vorantrieben als auch auf diesbezügliche Vorleistungen der Schulen aufbauten. Nationen erscheinen uns heute in Westeuropa wie das Selbstverständlichste von der Welt. Deutschland wird von Deutschen bewohnt, Frankreich von Franzosen, Italien von Italienern usw., und höchstens die Immigranten der letzten Jahrzehnte verkomplizieren das Bild. Darüber gerät jedoch in Vergessenheit, wie rezent die kulturelle Homogenität der Mehrheit ist, noch 1863 sprach z. B. etwa ein Viertel der Franzosen kein Französisch (Segal und Handler 1996: 846). Es bedurfte hier wie auch in anderen Staaten gewaltiger Anstrengungen, die Grenzen des eigenen Staates auch als die Grenzen der Nation zu etablieren und die dadurch Erfaßten davon zu überzeugen, daß sie tatsächlich Kultur und Schicksal miteinander teilten. ▶▸In einem Artikel betont der schwedische Volkskundler Orvar Löfgren, daß Nationen nicht einfach nur vorgestellt sind; wichtig ist vielmehr – und hier finden die Einsichten Andersons und der Barth’schen Ethnizitätstheorie zusammen –, daß sie im Kontrast mit anderen Nationen imaginiert werden (Löfgren 1989). Diese Imagination beruht laut Löfgren auf einer ▶▸ „international cultural grammar”, d. h. einem weltweit einheitlichen Satz von Dingen und Kategorien, die zu einer Nation, die etwas auf sich hält, einfach dazugehören. Dazu zählen die Nationalflagge, die Nationalhymne, Nationalfeiertage, Nationallandschaften, die dann eventuell VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 159 zu Nationalparks erklärt werden, eine nationale Geschichte und Literatur, eine nationale Kunst und Musik, eine nationale Volkskultur – die ersten Freilichtmuseen entstanden unter nationalistischen Vorzeichen –, eine Nationalküche, ein Nationalsport usw. Alle Nationen müssen diese Standardmerkmale mit ihrer jeweils eigenen Variante ausfüllen. Es ist also ein ▶▸ „national lexicon”, mit dem die „international cultural grammar” überhaupt erst zur Sprache wird, und das Paradox ist hierbei, das eine universale kulturelle Form – die der Nation – nur dann funktioniert, wenn diese Füllungen einmalig und unverwechselbar sind. Nationen müssen also nach außen hin Unterschiedlichkeit demonstrieren, um überzeugend zu sein. Im Inneren müssen sie dagegen Gleichheit suggerieren, was bedeutet, daß das ▶▸„dialect vocabulary” der internen Diversität nicht zu sehr in den Vordergrund treten darf. Ich sagte bereits, daß die Ethnologie das Thema Nationalismus hauptsächlich seit den 1980er Jahren entdeckt hat. Interessant ist dabei, daß sich die bekannten, immer wieder zitierten Pionierstudien (Handler 1988, Heiberg 1989, Herzfeld 1982, Kapferer 1988) überwiegend auf westliche Gesellschaften beziehen und mit einem stark historischen Fokus arbeiten. Feldforschungen zum Nationalismus in der außereuropäischen Gegenwart sind dagegen relativ selten, zumindest wenn man nur solche zählt, die sich ausschließlich auf das Thema konzentrieren. Das mag damit zu tun haben, daß die Imagination einer Gemeinschaft kein regelmäßig in der Öffentlichkeit stattfindender Vorgang ist, der sich problemlos beobachten läßt. Stattdessen taucht die Nation als Größe sehr viel häufiger in ethnologischen Forschungen auf, die sich eigentlich auf andere Themen beziehen, etwa in den in der letzten Sitzung vorgestellten Studien zum Fernsehen in Indien, Ägypten oder China. Sie ist hier gewissermaßen offstage präsent, indem sie sich weniger autonom äußert als vielmehr durch alle möglichen Alltagsdinge, die sie durchdringt. Weit häufiger als Studien zu den Nationalismen der Mehrheiten sind außerdem solche zu all jenen Kräften, die sich ihnen gegenüber in irgendeiner Form widerständig zeigen, deren Dasein aber trotzdem durch nationale Ausschließlichkeitsansprüche stark bestimmt ist (gewissermaßen die „Opfer” des Nationalismus). Dazu gehören ethnische Minderheiten und indigene Gruppen, Migranten mit unklaren Aufenthaltsrechten und Identitäten und all diejenigen, die sich durch den Bezug auf mehr als einen Staat transnational definieren. Ethnisch-nationale Traditionspolitik Für die Konstituierung von Ethnien und Nationen ist häufig eine geschichtliche Perspektive wichtig. Die vorgestellte Gemeinschaft muß Bestand haben, und je weiter sie in die Vergangenheit zurückreicht, desto größer wird ihre Plausibilität und Legitimität und desto VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 160 naheliegender erscheint eine ähnliche Stabilität über die Zeiten auch für die Zukunft. Historische Rechtfertigungen aller Art spielen daher für ethnische und nationale Bewegungen eine große Rolle. Auch hiermit beschäftigen sich Ethnologen, und auch hier ist es wieder ein außerethnologischer Beitrag, der die Diskussion besonders stark geprägt hat, nämlich das Konzept von der „Erfindung” von Traditionen. Die Erfindung von Traditionen ▶▸The Invention of Tradition heißt der namensgebende Sammelband der britischen Historiker Eric Hobsbawm und Terence Ranger (Hobsbawm und Ranger 1983), wie die Bücher Andersons und Gellners im Jahr 1983 erschienen, das damit so eine Art Zeitenwende der Nationalismusforschung ist. Hobsbawm war die treibende Kraft und verfaßte auch die Einleitung (Hobsbawm 1983), die das Konzept vorstellt. Darin definiert er Tradition als repetitives Verhalten bevorzugt symbolischer oder ritueller Natur, das die Kontinuität mit der Vergangenheit – vorzugsweise einer angemessenen historischen Vergangenheit – impliziert. Im Fall erfundener Traditionen ist diese Kontinuität fiktiv, und Tradition ist ganz allgemein zu unterscheiden von ▶▸ „custom” (Brauch[tum], Konvention), denn dieses hat vorrangig praktische und nicht symbolische Funktionen und läßt einen langsamen Wandel durchaus zu. So ist beispielsweise der Berufsalltag britischer Richter von „custom” geprägt, also einer Vielzahl von nutzenorientierten Konventionen; „tradition” jedoch sind ihre Gewänder und Perücken, und die letzteren zeigen, daß es häufig gerade der Verlust ihrer Alltagsfunktion ist, der die Dinge zu Traditionen werden läßt. Erfundene Traditionen sind laut Hobsbawm möglicherweise ein universales Phänomen, aber haben gerade dann Konjunktur, wenn rascher gesellschaftlicher Wandel herrscht. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Geschichte als ▶▸ „legitimator of action and cement of group cohesion” (Hobsbawm 1983: 12) zu nutzen. Sie sind also weniger von der tatsächlichen Vergangenheit bestimmt als von gegenwärtigen sozialen und politischen Interessen, häufig dem von sozialen Kollektiven aller Art, sich abzugrenzen und selbst zu erhöhen. Für die europäischen Nationalismen der letzten 250 Jahre gilt dies in besonderem Maße, und insofern sind erfundene Traditionen eine durch und durch moderne Erscheinung und keineswegs Relikte einer vergangenen Zeit. ▶▸Das bekannteste Fallbeispiel des Sammelbands sind der schottische Kilt und seine die Clanzugehörigkeit anzeigenden Karomuster, die wie kaum etwas anderes das Schottentum und die Highland-Traditionen symbolisieren (Trevor-Roper 1983). Trotz seines vermeintlich hohen Alters wurde der Schottenrock erst Anfang des 18. Jahrhundert entwickelt, überdies von einem VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 161 Engländer. In einigen schottischen Regimentern der britischen Armee vor dem Vergessen gerettet, erkor ihn dann ab etwa 1780 eine nationalistische schottischen Oberschicht zum Symbol ihres Unabhängigkeitsstrebens. Wie nicht selten in der Geschichte des Nationalismus waren es hier intellektuelle Städter, die die vermeintlich zeitlosen Traditionen des Landes ausbeuteten. Von einer Verbindung zwischen Karomustern und Clans ist vor 1822 nirgendwo die Rede, und sie wurde ganz wesentlich durch die historischen Fälschungen eines hochstaplerischen Brüderpaars popularisiert. Dies ändert jedoch nichts an der heutigen Symbolfunktion des Kilts und uralten, zeitlosen Aura, die ihn für die meisten seiner Träger und Bewunderer umgibt. Die ethnologische Rezeption dieses Ansatzes ist oft mit postmodern-dekonstruktionistischen Ideen von der sozialen Bedingtheit aller (auch der wissenschaftlichen) Diskurse verbunden worden. Für ▶▸Handler und Linnekin etwa ist Tradition ein bloßes Modell der Vergangenheit, zwar mit Bezug auf diese, aber einer „ongoing reconstruction” (1984: 276) unterworfen. Alle als traditionell eingeordneten Dinge und Praktiken sind gleichermaßen gegenwärtigen Interessen untergeordnet, so daß auch die Unterscheidung zwischen „echten” und „erfundenen” Traditionen hinfällig wird. In sowohl der Hobsbawm’schen als auch der postmodernen Spielart erfreut sich der „invention”-Ansatz in der heutigen Ethnologie und auch ganz allgemein in den Sozialwissenschaften größter Beliebtheit; für manche Gesellschaften wie etwa Japan (z. B. Vlastos 1998) oder die Rolle von ▶▸kastom (das Pidgin-Wort für Tradition) in Melanesien (z. B. Keesing und Tonkinson 1983) lassen sich Dutzende von Titeln nennen. Kaum eine Analyse der sozialen Dimension von Traditionen oder Kulturerbe verzichtet darauf, den Bezug auf die Vergangenheit hauptsächlich als Phänomen der gegenwärtigen sozialen Solidarisierung und Abgrenzung zu interpretieren. Und fast immer sind es Nationen, wie auch in den Fallbeispielen des Hobsbawm und Ranger-Bandes, oder Ethnien, die den Bezugspunkt bilden. Erfindung und ihre Grenzen bei den Maori Eine bekannte Analyse dieses Genres liefert der Ethnologe ▶▸Alan Hanson von der University of Kansas (Hanson 1989). Sein Fallbeispiel bezieht sich auf die Maori. Dies ist ein wahrscheinlich zwischen Ethnie und Nation anzusiedelnder Fall. Denn die heutige Selbstbehauptungsbewegung der Maori beansprucht für sie als die ursprünglichen Einwohner ganz Neuseelands einen angemessenen Platz im gesamten Staatsterritorium, wenn auch wohl kaum einen exklusiven Anspruch, der den der 85 Prozent ▶▸Pakeha – also der Nicht-Maori – auf das Land komplett bestreiten würde. Die Maori haben in den 1970er und 80er Jahren ein bedeutendes ethnisches Revival erlebt und ihre eigene Position im Staat gegen die weiße Diskriminierung erheblich VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 162 verbessern können, weitaus mehr auch als die Aborigines in Australien, die allerdings einen geringeren Bevölkerungsanteil stellen. Hanson berichtet, daß in der ▶▸Maoritanga-Bewegung, also der „Maori Power”-Bewegung, zwei Vorstellungen zur traditionellen Kultur eine besonders große Rolle spielt. Die eine ist die von der Hochgöttin ▶▸Io, die in der einheimischen Religion einen herausragenden, den der anderen Götter überstrahlenden Status einnahm, die andere ist die von der „Großen Flotte”, d. h. der gemeinsamen Einwanderung der Ahnen der heutigen Maori aus Polynesien, die um 1300 stattfand. Hanson zeigt, daß beide Vorstellungen der Grundlage in Form historischer und archäologischer Fakten entbehren. Die Idee von einer Hochgöttin, die alle anderen Götter überragt, entstammt dem Wunschdenken spekulativer diffusionistischer Theoretiker. In einem durchaus nicht zu verurteilenden Bemühen um ein gedeihliches Miteinander zwischen Europäern und Maori waren diese daran interessiert, eine kulturelle Verwandtschaft zwischen beiden Gruppen nachzuweisen, und dafür machte es sich gut, in der Maori-Religion monotheistische Tendenzen feststellen zu können. Die „Große Flotte” steht auf ähnlich wackligen Füßen. Ihre Datierung auf etwa 1300 ist nicht mehr als das Ergebnis einer Schätzung, bei der die Zahl der Generationen in den am weitesten zurückreichenden Maori-Genealogien einfach mit einem Standardfaktor multipliziert wurde. Archäologisch ist dieses Datum nicht bestätigt, und der Befund weist hier stattdessen auf eine Vielzahl von Migrationsschüben über einen längeren, schon beträchtlich vor 1300 beginnenden Zeitraum hin. Hanson geht es ausdrücklich nicht um eine Dekonstruktion populärer Mythen. Vielmehr wirbt er abschließend mit Bezug auf Theoretiker wie Michel Foucault dafür, alle Diskurse über die Vergangenheit als gleichrangig zu behandeln. Denn „erfunden”, d. h. von spezifischen historischen und sozialen Bedingungen geprägt, sind sie alle, ob wissenschaftlicher Archäologendiskurs oder Maori-Bewegungsdiskurs, und keiner von beiden kann universale Gültigkeit beanspruchen. Ein bißchen schief wirkt dieses Ende allerdings schon, denn man fragt sich, warum er sich dann die Mühe macht, die Maori-Tradition als erfunden zu demaskieren. Das Echo auf Hansons Artikel war denn auch zwiespältig. Nachrichten über den Artikel gingen mit Schlagzeilen wie ▶▸„US Expert Says Maori Culture Invented” (Linnekin 1991: 446) durch die neuseeländische Presse und erzeugten vor allem bei den Maori große Verärgerung. Hanson, der als Ethnologe eigentlich Sympathien für die Maori-Bewegung hegt, hat die Verwendung des Wortes „invention” denn auch später ausdrücklich bedauert (Hanson 1991: 450). Der Vorfall weist zum einen auf die Kehrseiten des postmodernen Erkenntnisrelativismus hin. Es ist nicht leicht, die Gleichrangigkeit aller Diskurse zu predigen, wenn man gleichzeitig diese Diskurse als Tatsachenbehauptungen behandelt und mit dem Verweis auf archäologische VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 163 Fakten widerlegt. Es ist allerdings in der heutigen globalisierten Welt auch immer schwieriger, den ethnologischen Diskurs einzuhegen und zu verhindern, daß er zu den Informanten bzw. in diesem Fall auch den journalistischen Gegnern der Informanten vordringt und von diesen für eigene Zwecke verwendet wird. Hier ergeben sich für die ethnologische Forschung unübersehbare Dilemmata, für die es keine Patentlösung gibt. Kritik an der „Erfindung” Praktische Folgen dieser Art haben sich allerdings auf die Beliebtheit des „invention”-Ansatzes in der Ethnologie kaum ausgewirkt, und tatsächlich sind mehr oder weniger deutlich erfundene ethnische und nationale Traditionen heute allgegenwärtig. Die typische sozialwissenschaftliche Analyse weist eben diese Erfindung nach, was zumeist den Rückgriff auf historische Quellen erfordert, und versucht dann die sozialen Kräfte und Motive aufzudecken, die hinter der Erfindung stehen. Es gibt mittlerweile allerdings auch eine Reihe von ethnologischen Kritikern, die finden, daß das nicht reicht (z. B. Briggs 1996, Tilley 1997). ▶▸Besonders scharf fällt hier das Urteil des bekannten amerikanischen Ethnologen Marshall Sahlins aus (1999). Für ihn ist die stereotype Anwendung des „invention of tradition”-Ansatzes schlichtweg funktionalistisch, wenn sie sich mit der bloßen Feststellung begnügt, daß Erfindung vorliegt. Denn dies läßt sich bei einer genügend langen zeitlichen Perspektive für so gut wie alles sagen. Zudem vernachlässigt es den Inhalt der Traditionen, der nur mit ihren Verwendungszwecken nicht zu erklären ist. Als Fallbeispiel bringt er das Sumo-Ringen in Japan, das sich ja mit einem in vieler Hinsicht traditionellen Gepräge umgibt. Der Schiedsrichter trägt ein shintoistisches Priestergewand, über dem Erdring thront ein shintoistisches Schreindach, Salz wird zu rituellen Reinigungszwecken geworfen usw. Und was Sahlins nicht erwähnt: Auch die Übergabe des Siegerpokals beim Turnier in Osaka durch die dortige Präfekturgouverneurin ist von der Sumo-Vereinigung immer wieder mit dem Argument blockiert worden, daß der Strohring heilig ist und daher von den aus shintoistischer Sicht unreinen Frauen nicht betreten werden darf. Das wirkt in einem mit allen Wassern des Kommerzes und der Korruption gewaschenen Profisport ziemlich vorgeschoben, und tatsächlich, so wiederum Sahlins, ist viel von den heutigen Sumo-Sitten erst seit dem späten 19. Jh. entstanden. Die verwendeten Versatzstücke sind aber älteren Ursprungs, und Sahlins gibt zu bedenken, daß es gerade die Vitalität von Kulturelementen ist, die sie für kreative Neukombinationen anbietet, also gewissermaßen ihre ▶▸„inventiveness”, wie er es in Anspielung auf „invention” formuliert. „… traditions”, so sagt er ▶▸ „are invented in the specific terms of the people who construct them” (1999: 409), und diese „specific terms” sind mit der Feststellung, VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 164 daß Erfindung vorliegt, noch keineswegs erschöpfend ergründet. Mir selbst ging es in meiner eigenen Feldforschung in Kyoto ähnlich. Bei der gegenwärtigen Renaissance der traditionellen Stadthäuser und bei der Durchführung eines berühmten Traditionsfestes habe ich viele der Vorhersagen des „invention”-Ansatzes nicht bestätigt gefunden. Kollektive Identität spielt hier nur am Rande eine Rolle, und die Traditionen sind hier eher eine auf kreative Weise zu gebrauchende und weiterzuentwickelnde Ressource als Objekt ehrfurchtsvoller Verehrung. Zweifellos ist aber richtig, daß die Sicht der Vergangenheit in einer Gesellschaft sozial konstruiert wird und daß für die Art und Weise dieser Konstruktion der tatsächliche Verlauf der Geschichte nur ein Faktor unter vielen ist. Die „invention of tradition”Perspektive bleibt also wichtig für die ethnologische Forschung zur kulturellen Unterfütterung von Ethnizität und Nationalismus, vor allem dann, wenn man nicht der Erwartung anhängt, daß sie immer und überall zutrifft. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 165 Teil IX: Migration, Diaspora und Transnationalismus Internationale Migration Im letzten Teil habe ich Ihnen geschildert, wie mit Ethnizität und Nationalismus zwei auf Abgrenzung beruhende soziale Phänomene im Zeitalter der Globalisierung ihre Bedeutung behalten. Für die Vorstellung einer schicksalsverbundenen Gemeinschaft bestehen mit den modernen Massenmedien bessere Bedingungen denn je, und ebendiese Massenmedien verbessern auch die Chancen, erfolgreiche Vorbilder in Form von anderen, ihre Ziele erreichenden ethnischen und nationalen Bewegungen zu finden. Die Prominenz ethnischer und nationaler Bewegungen ist damit kein Widerspruch zur vermeintlich alle Grenzen einreißenden Globalisierung, sondern sie muß vielmehr als von ihr gefördert und sogar mitverursacht angesehen werden. Den ethnischen und nationalen Grenzen stehen aber überall Herausforderungen in Form dessen gegenüber, was Appadurai ethnoscapes nennt. Die Menschen halten sich nicht an die Grenzen, sondern überschreiten sie in ständig wachsender Zahl. Zum Teil sind diese Grenzüberschreitungen zeitweiliger Art, etwa im Tourismus, bei Geschäftsreisen oder Arbeitseinsätzen im Ausland. Zum Teil sind sie aber auch dauerhafter oder sogar endgültig, und dann sprechen wir – wenn Landesgrenzen im Spiel sind – von internationaler Migration. Diese ist zwar nicht die häufigste Form der Migration, denn Binnenmigranten und darunter besonders Land-Stadt-Migranten sind in den letzten beiden Jahrhunderten weltweit um ein Vielfaches zahlreicher gewesen. Aber die internationale Migration hat im Verhältnis zu ihrem Umfang die tiefgreifendsten kulturellen Folgen. In einer weltweiten Langzeitperspektive gesehen ist der Mensch Migrant oder doch zumindest Nomade, denn wir alle sind ja afrikanischer Abstammung, und dauerhafte Seßhaftigkeit wurde erst mit dem Ackerbau möglich bzw. nötig. Migrationen Einzelner oder ganzer Gruppen haben aber auch die darauf folgende Menschheitsgeschichte bis zum heutigen Zeitpunkt geprägt; denken Sie etwa an die Völkerwanderungen der Antike. Interkontinentale Migration setzt in größerem Umfang mit dem kolonialen Zeitalter ein, in dem Europäer freiwillig und Afrikaner unter Zwang erst nach Nord- und Südamerika, dann auch in andere Kontinente auswanderten. Im VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 166 19. Jh. waren es statt der Sklaven die indischen und chinesischen Kontraktarbeiter, die zu Millionen in alle Welt emigrierten, und die europäische Auswanderung in die USA und in andere außereuropäische Kolonien setzte sich ebenfalls in zweistelligen Millionenzahlen fort. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben sich die verschiedenen Migrationsströme noch einmal erweitert. Die beliebtesten Ziele sind Nordamerika, die jetzt nicht mehr Menschen exportierende, sondern importierende Europäische Union und Australien; daneben sind seit der Entdeckung der Erdölvorkommen die Golfstaaten vor allem für asiatische Migranten ein wichtiges Ziel. Wie kaum betont werden muß, ist internationale Migration längst nicht immer freiwillig, sondern oft von Armut und Gewalt motiviert. Sie ist auch längst nicht immer offiziell: Jeder größere westeuropäische Staat – von den USA ganz zu schweigen – beherbergt mehrere Millionen von ▶▸sans papiers, d. h. illegalen Migranten, und regelmäßig lesen wir in der Zeitung von neuen, häufig sehr riskanten und entsprechend verzweifelten Versuchen, Grenzzäune, Meerengen und die von den Botschaften und Konsulaten errichteten bürokratischen Barrieren zu überwinden, und den Bemühungen der Grenzschützer, dies zu unterbinden. ▶▸Da eine baldige Angleichung der globalen Lebensbedingungen nicht zu erwarten ist, wird sich der Migrationsdrang in naher Zukunft kaum ändern. Im Gegenteil werden die von jetzt an rasant schrumpfenden Industriestaaten wie z. B. Deutschland auf Dauer wohl kaum umhin können, die Immigration aktiv zu fördern. Etwa 120 bis 150 Millionen Menschen, also 2 bis 2,5 Prozent der Weltbevölkerung, leben heute außerhalb der Grenzen des Staates, in dem sie geboren sind (http://www.berlininstitut.org/pages/buehne/buehne_migr_muenz_internationalemigration.html). Das hört sich nicht sehr viel an, doch bedenkt man, daß auch die Lebensumstände der Kinder und Enkel häufig durch den Migrationshintergrund mitgeprägt werden, ist eine sehr viel größere Zahl betroffen. Manche Staaten definieren sich über die Immigration, andere wie etwa der deutsche tun sich bis hin zum eigenen Schaden schwer mit ihr, doch so gut wie kein Staat macht sie völlig unmöglich. Im Umgang mit den Migranten haben die Nationalstaaten lange Zeit zwei hauptsächlichen Strategien – oder besser vielleicht: zwei hauptsächlichen Fiktionen – angehangen. Zum einen ist dies die Fiktion vom Gastarbeiter, der nach geleistetem Beitrag zum Bruttosozialprodukt nach einigen Jahren wieder in sein Heimatland zurückkehrt. Die arabischen Golfstaaten etwa praktizieren dies durch Begrenzung der Aufenthaltsdauern rigoros, doch bei uns ist mittlerweile sehr deutlich geworden, daß die meisten Gastarbeiter dauerhaft bleiben. Zum anderen herrschte lange Zeit die Fiktion vom melting pot, also der vor allem in Einwanderungsgesellschaften wie den USA verbreiteten Annahme, daß die Migranten im Laufe der Zeit von selbst ihre mitgebrachten ethnischen und nationalen Loyalitäten ablegen und sich als Bürger des neuen VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 167 Nationalstaats identifizieren. Dies ist ja auch in der aktuellen Immigrationsdebatte bei uns die konservative Wunschvorstellung. Bewahrheitet hat sie sich allerdings schon in den USA nur zum Teil, wie die ethnisch segregierten Wohnviertel in vielen Städten oder die weiterhin geringe Zahl der interethnischen Heiraten zeigen. Migranten bleiben oft generationenlang als besondere Gruppen sichtbar, sei es aus eigenem Antrieb oder durch eine Sonderbehandlung seitens der Alteingesessenen. Sie und die Deterritorialisierung, die sie verkörpern, sind damit die deutlichste Herausforderung für ein ethnisch-nationales, also territorialisiertes Weltbild, in dem intern homogene und extern klar abgegrenzte Gruppen ebenso klar abgegrenzte Territorien bewohnen. Ich werde Ihnen im weiteren den ethnologischen Forschungsstand und einzelne Fallstudien zu den Themen Migration, Diaspora und Transnationalismus vorstellen. Da dies im Rahmen des Globalisierungsthemas geschieht, werde ich mich dabei hauptsächlich auf die so geschaffenen Verbindungen konzentrieren. Diese kann man beim Thema Migration auch ausklammern, etwa indem man sich allein auf die Interaktion zwischen Migranten und Aufnahmegesellschaft konzentriert und die weiterhin bestehenden Beziehungen der Migranten zur Herkunftsgesellschaft außer Acht läßt. Die große Zahl solcher Studien werde ich nicht behandeln, sondern stattdessen aufzeigen, wie Migranten als wichtige Vorreiter der Globalisierung die Welten bzw. unterschiedliche Orte der einen Welt verbinden. Die Theoretisierung ist hier noch nicht so weit fortgeschritten wie bei Nationalismus und Ethnizität, so daß ethnographische Fallstudien im Vordergrund stehen werden. Migration im Dorfleben Bangladeshs Ein ethnographisches Fallbeispiel, das die besagten Verbindungen mustergültig offenlegt, ▶▸liefert die britische Ethnologin Katy Gardner von der University of Sussex mit ihren Forschungen in Talukpur, einem Dorf in Bangladesh (Gardner 1993, 1995). (Gardner ist übrigens auch als Romanautorin erfolgreich.) Geschichte ▶▸Talukpur liegt in der Region ▶▸Sylhet im Nordosten des Landes, die eine Hochburg der Emigration ist: Von den etwa 200.000 britischen Bangladeshis kommen mehr als 95 Prozent hierher. Ein Grund dafür scheint zu sein, daß in dieser Region durch entsprechende koloniale Verfügungen die Kleinbauern jeder ihr eigenes Landstück hatten. Dies hat den Sylhetis eine besondere Arbeitsethik, ein ausgeprägtes Konkurrenzbewußtsein untereinander und eine VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 168 entschiedene Abneigung gegen die Arbeit auf fremden Land hinterlassen, womit Landarmen und -losen sowie den Aufstiegswilligen wegen der geringen Größe der Landstücke nur die Möglichkeit der Emigration blieb. Schon im 19. Jh. heuerten die ersten sylhetischen Migranten auf britischen Schiffen an, nach dem Zweiten Weltkrieg waren sie vornehmlich Industriearbeiter, und mit Nachlassen des Bedarfs verlegten sie sich ab etwa 1970 auf Restaurants und Imbisse. Noch in den 1960er und 70er Jahren galten die Migrationen als temporär. Doch immer mehr der Migranten haben, vor allem nachdem um 1970 die Bestimmungen strikter wurden und eine Entscheidung erzwangen, ihre Familien nachgeholt und sich dauerhaft in Großbritannien niedergelassen. Dort gelten sie zwar als unter den diversen Südasiaten eher arme Gruppe, doch hält Gardner dies für ein Übergangsphänomen, da sie auch die jüngste Gruppe sind und wahrscheinlich noch aufholen werden. Den Migranten aus Talukpur geht es außerdem besser als dem Durchschnitt der Migranten aus Bangladesh, und ohnehin gilt daheim jeder, der es geschafft hat, ein ▶▸Londoni, d. h. ein Migrant in Großbritannien, zu werden, als gemachter Mann. Entsprechend groß ist der Drang, ebenfalls zu migrieren. Seit den 1970ern geschieht dies vornehmlich in die Golfstaaten statt in das inzwischen verschlossene Großbritannien, zum Teil mit offizieller Arbeitserlaubnis, zum Teil aber auch illegal und dann unter der Gefahr, von betrügerischen Schleppern um seine Ersparnisse gebracht zu werden. In den 1990ern kamen dann Malaysia und Nordamerika als neue Ziele hinzu. Soziale Formen und Folgen Die Migranten stammen nicht aus den ärmsten, aber auch nicht aus den wohlhabendsten Familien Talukpurs, und vielen ist mit dem in der Fremde erarbeiteten Reichtum ein sozialer Aufstieg gelungen. Die Migration bietet praktisch die einzige Möglichkeit dafür, und entsprechend haben von 70 Haushalten nur 26 keine Migranten in ihren Reihen. Talukpur ist dementsprechend ein vergleichsweise reiches Dorf, zwar zum Zeitpunkt der Feldforschung immer noch ohne Strom und fließendes Wasser, aber mit vielen der begehrten Häuser aus Stein und mit Landpreisen, die mittlerweile beim Drei- bis Vierfachen der in der Umgebung üblichen Raten liegen und somit von der Kapitalkraft der Käufer zeugen. Migration ist weniger eine Strategie der Individuen als ganzer Haushalte, die hauptsächlich darüber entscheiden, wer wohin geht und wer daheim bleibt. Fast immer ist z. B. einer der Söhne bzw. Brüder dafür zuständig, zurückzubleiben und die Felder für die anderen, abwesenden zu bestellen. Auch die entfernteren Verwandtschaftsbeziehungen spielen eine wichtige Rolle, häufig in Form von Patronage, bei der ein reicherer, oft selbst bereits erfolgreich migrierter Mann einem VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 169 ärmeren und jüngeren Verwandten Starthilfe gibt. Die selbst nicht oder nur als nachziehende Ehepartner migrierenden Frauen stehen der Migration ambivalent gegenüber: Einerseits erzwingt sie eine Monate oder gar Jahre währende Trennung von Ehemännern und Söhnen, andererseits vergrößert sie die Autonomie der Frauen und über den Wohlstand auch allgemein die Möglichkeiten des Haushaltes. Gardner zeigt allerdings durch die Detailpräsentation mehrerer Haushalte, daß sich die sozialen Folgen kaum verallgemeinern lassen, da die Strategien der einzelnen Haushalte sehr flexibel und entsprechend unterschiedlich sind. Und eine flexibilisierende Wirkung haben sie auch auf die Sozialstruktur des Dorfes, denn dort werden die früher recht starren Statusunterschiede zwischen den einzelnen Lineages durch den der Migration entstammenden Reichtum überdeckt, und gerade die finanziell Erfolgreichen suchen immer häufiger auch Heiratsallianzen mit Partnern aus anderen Dörfern. Desh und bidesh Die Migration nimmt einen zentralen Platz im Bewußtsein der Dorfgesellschaft ein. Die kursierenden Bilder von London bzw. Großbritannien, dem Ausland (bidesh), sind außerordentlich positiv: Alles ist dort schön und sauber, jeder ist reich und glücklich, und niemand streitet sich. ▶▸„Bidesh is constructed as the source of all advancement, a life-force, which if people could gain access to it, would transform their lives” (Gardner 1995: 273). Britische Konsumgüter sind begehrt und gelten grundsätzlich als überlegen, so sehr man sich z. B. bei Stoffen darüber streiten kann, ob sie es tatsächlich sind. Soziale Probleme und familiäre Zerrüttung in der britischen Gesellschaft werden zwar durchaus wahrgenommen, doch der Reichtum bleibt das hervorstechende Merkmal, und ein Leben in Großbritannien ohne viel Berührung mit der britischen Mehrheitsgesellschaft ist ja auch durchaus möglich. Die Idealisierung des bidesh erfolgt vor allem im Kontrast mit dem desh, also dem Land, je nach Kontext das Land des eigenen Hofs, Talukpurs, Sylhets oder Bangladeshs. Diese Heimat ist von politischer Unsicherheit, Wirtschaftsproblemen und Flutkatastrophen geprägt und läßt große soziale Aufstiege nicht zu. Selbst die Reichsten wiederholen Gardner gegenüber immer wieder das Pauschalurteil – „our country is poor”. Bei aller Beschränkung durch das desh bestehen jedoch zwischen Person und desh enge und durchaus positiv gesehene Beziehungen. Durch den Konsum des Wassers, der Anbauprodukte und der Fische des desh wird man nach lokaler Vorstellung selbst ein Teil von diesem, und so sind Lebensmittel aus der Heimat die wichtigsten Mitbringsel für die Migranten. Große Anstrengungen werden außerdem unternommen, um sich im desh, und zwar bevorzugt auf dem eigenen Grundstück, bestatten zu lassen. Die im desh bestatteten Toten laden das Land mit ihrer VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 170 Kraft (▶▸sakti) auf. Dies betrifft nicht nur die eigenen Ahnen, sondern auch die muslimischen Heiligen, die sogenannten ▶▸pir, die in dieser auch als Pilgerziel bekannten Region immer schon besonders zahlreich waren. Auch die Lebenden haben Einfluß auf das desh, denn je frommer seine Bewohner sind, desto fruchtbarer wird der Boden. Moralischer Verfall raubt diesem Boden allerdings in jüngerer Zeit immer mehr von seiner Kraft, und materieller Wohlstand kann so nicht mehr wie früher über das Land des desh, sondern nur noch über das bidesh erworben werden. Die Globalisierung des lokalen Islam Die Migration wirkt sich auch in einer weiteren Hinsicht aus, nämlich auf die Religion. Die Region Sylhet ist ein altes Zentrum des Sufismus, also des mystischen Islams, der statt der Ausrichtung an den heiligen Texten den inneren Weg des Gläubigen zu Gott betont. Die bereits erwähnten pir, also die Heiligen, sind Männer mit besonderem Charisma. An sie kann man sich in Lebenskrisen wenden und ihre Fürbitte bei Gott erreichen, doch ist auch eine dauerhafte Anhängerschaft möglich, bei der der pir der persönliche spirituelle Lehrer wird. Nicht wenige pir praktizieren außerdem Meditations- und Ekstasetechniken, manche unter dem Einsatz von Drogen wie Haschisch, wenn dies allerdings auch umstritten ist. Die Gräber der pir sind beliebte Pilgerorte und geben der Region eine religiöse Topographie, die für ihre Bewohner sehr wesentlich ist. Diese ganzen volksreligiösen Ausformungen des Islam kommen jedoch immer mehr unter Druck, teils wegen der globalisierungsbedingten Ausbreitung orthodoxerer Koranschulen, teils aber auch wegen des direkten religiösen Einflusses der Migration in die Golfstaaten. Die Arbeitsbedingungen dort sind viel stärker reglementiert als früher in Großbritannien, und vielfach ist der Aufenthalt ohnehin illegal und durch die Angst vor Entdeckung und Deportation geprägt. Doch die Nähe zu den heiligen Stätten des Islam hat eine spirituelle Qualität, die Großbritannien fehlt, und Koranausgaben, arabische Gewänder und Fotos berühmter Moscheen sind bei der Heimkehr beliebte Mitbringsel. Unter dem Einfluß der Nahostmigration beginnt sich allmählich ein puristischerer Islam durchzusetzen, der sich stärker auf die heiligen Texte und auf die rituelle Ausrichtung auf Mekka und Medina statt auf lokale Heiligengräber konzentriert. Dies reformiert zum Teil auch die Position des pir, die jetzt immer häufiger durch den Typus des Schriftgelehrten statt den des charismatischen Mystikers gefüllt wird. Allerdings bestehen die mystischen Richtungen in reduzierter Form fort, und die pir als solche verlieren keineswegs an Bedeutung. Im Gegenteil werden mehr Anstrengungen als früher unternommen, pir in den eigenen Ahnenreihen zu entdecken und so an Status zu gewinnen. So erfolgt zwar einerseits ein VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 171 Anschluß an internationale Standards, andererseits ergibt sich aber durch die Parallelität mehrerer Traditionen eine Pluralisierung des Islam. Mit einem einfachen Zentrum-Peripherie-Modell ist die Situation trotz aller Begeisterung für Großbritannien nicht erfaßt, und „non-Western forms of globalization” (Gardner 1995: 275) sind stattdessen ebenfalls einflußreich. Sylhet begibt sich außerdem nicht nur in Außenabhängigkeit, auch weil die Leute weiterhin vielfach in Land investieren und es auch tatsächlich bebauen. Zwar geht die Schere zwischen Reich und Arm weiter auf, aber auch den Ärmeren geht es absolut gesehen besser, da die Reallöhne steigen und viele auch der Daheimbleibenden finanzielle Unterstützung von migrierten Verwandten erhalten. Die in anderen Migrationsstudien festgestellte Stagnation oder gar Degeneration des lokalen Lebens vermag Gardner demnach nicht zu erkennen. Die weitere Entwicklung wird ihr zufolge sicherlich das bidesh durch den Nachzug der Familienmitglieder, den Bau von Moscheen und die Entwicklung anderer ethnischreligiöser Infrastruktur für die Emgirierten immer stärker in ein neues desh transformieren. Für die Ausgestaltung des alten desh bleiben aber trotz aller Geld- und Warenflüsse von außen weiterhin die lokalen Konzepte leitend. Tiefgreifende Wirkungen der Migration sind auch für viele andere Weltgegenden belegt, wo zum Teil ebenfalls so gut wie jeder Haushalt Migranten unter seinen Mitgliedern hat. Besonders intensiv beobachtet worden ist dies in Mexiko, wo la migra ebenfalls als Königsweg zu Wohlstand und sozialem Aufstieg gilt. In Julia Paulis Feldforschungsdorf Pueblo Nuevo in Zentralmexiko (mündliche Mitteilung) z. B. gibt es ebenfalls kaum Haushalte, die keine Migranten in ihren Reihen haben, und in manchen Altersgruppen befinden sich mehr Männer und auch Frauen in den USA als im Dorf. Der mit den jenseits der Grenze zehnfach höheren Löhnen erwirtschaftete Wohlstand wird allerdings anders als in Talukpur bislang weniger in produktive Ressourcen als in Konsum- und Statusgüter investiert, allen voran moderne Häuser, die für jedermann sichtbar den eigenen Erfolg demonstrieren. Daß sich die grundsätzliche Abhängigkeitsstruktur wandeln wird, ist damit für die nahe Zukunft nicht zu erwarten. Diaspora Bislang habe ich die Verhältnisse am Heimatort behandelt, doch sind natürlich auch die am Migrationsort zu berücksichtigen. Und für diese hat in den letzten Jahren der Begriff „Diaspora” in der Ethnologie und in anderen Sozial- und Geisteswissenschaften große Verbreitung gefunden ▶▸(Kokot 2002, Tedlock 1996). Diaspora ist ein altgriechisches Wort und leitet sich von „aussäen, zerstreuen” ab (Kokot 2002: 97). Geprägt wurde es für die Situation der Juden, die VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 172 nach dem 70 n. Chr. fehlgeschlagenen Aufstand gegen die Fremdherrschaft der Römer und dem Fall des Tempels in Jerusalem in alle Welt migrierten und dort räumlich weit zerstreute Gemeinden bildeten, die aber den Kontakt miteinander durchaus hielten. Auch auf andere aus politisch-religiösen Gründen versprengte und vertriebene Gruppen wie die Armenier oder die französischen Hugenotten ist der Begriff angewandt worden, wie auch auf die schwarze Diaspora der aus ihrer Heimat verschleppten afrikanischen Sklaven und ihrer Nachfahren. Ich selbst kenne „Diaspora” zudem aus dem Religionsunterricht, und zwar als Bezeichnung für die Situation der Katholiken in den Gebieten, wo sie wie etwa in Nord- oder Ostdeutschland in der Minderheit sind. Mittlerweile hat der Begriff sich im wissenschaftlichen Diskurs aber vom religiösen Kontext gelöst und wird breiter verwendet. Barbara Tedlock definiert ihn wie folgt (Tedlock 1996: 341): ▶▸„Diasporas include those communities, migrant populations, ethnicities, or nations that, although separated from their home terrains (either forcibly or voluntarily) and scattered among other communities, imaginatively preserve and regenerate a set of distinctive cultural or ethnic identities. Members of diasporic communities often feel that they are not fully accepted by their host societies and regard their place of origin as their ideal home, to which they will someday return when conditions improve. As a result, they directly or vicariously maintain solidarity with their homeland and create a collective memory, or myth, about their historical achievements in that place.” Konstitutiv sind also erstens ein Minderheitendasein und zweitens der Bezug auf einen gemeinsamen Ursprungs- und/oder Heimatort, der entfernt vom jetzigen Aufenthaltsort liegt und an dem, so kann man Tedlock ergänzen, die Minderheit noch eine Mehrheit war. Die Juden etwa hatten zwar schon Diasporaerfahrungen in Ägypten und in Babylon hinter sich, aber im Palästina des Jahres 70 n. Chr. waren sie keine religiöse Minderheit. So breit verstanden, fällt sehr viel unter Diaspora, neben den bereits gegebenen Beispielen auch Exilanten und Flüchtlinge sowie Gastarbeiter, sans papiers und expatriates aller Art, also eigentlich so gut wie jeder, der in der Fremde lebt. Daß dies sehr unterschiedliche soziale Situationen einschließt, muß kaum betont werden. Die Minderheitensituation legt z. B. eine Position der Machtlosigkeit nah, und dies trifft auf die Migranten aus Talukpur in Großbritannien auch durchaus zu, aber nicht auf die von Robinson beschriebenen ausländischen Manager der Nickelmine in Soroako. Und genausowenig unterprivilegiert sind z. B. die Japaner in Düsseldorf, wo 7000 von ihnen mit einer entwickelten Infrastruktur aus japanischen Läden, Restaurants, Hotels, Freizeitclubs, einer eigenen Industrieund Handelskammer, einer Schule und einem buddhistischen Tempel leben. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 173 Auch die Beziehung zum Heimat- bzw. Ursprungsland fällt sehr unterschiedlich aus. In der japanischen Diasporagemeinde in Düsseldorf sind eigentlich nur die Institutionen dauerhaft; die Angestellten in den japanischen Firmenniederlassungen dagegen wechseln beständig und kehren nach drei oder fünf Jahren in die Heimat zurück. Die Tatsache, daß man in dieser Zeit aus dem Spiel der Netzwerke in der Mutterfirma ausgeklammert war, ist meistens noch das größte Wiedereingliederungsproblem. Für andere Diasporas ist der Weg in die Heimat jedoch durch Krieg, Diktaturen, ethnische Säuberungen, Wirtschaftskrisen o. ä. versperrt. Auch ist der Rückkehrwille unterschiedlich ausgeprägt. Mitunter ist das Ursprungsland nur noch ein rein historischer Bezugspunkt: Die Juden in der vorzionistischen Phase, also vor dem Aufkommen der Idee, in Palästina wieder einen jüdischen Staat zu gründen, liefern dafür ein Beispiel. Doch auch wo eine Rückkehr nicht mehr beabsichtigt ist, schließt dies eine emotionale Anteilnahme und Einflußnahmen aller Art nicht aus. Oft ist das Verhältnis zur Heimat äußerst ambivalent, wie James Clifford hervorhebt (1994: 305). Dem offiziellen Rückkehrwillen kann die uneingestandene Bevorzugung des Diasporalebens entgegenstehen, oder die Heimat enttäuscht die idealisierenden Erwartungen, wenn sie denn tatsächlich aufgesucht wird. Für diese Ambivalenz des Diasporadaseins werde ich Ihnen im folgenden ein ethnographisches Fallbeispiel geben. Die Diaspora der philippinischen Haushaltshilfen in Hongkong Zur 6,4 Millionen Menschen zählenden Bevölkerung der Weltstadt Hongkong gehörten in den 1990er Jahren auch 130.000 philippinische Haushaltshilfen, die größte nicht-chinesische Minderheit der Stadt. Fast alle sind Frauen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren, und drei Viertel von ihnen sind ledig. Ihre Präsenz ist dem Wirtschaftsboom in der Stadt geschuldet, denn die Industrie und die ab den 1980er Jahren in den Vordergrund drängende Dienstleistungsbranche hatten mit Arbeitskräftemangel zu kämpfen. So lag es nahe, auch die bisherigen Hausfrauen zu Angestellten zu machen, doch deren Part zuhause mußte nun anderweitig erledigt werden. Heute beschäftigen etwa 10 Prozent aller Haushalte bezahlte, mit im Haushalt wohnende Hilfen, und in den oberen Einkommensgruppen tut dies sogar die Mehrheit. Die Filipinas erhalten in einer von beiden Regierungen klar geregelten Weise über spezialisierte Vermittlungsagenturen Arbeitsvisa als „overseas contract workers” (OCW). Diese gelten immer nur für zwei Jahre, sind aber verlängerbar. Der durchschnittliche Aufenthalt liegt zwar bei unter vier Jahren, manche Frauen sind aber auch schon seit mehr als einem Jahrzehnt da. Das Gehalt ist festgelegt und lag 1994 bei VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 174 monatlich 480 US-Dollar, bei freier Kost und Logis. Für den durchschnittlichen Arbeitgeberhaushalt ist dies kaum mehr als ein Zehntel des Einkommens, für die Frauen selbst aber ein Vermögen, zehnmal mehr als der Verdienst von Haushaltshilfen auf den Philippinen und sogar dortige Ärzte und Rechtsanwälte übertreffend. Entsprechend und auch aufgrund der Tatsache, daß viele Einwohner Englisch können, ist die Migration auf den Philippinen sehr verbreitet, wie Claudia Liebelt von der Universität HalleWittenberg hier in einem Vortrag vor zwei Jahren berichtet hat. Nicht weniger als 8 Millionen Filipinos und Filipinas leben im Ausland, das entspricht einem Zehntel der Bevölkerung, und Liebelt führte Verwandtschaftsnetzwerke vor, die sich auf drei oder mehr Zielstaaten ausgebreitet haben, mit Haushaltshilfen in Israel, Matrosen in den USA und Krankenschwestern in Großbritannien, die mit dem Telefon, in Chatrooms und per Skype miteinander Kontakt halten. Der philippinische Staat sieht dies keineswegs als problematisch an, im Gegenteil bezeichnete Ex-Präsidentin Corazon Aquino die Filipinas im Ausland einmal als „Heldinnen der Nation”, denn ihre Rücksendungen leisten einen wesentlichen Beitrag zur philippinischen Wirtschaft. Moralische Gefahren Die amerikanische Ethnologin Nicole Constable von der University of Pittsburgh hat sich basierend auf Feldforschung in den 1990er Jahren in einer Monographie und einigen Artikeln mit dieser speziellen Diasporasituation auseinandergesetzt ▶▸(Constable 1997a, 1997b, 1999). Einer der Artikel (Constable 1997b) befaßt sich mit der Ambivalenz der Hongkonger Mehrheitsgesellschaft gegenüber den Filipinas. Daß die Haushaltshilfen einen unverzichtbaren Beitrag zum Wirtschaftswunder der Stadt leisten, ist offenkundig, doch gedankt wird ihnen dies im öffentlichen Diskurs nur selten. Zum einen liegt dies daran, daß viele der Filipinas die Klassenverhältnisse in Frage stellen. Denn sie entstammen trotz ihres untergeordneten Status in Hongkong oftmals der Mittelschicht, und zwei Drittel besitzen eine über den sekundären Schulabschluß hinausgehende formale Bildung. Damit sind sie ihren Arbeitgebern oft ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen. Gewichtiger ist allerdings die Tatsache, daß die philippinischen Haushaltshilfen immer wieder als Bedrohung der moralischen Ordnung dargestellt werden. Als Ausländerinnen werden sie in den intimen Bereich des eigenen Heims aufgenommen und treten dort in eine potentielle Konkurrenz zu den Ehefrauen, die früher selbst erledigte Aufgaben an sie abgeben. Daß sich daraus eine ungebührliche Nähe zu den Kindern oder zum Ehemann ergibt, so daß die Haushaltshilfe schließlich Ersatzmutter oder Geliebte wird, ist eine verbreitete Sorge. Diese Ängste übertragen sich auch auf die Bewertung des Verhaltens der Haushaltshilfen im VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 175 öffentlichen Raum. ▶▸Dort sammeln sie sich an Sonn- und Feiertagen, wenn sie frei haben, zu Tausenden auf bestimmten Straßen und Plätzen des Geschäftsviertels, offensichtlich fröhlich und freundlich, vielfach schick zurechtgemacht, Alkohol trinkend, sich gegenseitig frisierend usw. All dies findet hauptsächlich deshalb im öffentlichen Raum statt, weil keine anderen Orte für die Zusammenkunft der Diaspora zur Verfügung stehen. Doch dieses Verhalten ist der chinesischen Mehrheit suspekt und trägt zu dem verbreiteten Vorurteil bei, die Filipinas hätten lose Sitten und seien nur auf Hongkonger Ehemänner aus, die ihnen aus der Armut ihrer Herkunftsorte heraushelfen. Tatsächlich plant aber die große Mehrheit der Frauen die Rückkehr auf die Philippinen, und ein Viertel ist ja ohnehin bereits verheiratet oder hat sogar Kinder. Außerdem werden ihrem Potential als Verführerinnen durch Verhaltensmaßregeln aller Art enge Grenzen gesetzt: Das Tragen von zu knapper Kleidung, Schmuck und Parfüm während der Arbeit ist ihnen meist ausdrücklich verboten. Stattdessen sind Jeans, T-Shirt und Tennisschuhe die standesgemäße Bekleidung, und manche Arbeitgeberin geht als erstes mit der neuen Haushaltshilfe zum Friseur, um ihr einen Kurzhaarschnitt zu verpassen. Auch an freien Tagen müssen sie abends schon um acht oder neun wieder zuhause sein, auswärtige Übernachtungen sind nicht gestattet, und Alkohol und Zigaretten sind ebenfalls tabu. Gerechtfertigt wird dies nicht selten mit der vermeintlichen Ahnungslosigkeit der Hausmädchen, die vor den Gefahren der Großstadt geschützt werden müssen. Faktisch ist die Gefahr von sexuellen Übergriffen durch die Arbeitgeber größer, doch diese werden gewöhnlich dem provokativen Verhalten der Haushaltshilfen zugeschrieben, und ihnen bleibt dann oft nur, von sich aus den Vertrag zu kündigen. Interessanterweise übernehmen die Filipinas nicht selten selbst Teile des moralisch besorgten Diskurses, mokieren sich über aufreizende Kleidung und grenzen sich von Prostituierten ab, oft um zu verhindern, daß sie alle durch das Verhalten weniger in Mißkredit geraten. Constable sieht die öffentliche Sorge um die Sexualmoral der Haushaltshilfen nicht in irgendwelchen realen Verhaltenstendenzen der Filipinas begründet: ▶▸„The sexuality of Filipina domestic workers in Hong Kong is not an issue because they are highly sexed or lacking in selfcontrol but because they are foreign-Asian others with an ambiguous class identity, highly visible, and intimately linked with changes occurring at the very core of Chinese households” (Constable 1997b: 553). Letztendlich sind die Haushaltshilfen für die Ehefrauen leichter zu kontrollieren als ihre Ehemänner, ihre Kinder und die Verhältnisse an ihren Arbeitsplätzen, und so scheint sich so viel Aufmerksamkeit auf sie zu konzentrieren. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 176 Ambivalente Heimat In einem zweiten Artikel (Constable 1999) behandelt Constable das Verhältnis der Haushaltshilfen zu ihrer Heimat. Dieser Begriff ist für viele Hongkonger ja zwiespältig, denn von einer britischen Kolonie ist die Stadt 1997 zu einer „Special Administrative Region” (SAR) der Volksrepublik China geworden. Bekanntlich sind Hongkong für 50 Jahre die bisherigen wirtschaftlichen und sonstigen Freiheiten garantiert, aber eine wirkliche politische Kontrolle über ihre Stadt üben die Bürger genauso wenig aus wie vorher unter den Briten. Für manche ist dies wie eine Art Exil in der eigenen Heimat, und eine Chinesin beneidet im Gespräch mit Constable die Haushaltshilfen regelrecht: „[A]t least they have a home to go back to” (Constable 1999: 205), sagt sie ihr. Dies ist allerdings bei näherem Hinsehen weniger klar, als man denken sollte, trotz der ja immer nur zeitlich begrenzt und unter Auflagen erteilten Arbeitsvisa, deren Verlängerung niemals garantiert ist. Constable analysiert die persönliche Situation von fünf der Frauen, die sie besonders gut kennt, und hier gibt es breite Variation sowohl im Verhältnis zu Hongkong als auch in dem zur philippinischen Heimat. Besonders hin- und hergerissen ist eine bereits über vierzigjährige Frau, die sie ▶▸Acosta nennt und die 1993 bereits im fünfzehnten Jahr in Hongkong arbeitet. Acosta ist verheiratet und hat zwei Kinder im Teenageralter; ihre Familie lebt in den Philippinen. Die Trennung von ihrer Familie rechtfertigt sie wie auch andere Haushaltshilfen mit dem vielen Geld, was sie dieser nach Hause schicken kann. Dies ist übrigens auch für unverheiratete Frauen ein legitimer Grund zur Arbeitsmigration, denn die eigenen Heiratschancen zugunsten des Wohlergehens der Eltern, Geschwister und Verwandten hintanzustellen, gilt als ehrenwert. Acosta versichert Constable, daß der jetzige Vertrag ihr letzter ist, denn ihre eigene Tochter schmiedet schon Pläne, selbst als Haushaltshilfe nach Hongkong zu kommen, und dies ist das letzte, was sie (Acosta) sich für deren Zukunft erträumt hat. Denn „I came here so she wouldn’t have to” (Constable 1999: 211), wie sie Constable sagt. Vier Jahre später ist Acosta aber noch immer in Hongkong. Für Constable ist offenkundig, daß Acosta trotz aller erklärten Rückkehrabsichten das Leben in Hongkong genießt. Hier ist sie ihr eigener Herr, zumal sie es geschafft hat, nur der Form nach in einem Haushalt angestellt zu sein. Tatsächlich verbringt sie dort nur einen Teil ihrer Arbeitszeit, teilt sich mit anderen Filipinas eine eigene Wohnung und hat eine größere Zahl von Teilzeitjobs, alles zwar gegen die Vorschriften, aber bislang unentdeckt und sehr zu ihrer eigenen Zufriedenheit. Ihr professionelles Selbstbild drückt sie auch in ihrer Kleidung aus, wo sie großen Wert auf Distanz zu der geschlechtslosen Jeans/T-Shirt/Tennisschuhe-Uniform legt, die sie sogleich als Haushaltshilfe zu erkennen geben und bei ihrem job hopping auch die Gefahr VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 177 der Entdeckung vergrößern würde. In die Philippinen bricht sie immer mit großer Vorfreude auf, aber bleibt sie länger als eine Woche oder zehn Tage, fühlt sie sich ruhelos und gereizt. Dann wird sie unsicher, ob sie für ihren Ehemann noch sexuell attraktiv ist, gleichzeitig irritiert sie jedoch, daß dieser immer so genau wissen möchte, wo sie gerade hingeht. Sie beginnen dann, sich zu streiten, und das Leben zu Hause bietet auch ansonsten nur wenig Attraktionen. Die Erleichterung, wieder nach Hongkong zu kommen, ist ihr laut Constable deutlich anzumerken. Andere Filipinas sagen Constable, daß Acosta einfach Angst vor der Rückkehr auf die Philippinen hat und diese darum immer weiter herauszögert. Doch ist dies laut Constable nicht die ganze Wahrheit, zumal Acosta es an Loyalität gegenüber ihrer Familie nicht fehlen und keine Zweifel daran aufkommen läßt, daß sie zumindest irgendwann einmal zurückgehen wird. Vielmehr ist bei ihr wie auch bei fast allen anderen Haushaltshilfen die eigene Anhänglichkeit gegenüber Hongkong ein Tabuthema. Die Frauen reden nur äußerst widerstrebend darüber und erinnern sich auch gegenseitig immer wieder daran, daß sie hier nur zum Geldverdienen sind, überdies mit so profanen Dingen wie Kochen, Putzen und Waschen, und daß die Rückkehr das große Ziel bleibt. Ambivalenz und Verwirrung darüber, wo denn nun tatsächlich das eigene Zuhause liegt, scheinen keineswegs selten zu sein, doch wird dies von anderen Filipinas auf persönliche Probleme der betreffenden Frauen mit untreuen Ehepartnern, feindseligen Kindern o. ä. zurückgeführt. Daß das Leben in der Diaspora trotz aller Einschränkungen aufregender und attraktiver ist als das Zuhause, wird hingegen nur ganz selten offen ausgesprochen; die Diaspora muß also Diaspora bleiben. Transnationalismus Trotz aller Ambivalenz ist für die Filipinas klar, wo sie ihre Heimat und ihre historischen Ursprünge verorten. Aber es gibt mittlerweile auch eine wachsende Zahl von Migranten, für die zwei Orte gleichermaßen Heimat sind. Dieses Phänomen wird gerne als Transnationalismus bezeichnet, und es zieht in der gegenwärtigen Ethnologie wachsende Aufmerksamkeit auf sich, so daß kaum eine größere Fachkonferenz auf seine Behandlung verzichtet. Transnationalismus (transnationalism) und vor allem das Adjektiv „transnational” heißt im Wortsinn „die Nation übersteigend”, und häufig wird es mehr oder weniger synonym zu „international” verwendet. Mitunter wird eine feine Unterscheidung vorgenommen, bei der „international” das bezeichnet, was sich zwischen Nationen abspielt, z. B. bilaterale Verträge, während „transnational” all jene Dinge und Vorgänge sind, die sich oberhalb der nationalen VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 178 Einheiten entfalten, wie z. B. die Vereinten Nationen. ▶▸Mehr oder minder im Sinne von „die Nation übersteigend” wird das Wort Transnationalismus mitunter auch in der Ethnologie aufgefaßt (z. B. Inda 1996). Weitgehender Standard im Fach ist aber mittlerweile ein anderes Verständnis, das in dem folgenden Zitat zum Ausdruck kommt. Es stammt von den drei amerikanischen Ethnologinnen, die interessanterweise fast immer als Team schreibend am meisten zu seiner Verbreitung beigetragen haben, nämlich Linda Basch, Nina Glick-Schiller, und Cristina Szanton Blanc: ▶▸„We define ‚transnationalism’ as the processes by which immigrants forge and sustain multi-stranded social relations that link together their societies of origin and settlement. We call these processes transnationalism to emphasize that many immigrants today build social fields that cross geographic, cultural, and political borders. … An essential element of transnationalism is the multiplicity of involvements that transmigrants sustain in both home and host societies” (Basch, Glick Schiller und Szanton Blanc 1993: 7). Transnationalismus impliziert also doppelte Loyalitäten und Orientierungen, und viele Nationalstaaten wie auch viele Nationalisten tun sich schwer, damit umzugehen. Schon die Einführung einer sehr eingeschränkten doppelten Staatsbürgerschaftsregelung hat die deutsche Politik ja bekanntlich über die Maßen gefordert. Doch reagieren längst nicht alle Nationalstaaten genauso. Ich werde mit einem ausführlichen Fallbeispiel für gelebten Transnationalismus beginnen und mich dann später der Frage zuwenden, ob denn Transnationalismus tatsächlich eine Abkehr vom nationalen Denken bedeutet. Karibisch-US-amerikanischer Transnationalismus Ich bleibe bei dem erwähnten Buch von Basch, Glick-Schiller und Szanton Blanc. Von den drei Autorinnen hat sich Linda Basch vornehmlich mit New Yorker Migranten beschäftigt, die aus den beiden einander benachbarten karibischen Inselstaaten St. Vincent (eigentlich St. Vincent und die Grenadinen) und Grenada stammen. ▶▸Diese gehören zu den sogenannten Inseln unter dem Winde, die sich in einem Bogen von Puerto Rico zur venezolanischen Küste hinziehen, und liegen nördlich von Trinidad und Tobago. Beide sind Zwergstaaten mit gerade einmal jeweils 100.000 Einwohnern auf jeweils einer Haupt- und vielen kleineren Inseln. Beide haben eine vorwiegende schwarze, zum Teil auch indischstämmige Bevölkerung, die sich ihrer Vergangenheit als kolonialen Plantageninseln verdankt. Grenada wurde 1983 weltbekannt, als Ronald Reagan die Insel besetzen und ein linkes, per Staatsstreich an die Macht gekommenes Regime stürzen ließ. Von dieser kurzzeitigen Prominenz abgesehen handelt es sich um im VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 179 Weltsystem nur marginale Staaten, die mit Landwirtschaft, einem wachsenden Tourismus und Entwicklungshilfe eher schlecht als recht über die Runden kommen. Es ist daher kein Wunder, daß viele Insulaner migrieren, entweder auf andere karibische Inseln oder in anglophone Länder, hauptsächlich die USA und Großbritannien. Basch schildert als erstes eine 1984 stattfindende politische Versammlung im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Hauptredner ist ein ehemaliger kolonialer Verwaltungschef von Grenada, der als Kandidat der Grenada National Party die anstehenden, von den Amerikanern angesetzten Wahlen gewinnen möchte. Die Versammlung ist von einem New Yorker Grenadianer, einem führenden Mitglied der lokalen Gemeinde und alten Freund des Kandidaten, organisiert worden und findet in einem Saal statt, der einem anderen New Yorker Grenadianer gehört. Etwa 600 grenadianische Migranten aller Altersgruppen und sozialen Schichten hören dem Kandidaten zu und befragen ihn hinterher zu den politischen Entwicklungen auf der Insel, etwa zum zukünftigen Verhältnis zur (damals noch existierenden) Sowjetunion, Kuba und den USA, aber auch zu Themen wie der wirtschaftlichen Lage und der von den Immobilieneigentümern im Publikum befürchteten Enteignung von Land. Zum Abschluß werden Spenden gesammelt, und die Versammelten werden aufgefordert, zum nächsten Karneval nach Grenada zu kommen und so ihre Unterstützung für das Land zu zeigen. Basch et al. zufolge manifestieren sich hier eine ganze Reihe von Verbindungen, die die grenadianischen Migranten mit ihrer Heimat unterhalten. Von den damals 90.000 Einwohnern der Insel, so wird auf der Versammlung gesagt, sind nur 32.000 Erwachsene; dagegen leben 60.000 Erwachsene grenadianischer Herkunft in Nordamerika. Vielfach haben sie Land, Häuser und Unternehmen auf der Heimatinsel; vielfach leben ihre Kinder dort, betreut von zurückgebliebenen Verwandten. Doch genauso sind viele der Zuhörer in New York zuhause, wo sie zum Teil schon seit Jahrzehnten leben, Immobilien besitzen und sich am sozialen Leben intensiv beteiligen. Nicht wenige – der Organisator der Versammlung eingeschlossen – besitzen außerdem die US-amerikanische Staatsbürgerschaft, und auch der Kandidat selbst war lange Jahre im Ausland gewesen. Keinen der Beteiligten scheint dies aber an der Überzeugung zu hindern, daß sie alle weiterhin Bürger des grenadianischen Nationalstaats sind und sich daher guten Gewissens versammeln und um die Zukunft des Landes Gedanken machen dürfen. Historische Ursprünge Die Emigration von den zuletzt durch die Briten kolonial ausgebeuteten Inseln hat eine lange Geschichte und begann bereits nach der Abschaffung der Sklaverei 1838. Auf den anderen karibischen Inseln sowie in Mittelamerika und den USA verrichteten die Vincentianer und VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 180 Grenadianer überwiegend körperliche Arbeiten, zum Teil aber auch bürokratische Aufgaben. Schon zwischen 1888 und 1911 war mehr als ein Viertel der Bewohner von St. Vincent schon einmal emigriert. Den wirtschaftlichen Perspektiven auf den Inseln war die Abwesenheit der Arbeitskräfte nicht zuträglich, so daß schließlich sogar die britische Kolonialverwaltung die Emigration ermutigte und organisierte. Schon allein da die Arbeitsbedingungen und die soziale Sicherung in den Zielländern häufig zu wünschen übrig ließ und Einbrüche in den jeweiligen Produktionszweigen Massenentlassungen nach sich zogen, machte es für die Migranten Sinn, das angesparte Geld zurückzuschicken, die verwandtschaftlichen und anderen sozialen Netzwerke in der Heimat zu pflegen und dort Häuser und Land zu erwerben, um für den Tag der Rückkehr gewappnet zu sein. In die USA migrierten die West Indians, d. h. die Bewohner St. Vincents, Grenadas und der damaligen britischen Kolonien in der Karibik und Britisch-Guayanas, erstmals zwischen 1900 und 1930 in größerem Stil. Da sie meist besser ausgebildet waren als die schwarzen USAmerikaner, waren sie in der verhältnismäßig kleinen schwarzen Mittelschicht der Freiberufler und Unternehmer zwar überrepräsentiert, aber innerhalb der großen und damals stark wachsenden schwarzen Bevölkerung der Städte im Norden noch kaum als eigenständige Kraft sichtbar. Wie diese schwarze Mehrheitsbevölkerung erfuhren auch die West Indians die ganze Härte der Rassendiskriminierung, so daß nur wenige von ihnen die US-Staatsbürgerschaft suchten und sie vielmehr ganz auf die schlußendliche Rückkehr auf ihre Heimatinseln ausgerichtet blieben. Aufkommen und Formen Ab den 1960er Jahren gab es einen neuen Migrationsschub, bedingt auch durch politische Unsicherheiten auf beiden Inseln sowie die weiterhin begrenzten Möglichkeiten der wirtschaftlichen Entwicklung und nicht zuletzt auch der Schulausbildung. Nun änderten sich die Vorzeichen, denn die West Indians, von denen mittlerweile allein in New York eine Viertelmillion lebt, machten sich nun stärker sichtbar. Bestimmte Stadtviertel, besonders in Brooklyn, sind von ihnen dominiert, und Reggae, Calypso, Steel Band Music und karibische Küche treten bei vielen öffentlichen Gelegenheiten in den Vordergrund. Doch hat dies die Bindungen in die Heimat nicht abreißen lassen, so daß ein beträchtlicher Anteil der Vincentianer und Grenadianer Transmigranten (transmigrants) sind, das Wort von Basch und ihren KoAutorinnen für Migranten mit transnationaler Orientierung. Doch darüber hinaus und ungeachtet aller sentimentalen Anhänglichkeiten ist der Transnationalismus laut Basch auch durch die in den USA fortbestehenden Klassen- und VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 181 Rassenschranken motiviert, die eine wirklich gleichberechtigte Teilhabe nicht erlauben. Dies bekommen vor allem die erfolgreicheren Migranten zu spüren, deren sozialer Aufstieg irgendwann auf für sie frustrierende Grenzen stößt. Daher bestand die Mehrheit der von Basch und ihrem Team 1982-85 befragten Grenadianer und Vincentianer aus Transmigranten. Mindestens die Hälfte besaß Immobilien auf den Heimatinseln, schickte regelmäßig Geld und Güter zurück und hatte in den letzten fünf Jahren Heimatbesuche gemacht. Viele hatten zudem in landwirtschaftliche Projekte, Transportunternehmen, Läden, Hotels u. ä. investiert, und nicht wenige engagierten sich in der Politik des Heimatlandes, bis hin zu Wahlkampfreisen dorthin. Häufig sind es die Familien, die sich transnational ausbreiten. Basch schildert den Fall einer jungen Vincentianerin namens Mavis, die 1970 mit 23 Jahren mit einem Studentenvisum und der Anschubfinanzierung einer Tante in die USA kommt und sich mit einer Reihe von Jobs illegal über Wasser hält, während sie ihre Ausbildung vervollständigt. Der ersehnten green card – der dauerhafte Aufenthaltserlaubnis – kommt sie dadurch aber nicht näher, so daß sie sich schließlich zu einer Beschäftigung als Vollzeithausmädchen durchringt. Tatsächlich erhält sie so 1981 die Aufenthaltserlaubnis. Mit ihren Rücküberweisungen trägt sie in der gesamten Zeit erheblich zum Bau des Familienhauses in St. Vincent bei. Ihre drei Brüder – alle Automechaniker und daher ohne Einwanderungschancen in die USA – emigrierten zur gleichen Zeit nach Trinidad, wo es ebenfalls Verwandte und in der damals aufblühenden Ölindustrie reichlich Arbeit gab. Von dort können sie allerdings mangels gesicherten Aufenthaltsstatus nicht mehr nach Hause fahren, ohne ihre Rückkehrmöglichkeiten zu gefährden, was vor allem für einen von ihnen, der Ehefrau und drei Kinder in St. Vincent hat, sehr schmerzlich ist. Diese Ehefrau, die zunächst noch in St. Vincent als Sekretärin arbeitet, emigriert schließlich ihrerseits zu Mavis nach New York, ebenfalls mit dem Vorhaben, als Haushaltshilfe die green card zu bekommen und dann ihren Ehemann und die drei Kinder nachzuholen. Einstweilen bleiben diese bei ihrer Schwiegermutter, also Mavis’ Mutter, für die sich Mavis im Rahmen des Familiennachzugs ebenfalls um eine green card bemüht. Die Familie verteilt sich also auf drei Länder, unterstützt sich gegenseitig finanziell, versorgt die Kinder der Abwesenden und hält mit Briefen und Telefonaten den Kontakt miteinander aufrecht, mit dem Ziel, irgendwann einmal mit ausreichenden Ressourcen wieder in St. Vincent vereinigt zu sein. Oder wie Basch es formuliert: ▶▸„The family is the matrix from which a complexely layered transnational social life is constructed and elaborated” (Basch, Glick Schiller und Szanton Blanc 1993: 79). Zur Unterstützung dieser und ähnlicher transnationaler Familienstrategien hat sich in den USA eine Infrastruktur entwickelt, die ihrerseits zu einem guten Teil in den Händen von Migranten liegt. Die New Yorker Migranten kaufen vor Heimfahrten die auf den Inseln VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 182 benötigten Waren ein, und umgekehrt gibt es eine wachsende Zahl von Läden und Restaurants mit Gütern aus der Heimat. Import-Export-Firmen besorgen die nötigen Transporte. Calypsound andere Musiker treten kaum seltener in New York als auf den Inseln auf, und eigene Zeitungen und Zeitschriften versorgen die West Indians mit Nachrichten aus ihrer Heimat. Viele Transmigranten bewegen sich in so großer Häufigkeit zwischen New York und der Karibik hin und her, daß Basch mitunter gar nicht mehr weiß, wo sie sie zuletzt getroffen hat. Transnationale Organisationen und Identität Der Transnationalismus der Vincentianer und Grenadianer ergibt sich nicht nur aus individuellem Handeln, sondern hat seit etwa Mitte der 1970er Jahre auch eine institutionelle Basis. Gerade in New York haben sich in großer Zahl freiwillige Vereinigungen aller Art gegründet, etwa Freizeitclubs, Sportvereine, Frauengruppen, Berufsverbände u. ä., und diese bemühen sich – anders als man es früher von Migrantenvereinigungen dachte – nicht nur um die Erleichterung der Eingliederung in die Zielgesellschaft, sondern ebenso auch um die Aufrechterhaltung der Beziehungen zur Heimat und um aktive Gestaltung derselben. Schon in der ersten Immigrationsphase Anfang des 20. Jhs. beteiligten sich Vincentianer und Grenadianer an sozialen und politischen Aktivitäten aller Art. Allerdings sahen sie sich selbst – und andere sahen sie – als bloßen Teil der schwarzen Bevölkerungsgruppe, und von einem eigentlichen Transnationalismus und auch von einem Einfluß dieses Transnationalismus auf die politischen Aktivitäten konnte zu dieser Zeit noch keine Rede sein. Explizit transnationale Organisationen traten erst ab den 1960er Jahren auf den Plan. Zusehends wurden die Heimatinseln nun nicht mehr nur Rückzugsgebiet und Rückkehrziel, sondern auch eine Arena für das aktive eigene Engagement schon vor einer Rückkehr. Und sie wurden auch zu einer Quelle der positiven Identifizierung, gerade nach der in Grenada 1974 und in St. Vincent 1979 erreichten Unabhängigkeit. Schon vorher war es vielen der West Indians darum zu tun, sich von den gewöhnlichen Afroamerikanern abzugrenzen, die ihnen hinsichtlich der Ausbildung und des wirtschaftlichen Erfolges oft unterlegen waren. Doch ging dies nur mit dem Bezug auf die koloniale Heimat, z. B. durch selbstveranstaltete Feste zur britischen Königskrönung, was natürlich eine ambivalente, da den Kolonialismus in gewisser Weise anerkennende Strategie ist.. Insofern ist der heutige Status der eigenen Herkunftsinseln als unabhängige Nationen vorteilhafter und hat auch eine größere Aufmerksamkeit für die eigene Kultur bewirkt. Eine Stufe über der vincentianischen und grenadianischen Identität hat sich aber auch eine West Indian-Identität etabliert und spielt in der New Yorker Stadtpolitik als eigene Wählergruppe und als Basis für alle möglichen Organisationen eine wachsende Rolle. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 Die Regierungen der Heimatinseln begegnen der Migrationsfreude 183 und dem Transnationalismus ihrer Staatsvölker mit großer Flexibilität. Wie Basch und ihre KoAutorinnen es ausdrücken: ▶▸„At issue in both St. Vincent and Grenada were the loyalty and allegiance of the transmigrants, their political access in the United States, … their economic support and remittances, and their political influence with relatives and friends back at home – not their return” (Basch, Glick Schiller und Szanton Blanc 1993: 126-127). Beide Staaten boten allen Migranten nach der Unabhängigkeit die Staatsbürgerschaft an, ganz gleich, welche Staatsbürgerschaften sonst erworben worden waren und sogar dann, wenn sie als US-Bürger in der amerikanischen Armee gedient hatten. Dies schloß das volle Wahlrecht ein, allerdings unter der Auflage, für die Registrierung eine gewisse Zeit auf der Insel zu verbringen. Beide Staaten ernannten Emigranten mit amerikanischer Staatsbürgerschaft zu ihren Botschaftern in den USA; kurioserweise bedurfte dies daher der Zustimmung der amerikanischen Behörden, die diese aber nicht verweigerten. Und der Organisator der eingangs beschriebenen Wahlkampfveranstaltung wurde nach dem Wahlsieg des unterstützten Kandidaten St. Vincents Botschafter bei der UN, obwohl er die Insel, die er vertreten sollte, seit über vierzig Jahren nicht mehr betreten hatte. Sogar der Karneval sowohl auf St. Vincent als auch auf Grenada wurde vom traditionellen Termin in die Sommerferien verschoben, so daß ihn die Transmigranten und ihre Kinder leichter besuchen können. Basch stellt bei ihren Interviews auf den Heimatinseln fest, daß vielfach Neid auf die Emigranten existiert und diesen die Fähigkeit abgesprochen wird, die Verhältnisse auf den Inseln richtig einzuschätzen. Umgekehrt finden manche der New Yorker Transmigranten, daß die beständig um ihre Aufmerksamkeit buhlenden Politiker von den Inseln wesentlich mehr Wert auf ihre finanzielle Unterstützung legen als auf ihre guten Ratschläge. Trotzdem ergibt sich so eine Konstruktion von der Nation als einem Staatsvolk, nicht als einem Territorium, und den Angehörigen des Staatsvolkes wird die Möglichkeit zur Beteiligung gegeben, ohne daß irgendjemand Rückkehrpflichten formuliert. Für mich ist klar, daß sich hier Strukturen verfestigt haben, die den Transnationalismus zu einer dauerhaften Erscheinungsform machen. Solange die beteiligten Nationalstaaten ihre Politik nicht grundsätzlich ändern – und gerade St. Vincent und Grenada dürften schon angesichts ihrer Staatsfinanzen daran kein Interesse haben –, werden auch weiterhin viele der West Indians in gleich zwei Nationalstaaten ihr Zuhause sehen und sich in deren Belange einmischen, ohne daß dies als Loyalitätskonflikt begriffen wird. Vielmehr ist hier an getrennten geographischen Orten ein verbundener sozialer Raum entstanden, bei dem die hin- und herfließenden Ströme von Geld, Waren, Menschen und Informationen die gar nicht so geringe räumliche Distanz zu überbrücken VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 184 vermögen. Transnationalismus und Nationalstaaten Die beiden Ko-Autorinnen des Buches, Glick-Schiller und Szanton Blanc, bringen weitere Fälle von transnationalen Migrantengemeinden in den USA ein, Glick-Schiller den der Haitianer und Szanton Blanc den der Filipinos und Filipinas. Die Formen gleichen sich, und auch hier spielen selbstgegründete Organisationen eine große Rolle, und die Umarmung durch politische Kräfte im Mutterland ist nicht weniger herzlich. Deutlich wird hier, daß gesichertere Aufenthaltsrechte durch green cards oder Staatsbürgerschaften eine wichtige Voraussetzung bilden. Erst bei einer solchen permissiven, am ehesten noch in klassischen Einwanderungsländern wie den USA oder Australien zu findenden Haltung erhalten Migranten wirkliches politisches Gewicht. Gleichzeitig darf die Umarmung aber auch nicht zu groß werden: In Trinidad etwa, wohin ebenfalls viele Vincentianer und Grenadianer migrieren, werden sie einfach von der afroamerikanischen Bevölkerungsschicht aufgesogen und in deren soziale und politische Organisationen integriert. Der ethnisch-kulturelle Abstand scheint hier zu gering, und der US-amerikanische Rassismus als Motivator für die eigene Abgrenzung gegenüber den „gewöhnlichen” Afroamerikanern fehlt. Eine weitere Voraussetzung für Transnationalismus ist eine ähnlich permissive Politik der Herkunftsländer. Die bisher genannten Ausgangsstaaten sind alle entweder klein und/oder wirtschaftlich schwach, zumindest im Vergleich zu den euroamerikanischen Industrieländern. Dies kann für sie die Motivation sein, die durch Transmigranten zu erwartenden finanziellen Rücksendungen und sonstigen Vorteile, wie etwa den Erwerb auch in der Heimat nutzbarer Kenntnisse und Fertigkeiten, über ihre eigenen nationalen Geltungsansprüche und Eifersüchte zu stellen. Wenn jedoch all diese günstigen Bedingungen zutreffen, ist dann der Transnationalismus in der Lage, den Nationalstaat aufzuweichen oder gleich ganz aufzulösen, und sind Transmigranten die Vorreiter eines kommenden postnationalen Zeitalters? ▶▸Die dänische Ethnologin Karen Fog Olwig von der Universität Kopenhagen deutet dies für einen weiteren karibischen Zwergstaat an, nämlich das seit seit 1983 unabhängige St. Kitts und Nevis mit seinen gerade einmal 50.000 Einwohnern, wo sie auf der Insel Nevis Feldforschung gemacht hat (Olwig 1993). Hier ist die Emigrationsrate unter allen ehemaligen Commonwealth-Staaten am höchsten, und es entspinnen sich ähnlich transnationale Verhältnisse wie bei den Fällen St. Vincents und Grenadas. Olwig sieht hier die Migrationserfahrung als geradezu konstitutiv für die nationale Identität an und spricht von einem deterritorialisierten Nationalstaat: VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 185 ▶▸„ … Nevisians have been involved in the construction of a sense of nation which is being associated with the geographical entity of Nevis. This form of identity is not rooted in the new nation-state of St. Kitts-Nevis … It is closely related to the global community, the most significant framework of the form of life of Nevisians, and it is within the transnational discourse of this community that the national is becoming an important folk model … The fact that the Nevisian community is constituted as a deterritorialized one, both historically and today, signifies an important departure from the territorially based idea of the nation-state” (Olwig 1993: 374). Die transnationale Nation in Eritrea ▶▸Victoria Bernal von der University of California in Irvine schildert allerdings einen etwas anders gelagerten Fall (Bernal 2004, 2005). Das ostafrikanische Land Eritrea ist erst seit einem Referendum im Jahr 1993 unabhängig. Vorher stand es bis 1941 unter italienischer Kolonialherrschaft, war dann britisches Protektorat und ging 1952 auf Betreiben der UN eine Föderation mit Äthiopien ein. Der große Nachbar annektierte Eritrea aber entgegen der Abmachungen 1962 als Provinz, woran sich in bis 1991 dauernder blutiger Bürgerkrieg anschloß. 1998 brach erneut ein Krieg über den Grenzverlauf aus, der wiederum Tod und Vertreibung brachte und 2000 mit einem seither von der UN überwachten Waffenstillstand endete. Globale Faktoren wie die europäischen Kolonialmächte, die Frontstellung des Kalten Krieges und der internationalen Waffenhandel spielten bei alledem eine große Rolle. Laut UNICEF-Schätzungen ist einer von drei Eritreern, d. h. über eine Million Menschen, während der Kriegsjahre aus dem Land geflüchtet. Das größte Kontingent ging in den benachbarten Sudan, wo die Lebensbedingungen am schwierigsten sind, vielen anderen Eritreern gelang aber auch die Aufnahme in den Golfstaaten oder die Erlangung von Asyl oder auch die illegale Einreise nach Europa oder Nordamerika. Die zweitgrößte Eritreergemeinde findet sich in den USA und wird auf 50.000 bis 75.000 Menschen geschätzt. Wie sonst häufig auch sind es nicht die ärmsten der Armen, denen die Flucht gelungen ist, sondern eher Angehörige der Mittelschicht. Auf ihre Karriere in den USA, die oftmals über einfache Beschäftigungen nicht hinausführt, hat ihre zum Teil gute Schulbildung aber nur wenig Einfluß. Deutlich ist Transnationalismus hier nicht wie im karibischen Fall eine bereitwillig gesuchte Chance, sondern aus einer vor allem in der Anfangszeit von Trennung und Entfremdung geprägten Diasporasituation entstanden.. Die Auslandseritreer spielten für den Befreiungskrieg nicht nur durch die von ihnen gesammelten Spenden, sondern auch durch ihre Medien- und Public-Relations-Aktivitäten eine VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 186 große Rolle. Der Krieg schweißte sie außerdem zusammen, ließ die internen ethnischen und religiösen Unterschiede in den Hintergrund rücken und stärkte die emotionale Bindung an die Heimat. Dies gilt laut Bernal nicht minder auch für diejenigen Eritreer, die gar keine Rückkehrabsichten mehr hegen und sich auch nicht um zurückgebliebene Verwandte sorgen müssen. Internet-Foren machen ebenfalls deutlich, daß Eritrea den Fokus ihrer Diskussion bildet, nicht die Verhältnisse in den Migrationsländern. Und Geld wurde während der Kriege auch keineswegs für humanitäre Zwecke gesammelt, sondern zur Finanzierung des bewaffneten Kampfes in der Heimat. Der eritreische Staat hat sich der transnationalen Diaspora gegenüber erkenntlich gezeigt, indem er von Anfang an ein sehr inklusives ius sanguinis praktiziert hat: Jedes Kind einer Eritreerin oder eines Eritreers ist selbst eine/r, ganz gleich, wo es geboren wurde und seitdem gelebt hat. Exilanten waren an der verfassungsgebenden Versammlung beteiligt, konnten bereits beim Unabhängigkeitsreferendum mitstimmen und wurden in der Folge für wichtige Regierungsämter rekrutiert. Bernal fragt sich, warum die Nation auch unter diesen transnationalen Bedingungen ihre Attraktivität behält, und ihre Antwort lautet wie folgt: ▶▸„Nationhood is valued by Eritreans, not because a nation constitutes a community unto itself but, on the contrary, precisely because the nation is a key actor in the global arena” (Bernal 2004: 14). Benedict Andersons Nationalismustheorie konzentriert sich laut Bernal auf die interne Imagination der Gemeinschaft, aber im Fall Eritreas war es gerade die globale Bühne, die den Kontext für die Imagination lieferte und in einem Zeitalter der eigentlich sakrosankten nationalen Grenzen von der Legimitität des neuen eritreischen Staates überzeugt werden mußte. Sie schlußfolgert: ▶▸„Globalization and transnationalism have not replaced nationalism but have opened up new spaces in which nationalisms can be expressed, contested, and transformed” (Bernal 2004: 20). Dies gilt nach meiner Einschätzung bei näherer Betrachtung auch für St. Vincent und Grenada. Hier sind ebenfalls auch diejenigen, die gar nicht mehr zurückkehren wollen, auf den Nationalstaat stolz.. Die nationale Imagination findet in einem transnationalen sozialen Feld und in einem globalen Kontext anderer Nationalstaaten statt, die sowohl als Gegenüber der Abgrenzung in einem Barth’schen Sinne als auch als konkrete, in die Geschicke der neuen Nationalstaaten eingreifende Akteure auftreten. Eine dauerhafte Abwesenheit der Transmigranten vom Herkunftsstaat ist zwar kein Zugehörigkeitshindernis mehr. Aber nach wie vor ist die nationale Zugehörigkeit keine Angelegenheit der freien individuellen Wahl, sondern setzt zumindest die Abstammung von irgendjemand, der tatsächlich einmal in den Grenzen des nationalen Territoriums gelebt hat, voraus. Im Zusammenhang mit Transnationalismus einen VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 187 völlig neuen Nationalismus oder gar das Ende des Nationalstaates zu verkünden, erscheint mir daher verfrüht. Das Verhältnis von Diaspora und Transnationalismus Diaspora und Transnationalismus sind nicht dasselbe, wie ▶▸Waltraud Kokot, Ethnologieprofessorin an der Universität Hamburg und ehemalige Kölner Kollegin, in einer Standortbestimmung betont (Kokot 2002). Dabei greift sie auf die ethnographischen Arbeiten zweier ihrer Doktorandinnen, nämlich von Astrid Wonneberger zur irischen Diaspora in den USA und von Susanne Schwalgin zur armenischen Diaspora in Griechenland, zurück. Kokot stellt einen Trend in der akademischen Debatte zu Diaspora und Transnationalismus fest, diese Phänomene mit einer gewissen Erdferne zu behandeln, wenn nicht sogar regelrecht zu feiern, nämlich als Überwindung enger lokaler oder nationaler Bezüge und als Manifestationen des Multikulturalismus und der Hybridität. Nicht wenige dieser Beiträge entstammen den Cultural Studies; nicht selten beschreiben die Autoren ihren eigenen Identitätsstrukturen; ebenfalls nicht selten aber fehlen empirische Belege aus gründlicher ethnographischer Feldforschung. Kokot konstatiert demgegenüber, daß das Leben in vielen Diasporagemeinschaften längst nicht nur auf das Herkunfts- bzw. Heimatland ausgerichtet ist. Die nach dem türkischen Genozid an den Armeniern 1915 sehr stark gewachsenen armenischen Gemeinden in den großen griechischen Städten z. B. sind zwar eine klassische Händlerdiaspora, in der die meisten Mitglieder in diesem Wirtschaftsbereich tätig bleiben. Die wirtschaftlichen Strategien und sozialen Beziehungen sind aber überwiegend lokal geprägt. Eine transnationale Komponente bringen vor allem die unterschiedlichen Loyalitäten zu armenischen Parteien hinein. Manche ihrer Führer vertreten ein Ideal der „reinen” armenischen Identität und Kultur, die eine eindeutige territoriale Zugehörigkeit verlangt. Und gerade diese politischen Führer oder auch die religiösen Amtsträger leben tatsächlich transnational, in institutionellen Netzwerken, die sie sowohl in der Diaspora als auch in Armenien verankern. Für die gewöhnlichen Mitglieder der Diasporagemeinschaft gilt dies aber in weit geringerem Maße, und während in der ersten und zweiten Generation noch transnationale Netzwerkbeziehungen zu Verwandten und Freunden existieren, verlieren diese in der dritten Generation stark an Bedeutung. Ähnliches gilt auch für irische Migranten in den USA. Hierbei handelt es sich um eine relativ neue Diaspora, denn lange Zeit waren die Irish Americans der klassische Fall einer assimilierten Gruppe, die ihr Diasporadasein also erst entdecken mußte. Auch hier beteiligen sich einige Personen sehr stark, und gerade junge Iren aus dem Mutterland nutzen die Möglichkeit, die VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 ihnen die US-amerikanischen Diasporakontakte bieten, so daß man für 188 sie von Transnationalismus sprechen kann. Für viele irischstämmige US-Amerikaner dagegen ist das Thema bloß marginal und – so kann man wohl ergänzen – weitgehend auf die Umzüge am St. Patrick’s Day und auf die Überrepräsentierung in manchen Berufen wie etwa Polizei und Feuerwehr beschränkt. Kokot plädiert daher für eine klare Trennung der beiden Begriffe. Diasporagemeinschaften können in ihrem Alltag ausgesprochen lokal ausgerichtet sein, und längst nicht jedes unter ihren Mitgliedern entscheidet sich tatsächlich für einen transnationalen Lebensstil. Wie diese Entscheidung ausfällt, hängt außerdem auch von der sozialen Position ab: Das, was Eliten in punkto Transnationalität vorleben, muß keineswegs der Realität aller Akteure entsprechen. Multilokale Feldforschung Zum Schluß möchte ich noch auf die methodischen Konsequenzen der ethnologischen Beschäftigung mit Migration, Diaspora und Transnationalismus eingehen. Das Hauptschlagwort hat hier ▶▸George Marcus von der Rice University mit der „multi-sited ethnography”, also der multilokalen Ethnographie, geprägt (Marcus 1995). In seinem Überblicksartikel von 1995 bezeichnet er die Konzentration auf einen einzigen Feldforschungsort als die nach wie vor dominante ethnographische Herangehensweise an die kulturellen Folgen der Globalisierung. Aber ▶▸„the other, much less common mode of ethnographic research self-consciously embedded in a world system … moves out from the single sites and local situations … to examine the circulation of cultural meanings, objects, and identities in diffuse time-space” (Marcus 1995: 96). Wie er weiter über diese Herangehensweise sagt, ▶▸„it is the cultural formation, produced in several different locales, rather than the condition of a particular set of subjects that is the object of study” (Marcus 1995: 99). Diese Vorgaben und das Stichwort „multi-sited ethnography” sind bereitwillig aufgegriffen worden, vor allem in der Transnationalismusforschung, wobei gerade diese allerdings gar keine so große Rolle im Aufsatz spielt. Multilokale Feldforschung spielte in den behandelten ethnographischen Untersuchungen eine wichtige Rolle. Baschs Forschungsteam führte Interviews in New York, aber genauso auch in St. Vincent und Grenada. Bernal besuchte Eritrea drei Mal und bewegt sich, nachdem sie bereits in den 1970er Jahren eritreische Immigranten in Europa kennengelernt hat, seit zwanzig Jahren am Rande der eritreischen Diaspora in der Region Chicago. Sie hat Eritreer in Kanada, Deutschland, England, Italien, dem Sudan, Tansania und Äthiopien besucht und weitere, die in Saudi-Arabien, VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 189 Schweden und den Niederlanden leben, bei deren Besuchen in den USA oder Eritrea gesprochen. Und sie hat die transnationale, vollkommen ortsentbundene Diskussion auf den eritreischen Websites verfolgt (Bernal 2004: 6). Meine Kollegin Ulrike Wesch hat ebenfalls zunächst unter den Acholi in Uganda geforscht, setzt dies gegenwärtig aber in London fort, wo es eine große Acholi-Diaspora mit deutlich transnationalen Zügen gibt. Solche Forschungsstrategien brechen die klassische Methode der Fokussierung auf einen einzigen, in all seiner Tiefe ergründeten Ort auf. Es ist vielmehr das soziale Netzwerk, das nun ins Zentrum rückt. Letztendlich ändert sich damit weniger, als man vielleicht denken sollte, denn bei weniger mobilen Zeitgenossen fällt das soziale Netzwerk ja mit dem Ort zusammen, so daß man als Feldforscher eigentlich immer Netzwerke untersucht hat. Waltraud Kokot formuliert es folgendermaßen: „Längere Aufenthalte an einem Ort sind nach wie vor eine entscheidende Voraussetzung für das Verstehen kulturspezifischer Vorstellungen und Praktiken. Die besondere Bedeutung von Lokalität für Identitätsprozesse in der Diaspora erschließt sich jedoch erst durch eine Feldforschungspraxis, die zwar nicht im wörtlichen Sinne ‚mobil’ ist, aber mehr als einen Ort einbezieht” (Kokot 2002: 106). Daran, die Bewegungen der Informanten nachzuvollziehen, wird man sich in der ethnographischen Forschung somit sicherlich gewöhnen müssen. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 190 Teil X: Die Globalisierung der Religion Einleitung In der heutigen Sitzung möchte ich mich einem kulturellen Teilbereich zuwenden, der zwar schon verschiedentlich zur Sprache gekommen ist, aber durchaus eine eigenständige Behandlung verdient, nämlich der Religion. Würde man eine „radikal diffusionistische” Sicht der Dinge im Hannerz’schen Sinne teilen, so könnte man vermuten, daß die Globalisierung die Religion zurückdrängt. Denn so wie westliche Produkte und Konzepte in dieser Sichtweise alles andere beiseite schieben, so könnte auch für den westlichen Säkularismus gelten, daß er Überzeugungen, die sich auf das Übernatürliche beziehen, an Bedeutung verlieren läßt und/oder in den Raum des Privaten abdrängt. Das läßt sich jedoch nicht bestätigen. Vielmehr findet genauso wie eine Globalisierung der Konsumgüter, des Fernsehens oder des Konzepts von der Nation auch eine Globalisierung der Religion statt. Dies hat mehrere Gründe. Erstens nehmen die Menschen ihre Religionen mit: Migranten, ob transnational oder nicht, sowie Diasporabewohner praktizieren häufig die Glaubensformen ihrer Herkunftskultur weiter, und so finden wir in den Weltstädten Kirchen aller möglichen christlichen Denominationen, Moscheen, Synagogen, hinduistische oder buddhistische Tempel, Candomblé-Kulträume sowie Orte für die Ausübung vieler anderer Religionen sowie die entsprechenden Priester, Heiler, Schamanen und anderen Praktiker. Zweitens reisen Religionen aber durchaus auch unabhängig, und dies ist eine der ältesten und folgenreichsten Formen der Globalisierung überhaupt. Schon lange bevor die ersten portugiesischen Schiffe auf Entdeckungsfahrt gingen, hatten sich Christentum, Islam und Buddhismus in Gegenden ausgebreitet, die viele Tausend Kilometer von ihren Ursprungsorten entfernt liegen, und dies nur selten durch Massenmigrationen oder Eroberungen mit Zwangsbekehrungen. Im Fall des Christentums geschah dies unter einem gemeinsamen organisatorischen Dach und auch bei anderen Religionen mit einer geteilten religiösen Geographie. Diese besteht bis heute und sorgt dafür, daß Rom, Santiago de Compostela, Jerusalem, Mekka und Medina oder Varanasi/Benares zentrale Orte ihres jeweils eigenen globalen Systems sind und Millionen dazu bringen, sie als Pilger zu besuchen und sich dabei als Teil einer religiösen imagined community im Sinne Andersons zu erfahren. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 191 Drittens fällt mit Religionen das, was Appadurai Indigenisierung und Hannerz Kreolisierung nennt, besonders leicht. Schon lange vor Einführung dieser Schlagwörter und auch lange vor der Erfindung der Ethnologie ist im 16. Jh. von Erasmus von Rotterdam das Wort „Synkretismus” geprägt worden. Für ihn war dies die Aufnahme fremdreligiöser Elemente in das Christentum, Ethnologen bezeichnen so aber die Verschmelzung verschiedener Religionen, ganz gleich ob christlich oder nicht (Schmidt 1999). Und viertens schließlich gilt auch für die „religioscapes”, die in Appadurais Liste der „-scapes” fehlen, zusehends die disjuncture/Entkopplung von den anderen „-scapes” und den durch sie begründeten Kräfteverhältnissen. Daher breitet sich nicht mehr wie noch während der kolonialzeitlichen Mission hauptsächlich die Religion des Zentrums des Weltsystems, d. h. das Christentum, in die Peripherie aus, sondern außereuropäische Religionen sind in vormals christlichen Gesellschaften auf dem Vormarsch, zum Teil wiederum in synkretistischer Verschmelzung verschiedener spiritueller Quellen wie etwa unter New-AgeAnhängern. Ich bin bei diesem breiten Thema nicht in der Lage, ihnen eine einfache Zusammenfassung zu geben. Stattdessen präsentiere ich ihnen einige ethnographische Fallbeispiele des Zusammenwirkens von Religion und Globalisierung. Ich habe bewußt solche ausgesucht, die auch mit anderen Aspekten der Globalisierung, wie etwa Konsumgütern, Medien und dem Konzept der Nation, in Zusammenhang stehen, so daß sich also Querbezüge mit dem bereits Gehörten ergeben werden. Cargo-Kulte in Melanesien Zur populären Vorstellung vom Westen, der in der Globalisierung die kulturelle Weltherrschaft übernimmt, paßt wohl am besten ein Phänomen, das in keinem Lehrbuch der Ethnologie fehlt, nämlich die Cargo-Kulte Melanesiens, d. h. Papua-Neuguineas und der angrenzenden Inseln. Einige Hundert Fälle sind in der ethnographischen Literatur beschrieben worden. Der prototypische Cargo-Kult entspinnt sich in einer kolonialen Situation und verarbeitet die Beobachtung, daß die reichen und technologisch überlegenen Kolonialherren ohne offensichtliches eigenes Zutun immer wieder begehrenswerte Konsumgüter geliefert bekommen, die sie aber mit den Melanesiern nicht zu teilen gewillt sind. Ein einheimischer Cargo-Prophet erhält nun die Nachricht, daß die eigenen Ahnen, die Amerikaner oder andere Außenseiter das Kommen einer großen Fracht (cargo) von westlichen Konsumgütern und/oder von Geld in Aussicht gestellt haben. Dieses cargo wird mit dem Schiff oder dem Flugzeug eintreffen und ist für die Einheimischen gedacht, manchmal wird sogar ein konkretes Datum vorhergesagt. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 192 Mitunter wird sogar behauptet, daß die Lieferung bereits erfolgt, aber nicht ihre Adressaten erreicht, da die Kolonialherren sich das cargo unrechtmäßigerweise selbst aneignen. Doch wenn die einheimische Gesellschaft soziale Harmonie herstellt und Konflikte, Hexerei u. ä. überwindet, wird die Fracht schließlich zu ihren Adressaten finden. Mitunter wird zusätzlich die Revitalisierung bestimmter traditioneller Praktiken gefordert, wie etwa von Tänzen oder dem Kava-Trinken, mitunter steht aber im Gegenteil gerade die Aufgabe traditioneller Praktiken und die Übernahme westlicher Kultur im Vordergrund, etwa durch den Bau von Landebahnen, Docks oder Lagerhäusern für das cargo oder durch militärisches Exerzieren im westlichen Stil. Besonders dann, wenn sie mit der Ablehnung von cash-crop-Produktion und Lohnarbeit in der kolonialen Wirtschaft oder sogar mit offener Feindseligkeit gegenüber den Weißen verbunden waren, erregten die Cargo-Rituale die Besorgnis der Kolonialverwaltungen und der diversen christlichen Missionare. Anfangs wurden die Kulte daher bekämpft, gewöhnlich durch Inhaftierung ihrer Anführer, ab den späten 1950er Jahren setzte sich aber als Leitlinie durch, die Anführer für die eigenen Zwecke einzuspannen. Manche Cargo-Kulte überdauern bis heute, mitunter in politische Parteien transformiert, und weiterhin ist das Verhältnis zu den Regierungen der nun unabhängigen Staaten meist nicht ganz frei von Spannungen. „Vailala Madness” ▶▸Ein sehr frühes Fallbeispiel bietet die sogenannte „Vailala Madness”, die 1919 unter den westlichen Elema der Gulf Division des australischen Mandatsgebietes – bis kurz zuvor noch deutsche Kolonie – ausbrach (Cochrane 1970: 1-63, Worsley 1957: 75-92). Im Gegensatz zum damals noch weitgehend unbekannten Inland waren diese Küstenbewohner bereits länger vom kolonialen System erfaßt worden, und katholische und protestantische Missionare hatten erste Bekehrungserfolge. Die traditionelle Kultur und auch die Position der Big Men, die sich vor allem durch Führungskraft im Krieg qualifizierten, geriet durch diese Entwicklungen und die Pazifizierung zunehmend unter Druck, denn die Europäer erwiesen sich in allen Belangen – Wirtschaft, Militär, Medizin etc. – als überlegen. Was zu wünschen übrig ließ, war allerdings ihre Bereitschaft, mit den Elema die reziproken Tauschbeziehungen einzugehen, die in der traditionellen Gesellschaft eine zentrale Rolle spielten. Hinzu kam, daß die Elema 1918 zum kommerziellen Anbau von Reis und Kokosnüssen gezwungen wurden und jetzt Steuern zahlen mußten. 1919 begannen einige der Elema zu verkünden, daß ihnen die Geister ihrer Ahnen erschienen seien und die Güter der Weißen als rechtmäßiges Eigentum der Elema bezeichnet hatten, das diese bald auch erhalten würden, da die Vertreibung der Kolonialherren bevorstand. Außerdem VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 193 würde ein Schiff mit den Geistern der Ahnen an Bord kommen, beladen mit Tabak, Stoffen, Messern, Äxten, Nahrungsmitteln und anderem cargo. Mitunter wurde angenommen, daß die Ahnen selbst eine weiße Hautfarbe hatten. Die Propheten wurden in der damaligen Verkehrsund heutigen Amtssprache, dem ▶▸Tok Pisin, als „head-he-go-round men” bezeichnet, da sie ihre Prophezeiungen in einem Trancezustand machten. Der Kult errichtete seine eigene Hierarchie von Big Men, die zum Teil auch aktiv missionierten und sich dorfübergreifend organisierten. Sie pflegten in eigens errichteten, nur ihnen zugänglichen Gebäuden den Kontakt mit den Toten. Sie verkündeten außerdem eine in Teilen puritanische Lebensweise, die Sauberkeit betonte und Diebstahl, Ehebruch und Ungehorsam streng verfolgte. Besonders die Bestattungsrituale wurden aufwendig gefeiert, da ja die Totengeister eine zentrale Rolle bei der Beschaffung des cargo hatten. Westliche Kulturelemente wurden außerdem eingearbeitet: So hießen die nur den Big Men zugänglichen Gebäude auch „office”, Fahnenmasten wurden errichtet, die dem Kontakt zu den Totengeistern dienten, und es wurden Exerzierübungen durchgeführt und Tänze durch Trillerpfeifensignale gestoppt und wieder aufgenommen. Die Anweisungen der Ahnen wurden zum Teil in einer unverständlichen Sprache verkündet, die als djaman bezeichnet wurde, interessanterweise die Sprache der gerade vertriebenen deutschen Kolonialherren des nordöstlichen Teils von Neuguinea, die ja Kriegsgegner der neuen Herrscher gewesen waren. Zudem wurden Tische in westlichem Stil gedeckt und mit Blumen dekoriert, an denen dann die in westlichem Stil gekleideten Honoratioren des Kultes Platz nahmen und bewegungslos verharrten, statt sich – wie von den Kolonialherren gewünscht – produktiv zu betätigen. Die „Vailala Madness” breitete sich in den 1920er Jahren aus, auch auf andere Ethnien, und da die Anführer zum Teil zur Verweigerung der Lohnarbeit aufriefen, sahen sich Kolonialverwaltung und Missionen zu ihrer Bekämpfung veranlaßt, was durch Inhaftierung der Anführer, Strafzahlungen u. ä. erfolgte. Erst 1931 erlosch die Bewegung, nicht ohne allerdings in den folgenden Jahren einen legendären Status zu genießen, demzufolge viele der damals gemachten Prophezeiungen tatsächlich eingetroffen waren und es sich also um eine Zeit der Wunder gehandelt hatte. Die Dekonstruktion des „Cargo-Kultes” „Vailala Madness” war interessanterweise nicht nur eine der ersten Cargo-Kulte nach heutiger Definition, sondern wurde auch als Sammelbezeichnung für ähnliche Bewegungen verwendet, also als der terminologische Vorläufer des heutigen „cargo cult”. Von „cargo” ist in den Berichten über die Elema und anderen solcher Bewegungen zwar durchaus die Rede, „cargo cult” taucht aber erst 1945 in der Presse auf, allerdings zu einem Zeitpunkt, wo er sich in der VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 194 kolonialen Alltagssprache bereits etabliert hatte (Hermann 1992: 68-69, Lindstrom 1993: 15-40). Die Ethnologie griff ihn alsbald auf und lieferte ab den 1950er Jahren reichhaltige ethnographische Beschreibungen einzelner Cargo-Kulte. ▶▸Laut Lindstrom (Lindstrom 1996) stellt ein Strang der Literatur die Verbindungen der Kulte zu anderen ▶▸millenaristischen Bewegungen weltweit heraus. („Millenaristisch” bezieht sich auf das Millenium, das kommende Tausendjährige Reich Gottes, und wird allgemein zur Bezeichnung religiöser Bewegungen benutzt, die eine solche Erwartung beinhalten.) Cargo-Kulte entstehen demnach wie diese in Reaktion auf schnellen Kulturwandel und koloniale Unterjochung und geben ihren Anhängern Erklärungen und Handlungsmöglichkeiten für die eigene unbefriedigende Lebenssituation. Ein anderer Strang der Literatur betont die Verbindungen zum melanesischen kulturellen Hintergrund, in dem schon immer der Austausch von wertvollen Gütern eine große Rolle gespielt hatte – denken sie etwa an den von Malinowski beschriebenen Kula-Ringtausch der Trobriander (Malinowski 1922). Und auch im Fallbeispiel der „Vailala Madness” wird ja längst nicht alles erneuert; die alten Big Men etwa werden vielmehr durch neue, religiös ausgewiesene Big Men ersetzt, nicht etwa durch eine tatsächlich egalitäre Sozialordnung. Seit den 1980er Jahren aber wird die ethnologische Skepsis gegenüber dem Konzept immer größer. Zusehends ist herausgearbeitet worden, daß das Etikett „Cargo-Kult” mit geringer Sensibilität für die Details auf eine große Zahl von religiösen Bewegungen aufgeklebt worden ist, die teilweise nur sehr am Rande auf den Erwerb westlicher Güter zielen und sich stattdessen politische oder ethnische Ziele setzen. „Cargo cult” bzw. auf ▶▸Tok Pisin kago kalt wird auch zusehends in Melanesien selbst als eine stigmatisierende Bezeichnung aufgefaßt. ▶▸In einem Artikel berichtet die Göttinger Ethnologin Elfriede Hermann dies für die Bewohner von ▶▸SorYabilol in der papua-neuguineanischen Provinz Madang (Hermann 1992). Das Dorf ist der Geburtsort von ▶▸Yali, dem Begründer der Yali-Bewegung, eines zum ethnographischen Klassiker avancierten Cargo-Kultes ▶▸ (Lawrence 1964). Yali selbst arbeitete im kolonialen Dienst, erst als boy, d. h. als Diener, später als Polizist und im Zweiten Weltkrieg als Soldat auf Seiten der Australier, und betätigte sich dann als Cargo-Prophet, mit solchem Erfolg, daß ihn die Kolonialverwaltung vor Gericht brachte und zu fünf Jahren Haft verurteilte. Nach seiner Freilassung 1955 wurde er erneut zur Leitfigur einer religiösen Bewegung und blieb dies bis zu seinem Tod 1975. Die Sor spalten Yalis Wirken in zwei historische Phasen, die vor seiner Haftstrafe und die danach. Die erstere reduzieren sie sehr stark auf seine auch im Sinne der Kolonialverwaltung und des heutigen papua-neuguineanischen Staates konstruktiven Lehren, etwa seine Aufforderung, VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 195 sich in der kolonialen Wirtschaft zu betätigen, die formale Schulbildung zu suchen, bewaffnete Konflikte und Hexerei zu unterlassen und respektable und hygienische Häuser und Toiletten zu errichten. Nach der Haftstrafe war Yali jedoch in der Erinnerung der Sor ein gebrochener Mann, und die nun zunehmend bizarren Züge seiner Lehren schreiben sie dem Einfluß von außerhalb gekommener Anhänger zu. Ein kago kalt, darauf bestehen sie jedoch nachdrücklich und im Widerspruch zum Lawrence-Buch, daß sie in seiner Tok Pisin-Übersetzung gelesen haben, ist die Yali-Bewegung niemals gewesen, und schon gar nicht unter den Sor. Denn keiner von ihnen ist naiv genug zu glauben, daß einem bloßes Dasitzen und Warten Reichtümer bringen kann, sagen sie. Hermann zufolge zeigt dies, daß die Sor einen emischen Begriff kago kalt zugrundelegen, der dem ethnologischen gar nicht entspricht, denn in den meisten in der Fachliteratur beschriebenen Fällen muß von den Kultanhängern durchaus etwas getan werden, um an das cargo zu kommen. Für sie manifestiert sich hier, daß „cargo cult” eben kein ausschließlich ethnologisches Wort, sondern außerhalb der Wissenschaft geprägt und von Anfang an in abwertender Absicht verwendet worden ist. Und diese abwertende Sichtweise, die sich bis heute unter der Elite des neuen Nationalstaats hält, teilen die Sor und wünschen darum nicht, mit kago kalt in Verbindung gebracht zu werden. Ob eine wissenschaftliche Verwendung des Begriffs „cargo cult” vor diesem Hintergrund noch sinnvoll ist, ist sicherlich eine gute Frage, die gegenwärtig intensiv diskutiert wird. Der Kult der Mami Wata in Westafrika Westliche Konsumgüter spielen auch in meinem zweiten Fallbeispiel eine gewichtige Rolle, und wiederum handelt es sich um eine Verarbeitung der globalen Bezüge, die die Kolonialisierung geschaffen hat. Es handelt sich um den Kult der Wassergöttin Mami Wata – eine Pidgin-Version von „mammy water”, also „Mutter Wasser” –, der in ganz Westafrika verbreitet und mittlerweile auch in Zentral- und Südafrika und auch in diversen Migrations-Zielländern auf dem Vormarsch ist. ▶▸Die ethnographischen Details entnehme ich einer Monographie von Tobias Wendl, Ethnologe an der Universität Bayreuth und Leiter des dortigen Iwalewa-Hauses (Wendl 1991). Ihm zufolge ist Mami Wata heute in mindestens 18 afrikanischen Ländern zwischen Senegal und Tansania bekannt, ein Verbreitungsgebiet, das „in der schwarzafrikanischen Religions- und Kulturgeschichte ohne Beispiel” ist (Wendl 1991: 10). VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 196 Merkmale der Mami Wata Mami Wata ist eine ambivalente Figur. ▶▸Sie wird als schöne, meist weiße Frau mit langem, nicht seltem blonden Haar imaginiert, oft mit einem Fischschwanz ausgestattet, ganz wie eine Sirene oder Nixe, da sie im Meer lebt. Sie vereint dabei Aspekte alter Wasser- und Schlangengeister mit den Zügen einer modernen Europäerin, denn auch die Europäer kamen übers Meer und werden daher in vielen afrikanischen Mythen als im Meer lebend beschrieben. Mami Wata kann ihre Anhänger mit in ihre Unterwasserwelt nehmen, dort mit Reichtümern beschenken, ihnen übernatürliche Fähigkeiten verleihen und sogar ihre Geliebte werden, der man ein eigenes Bett einrichtet, aber sie ist auch kapriziös, schnell beleidigt und dann in der Lage, schlimmstes Unheil anzurichten. Manchmal besteht ein regelrechter Teufelspakt, etwa wenn wie z. B. bei den Ibibio in Nigeria die Überzeugung herrscht, daß diejenigen, die sich mit Mami Wata einlassen, Reichtum, Macht und Schönheit gewinnen, aber keine Kinder mehr bekommen können. Mitunter kursieren nur Erzählungen über Mami Wata, oder sie ist eine Maskenfigur, aber wo innerhalb des Verbreitungsgebietes der Mami-Wata-Vorstellungen ihr gewidmete Kulte mit eigenen Priestern existieren, verläuft die Rekrutierung häufig wie eine klassische Schamanenkrankheit: Die zukünftigen Adepten erkranken plötzlich physisch und/oder psychisch, und niemand außer einem Mami-Wata-Priester, der sie die richtigen Formen der Verehrung lehrt, kann ihnen helfen. Da Mami Wata ein moderner Geist ist, ist ihre Hilfe häufig bei modernen Problemen wie z. B. Schul- und Universitätsprüfungen, Jobsuche oder Autokauf wirksam und kann über diese Priester erlangt werden. Die Gallionsfiguren an europäischen Schiffen, die andere Autoren als Quelle für das Bild der Mami Wata ausgemacht haben, verwirft Wendl, denn sie stellten tatsächlich nur äußerst selten Nixen oder Sirenen dar. Einflußreicher war aber das Plakat einer Schlangenbeschwörerin, die in einer der berüchtigten „Völkerschauen” der Familie Hagenbeck auftrat; dieses Plakat hat die Darstellungen in vielen westafrikanischen Ländern beeinflußt. Die Schlangen, die weitgeöffneten Augen, die fliegenden Haare, die laut Wendl den Eindruck einer Unterwasserszene aufkommen lassen, und vor allem die Tatsache, daß keine Beine zu sehen sind und der Fischschwanz damit nicht ausgeschlossen ist, fügten sich in die bereits kursierenden Vorstellungen. Und dank der europäischen Herkunft des Plakats wurde die Dargestellte auch als Europäerin gedeutet, ein ironisches Faktum, denn eine Europäerin hätte in den Völkerschauen keinen Platz gehabt. Stattdessen stammte das Modell des Plakats, von dem außerdem noch eine ▶▸Fotografie existiert, vermutlich aus Samoa. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 197 Mami Wata bei den Ewe und Mina Wendl hat eine 12monatige Feldforschung bei den Ewe und Mina, zwei kulturell eng verwandten Gruppen im Grenzgebiet von Togo und Ghana, durchgeführt, in deren Zentrum der dortige Mami-Wata-Kult stand. In den einheimischen Vorstellungen existiert eine Vielzahl von Geistern, von denen manche zu Clans oder anderen sozialen Einheiten gehören und durch deren Angehörige verehrt werden, manche wie eben auch Mami Wata aber auch an Individuen gebunden sind. Unter diesen Geistern sind Naturmächte, Tiergeister, potentiell bedrohliche Tote und Angehörige fremder Kulturen oder Subkulturen. Jeder der Geister hat ein unverwechselbares eigenes Profil, eine „Referenzkultur”, wie Wendl es nennt, und muß entsprechend dieser seiner Vorlieben und Abneigungen behandelt werden, wenn man eine gedeihliche Beziehung mit ihm pflegen möchte. Mami Wata kommt hier in vielen Spezialformen vor, die als miteinander in einer Verwandtschaftsbeziehung stehend aufgefaßt werden, etwa als ▶▸Mami Apuke, die dem Vorbild einer Parfümflasche von Dralle entspringt, oder als Mami Densu, die auf ein gedrucktes indisches Götterbild, das vermutlich Shiva darstellt, zurückgeht. Überhaupt werden christliche Heilige und Engel sowie hinduistische Götter in den Mami-Wata-Kult integriert, wo sie einfach nur einen neuen Clannamen erhalten, so daß es auch ▶▸Mami Gabriel, Mami Jesuvi oder Mami Vishnu gibt und diese entsprechend, d. h. etwa mit Rosenkränzen und Bibeln auf den Altären oder mit Sitar-Musik verehrt werden. Manche dieser Spezialformen gelten auch hier wiederum als die Geliebten der Priesterinnen bzw. Priester. Die freie Entscheidung für einen dieser Geister ist die Ausnahme; vielmehr sind es hier wiederum Krankheitsepisoden physischer oder psychischer Art, die den Ausgangspunkt bilden. Wenn der Kranke in Erfahrung gebracht hat, welcher Geist ihn ruft, und sich dann in dessen Kultgemeinschaft initiieren läßt, erholt er sich. Später bildet dann der Aufstieg zur/m PriesterIn, die im Trancezustand im Auftrag seiner/ihrer Klienten als VermittlerIn gegenüber dem eigenen Geist tätig wird, eine Möglichkeit zur Intensivierung der Beziehung. Kleinere Kultgemeinschaften haben nur einen Priester und eine Handvoll initiierte Anhänger, große können dagegen Hunderte von initiierten Anhängern haben und mit ihren Kult- und Konsultationsräumen mehrere Gehöfte füllen. In den Kulthäusern der Mami Wata werden Altäre errichtet, die meist die Form eines Tisches haben, oft mit mehreren Stufen. Auf die Altäre wird all das gestellt, von dem man annimmt, daß es Mami Wata mit ihrem europäischen Geschmack gefällt, etwa europäische Nahrungsmittel, Geschirr und Besteck, christliche bzw. je nach Spezialform auch hinduistische Kultgegenstände, Kinderspielzeug, Muscheln und andere Dinge aus dem Meer, vor allem aber auch Schmuck, VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 198 Parfüms, Cremes, Bürsten, Spiegel, Kämme, Lippenstift und andere Toilettenartikel aller Art. Wendl vermutet, daß die den schwarzen Dienstmädchen ja nicht verborgen gebliebenen Frisiertische der kolonialzeitlichen Europäerinnen hier einen Einfluß hatten. Und er zieht eine auf den ersten Blick überraschende Analogie, denn es „liegt … nahe, die Mami Wata-Altäre als eine Art Gegenstück zu unseren völkerkundlichen Museen zu betrachten. Wie unsere Museen, so sind auch die Altäre ein Sammelsurium von kuriosen Artefakten aus einer anderen Welt, über deren Innenleben man nur wenig weiß” (Wendl 1991: 219). Besessenheitskulte sind – und da bilden Fälle wie die vorhin beschriebene „Vailala Madness” keine Ausnahme – vielfach als Protestinstrument marginaler und statusniederer Personen gesehen worden, und Wendl fragt sich abschließend, ob dies auch auf den Mami Wata-Kult zutrifft. Er verneint dies, denn Mami Wata selbst mag als peripherer Geist gelten, ihre Anhänger unter den Ewe und Mina sind jedoch verglichen mit dem Bevölkerungsdurchschnitt gebildeter und auch älter, was allein für sich schon Status bringt. Gerade die gute Schulbildung und der hohe Anteil von Christen bedingt bei vielen von ihnen eine Vertrautheit mit der europäischen Kultur, von der sie dennoch im Alltag ausgeschlossen sind und die sie sich daher in der Verehrung Mami Watas aneignen. Eine Überwältigung durch die europäische Kultur, wie andere Ethnologen sie für die Verehrung von Fremdgeistern konstatiert haben, liegt allerdings nicht vor, denn der Mami-WataKult hat sich erst seit der Unabhängigkeit in großem Stil ausgebreitet. Eher sieht Wendl in ihm „eine Art individualistischer Kritik an der eigenen postkolonialen Nationalkultur” (Wendl 1991: 310). Die letztere distanzierte sich ja durch die Betonung indigener Elemente von den europäischen Werten. Und dies erzeugt laut Wendl in einer Gesellschaft, die durch die Vielzahl der Geister ja auch die individuelle Wahlfreiheit durchaus ermöglicht, in begrenztem Umfang eine Gegenreaktion, in diesem Fall in Form der Verehrung für einen Geist, der eine weiße, europäische Frau darstellt. Und damit erklärt sich auch die große Verbreitung des Kultes, denn die koloniale Begegnung mit den Europäern, so Wendl, ist ein transafrikanisches Phänomen. Apokalyptisches Christentum in Papua-Neuguinea Wendls Interpretation des Mami-Wata-Kultes als Absage an den eigenen Nationalstaat kommt am Schluß seines Buches etwas unvermittelt und hätte etwas Abstützung, z. B. durch entsprechende Äußerungen der Mami-Wata-Anhänger zu diesem Punkt, durchaus vertragen können. Aber sie zeigt, daß Religion und Nation durchaus miteinander in Beziehung stehen. In meinen drei noch folgenden ethnographischen Fallbeispielen wird dies ebenfalls deutlich. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 199 Jeweils eins davon widme ich den beiden Religionen, die gegenwärtig am augenfälligsten Akteure der Globalisierung sind, nämlich dem Christentum und dem Islam. Die apokalyptischen Erzählungen der Urapmin Zunächst zum Christentum, und zwar in einer Gruppe, die von der Globalisierung kaum stärker abgeschnitten sein könnte, ▶▸nämlich bei den Urapmin in der westlichen Sepik-Provinz PapuaNeuguineas, wie sie in einem Artikel von Joel Robbins von der University of California in San Diego beschrieben sind (Robbins 1998). Diese Gruppe von etwa 375 Personen lebt drei Tage Fußmarsch von einer größeren Mine und einen knappen Tag vom Ort der Distriktbehörde entfernt, was für neuguineanische Verhältnisse noch durchaus nah ist, verfügt aber nicht über die Landebahn für Kleinflugzeuge, die sonst in Neuguinea häufig den Anschluß an die Außenwelt sicherstellt. Der Lebensunterhalt wird weiterhin fast vollständig durch Subsistenz-Gartenbau erwirtschaftet. Der Staat unterhält eine kleine Krankenstation und eine Grundschule, also mehr Einrichtungen als in anderen, ähnlich abgelegenen Gebieten des bekanntlich ja sehr zerklüfteten Landes. Aber verglichen mit den Nachbarn der Urapmin, die durch ihre größere Nähe zum Distrikthauptort Zugang zu Gemüsevermarktungskanälen, landwirtschaftlicher Expertise, einem Krankenhaus und einer weiterführenden Schule haben, ist das trotzdem wenig. Da außerdem keiner von den Urapmin bislang den Aufstieg in die begehrten staatlichen Beschäftigungen bei Polizei, Schul- und Gesundheitsdienst geschafft hat, fühlen sie sich vom papuaneuguineanischen Staat vernachlässigt. Regierungsbeamte, so klagen sie, bekommen sie nur einmal im Jahr zu sehen, wenn diese kommen, um die Steuer einzutreiben. Die Urapmin sind Baptisten, gehören also einer protestantischen Richtung an, und sie laden ihre christlichen Überzeugungen mit einer guten Dosis millenaristischer und apokalyptischer Vorstellungen auf. Das Neue Testament endet ja bekanntlich mit der Offenbarung des Johannes, auch die Apokalypse genannt, und dort wird beschrieben, wie die Erde unter der Herrschaft des Antichrist zunächst ein dunkles Zeitalter der Katastrophen durchlebt, bis Jesus Christus wiederkehrt, siegreich aus der Schlacht von Armageddon hervorgeht und das Tausendjährige – also ewige – Reich Gottes für die vom Tode auferstandenen Gläubigen errichtet. Im mainstreamKatholizismus und –Protestantismus der Gegenwart spielen solche apokalyptischen Vorstellungen eine vergleichsweise geringe Rolle. Doch gibt es seit 2000 Jahren am Rande des christlichen Spektrums eine eigene Tradition von Gruppen, die das bevorstehende Zeitenende stärker ins Zentrum rücken oder sogar Anzeichen dafür finden, daß es bereits begonnen hat. Die Urapmin gehen davon aus, daß der Antichrist, den sie häufig mit dem katholischen Papst identifizieren, sein böses Werk bereits verübt, in manchen Versionen mithilfe von Computern VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 200 und Maschinen, wo es nur eines Knopfdrucks bedarf, um die blutige Verfolgung der guten Christen aufzunehmen. In manchen Erzählungen ist es die dreifache Sechs, also die Schreckenszahl des apokalyptischen Tieres in der Offenbarung, die allen, die sich dem Antichrist unterwerfen und so von ihm verschont werden, auf die Haut gedruckt wird. Jesus wird jedoch die Guten unter den Urapmin vor diesem Schicksal bewahren, und andere Erzählungen beschäftigen sich damit, wer genau dies sein wird und wie man durch christliche Lebensführung zu diesen Glücklichen gehören kann. Jedem Urapmin ist dies alles bekannt, und auf die Weltsicht der Gruppe hat es einen prägenden Einfluß. Die apokalyptischen Vorstellungen haben ihren Ursprung nicht bei den Urapmin, sondern in den Schriften englischer und amerikanischer Millenaristen, die sich teilweise enormer Verbreitung erfreuen; das 1970 von dem Amerikaner Hal Lindsey veröffentlichte Buch The Late Great Planet Earth etwa soll in den 1980er Jahren das meistverkaufte Buch in den USA gewesen sein. In diesen Schriften gelten die Ausbreitung der Geldautomaten und des Bar Codes auf Produkten sowie das wirtschaftliche Zusammenwachsen der Europäischen Union oder auch der (erste) Golfkrieg als Vorboten der alles an sich reißenden Weltregierung des Antichristen. Interessant ist nun, daß die Urapmin – und neben ihnen auch andere Bewohner PapuaNeuguineas (Eves 2003) – diese Vorstellungen aufgreifen, selbst vom wan wol gavaman und von der nu wol oda reden, die bald die Kontrolle über die Welt übernehmen werden, und Nachrichten wie die, daß in der nahen Minenstadt die Gehälter jetzt von einem Geldautomaten ausgezahlt werden, entsprechend deuten. Denn Geldautomaten, Computer, die dreifache Sechs oder der Papst existieren für die Urapmin nur in diesen Erzählungen; in ihrem normalen Alltag haben sie keinerlei Bedeutung. Die christliche Überwindung der Nation Robbins zufolge ordnen sich die Urapmin mit diesen apokalyptischen, ihren christlichen Glauben stark bestimmenden Erzählungen selbst ein, und zwar bezüglich der Größen Nation, Rasse und globalem Christentum. Der Nationalstaat vernachlässigt sie nach eigener Auffassung, und man könnte vermuten, daß er für ihr Weltbild eine vernachlässigbare Größe ist. Das trifft jedoch interessanterweise nicht zu. Vielmehr entwickeln die Urapmin etwas, was Robbins „negative nationalism” nennt. So enttäuscht sie von ihrer Nation sind, so selbstverständlich fest steht für sie dennoch, daß die moderne Welt eine der Nationen und ihre eigene eben nicht Australia oder Amelika, sondern Papua Niugini ist. Sie finden dafür auch biblische Vorbilder, denn die Apostelbriefe richten sich an einzelne, benannte Gemeinschaften wie etwa die Korinther oder die Galater, die die Urapmin als klar voneinander abgegrenzte Nationen auffassen. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 201 Und im Römerbrief des Paulus wird der Staat als legitime Institution verteidigt, eine Bibelpassage, die für die Urapmin nach der Offenbarung des Johannes die wichtigste ist. Aber die Selbsteinordnung als Papua-Neuguineaner bedeutet keineswegs, daß sie damit auch zufrieden sind: ▶▸„Instead, the Urapmin see their national identity as Papua New Guineans as a source of much what they dislike and wish to reject in themselves” (Robbins 1998: 110). Solchen negativen Nationalismus hat die einschlägige Forschung bislang nicht genügend zur Kenntnis genommen, argumentiert Robbins; stattdessen wird davon ausgegangen, daß die Nation ein Objekt der Liebe und des Stolzes ist bzw. sich nur als solches konstituieren kann. Doch auch andere Formen der kollektiven Identität, etwa über Rasse, Geschlecht, sexuelle Orientierung – Alter oder Berufsgruppe könnte man hier sicherlich noch hinzufügen –, bedeuten ja keinesfalls, daß man automatisch eine ungebrochen positive Einstellung dazu hat, z. B. sichtbar asiatisch, Frau oder homosexuell zu sein. Eine nationale Selbsteinordnung, die man zwar für sich selbst annimmt, die einem aber trotzdem keine Freude macht, darf also – so Robbins für mich überzeugender Einwand – nicht von vorneherein ausgeschlossen werden. Daß die Urapmin mit ihrer papua-neuguineanischen Identität so unzufrieden sind, liegt hauptsächlich daran, daß sie auch mit ihrer rassischen Selbsteinordnung zusammenfällt. PapuaNeuguinea wird demnach nicht politisches Versagen zum Verhängnis, sondern die Tatsache, daß es eine schwarze Nation ist, die somit unausweichlich unterhalb der weißen Nationen rangieren muß. Rassismus dieser Art hat, wie Robbins sagt, in der Forschung zu Papua-Neuguinea bislang wenig Aufmerksamkeit erhalten, ist aber trotzdem sehr verbreitet. Die Urapmin sind, wie ihm Hunderte von geradezu verstörend gleichartigen Bemerkungen zeigten, fest davon überzeugt, daß ihre schwarze Hautfarbe sie dazu verurteilt, den Weißen in so gut wie jeder Hinsicht – sei es Wissen, Disziplin, Großzügigkeit, Schönheit der Haut und des Haares, Gesundheit der Kinder etc. – unterlegen zu sein. Die rassische und die nationale Dimension überlagern sich, so daß diese eigenen Mängel als die aller Bewohner Papua-Neuguineas angesehen werden. Wiederaufflackernde Stammesfehden im Hochland, das Treiben von Jugendgangs in den Städten und Korruption in der Regierung sind damit so zu erklären, nicht etwa durch Defizite des wirtschaftlichen oder politischen Systems. Die Religion dagegen erlaubt es den Urapmin, den Gefängnissen ihrer Nation und ihrer Rasse zu entkommen, denn sie verbindet sie mit einer, wie Robbins sagt, transnationalen Gemeinschaft von Gläubigen, was z. B. im sonntagmorgendlichen Gottesdienst besonders stark empfunden wird. Überdies ist dies eine weiße Religion, denn sie breitete sich zuerst unter Weißen aus und wurde auch von Weißen nach Papua-Neuguinea gebracht, die auch heute noch die christlichen Missionen leiten. Zudem sind die Urapmin davon überzeugt, daß auch Jesus selbst weiß war, VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 202 weniger weil das irgendwo so geschrieben steht, sondern weil er nicht aus Papua-Neuguinea stammt und in Bethlehem geboren wurde, also an einem als weiß eingeordneten Ort. Doch ist das Christentum nicht nur eine weiße Religion, sondern auch eine, die alle ihre Gläubigen – auch die schwarzen – miteinander verbindet und ihnen in gleichem Maße die Liebe Jesu Christi verspricht. Die Verbindungen äußern sich auch faktisch, in Form von abgegriffenen religiösen Traktaten oder Fotokopien derselben, die die Urapmin erreichen. Hier erfahren sie die im Titel des Artikels erwähnten wol nius („world news”), d. h. die apokalyptischen Enthüllungen über die Vorgänge in der weiten Welt, und wenn ein solches Traktat etwa in einem Karton mit Fischdosen auftaucht, ist dies für die Urapmin-Gläubigen die Segenstat eines christlichen Freundes in der fernen Welt, der sie auf die apokalyptischen Vorgänge aufmerksam machen will. Das Christentum bietet den Urapmin also eine Perspektive der Überwindung ihrer eigenen nationalen und rassischen Identität durch die Aufnahme in eine globale Gemeinschaft. Robbins fordert abschließend dazu auf, diesen Aspekt der Identitätskonstruktion durch globale Bezüge stärker einzubeziehen. Denn wie die Urapmin demonstrieren, muß die eigene Positionierung in der äußersten Peripherie des Weltsystems keinesfalls heißen, daß die Nation und sie überwindende, transnationale Kräfte wie in diesem Fall die Religion für die Selbsteinordnung keine Bedeutung haben. Islam in Frankreich Hinüber nun ins Zentrum des Weltsystems und zu einer weiteren Weltreligion, anhand eines Fallbeispiels, das wiederum die Frage stellt, wie sich Religion und Nation im Verhältnis zueinander verorten. ▶▸John Bowen, Professor an der Washington University in St. Louis und übrigens auch Autor eines recht brauchbaren Lehrbuchs der Religionsethnologie (Bowen 1998), ist dem per Feldforschung in Paris nachgegangen (Bowen 2004). Wie wir es ja auch aus Deutschland kennen, wird in Frankreich das Verhältnis zwischen Staat und Religion gegenwärtig besonders stark mit Bezug auf den Islam diskutiert, hier wie dort dadurch bedingt, daß dieser mittlerweile die drittgrößte Religion mit Millionen von meist immigrierten Anhängern ist. „Islam de France” statt „en France” Französische Regierungsvertreter und muslimische Intellektuelle erheben in dieser Debatte die Forderung nach einer neuen, national angepaßten Form des Islam, also einem „Islam de France” statt nur einem „Islam en France”. Worin genau dieser bestehen soll, ist strittig: Für manche Muslime und viele Nicht-Muslime ist es ein eher innerlicher Islam der Frömmigkeit, der das VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 203 islamische Recht aufgibt und auf Rituale wie Gebete und Opfer weniger Wert legt; für viele andere Muslime ist es das Bemühen, den Islam in einem europäischen Kontext neu zu durchdenken, jedoch ohne auf die grundlegenden Prinzipien und rituellen Praktiken zu verzichten; für viele französische Nicht-Muslime ist es die kulturelle Anpassung an die französische Gesellschaft, etwa durch Designer-Kopftücher statt der herkömmlichen islamischen, durch die Aufgabe der islamischen Nahrungstabus oder durch den regelmäßigen sozialen Umgang mit den französischen Nicht-Muslimen, und für den französischen Staat ist es ein Islam mit französischen Institutionen und in Frankreich ausgebildeten, d. h. vom Staat kontrollierbaren Imamen. Dies widerspricht jedoch für viele Muslime den universalistischen Forderungen des Islam, der keine Nationen, sondern nur die globale umma, d. h. die Gemeinschaft der Gläubigen, anerkennt und es zudem von diesen Gläubigen verlangt, die Zugehörigkeit durch Kleidung und Ernährung auch zu demonstrieren. Soll dies nun an Europa angepaßt werden, etwa durch die Erlaubnis von (den im Islam eigentlich verbotenen) Ratenkäufen oder von zivilen Heirats- und Scheidungszeremonien, eben weil die Muslime hier anders als etwa in Saudi-Arabien eine Minderheit sind? Oder sollte sogar die gesamte islamische Rechtstradition überdacht und aufgrund der allgemeinen göttlichen Prinzipien, also der shari’a, neu formuliert werden? Um diese Fragen dreht sich laut Bowen die theologisch-politische Diskussion in den muslimischen Immigrantenkreisen. Der Hintergrund ist eine mit Deutschland vergleichbare Immigrationssituation, in der hauptsächlich männliche, gering qualifizierte Arbeiter angeworben wurden, unter der Prämisse, daß sie eines Tages in ihre Heimat zurückkehren und also nur Gastarbeiter sein würden, um deren Integration man sich daher keine Gedanken machen brauchte. Und genauso wie in Deutschland blieben die Gastarbeiter und holten ihre Familien nach bzw. gründete welche in Frankreich, was nicht wenigen Franzosen nicht gefällt – denken sie an Le Pen und seine Parteifreunde von der Front National, aber auch an Chiracs diverse Bemerkungen zur Natürlichkeit von ausländerfeindlichen Ressentiments. Stärker allerdings als in Deutschland haben die Kinder der hauptsächlich aus dem Maghreb stammenden Immigranten, die sogenannten beurs, eine eigene, neue ethnische Identität entwickelt, und im Unterschied zu Deutschland haben auch die meisten von ihnen die französische Staatsbürgerschaft, was es nicht ganz so leicht macht, ihre Bedürfnisse zu ignorieren. Die Strategie des französischen Staates Anders auch als in Deutschland ist die Trennung von Staat und Kirche eine aus der Französischen Revolution erwachsene Prinzipienfrage. Verfassung und Gesetz verbieten die VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 204 Unterstützung von Religionen durch den Staat und den Gebrauch religiöser Symbole durch Staatsbedienstete, ein Prinzip, das als ▶▸laïcité bekannt ist. Von vielen Lehrern wird dies auch als generelle Schranke gegen das Eindringen der Religion ins Klassenzimmer aufgefaßt, und so sind sie und die Rektoren auch immer wieder gegen kopftuchtragende Schülerinnen aktiv geworden und haben z. B. mit Streiks gedroht. Und auch Präsident Sarkozy hat sich noch als Innenminister z. B. vor muslimischen Führern für französisch ausgebildete Imame starkgemacht und bestand auf der Verpflichtung für französische Bürger, sich für ihren Personalausweis ohne Kopfbedeckung fotografieren zu lassen. Die Regierung verfolgt allerdings eine gespaltene Strategie, denn sie greift durchaus auch auf die Kooperation der Herkunftsstaaten der Muslime zurück. Traditionsgemäß hält sie sich nämlich aus religiösen Fragen nicht völlig heraus, sondern versucht vielmehr, für jede Religion eine Art privilegierten Ansprechpartner zu etablieren, Organisationen also wie z. B. der Zentralrat der Juden in Deutschland. Und trotz aller Bekenntnisse zu Islam de France akzeptiert die französische Regierung faktisch, daß die wichtigsten muslimischen Moscheen und Organisationen in Frankreich durch ausländische Regierungen, vor allem die marokkanische, tunesische, saudi-arabische und türkische, finanziert und ihre Führer durch diese Regierungen auch mehr oder weniger kontrolliert werden. Vor der Einsetzung des angestrebten Vertretungsgremiums für alle Muslime in Frankreich, des ▶▸Conseil Français du Culte Musulman (CFCM), brüstete sich der damalige Innenminister Sarkozy denn auch entsprechend damit, die einschlägigen Staaten bereist und ihre Unterstützung für das Projekt eingeholt zu haben. Globaler Islam und die Grenzen des „Islam de France” Viele Muslime ziehen jedoch hier nicht mit, denn paradoxerweise entdecken sie gerade in einer Diasporasituation die globale Dimension ihrer Religion. Im Gegensatz zum Ursprungsland, wo der Islam eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit und stark von lokalen Besonderheiten geprägt war, begegnen sie nun, wo sie eine Minderheit bilden, Gläubigen mit ganz anderen lokalen Traditionen, so daß – wie es bereits Gardner für Bangladesh berichtete – ein transnationaler Hochislam an Einfluß gewinnt. Dies gilt etwa für junge Frauen, die sich in Frankreich für das Kopftuch entscheiden. Nur selten tragen sie es dann genauso wie z. B. in Nordafrika, sondern wählen stattdessen die im universalen islamischen Sinne korrekte Weise, bei der das Haar vollständig bedeckt ist. Ähnlich ist es auch bei einer Art Messe der Muslime in Frankreich, die von einer relativ konservativen, von Marokko aus finanzierten Organisation veranstaltet wird. In drei alten VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 205 Flugzeughangaren werden Bücher, CDs, Videos, religiöse Artikel und Kleidung verkauft, Organisationen aller Art stellen sich vor, Videos zu den gegenwärtigen Konflikten, an denen Muslime beteiligt sind – Palästina, Tschetschenien, Irak – werden gezeigt, und das uns schon bekannte Mecca Cola wie auch „Muslim Up”, eine Variante zum globalen, nur in Deutschland aus mir nicht bekannten Gründen nie besonders populär gewordenen „Seven Up”, werden ausgeschenkt, und es ist auch viel Arabisch zu hören, also die prestigeträchtige Sprache des Korans. Sarkozy nutzte dieses Forum 2003 für seine oben erwähnte, mit Pfiffen quittierte Rede, bei der er in Frankreich ausgebildete Imame forderte. Doch werden ansonsten muslimische Redner aus Ägypten, Saudi-Arabien und anderen arabischen Ländern eingeladen, und diese sind für die meisten der von Bowen befragten Besucher, von denen etwa 90 Prozent aus dem Maghreb stammen, die Hauptattraktion. Bowen zufolge hat dies die folgende Wirkung (Bowen 2004: 50): ▶▸„The fact that these authorities come from North Africa and the Arabian Peninsula adds legitimacy to the proceedings for younger Muslims. At the assemblies, the selection of speakers, the ubiquity of Arabic, and the experience of being surrounded by signs of Islam—books, videotapes, objects of daily use—all create an image of Islam as a global religion, and perhaps also create a sense of a diaspora.” Ähnliches spielt sich auch in einem weiteren von Bowen beschriebenen Fall ab: ▶▸Larbi Kechat, der in Algerien geborene Rektor einer Pariser Moschee, ist einer der prominentesten Befürworter einer Anpassung der islamischen Prinzipien (▶▸maqâsid) an die jeweiligen spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen, also dem, was sich manche unter einem „Islam de France” vorstellen. Seine Moschee ist die erste, die neben arabischen auch französische Predigten anbietet. Zudem veranstaltet er recht bekannt gewordene, ebenfalls arabischfranzösische Podiumsdiskussionen zu religiösen oder sozialen Themen, zu denen auch immer mindestens ein Nicht-Muslim als Diskutant eingeladen wird; einmal auch Bowen selbst. Gleichzeitig hält Kerbat jedoch die Verbindung mit den islamischen Ausbildungszentren in der arabischen Welt aufrecht und lädt zu jeder der Diskussionsrunden auch von dort einen Gast ein. Diese islamischen Gelehrten haben oft wenig Geduld mit Anpassungsversuchen an die französische Gesellschaft. Bowen berichtet eine spezielle Begebenheit, wo der Gastredner Kechat, der es für zulässig erklärt, daß Muslime in Frankreich Darlehen aufnehmen, direkt widerspricht und unterstreicht, daß es keine zwei Islame, sondern nur einen geben kann. Kechat steckt hier Bowen zufolge in einem Dilemma, denn die Legimität der islamischen Gelehrten aus den arabischen Ländern gilt als unbestritten größer als die seine. ▶▸„In bringing the authority of the ‚Muslim world’ to France, Kechat in effect presents ‚Islam’ as external to ‚France’, even as VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 206 he, through his activities as much as in his views, holds just the contrary position” (Bowen 2004: 52). Bowen formuliert dies nicht so klar, aber es ist ein islamisches Weltsystem mit einem eigenen Zentrum, das sich hier formiert und dessen Existenz den Gläubigen in der Diasporasituation um so bewußter zu werden scheint. Dies geschieht nicht nur durch die Begegnung mit den Andersgläubigen, sondern gerade auch durch die bewußte Auseinandersetzung mit Muslimen aus anderen Ländern bei Ereignissen wie der Messe oder den Podiumsdiskussionen. Trotz der Rede vom Islam de France erhält das unbestrittene Zentrum des globalen Islam, nämlich die arabischen Länder mit ihren religiösen Organisationen, Bruderschaften und Gelehrten, damit neue Autorität. Eine Meeresgöttin als Brücke zwischen China und Taiwan Auch das letzte Fallbeispiel betrifft die Verbindung zwischen Religion und Nation und bringt als zusätzliche Größe auch die Massenmedien in sehr prominenter Rolle hinein. Außerdem landen wir wieder bei einer mit dem Meer verbundenen übernatürlichen Gestalt, so wie Mami Wata. In einem Artikel beschreibt die chinesische, an der University of California in Santa Barbara arbeitende Ethnologin Mayfair Mei-hui Yang neuere Entwicklungen im Kult der Göttin Mazu, der die beiden feindlichen Brüder, die Volksrepublik China und Taiwan, wieder zu verbinden beginnt (Yang 2004). Bekanntlich wurde Taiwan ja nach der Machtergreifung durch Mao und die Kommunisten zum Rückzugsgebiet für den vorherigen Machthaber, General ▶▸Chiang Kai-Chek und seine Anhänger, und in der Folgezeit betrachteten sich beide Staaten als rechtmäßige Vertreter des gesamten Chinas. Die Volksrepublik sieht in Taiwan bis heute eine bloße Provinz, und umgekehrt setzte in Taiwan das letzte in China gewählte Parlament unbeirrt seine Arbeit fort, so als ob es weiterhin ganz China regieren würde. Dies führte zu grotesken Entwicklungen, denn die Abgeordneten behielten mangels weiterer Wahlen in ihren chinesischen Wahlkreisen einfach ihre Sitze. In den 1980er Jahren waren viele von ihnen so alt und gebrechlich, daß sie den Sitzungen kaum mehr folgen konnten, und wer starb, wurde durch die bei den letzten Wahlen unterlegenen Kandidaten ersetzt. Taiwan definierte sich schließlich unter dem Druck der jüngeren Generation, der das Verständnis für diese Rückwärtsgewandtheit fehlte, doch noch zu einem faktisch eigenständigen Staat um. Doch immer dann, wenn dieser Anspruch zu offensiv formuliert wird, setzen volksrepublikanische Drohungen ein. Bis heute hat Taiwan eine offizielle Unabhängigkeitserklärung vermieden, und die meisten Staaten – darunter auch Deutschland und VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 207 sogar die große Schutzmacht USA – vermeiden mit Rücksicht auf die Volksrepublik die offizielle Anerkennung und unterhalten nur inoffizielle Vertretungen. Längst schon bestehen allerdings intensive Wirtschaftsbeziehungen zwischen Taiwan und China, so daß wir eine wie immer geartete Wiedervereinigung, vielleicht nach dem Hongkonger Vorbild, sicherlich noch erleben werden. Die Göttin Mazu Die populärste Gottheit in Taiwan, die von etwa 70 bis 80 Prozent der Taiwanesen verehrt wird, ist die Meeresgöttin ▶▸Mazu. Wie vieles in Taiwan stammt sie vom Festland und hat ihr rituelles Zentrum auf der Insel Meizhou in der Küstenprovinz Fujian. Nun, wo der Reiseverkehr mit der Volksrepublik immer stärker erleichtert wird, sind es vor allem taiwanesische Frauen aus der unteren Mittelschicht und vom Lande, die Pilgerfahrten zum Tempel der Mazu auf Meizhou unternehmen. Eine im Jahr 2000 geplante direkte Überfahrt von Taiwan aus kam nicht zustande, und so war wiederum der umständliche Umweg über Hongkong nötig, doch auch so wurde die Reise zum Medienereignis, an der neun Fernsehteams und mehrere Zeitungen teilnahmen. Zusammen mit mehreren Statuen der Mazu nahmen etwa 2000 Pilger an der Reise teil. Yang war ebenfalls dabei und analysiert die gemachten Beobachtungen und weitere Ergebnisse von kürzeren Feldforschungen in Taiwan. Für beide Staaten war die Pilgerfahrt eine politisch heikle Angelegenheit. Der sie organisierende ▶▸Zhenlan-Tempel in der taiwanesischen Stadt Dajia unterstützte eigentlich die Partei des Präsidenten Chen, der größere Unabhängigkeit von der Volksrepublik anstrebte, aber stärkte mit der Reise den religiösen Bezug auf das Festland. Die Volksrepublik hingegen befürwortet zwar offiziell solche Reisen, da sie die nationale Einheit aller Chinesen unterstreichen, legt jedoch keinerlei Wert auf das Vordringen volksreligiöser Elemente in seiner Bevökerung und überwachte daher jeden Schritt der taiwanesischen Pilger. Die Pilgerfahrt 2000 verlief ohne größere Pannen und brachte vor allem auf Seiten der Medien einige interessante Neuerungen. Mehrere Satelliten- und Kabelsender waren beteiligt, und Yang schildert die Schwierigkeiten, die diese haben, für die eigentlich bereits genehmigten Live-Übertragungen von den volksrepublikanischen Sendern einen Wagen für die Kommunikation mit den Satelliten zu bekommen. Weitere Probleme gibt es mit den chinesischen Behörden, die eine Live-Übertragung der Hauptrituale aus Angst vor politischen Äußerungen zunächst nicht genehmigen wollen; schließlich findet man einen Kompromiß. All dies stellt ein Novum in der medialen Zusammenarbeit da, dem besonders die beteiligten taiwanesischen Sender große Bedeutung beimessen, denn sie sehen ihren zukünftigen Markt auf VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 208 dem Festland. Yang sieht hier eine merkwürdige Partnerschaft zwischen Religion und Massenmedien, die darin zusammenarbeiten, eine ehemals undurchdringliche Grenze aufzulösen. Hintergründe des Mazu-Kultes Der Kult der Mazu widersetzt sich aber einem einfachen pan-chinesischen Nationalismus, denn er steht auch im Zentrum einer allgemeineren Indigenisierung (▶▸bentuhua), die gegenwärtig in Taiwan stattfindet. Die Taiwanesen erinnern sich ihrer besonderen Wurzeln, insbesondere der ▶▸Hakka und der Min, zweier chinesischer Ethnien bzw. Sub-Ethnien, die sich weiterhin in Fujian auf dem Festland finden, aber auch schon vom 16. bis 19. Jh. und damit vor der politisch bedingten Fluchtwelle nach der kommunistischen Machtübernahme die Insel besiedelten. Die Schutzgottheit dieser frühen Siedler bei ihrer Überfahrt über die taifungeplagte Taiwan-Straße war Mazu. Die Göttin schafft also – wie Yang zwar nicht so klar herausarbeitet, aber meiner Ansicht nach auf der Hand liegt – transnationale Verbindungen und hebt trotzdem regionale, also subnationale Identitäten hervor. Mazus grenzüberschreitende Rolle hat Tradition. Wie alle chinesischen Gottheiten war sie ursprünglich ein Mensch, geboren im Jahr 960 in der Provinz Fujian. Sie lebte vorbildlich, rettete ertrinkende Matrosen, starb 987 unverheiratet und stieg dann in den Himmel auf. Anfänglich die lokale Göttin armer Fischer, erfuhr ihr Kult kaiserliche Patronage, so daß schließlich Tausende von Mazu-Tempeln an der ganzen chinesischen Küste errichtet wurden und sie per Emigration ihrer Anhänger auch nach Taiwan, Japan und Südostasien gelangte. Zusätzlich zu ihrer Schutzfunktion für die Seefahrer befördert sie die weibliche Fruchtbarkeit und hilft bei persönlichen und familiären Problemen. Mit wachsendem allgemeinen Wohlstand und sinkendem politischen Einfluß der vom Festland geflohenen Regierungspartei ▶▸Guomindang ist der Kult der Mazu seit den 1980er Jahren in Taiwan immer populärer geworden. Die volksrepublikanischen Haupttempel der Mazu wurden in der Kulturrevolution zerstört, doch seither zum Teil mit lokalen Spenden, hauptsächlich aber mit taiwanesischen Geldern wiederaufgebaut, und die chinesische Führung sieht ihre Rolle als Touristenmagnet und Symbol für die nationale Einheit mit Wohlgefallen. Der Bezug auf die festländischen Tempel und die Organisation von Pilgerreisen dahin ist für die taiwanesischen Mazu-Tempel auch eine Prestige- und Konkurrenzangelegenheit. Dem bereits erwähnten Zhenlan-Tempel ist es durch die zum 1000jährigen Todestag der irdischen Mazu veranstaltete erste Reise 1987 und die geschickte mediale Vermarktung der weiteren Pilgerreisen, zu denen die Fernsehteams eingeladen wurden und auf die mit teurer Werbung hingewiesen wurde, gelungen, zum einflußreichsten Mazu-Tempel in Taiwan aufzusteigen. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 209 Die Tempel der Göttin Mazu stehen zueinander in einer verwandtschaftlich gesehenen Beziehung, denn um einen neuen zu errichten, war es erforderlich, Weihrauchasche von einem alten, dann als Muttertempel betrachteten Tempel zu erhalten. Yang zitiert die Analyse des Kollegen Steven Sangren, derzufolge die wenigen weiblichen Göttinnen des chinesischen Pantheons hier analog zu den chinesischen Ehefrauen zu sehen sind, die in dieser traditionell virilokalen Gesellschaft ebenfalls zu reisen hatten und damit Verbindungen zwischen ihren alten und neuen Wohnorten schufen. Yang zufolge könnte es sich aber auch um ein unterdrücktes matrilineares Element handeln, denn Mazu bedeutet wörtlich „mütterlicher Ahne”. Die Tempel selbst beschneiden allerdings dieses Potential, da sie meist nicht bereit sind, ihre eigene Abstammung von anderen Tempeln über mehr als zwei oder drei (Tempel-)Generationen hinaus anzuerkennen und jenseits dessen einen direkten Bezug zum Ausgangspunkt Meizhou in China behaupten. Yang zufolge ist das subversive religiöse Potential des Kultes in der Volksrepublik bislang noch begrenzt; sie beobachtet bei der einheimischen Bevölkerung Verständnislosigkeit für das, was die taiwanesischen Pilger aufs Festland treibt. Doch verbinden sich hier trotzdem populäre Religion und Massenmedien in einem Versuch, einen grenzüberschreitenden Raum zu schaffen, der gleichzeitig aber regional definiert und nicht auf die jeweiligen nationalen Zentren ausgerichtet ist: ▶▸„Mazu worship is a polytheistic regional cult that counters the mainland’s monological, secular, and centralized national imaginary. … In her female affinal role, Mazu bridges and transcends two masculine spaces, ritually constructing local spaces of identity around village or town temples and a transnational space of identity across coastal China and Taiwan. Her cult creates alternative ritual centers (Meizhou, Dajia, Beigang) to national capitals, shrines to national heroes, and commercial hubs” (Yang 2004: 231). Fazit In der Tabelle habe ich einige der globalisierungsbezogenen Merkmale der fünf Fallbeispiele zusammengestellt. Es ist ein eher illustrativ gemeinter Vergleich, denn die Auswahl der Fälle hat keine besondere theoretische Begründung. Klar wird hierbei, daß es in allen fünf Fällen Zentrum-Peripherie-Beziehungen gibt und daß die Aktivitäten in der Peripherie im Vordergrund der ethnologischen Betrachtung stehen. Dies gilt auch für Yangs Analyse des Mazu-Kultes, denn sie macht sich mit taiwanesischen Anhängern auf die Reise zu den zentralen Kultstätten in China. (Hier kann man allerdings einschränken, daß das soziale Zentrum des Mazu-Kultes heute sicherlich eher in Taiwan liegt, wo er nicht unterdrückt worden ist.) Das Zentrum wird in den VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 210 meisten Fällen jedoch nicht ungebrochen positiv bewertet: Das cargo ist zwar begehrt, doch auf die es widerrechtlich zurückhaltenden Kolonialherren könnte man verzichten. Mami Watas europäische Attribute sind positiv, aber sie selbst ist launisch und kann sehr gefährlich werden. Den Urapmin gilt alles Weiße und Europäische als überlegen, aber der Antichrist und der Papst sind ebenfalls in Europa aktiv. Und ambivalent sind für die taiwanesischen Pilger auch die Mazu-Stätten auf dem Festland, weniger an sich als wegen des politischen Systems, das sie kontrolliert. Nur im Fall der französischen Muslime werden dem Zentrum offenbar keine negativen Gefühle entgegengebracht. Religion veranlaßt in vieren der Fälle dazu, die Stellung der eigenen Nation zu reflektieren. In Westafrika und bei den Urapmin bekommt der Nationalstaat davon wenig mit, aber sowohl im Fall der französischen Muslime als auch der Mazu-Anhänger reagieren die Nationalstaaten darauf, durchaus mit in sich widersprüchlichen Strategien: Die Volksrepublik China versucht die taiwanesischen Mazu-Pilger für ihre Wunschvorstellung vom wiedervereinten Vaterland zu umarmen, aber aus Angst vor politischem Aufruhr und volksreligiöser Unterwanderung ist dies eine sehr kontrollierende Umarmung. Der französische Staat propagiert einen „Islam de France”, bedient sich aber bei der Benennung von islamischen Repräsentanten der Vertreterorganisationen, die von den jeweiligen Herkunftsstaaten unterstützt und auch kontrolliert werden. Ein völlig unproblematisches Verhältnis zwischen Nation und globalisierter Religion liegt hier in keinem Fall vor. Globale Verbindungen bedeuten nicht unbedingt umfangreiche religiöse Reisetätigkeit. Im Fall des französischen Islam reisen hauptsächlich die Islamgelehrten aus den arabischen Ländern, und dies bestätigt Kokots Beobachtung, daß Transnationalismus oft ein Elitephänomen ist. Nur im Fall der Mazu-Anhänger kommt es zu organisierten Reisen einer größeren Zahl gewöhnlicher Gläubiger. Was allerdings in allen Fällen reist – und hier erfährt Appadurais Überzeugung von der Wichtigkeit der mediascapes Unterstützung –, sind mediale Repräsentationen. So spärlich und zufällig sie im Fall des Mami-Wata-Kultes (Plakate) und auch der Urapmin (apokalyptische Pamphlete) fließen, haben sie dennoch als Quelle der Kulturkonstruktion eine zentrale Rolle gespielt. Und sowohl beim französischen Islam als auch bei der organisierten Pilgerreise nach Meizhou scheint der mediale Verkehr den tatsächlichen Reiseverkehr der Personen an Umfang zu übertreffen – ohne den letzteren könnte er wohl nicht stattfinden, wirkt aber wie eine Art Megaphon. Soweit die mir auffallenden Vergleichsaspekte. Eine eingehendere Betrachtung des Themas Globalisierung der Religionen würde sicherlich auch eine stärkere Einbeziehung der transnationalen Organisationsformen von Religion erfordern, als ich es hier geleistet habe. Nicht VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 211 nur die alten „Weltreligionen”, ihre Teilorganisationen wie etwa die katholischen Orden und ihre Absprengsel wie etwa die wachsende Zahl der Pfingstkirchen sind transnational organisiert, sondern auch alle möglichen kleineren Religionen sowohl älterer als auch neuerer Prägung. Hierzu gibt es eine wachsende Zahl von ethnologischen Studien, aber sicherlich auch noch sehr viele weiße Flecken der ethnographischen Landkarte, die zu füllen sich lohnen wird. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 212 Teil XI: Die Globalisierung der Indigenen Einleitung Im Kapitel zu Migration, Diaspora und Transnationalismus spielten Menschen eine Rolle, deren Leben von Bewegungen über häufig recht große Räume geprägt ist, nicht immer unbedingt ihren eigenen, aber doch zumindest denen ihrer Eltern oder Großeltern. Gar nicht so wenige Menschen bleiben allerdings auch im Zeitalter der Globalisierung dort, wo sie sind, und manche Gruppen von Menschen gelten gerade deshalb als etwas Besonderes, weil sie – wie man glaubt – schon immer dort gewesen sind, wo sie sind. Um solche Gruppen soll es im folgenden gehen, nämlich um Indigene, also um das, was der Normalbürger oft als „Ureinwohner” bezeichnet und was auch als „Vierte Welt” – im Gegensatz zur „Dritten Welt” der Mehrheitsgesellschaften in den ärmeren außereuropäischen Ländern – oder als „First Peoples” bezeichnet wird. „Indigener” ist natürlich ein relativer Begriff. Außerhalb Ostafrikas – oder wo immer die Wiege der Menschheit stand – ist Homo sapiens ja überall ein Immigrant. Aber es existieren natürlich Gruppen, die die Nachfahren der ersten historisch oder auch archäologisch nachgewiesenen Bewohner eines bestimmten Gebietes sind bzw. zu sein beanspruchen. Vor allem dann, wenn andere immigrierte Gruppen sie in historischer Zeit verdrängt haben oder sie heute innerhalb der Nationalstaaten an den gesellschaftlichen Rand drängen, werden sie häufig als Indigene bezeichnet. Dazu zählen etwa die nord- und südamerikanischen Indianer, die Aborigines, die Maori oder die Ainu in Japan als Minderheiten, die von einer in historischer Zeit oder erst in den letzten Jahrhunderten immigrierten Mehrheit dominiert werden. Schwieriger wird es in Afrika: Dort besteht die Tendenz, Jäger und Sammler wie die San oder die Mbuti als Indigene zu betrachten und nicht die anbautreibenden Gruppen, die direkt neben ihnen wohnen. Die letzteren sind auch tatsächlich oft später in die betreffenden Gebiete eingewandert. Allerdings liegt dies schon viele Jahrhunderte zurück, und aus Sicht der weißen Kolonialbevölkerung im subsaharischen Afrika waren alle schwarzen Afrikaner Indigene. Die Grundlage für die Klassifizierung nur der Jäger und Sammler als Indigene ist damit deren weniger die Migrationsgeschichte als ihre als urtümlicher eingestufte Wirtschaftsweise. Ähnliches läßt sich für die Volksrepublik China sagen. Dort haben die Han-Chinesen, also die Mehrheitsethnie, sicher keine weniger lange Geschichte als z. B. die vielen ethnischen VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 213 Minderheiten im Südosten des Landes, doch werden trotzdem eher die letzteren – wiederum wegen größerer wahrgenommener „Primitivität” – als Indigene eingeordnet (wenn die Existenz von Indigenen nicht überhaupt bestritten wird). Indigener ist also kein der wissenschaftlichen Durchdringung in allen Aspekten standhaltender Begriff, aber eine soziale Realität. In vielen Staaten existieren ethnische Minderheiten, denen eine längere Präsenz und/oder eine größere Traditionalität zugeschrieben wird als der heute dominanten Mehrheit und die aus diesem Grunde auch einen anderen Status haben als Minderheiten, die durch rezente Immigration entstanden sind. Was genau dieser Status ist und was er den Indigenen bringt, unterscheidet sich von Fall zu Fall sehr stark; die Spannweite reicht von gar nichts außer Schwierigkeiten und Diskriminierung bis hin zu anerkannten Landansprüchen, religiösen Sonderrechten und einem Nimbus als Hüter spiritueller Weisheit, Freund der Natur und Garant kosmischer Harmonie. Und wie genau der Einzelfall aussieht, wird heute stärker denn je von der Globalisierung beeinflußt, auf Arten und Weisen, die ich im folgenden schildern möchte. Es handelt sich hierbei um einen der interessantesten Aspekte der Globalisierung, der zudem auch Ethnologen sehr stark als Akteure einbezieht, ob diese das nun anstreben oder nicht. North Sentinel Island – der globalisierungsfernste Ort der Erde? Längst nicht alle Indigenen lassen sich allerdings bereitwillig durch die Globalisierung erfassen. ▶▸Im Mai 2008 gab es Pressemeldungen über die Existenz einer nicht kontaktierten Indianergruppe im Grenzgebiet zwischen Brasilien und Peru. Die Fotos zeigen Häuser und Brandrodungsfelder in einer Waldlichtung und Indianer mit roter und schwarzer Körperbemalung, die ihre Bögen auf das Flugzeug über ihnen richteten. Der Beamte der Indianer-Behörde FUNAI (Fundação Nacional do Índio), der die Fotos veröffentlichte, erklärte, daß der Lebensraum dieser bislang bewußt in Ruhe gelassenen Gruppe durch illegalen Holzeinschlag vor allem auf peruanischer Seite bedroht ist und die Regenwald-Indianer nun vermehrt von dort nach Brasilien vordringen, was Konflikte erzeugt. ▶▸Das Überfliegen und die Aufnahme der Bilder rechtfertigte er mit dem Zweck, die Existenz solcher unkontaktierter Indianer nachzuweisen, da vor allem Perus Präsident Alan García diese wiederholt in Zweifel gezogen hat. Einen knappen Monat später folgten Pressemeldungen, denen zufolge die Gruppe schon lange bekannt war, und manche Artikel sprachen gar von einer Fälschung, doch hat niemand je behauptet, daß die Gruppe ein zu allen Zeiten isoliertes „Steinzeitvolk” gewesen ist. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 214 Der Wikipedia-Artikel über „uncontacted peoples” führt gleich mehrere Dutzend kleinere Indianer-Gruppen in Amazonien auf, von deren Existenz man weiß, die aber wie die von der FUNAI gezeigte Gruppe dem Kontakt mit Nicht-Indianern oder überhaupt mit anderen Menschen aus dem Weg gehen und zum Teil feindselig auf Annäherungsversuche reagieren. Dies ist heute nur noch in undurchdringlichen Waldgebieten möglich, und man kann die Existenz solcher unkontaktierter Gruppen außerhalb Amazoniens und Papua-Neuguineas wohl weitgehend ausschließen. „Unkontaktiert” bedeutet allerdings auch in Amazonien und PapuaNeuguinea nicht, daß diese Gruppen keinen Kontakt zu anderen Indigenen-Gruppen haben oder hatten, und manche von ihnen hatten früher auch Austausch mit der Mehrheitsbevölkerung, haben sich aber wieder zurückgezogen. Wir dürfen davon ausgehen, daß sie alle von der Existenz anderer Gruppen und von der nicht-indigener Menschen wissen, und es ist unwahrscheinlich, daß sie nicht bereits das eine oder andere erhandelte oder gefundene westliche Industriegut ihr eigen nennen. ▶▸Als 1934-35 die von australischen Kolonialoffizieren angeführte Strickland-Purari Patrol das dicht besiedelte Hochland von Papua-Neuguinea für die westliche Welt entdeckte, traf sie tatsächlich noch auf Menschen, die davon überzeugt waren, daß die Welt an der nächsten Hügelkette endet (Schieffelin und Crittenden 1991). Dies ist heute nicht mehr möglich, und dieser Aspekt der Globalisierung dürfte irreversibel sein. ▶▸Der Anwärter auf den Titel der globalisierungsfernsten Gruppe auf Erden findet sich allerdings nicht in entlegenen Waldgebieten, sondern auf North Sentinel Island, einer 72 Quadratkilometer großen, von dichter tropischer Vegetation bedeckten Insel. Diese gehört zur südlich des Golfs von Bengalen gelegenen Inselgruppe der Andamanen, die vormals britische Kolonie war, aber seit 1947 indisches Territorium ist. Die Andamanen wurden über die Jahrhunderte lange eher spärlich als Flottenstützpunkt und später als Strafkolonie genutzt, und so hielten sich auf einzelnen Inseln Gruppen von Indigenen mit wenig Außenkontakten. Diese gehören zu den sogenannten ▶▸Negritos, d. h. einer Reihe von Jäger-Sammler-Gruppen in Südostasien, zu denen auch die ▶▸Semang in Malaysia oder die Agta auf den Philippinen zählen. Die meisten von ihnen haben eine sehr dunkle Hautfarbe, krause Haare und eine kleine Statur, was zu abstrusen rassekundlichen und oft auch nicht viel besseren kulturellen Theorien über ihre Herkunft und ihre Migrationen Anlaß gegeben hat. Gewöhnlich werden sie dabei als die ersten Asiaten bezeichnet, aber ihre tatsächliche genetische und kulturelle Verwandtschaft miteinander und mit anderen ist noch kaum geklärt. Noch 1908 gab es 13 verschiedene ethnische Gruppen auf den Andamanen, und über eine von ihnen schrieb ▶▸Radcliffe-Brown seinen Klassiker The Andaman Islanders (Radcliffe-Brown 1922). Doch existieren als Folge von Verdrängung und Abholzung durch Immigranten, direkter VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 215 physischer Gewalt, eingeschleppten Krankheiten, Alkoholabhängigkeit und anderen Problemen heute nur noch vier indigene Gruppen. Zwei von ihnen zählen nur noch wenige Personen und isolieren sich nicht mehr. Einer weiteren, den ▶▸Jarawa auf der Westseite von South Andaman Island und Middle Andaman Island, ist dies lange gelungen, doch in das Reservatsgebiet dieser Jäger und Sammler wurde eine Straße gebaut, die zwar mittlerweile offiziell geschlossen ist, aber über die immigrierte Siedler, Wilderer und neugierige Touristen trotzdem in ihr Gebiet eindringen. Lange Zeit reagierten die Jarawa mit Gewalt, und es gab mehrmals Tote, aber seit 1998 haben einige Jarawa von sich aus friedlichen Kontakt zu den umliegenden Siedlungen aufgenommen. Als Folge kam es zu zwei Masernepidemien 1999 und 2006, bei denen viele von ihnen starben. Ausländische NGOs wie Survival International engagieren sich für den Schutz der Jarawa, und die indische Regierung bekennt sich ebenfalls dazu, doch wird sich vor Ort nicht immer an die zentralen Maßgaben gehalten. Besser sind die Voraussetzungen für eine Fortsetzung der Selbstisolation auf North Sentinel Island. Denn auf dieser Insel, die 25 Kilometer von den Hauptinseln entfernt liegt und von einem nur in den wenigen windstillen Monaten des Jahres passierbaren Korallenriff umgeben ist, gibt es bislang keine Besiedlung durch Immigranten, und die indische Regierung verbietet mittlerweile jegliche Kontaktaufnahme. Und somit lebt hier eine auf zwischen 50 und 400 Personen geschätzte Gruppe von Menschen, von deren Existenz es zwar seit 1771 historische Zeugnisse gibt, die aber bis heute nur äußerst flüchtigen und meist unfriedlichen Umgang mit der Außenwelt gehabt hat. Sie werden als ▶▸Sentinelesen bezeichnet, obwohl man wie über viele andere Aspekte ihrer Kultur auch über ihre Selbstbezeichnung nichts weiß (www.andaman.org, Goodheart 2000, Mukerjee 2003, Venkateswar 2004). ▶▸Die Existenz anderer Menschen muß den Sentinelesen spätestens seit 1867 bekannt sein, als sie eine auf der Insel gelandete Gruppe von mehr als 100 Schiffbrüchigen angriffen, aber zurückgeschlagen wurden. 1880, 1883, 1926 und 1967 landeten größere bewaffnete Trupps auf der Insel, die die Pfade und Lager der Sentinelesen erkundeten, diverse ihrer Besitzstücke mitnahmen und Geschenke zurückließen. Bei den meisten dieser Besuche blieben die Sentinelesen unsichtbar, doch 1880 wurden erst eine Frau mit vier Kindern und dann ein älteres Paar mit einem Kind aufgegriffen und schließlich das Paar und vier der Kinder mit in die Inselhauptstadt Port Blair genommen. Dort erkrankten und starben die Erwachsenen schnell, und die Kinder wurden schließlich mit Geschenken versehen wieder auf der Insel ausgesetzt. Beutestücke von diesem Besuch befinden sich im Besitz des Britischen Museums. Auf die Landung 1967 erfolgten unter der Koordination des indischen Ethnologen T. N. Pandit und mitunter auch zur Unterhaltung hochgestellter Gäste regelmäßige, allerdings VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 216 zurückhaltendere Kontaktbemühungen. Gewöhnlich wurden dabei Geschenke wie Schweine, Eimer oder Puppen am Strand zurückgelassen und dann aus sicherem Abstand – jenseits der etwa hundert Meter, auf denen die Sentinelesen mit ihren Jagdbögen treffen – vom Wasser aus versucht, mit den sich dann zeigenden Indigenen zu kommunizieren. Bei YouTube gibt es ein Video (http://de.youtube.com/watch?v=OaPYwlXOTzQ), das ganz offenbar den Besuch von 1991 zeigt, bei dem die Sentinelesen erstmals ohne Waffen erschienen. Man sieht ein oder zwei Dutzend ganz gegen alle Negrito-Erwartungen ziemlich große und muskulöse, bis auf eine Art Gürtel und etwas Körperschmuck nackte Erwachsene und Kinder beiderlei Geschlechts. Diese halten sich zunächst mißtrauisch auf Abstand, sammeln aber dann sehr vergnügt die ihnen zugeworfenen Kokosnüsse aus dem Wasser, da diese ihnen von den vorherigen Besuchen und als Strandgut bereits vertraut sind. Den exotisierenden Blick auf die „Wilden” dokumentieren die Videos natürlich ebenfalls. Eine dauerhafte Annäherung ergab sich über diese Besuche nicht, und trotz teilweise monatlicher Wiederholung haben die Sentinelesen immer wieder Besucher mit ihren Bögen bedroht, beschossen und verletzt, so daß die Kontaktversuche Mitte der 1990er Jahre – zeitgleich mit den ersten freiwilligen Kontaktaufnahmen von Seiten der Jarawa – eingestellt wurden. Den Tsunami 2004 überlebte zumindest eine beträchtliche Zahl von Sentinelesen, denn ein zu Erkundungszwecken geschickter Hubschrauber fand größere Gruppen vor und wurde von mehreren Männern ▶▸mit Pfeilen beschossen. 2006 landeten zwei indische Fischer auf der Insel; womöglich waren sie betrunken. Sie wurden von den Sentinelesen erschossen, und ihre Leichen blieben ungeborgen am Strand liegen. Die nach indischem Recht nun eigentlich gebotene, aber bislang nicht aufgenommene Strafverfolgung ist ein Dilemma: Ganz abgesehen von den Schwierigkeiten eines Prozesses ohne gemeinsame Sprache und Übersetzer würde sie die Sentinelesen tödlicher Ansteckungsgefahr aussetzen. Die Sentinelesen leben von Jagen, Sammeln und dem auf ▶▸Auslegerbooten innerhalb des Lagunenbereichs bis zum Korallenriff betriebenen Fischfang; Hinweise auf Anbau gibt es nicht. Zu ihrer materiellen Kultur gehören neben den erwähnten Bögen auch Fischernetze und Körbe. Alle Indizien passen zum typischen Jäger-Sammler-Muster der Sozialorganisation, d. h. dem Leben in egalitären Bands, die aus wenigen Dutzend Personen bestehen. Die Globalisierung geht allerdings trotz aller Isolation nicht völlig an ihnen vorbei. Sie selbst sind vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden auf die Insel migriert, obwohl daran wohl kaum mehr als mythische Erinnerungen existieren dürften. Auch sind sie kein „Steinzeitvolk”, und zwar nicht nur, weil sie in der gleichen Gegenwart leben wie wir. Denn bereits 1867 waren ihre Pfeile mit aus Strandgut gefertigten Metallspitzen versehen, und auf dem Korallenriff gestrandete Schiffe und die VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 217 Geschenke der Besucher haben hier Nachschub geliefert, den sie mit Geschick bearbeiten. Einige der als Geschenk hinterlassenen Gegenstände wie z. B. Eimer und Aluminumschüsseln benutzen die Sentinelesen anscheinend, doch die Kokosnüsse konsumierten sie zwar erfreut, pflanzen sie aber nicht an. Sichtkontakt zu den Polizei-, Fischer- und Touristenbooten im nahen Meer besteht immer wieder und erinnert die Sentinelesen regelmäßig an die Existenz einer Außenwelt. Welche Vorstellungen sie sich von dieser machen und wie sie sich das erratische Vordringen der Auswärtigen in ihren Lebensbereich erklären, weiß allerdings niemand; auch nicht, ob die Erfahrungen der vier verschleppten Kinder von vor mehr als hundert Jahren dabei eine Rolle spielen. Manchen ist die Selbstisolation der Sentinelesen ein Dorn im Auge. So äußerte etwa der für Indiens Indigene zuständige Vorsitzende der National Commission for Scheduled Castes and Scheduled Tribes 2000, daß „[no] citizen of India can be allowed to live in the wilderness or as savages after more than fifty years of country’s independence” (Mukerjee 2003: 223). Tatsächlich aber werden die Sentinelesen gegenwärtig ihrem deutlich demonstrierten Wunsch entsprechend in Ruhe gelassen, und da alles andere sie in Lebensgefahr bringen würde und die globalisierte Welt in Form von Survival International und anderen NGOs auch ein Auge auf ihren Schutz hat, könnte dieser Zustand durchaus anhalten. Die Amazonas-Indianer und die Umweltschützer Die Selbstisolation der Sentinelesen ist allerdings eine extreme Ausnahme, und im Leben der weitaus meisten Indigenen macht sich die Globalisierung sehr viel stärker bemerkbar oder wird sogar als wichtige Möglichkeit verstanden. Ich möchte ihnen im folgenden das Fallbeispiel der Amazonas-Indianer vorstellen, da einige von ihnen weltweite Verbindungen sehr bewußt nutzen und sich hier eine besonders folgenreiche, überdies gut beschriebene Allianz zwischen indigenen Gruppen und westlichen Umweltschützern ergeben hat. Dieses Bündnis hat zu dramatischen Verbesserungen der Lage vieler Amazonas-Indianer geführt, aber auch zu einer ganzen Reihe von Problemen und Dilemmata. Ich stützte mich hier auf drei Artikel, die von Beth Conklin von der Vanderbilt University verfaßt wurden, einer davon gemeinsam mit Laura Graham von der University of Iowa (Conklin 1997, 2002, Conklin und Graham 1995). Die Entstehung der Indianer-Öko-Allianz Die Allianz zwischen Umweltschützern und Amazonas-Indianern geht auf die 1980er Jahre zurück, als in den westlichen Industrieländern der Raubbau an der Natur und globale Probleme VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 218 wie die Klimaerwärmung immer mehr ins öffentliche Bewußtsein rückten. In diesem Zusammenhang erhielt auch die Zerstörung der tropischen Regenwälder als grüner Lunge des Globus wachsende Aufmerksamkeit. Wie andernorts auch ging die Abholzung des größten Waldgebiets dieser Art, des amazonischen Regenwalds, zu einem guten Teil auf das Konto staatlicher Entwicklungsprojekte wie Straßen, Staudämme oder der Erschließung von Gold und anderen Bodenschätzen. Nicht zuletzt weil westliche Investoren, Kredit- und Entwicklungshilfegeber hier ihren Beitrag leisteten, wuchs die Kritik daran, und alternative Formulierungen wie das Zauberwort vom sustainable development, also der nachhaltigen Entwicklung, begannen sich durchzusetzen. Und für das Ziel, den Regenwald auf verträgliche Weise zu nutzen, fand sich auch ein Vorbild, nämlich das der indigenen Gruppen, die dort leben. Es gibt nur etwa 200.000 brasilianische Indianer, was für die lateinamerikanischen Staaten den geringsten Bevölkerungsanteil von Indigenen bedeutet. Der Großteil von ihnen bewohnt das Amazonasbecken, und nicht wenige sind erst in jüngeren Jahrzehnten in Kontakt mit der brasilianischen mainstream-Gesellschaft gekommen, teils erst nach der Erschließung durch Straßen und andere Infrastruktur. Dieser Kontakt verlief selten gedeihlich: Landraub, ökonomische Ausbeutung, die Einschleppung von Krankheiten, Gewalt bis hin zu Morden und ganz allgemein die rassistische Verachtung der primitiven Indianer durch die MehrheitsBrasilianer gehörten vielmehr zum Alltag. Schutz fanden die Indigenen – wenn überhaupt – nur bei Institutionen wie der katholischen Kirche und der staatlichen Indianerbehörde FUNAI, die allerdings ihre eigenen Ziele mit ihnen verfolgten, und in patronageartigen Abhängigkeitsverhältnissen, z. B. als Kautschukzapfer, die in einer Art Schuldknechtschaft die ihnen von gewöhnlichen Brasilianern vorgeschossenen Konsumgüter abarbeiteten. In der Endphase der Militärdiktatur begann sich dies Anfang der 1980er Jahre zu ändern, als sich in Brasilien NGOs, also Nichtregierungsorganisationen bildeten, die für die Menschenrechte der Indianer eintraten. Sie unterstützten indigene Führer wie den ▶▸Xavante-Indianer ▶▸Mario Juruna, der die Korruption der Militärregierung offen anprangerte und KassettenrecorderMitschnitte benutzte, um gegenüber der Presse die Verletzung gemachter Versprechen zu belegen. Trotz seiner innerbrasilianischen Erfolge und seiner Wahl 1982 in den Kongreß wurde er international allerdings noch kaum bekannt. Mitte der 1980er Jahre änderten sich allerdings die Vorzeichen, denn nun entdeckten internationale Umwelt-NGOs die Amazonas-Indianer und sahen diese als geborene Umweltschützer und Hüter des Dschungels, mit einer nachhaltigen Waldnutzung und voll von tiefer Weisheit über die ökologischen Geheimnisse ihres Habitats. Einige Indianer-Gruppen stiegen zu regelrechten Medienstars auf. Dies gilt besonders für die ▶▸Kayapó, eine den Xavante benachbarte Gruppe ebenfalls im Flußgebiet des Río ▶▸Xingu, die VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 219 sich Mitte der 1980er Jahre gegen illegale Goldschürferei sowie ein geplantes Endlager für Atommüll und ein Staudammprojekt zu wehren begannen. Einige ihrer Führer, die besonders geschickt darin waren, auf den Diskurs westlicher Umweltschützer einzugehen, reisten direkt zu den internationalen Organisationen, etwa zur Weltbank oder zur UN, und organisierten 1989 eine große Protestaktion in der Stadt ▶▸Altamira, zu der unter breiter Medienbeachtung Hunderte NGO-Vertreter und Öko-Aktivisten aus der ganzen Welt anreisten. Rockstar Sting besuchte die Kayapó, ließ sich mit traditioneller Körperbemalung versehen und ging mit ihnen auf Tournee, und Body-Shop-Gründerin Anita Roddick initiierte Fairtrade-Projekte mit ihnen. Besonders ▶▸Paulo Payakan, einer der Führer, wurde zum international gefragten Medienstar und Vortragsreisenden, der auf den Titelseiten amerikanischer Illustrierten als „Der Mann, der die Welt retten könnte” vorgestellt wurde. Wie ein westlicher Politiker und Umweltaktivist es gegenüber einem anderen Wissenschaftler formulierte: ▶▸ „We needed someone to represent the human side. … Paiakan had a genuine appearance, and of course the regalia made good media. He really seemed to represent the forest” (Conklin und Graham 1995: 701). Dies alles hat für die Kayapó lohnende Folgen gehabt, denn die geplanten Projekte wurden gegen den Druck der internationalen Öffentlichkeit undurchführbar, und die Kayapó haben mittlerweile die Landrechte für ein Gebiet von der Größe Schottlands zugesprochen bekommen. Zum Schrecken der Öko-Aktivisten, aber auch zur Genugtuung von Teilen der brasilianischen Öffentlichkeit und der Presse, die die Einmischung der westlichen Umweltschützer immer schon als neoimperialistische Zumutung empfanden, betätigen sich aber nun keineswegs alle KayapóGemeinschaften als Hüter des ökologischen Welterbes. Manche vergeben vielmehr Tropenholzkonzessionen und Schürfrechte und legen sich sogar mit Regierungsinstitutionen an, die sie daran hindern wollen. Entsprechend scharf sind die Vorwürfe vor allem aus Brasilien selbst, wo es eine große Zahl von Kräften gibt, die den Regenwald liebend gerne nach ihren eigenen Vorstellungen nutzen würde und die Kayapó der Heuchelei zeiht. Probleme der Allianz Conklin und Graham zufolge leidet die Indianer-Öko-Allianz vor allem an drei Problemen. Erstens wird in ihnen das Indianertum auf eine Weise dargestellt, die den tatsächlichen indigenen Lebensrealitäten nicht entspricht. Um Sting in den Regenwald zu bringen oder in westliche Illustrierte zu gelangen, müssen die Indianer westlichen Stereotypen entsprechen. In diesem Fall bedeutet es das des ▶▸ „ecologically noble savage”, d. h. des „ökologisch elden Wilden”, also eine in den 1980er Jahren aufgekommen Spielart des ja schon älteren Motivs des edlen, vom korrumpierenden Einfluß der Zivilisation unberührten Wilden, der sich als ein Topos der VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 220 Kulturkritik von Jean-Jacques Rousseu bis zu Karl May durch die westliche Geistesgeschichte zieht ▶▸(siehe z. B. Kohl 1981). Die Kayapó beziehen ihren Appeal aus der westlichen Vorstellung, daß sie das Wohlergehen der natürlichen Umwelt über alles andere stellen. Für die brasilianischen Indianerführer sind tatsächlich die Selbstbestimmung ihrer Gemeinschaften und deren freie Verfügungsgewalt über die natürlichen Ressourcen immer wichtiger gewesen. Nur scheint das strategische Eingehen auf die Erwartungshaltungen ihrer Bündnispartner durch eine entsprechende Selbststilisierung, eigentlich ein normaler Akt in der Politik, hier ein besonderer Affront zu sein, denn es widerspricht eben dem Bild vom edlen Wilden, der zu so etwas wie cleverem Opportunismus gar nicht fähig ist. Ein zweites Problem ist die Tatsache, daß die Kommunikation zwischen den indianischen Gemeinschaften und den globalen Sympathisanten schon allein aufgrund der großen Entfernungen und oft begrenzten sprachlichen Kompetenz von einer sehr kleinen Anzahl von Vermittlern abhängt, meist indianischen Führungspersönlichkeiten. Diese haben dadurch heikle Positionen, nicht nur gegenüber ihren ausgesprochen egalitären, gegenüber persönlicher Geltungssucht sehr empfindlichen Gemeinschaften, sondern auch gegenüber der Außenwelt, in der alles Fehlverhalten gleich auf ihre gesamte Gemeinschaft generalisiert wird. Im Fall von ▶▸Paulo Payakan zeigte sich dies besonders eklatant: Am Anfang des Klimagipfels in Rio de Janeiro 1992, auf dem er eine Hauptattraktion auf dem alternativen Gipfeltreffen der indigenen Gruppen sein sollte, wurde er von einer Brasilianerin der Vergewaltigung bezichtigt. Das Timing ist verdächtig, und die offensichtlich von seinen Gegnern lancierten Vorwürfe konnten vor Gericht auch nicht erhärtet werden, aber dennoch distanzierten sich in der Folgezeit viele NGOs von ihm, und mit Vortragsreisen und Titelseiten war es nun erst einmal vorbei. Brasilianische Medien nahmen Payakans Fall zudem zum Anlaß, auf die Kayapó im allgemeinen loszuschlagen und die Diskrepanzen zwischen ihrer Idealisierung durch die Umweltbewegung und ihrem tatsächlichen Handeln auszuschlachten. Drittens schließlich kommt das, was auf der globalen Bühne als positive politische Entwicklung gilt, national nicht immer ebenso gut an. Breite Teile der brasilianischen Öffentlichkeit verdächtigen die Umweltschützer, die Indianer nur vorzuschieben, um selbst Kontrolle über den Regenwald zu erlangen. Die Indianer sind also im besten Fall naiv, im schlimmsten Fall aber unpatriotisch und leisten dem westlichen Öko-Imperialismus Vorschub, und ob die so bedingten Antipathien die unbestreitbaren Erfolge nicht auf lange Sicht gefährden, bleibt abzuwarten. Dies ist die Folge eines Grundwiderspruchs des neuen indianischen Einflusses, den Conklin und Graham folgendermaßen ausdrücken: ▶▸ „In Amazonian identity politics, Indians’ power – to the extent that they have any – derives not from traditional forms of VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 221 economic power or patronage, but from Westerners’ ideas about Indians” (Conklin und Graham 1995: 701). Nacktheit und Authentizität Die Überzeugungskraft der Indigenen beruht wesentlich auf ihrer Traditionalität und Authentizität, und kaum etwas anders repräsentiert diese so augenfällig wie ihre Körperbilder (body images), wie Conklin es ausdrückt, oder wie man auch sagen kann: ihre Bekleidung bzw. deren Fehlen (Conklin 1997). ▶▸Bei ihren internationalen Auftritten erscheinen die Kayapó und andere brasilianische Indianer mit Kopfschmuck, nackten und bemalten Oberkörpern, Perlenketten und Federn, anders als in früheren Jahren, wo alle Amazonas-Indianer größten Wert darauf legten, sich so unauffällig wie möglich an die allgemeinen brasilianischen Kleidungssitten anzupassen. Einigen Beobachtern gilt diese Rückkehr zu traditionellen Körperbildern als Ausdruck eines neuen Stolzes und politischen Selbstbewußtseins. Conklin stellt diese Bedeutung nicht in Abrede, zeigt aber auf, daß sich die traditionellen Kleidungssitten keineswegs nur an indianischen Maßstäben ausrichten, sondern ganz wesentlich auch an westlichen Erwartungen. Gegenüber zu Besuch kommenden NGO-Vertretern und Journalisten, mit denen oft nur minimale sprachliche Verständigungsmöglichkeiten bestehen, sind visuelle Statements dieser Art besonders effektiv. Halbnackte Regenwald-Indianer wirken einfach authentischer, und Conklin berichtet eine Vielzahl von sozialen Interaktionen – auch z. B. zwischen verschiedenen Indianergruppen, die auf eine politische Demonstration gehen –, in denen die einen Akteure die anderen dazu auffordern, die Kleider abzulegen und ihre Körper auf traditionelle Weise zu schmücken, weil dies so viel wirksamer sei. Gerade die Kayapó verstehen sich auf den Einsatz dieser visuellen Stimuli, denn sie haben schon früh damit begonnen, Video für ihre Zwecke einzusetzen, mit der anfänglichen Hilfe des amerikanischen Ethnologen Terence Turner. Fotos von ihren Kameraleuten in traditioneller Kleidung, aber mit einem Camcorder in der Hand, sind mittlerweile regelrecht zu einem visuellen Klischee geronnen. Die Art der neuen Halbnacktheit ist selektiv: Fast alles kann schnell wieder entfernt werden, und die Menge der aufgetragenen Farbe ist begrenzt. Das traditionelle Schönheitsideal des glatten, glänzenden Körpers, dem mit Einölen, der Auszupfung der Augenbrauen und der Teilrasur der Kopfhaut nachgeholfen wurde, wird nicht sehr betont, und auch der frühere Akzent auf stark riechende Körperfarben fehlt. Auch werden zwar Federn benutzt, aber kaum Affen- und Jaguarzähne, denn dies würde demonstrieren, daß die Indianer im Westen beliebte Wildtiere jagen. Die Anpassung an westliche Sensibilitäten ist offenkundig, und Conklin spricht von „neoindigenous body decorations” (Conklin 1997: 723). VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 222 Ironisch ist bei alledem, daß der Körperschmuck von allen Beobachtern als Zeichen der Kontinuität indianischer Lebensweisen gesehen wird. Denn einerseits zeigt Conklins Analyse, daß er so traditionell gar nicht ist, und zum anderen ist es für indianische Gruppen wie die von ihr selbst untersuchten ▶▸Wari’ gerade eine Überlebensstrategie gewesen, sich so unauffällig wie möglich zu kleiden, denn dies garantierte die Kontinuität ihrer Lebensweise in anderen Bereichen. Doch mittlerweile entdecken die Wari’ ebenfalls die Wirksamkeit der Nacktheit und setzen sie nach anfänglichem Widerstreben auch selbst ein, wenn ihnen dies zweckmäßig erscheint. Inwieweit all diese dekorative Nacktheit nicht letztendlich Stereotypen vom Primitiven bestätigt, ist für Conklin eine gute Frage, und klar ist, daß sie sich an einem fremden Blick ausrichtet. Sie drängt auch die weniger nackten und visuell nicht so reizvollen Indianer aus dem Blickfeld. Deutlich wird dies am Kontrast der Amazonas-Indianer mit den Anden-Indianern, deren weit geringere Medienprominenz Conklin auch darauf zurückführt, daß diese eben bekleidet herumlaufen, zudem oft in gewöhnlichem westlichen Stil. Und auch die nichtindianischen Bewohner des Regenwaldes, von denen es eine beträchtliche Anzahl gibt und die oft ein nicht weniger umfassendes Wissen über die Ökologie des Waldes besitzen als die Indigenen, haben keine Aussichten, für ihre Sorgen ähnlich viel internationales Gehör zu finden wie die nackten Kayapó. Der Trend zum Schamanen Die 1990er Jahre haben noch eine neue Wendung gebracht, nämlich den Trend zum Schamanen (Conklin 2002). Zunehmend präsentieren sich die öffentlichen Führungsfiguren der brasilianischen Indianer als Schamanen, auch in den immer wichtiger werdenden panindianischen Bündnissen. Eigentlich sind Schamanen in Amazonien gar keine politischen Figuren, und in vielen Gruppen schließt die Assoziation von Schamanismus mit Hexerei eine Führungsrolle in der Gemeinschaft im Gegenteil sogar aus. Doch haben die ersten Enttäuschungen mit Indianern, die ihre neugewonnenen Landrechte dazu nutzten, die Holzeinschlagskonzessionen selbst zu vergeben, den Akzent der internationalen Beachtung stärker von ihrem tatsächlichen ökologischen Verhalten auf ihr ökologisches Wissen verschoben. Und dieses Wissen wird bei Schamanen vermutet. Da auch nicht alle Führer der ersten Phase gleichermaßen vorbildlich agierten, gibt es einen weiteren Grund, von sich selbst nun als Schamane und nicht mehr als ▶▸cacique, chefe oder mit anderen Bezeichnungen für Häuptling zu reden. Und schließlich erhält der Schamane seine spezielle Position durch sein esoterisches Wissen, nicht durch die Bestätigung der anderen Gemeinschaftsmitglieder, was es ihm erleichtert, VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 223 auch unabhängig von diesen zu agieren und z. B. auf lange Auslandsreisen zu gehen. Es ist allerdings ein „verallgemeinerter Schamanismus”, wie Conklin sagt, der hier vielfach zu beobachten ist. Der amazonische Schamanismus ist geprägt von der Beziehung zu Tiergeistern und von Bildern des Jagens, Kriegführens und Tötens. Überdies besteht oft eine enge Verbindung zur Hexerei, so daß es sich also keineswegs um Protagonisten der sozialen Harmonie handelt. Nicht so allerdings im „neo-indigenen” Schamanismus, um Conklins eigene Formulierung von den Körperbildern (s. o.) auf die Schamanen zu übertragen: Hier ist es das Wissen um Heilpflanzen, was in den Vordergrund gestellt wird. Dieses ist zwar in manchen Indianergruppen tatsächlich das Spezialgebiet der Schamanen, in anderen aber durchaus auch nicht, und dort sind es häufig eher Frauen statt männlicher Schamanen, die einschlägige Kenntnisse haben. Conklins Analysen weisen also auf bewußte Kulturgestaltung hin, immer mit dem Ziel, den eigenen Status als Indigene auch für Außenseiter überzeugend zu demonstrieren. Dies zur Kenntnis zu nehmen, ist wichtig, nicht zuletzt, weil es zeigt, wie mächtig westliche oder zumindest ursprünglich aus dem Westen stammende Konzepte, Bilder und Stereotypen bleiben, so daß oft die gekonnte Anpassung an sie mehr Erfolg für die eigenen Ziele verspricht als ein kultureller Purismus. Daß dies für die Indigenen auch Kosten bedeutet, ist offenkundig, doch sollte man hierüber nicht zu sehr klagen und die aneinander vorbeizielenden Projektionen beider Seiten – der indigenen wie der ökologisch bewegten westlichen – nicht nur als Problem ansehen. Denn daran, daß viele der brasilianischen Indigenen mit der Hilfe der neuen Bündnispartner größere Handlungsautonomie errungen haben, ist nicht zu rütteln, und die Alternative wäre vielleicht ein mit weniger strategischem Bewußtsein geformtes kulturelles Selbstbild, aber eine davon abgesehen sehr viel unangenehmere und dem Fortbestand indianischer Eigenständigkeit abträglichere Lebenssituation. Transnationale Indigenen-Politik Ein letzter Aspekt des modernen Indigenentums, den ich noch ansprechen möchte, sind die transnationalen Verbindungen zwischen den Indigenen, die immer stärker geknüpft werden. Die Himba in Namibia wurden während ihres Widerstands gegen ein Staudammprojekt der Regierung, das Teile ihres Weidelandes überflutet hätte, von Indigenen aus anderen Kontinenten unterstützt, und skandinavische Sami, Aborigines und Cree-Indianer kamen persönlich vorbei. Man kann sich vorstellen, daß die Entwicklung Kommunikationsmöglichkeiten solche Schulterschlüsse sehr erleichtert. der elektronischen VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 224 ▶▸Jeden Sommer trifft sich im UNO-Hauptgebäude in Genf die Working Group on Indigenous Populations (UNWGIP oder WGIP) zu einer Konferenz mit Hunderten von Teilnehmern, nicht wenige von ihnen in traditioneller Bekleidung, und dies schon seit 1982. Sie steht sowohl den Vertretern interessierter Indigener als auch denen interessierter Staaten offen. 2000 kam das ▶▸United Nations Permanent Forum on Indigenous Issues (UNPFII oder PFII) hinzu, das seit 2003 jährlich in New York tagt. Diese beiden Institutionen bilden die breitesten und hochrangigsten Foren für den globalen Indigenitätsdiskurs und für die Begegnung von Indigenen aus aller Herren Länder. ▶▸Im folgenden gebe ich wieder, was die Berliner Ethnologin Ute Siebert und Andrea Muehlebach, eine an der University of Chicago tätige Ethnologin, bei den Genfer Konferenzen der WGIP beobachtet haben (Muehlebach 2001, Siebert 1997). Siebert zufolge setzen sich auch im Umgang der indigenen Vertreter miteinander die konventionellen Hierarchien des Weltsystems durch. Die Working Group wurde von Indigenen aus den Siedlerstaaten der Ersten Welt ins Leben gerufen, also nordamerikanischen Indianern, Aborigines und Maori, und diese dominieren zumal angesichts ihrer Englischkenntnisse bis heute die Diskussion, besitzen gute Kenntnisse der UN-Bürokratie und der juristischen Feinheiten und stellen auch die Elite der besonders Konferenz- und Förderantragserfahrenen. Die spanisch- und portugiesischsprachigen Teilnehmer, also die lateinamerikanischen Indianer, sind zwar genauso lange dabei, neigen aber vor allem aus sprachlichen Gründen eher dazu, sich abzukapseln, und die Indigenenvertreter aus der ehemaligen Sowjetunion, Afrika und Teilen Asiens sind meist Neulinge und bleiben eher passiv. Mitte der 1990er Jahre wurde vor allem die Notwendigkeit einer einheitlichen Definition von Indigenität kontrovers diskutiert. Dies hatte seinen Grund, denn unter den Teilnehmern waren südafrikanische Buren, die sich selbst ebenfalls als Indigene sehen, da sie von den nachfolgenden Engländern und Holländern unterworfen wurden, eine erst in Afrika aus dem Niederländischen entstandene Sprache sprechen und dort schon seit Jahrhunderten leben. Die anderen Teilnehmer teilten diese Auffassung verständlicherweise nicht und sahen die Buren vielmehr als Teil des ehemaligen Apartheidregimes, das die wahren – nämlich die schwarzen – Indigenen unterdrückte, und so kam es jedesmal, wenn einer der Buren das Wort ergriff, zum kollektiven Walkout Hunderter von Teilnehmern. Auch die ebenfalls anwesenden Vertreter einer Reihe von asiatischen Staaten, darunter Indien, Bangladesh, Burma und China, stehen dem Indigenenbegriff kritisch gegenüber. Vorgeblich sind sie nur zum Zuhören da und um anderen Indigenen behilflich zu sein, wie es der Vertreter Bangladeshs Siebert gegenüber formuliert, denn in seinem Land – so sagt er – ist jedermann indigen und schon seit Jahrtausenden ansässig, so daß der Begriff dort keinen Sinn macht. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 225 Ethnische Minderheiten gebe es zwar in Bangladesh, doch seien dies genauso oder genauso wenig Indigene wie die bengalische Mehrheitsethnie, und das Auftreten dieser Indigenen bei der UNWGIP verwundere ihn. Klar ist hier also, daß Staaten, die mit potentiellen oder tatsächlichen ethnischen Sezessionbewegungen zu kämpfen haben – wie eben die genannten Länder – wenig Interesse daran haben, diesen auch noch die spezielle Legitimation der Indigenität zu verleihen, und den Begriff aus diesem Grund auf die von europäischen Migranten kolonisierten Länder beschränkt sehen möchten. Muehlebach bestätigt, daß anfangs die Indigenen aus den anglophonen Siedlerstaaten die Diskussion dominierten, sich aber mittlerweile auch asiatische und afrikanische Indigene verstärkt beteiligen. Dessen ungeachtet ist der Diskurs der Indigenenvertreter bemerkenswert einheitlich, indem er für die eigenen Kulturen eine besonders enge Verbindung mit dem Land, der natürlichen Umwelt und den Vorfahren reklamiert. Nach einem anfänglich eher moralischen Verständnis dieses Nexus treten seit den 1990ern der Erhalt der Biodiversität und das praktische Potential indigenen Wissens in den Vordergrund. Geteilt bleibt dieser Diskurs aber trotzdem. Dies verdankt sich Muehlebach zufolge der Tatsache, daß viele Indigenenvertreter mit nur halbfertigen Beiträgen zu den UN-Konferenzen kommen und man sie diese dort mit anderen Indigenen und den Mitarbeitern von Unterstützungs-NGOs durchsprechen und von freiwillig helfenden Ethnologiestudenten übersetzen lassen sieht. Zugespitzt formuliert sind diese Konferenzen also neben allen anderen ihrer wichtigen Funktionen auch der Produktionsort von globalen Indigenitäts-Standards, ausgerichtet auf ein internationales Publikum, und damit spielt sich hier ähnliches ab wie in der Allianz zwischen den amazonischen Indianern und den sie unterstützenden westlichen Umweltschützern. Fazit Die Globalisierung erfaßt also nicht alle Indigenen, und in Amazonien, Papua-Neuguinea und auf North Sentinel Island gibt es weiterhin Gruppen von in allen Fällen höchstens dreistelligen Personenzahlen, die zwar von der Existenz einer Außenwelt wissen und manchmal auch indirekt von ihr Güter beziehen, sich ihr gegenüber aber als bemerkenswert widerständig erweisen und keinen Wert auf direkte Außenkontakte legen. Wo die Einbindung in das globale System jedoch besteht – und es sind oft die Indigenen, die selbst am wenigsten Einfluß darauf haben –, bringt die Globalisierung den Indigenen heute nicht mehr immer nur die Unterdrückung und Diskriminierung durch Kolonialherren oder nationale Mehrheitsgesellschaften, sondern auch neue Handlungsperspektiven. Und in diesen spielt ein zusehends global vereinheitlichtes Bild VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 226 vom Indigenen eine wesentliche Rolle. Man kann beklagen, daß es aufgrund westlicher Vorstellungen und Klischees geprägt wurde und die Ausrichtung auf den westlichen Blick auch heute bestimmend bleibt. Es ist allerdings auch deutlich, daß die Indigenen der Welt mehr als je zuvor an der Gestaltung dieses Bildes mitwirken und daß dabei pan-indigene Netzwerkkontakte und transnationale Foren eine zunehmende Rolle spielen. Die Lage ist also gespalten: Auf der einen Seite stehen die von der Ausbeutung natürlicher Ressourcen wie Erdöl und Tropenholz vorangetriebene Zerstörung der Lebensräume von indigenen Gruppen, die durch die Globalisierung der Weltwirtschaft beschleunigt wird. Auf der anderen Seite stehen die sozialen Möglichkeiten der globalen Kommunikation, die den auf sie eingehenden Indigenen die Unterstützung der Weltöffentlichkeit und von Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen für ihre Anliegen bringen können. Was hier die Oberhand gewinnt, wird sich von Fall zu Fall stark unterscheiden, und einmal mehr fordert damit zusammengetragene Wissen zur Differenzierung auf. das von der Ethnologie bislang VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 227 Teil XII: Weltkultur, Kreolisierung und globale Orte Ein einfaches Fazit zur gesamten Vorlesung habe ich nicht zu bieten, ich weiß auch nicht, ob es bei einem Thema wie Globalisierung eines geben kann. Ich möchte allerdings nach den ganzen Einzelthemen der letzten Kapitel doch noch einmal den Blick aufs Allgemeine wenden. Zunächst behandle ich die Frage, ob denn nun Hannerz’ Begriff der Kreolisierung wirklich so treffend ist, wie es seine große Popularität suggeriert, oder ob andere Konzepte sich besser dazu eignen, die kulturellen Formen und Folgen der Globalisierung zu verstehen. Dann möchte ich die Erforschung globaler Orte anhand einiger Fallbeispiele behandeln. Konzepte zur globalen Kulturentwicklung Frachtcontainer und ISO-Normen Frachtcontainer sind vielleicht die einzelne Innovation der materiellen Kultur, die die neoliberale Globalisierung seit den 1970er Jahren am meisten gefördert hat. Wichtiger als der Schutz vor Beschädigung und Diebstahl, den der Stahlbehälter gewährt, ist dabei die Tatsache, daß er als Ganzes zwischen Schiff, Güterzug und Lastwagen hin- und hergeladen werden kann. Container gibt es erst seit fünfzig Jahren, aber vor allem der Vietnamkrieg brachte laut ▶▸Levinsons Studie (Levinson 2006) einen Verbreitungsschub, und heute sind weltweit über 20 Millionen von ihnen im Umlauf, mit denen mehr als 70 Prozent des globalen Stückgutverkehrs abgewickelt werden. Wo die Be- und Entladung eines Frachtschiffs früher Heerscharen von Hafenarbeitern über Tage beschäftigte, brauchen ein paar Kranführer jetzt nur noch wenige Stunden. Das größte Containerschiff ist fast 400 Meter lang und kann mehr als 15.000 Container aufnehmen, die unter Deck noch einmal genau so hoch aufeinandergestapelt werden wie darüber. Der Tiefgang dieser Schiffe hat die Geographie der Frachthäfen sehr verändert – wer von den alten Häfen hier nicht mithalten konnte, ist verdrängt worden, während unter den Frachthäfen mit dem gegenwärtig höchsten Frachtaufkommen einige sind, die es vor 20 Jahren noch gar nicht gegeben hat. Die Containertechnik hat nicht nur den Welthandel, sondern auch die Weltmarktproduktion revolutioniert. Denn wo die Transportkosten auf Centbeträge schrumpfen VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 228 – eine Flasche Wein von Australien nach Hamburg zu verschiffen kostet weniger als der LKWWeitertransport nach Süddeutschland –, ist es möglich, einzelne Produktionsschritte räumlich so weit zu verteilen wie nie zuvor. “Without the container, there would be no globalization”, urteilt der Rezensent von Levinsons Buch im Economist. Man wird sich bereits anstrengen müssen, auf dieser Erde noch Haushalte zu finden, die nichts besitzen, was einmal in einem Frachtcontainer gewesen ist. Daß es so weit kommen konnte, erforderte allerdings mehr als die Erfindung einer stählernen Box. Wichtig ist zusätzlich – wie auf dem Foto deutlich zu sehen –, daß die Container der Welt einheitliche Maße haben. Fast alle sind 8 feet breit, 8,5 feet oder – als sogenannter high cube– 9,5 feet hoch und entweder 20 oder 40 feet lang (d. h. etwa 2,5 x 2,5 bzw. 3 x 6 bzw. 12 Meter). Zumindest die Breite ist also immer gleich. Wie sehr die Standardisierung der Außenmaße, Eckbeschläge und Türvorrichtungen den Welthandel erleichtert, kann man sich unschwer vorstellen, und Schiffe, LKWs, Züge, Verladekräne, Straßenverkehrsordnungen und Bauvorschriften in aller Welt haben sich darauf eingestellt. Diese Einigung ist der ▶▸„Internationalen Organisation für Normung” (International Organization for Standardization) in Genf zu verdanken, die die sogenannten ISO-Normen produziert. Von diesen gibt es mittlerweile mehr als 15.000, und täglich kommen im Durchschnitt zwei hinzu. Die Kurzbezeichnung „ISO” für die Organisation selbst dokumentiert bereits das Bemühen um Vereinheitlichung, denn sie ist keine Abkürzung – eine solche würde in den verschiedenen Sprachen ja unterschiedlich sein –, sondern das von dem altgriechischen Wort für „gleich”, isos, abgeleitete Morphem in Wörtern wie „Isomorphie”, „Isometrie” oder „Isotherme”. ISO ist keine Regierungs- oder UN-Organisation; Mitglieder sind vielmehr die nationalen Normeninstitutionen von inzwischen 157 Staaten, im deutschen Fall das Deutsche Institut für Normung (DIN). Das letztere ist von der Bundesregierung zwar vertraglich anerkannt und insofern staatlich legitimiert, aber jede interessierte Firma, Behörde oder Verbraucherorganisation kann Mitglied werden. Und jedes dieser nationalen Mitglieder kann wiederum bei ISO einen Antrag auf die globale Normierung eines bestimmten Gegenstandes oder Prozesses einreichen, seien es nun Schraubgewinde oder Verfahren zur Qualitätssicherung. Dann wird eine Arbeitsgruppe gebildet, und finden sich genügend interessierte Kräfte für die Weiterverfolgung und gefällt das Ergebnis der Beratungen allen Mitgliedsinstitutionen, wird es schließlich als weltweite Norm publiziert. Als Ergebnis passen Kreditkarten, CDs oder die Zapfvorrichtungen an den Tanksäulen, wohin wir auch reisen. Es gibt weltweit befolgte Normen, die sich auch ohne ISO entwickelt haben, und umgekehrt verabschiedete ISO-Normen, die allgemein ignoriert werden, wie etwa die zur Schreibung von VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 229 Postadressen. Nicht wenige ISO-Normprojekte erreichen keinen Abschluß; das Dezimalzeichen z. B. – Punkt oder Komma? – wird trotz Vereinheitlichungsbemühungen weiterhin uneinheitlich geschrieben. Auch bei den Frachtcontainern herrschte anfangs ein Wildwuchs der Formate, der aufgrund nationaler Partikularinteressen nicht auf eine einheitliche Version reduziert werden konnte. ISO segnete schließlich drei Größensysteme ab, neben den heute vorherrschenden Containermaßen auch eine auf dem metrischen System beruhende und eine von den damaligen Ostblockländern favorisierte Version. Die Marktnachfrage fällte hier die Entscheidung, und die letzteren beiden Größensysteme verschwanden binnen weniger Jahre. Doch so sehr viele der ISO-Normen wegen ihrer millionenschweren Konsequenzen umkämpft sind und so intensiv Unternehmen und Lobbyorganisation sich hier einmischen, so wenig wünschen sich fast alle Beteiligten die Abwesenheit von Normen. Und daher kommen, obwohl die Entscheidungen bei ISO im Konsens fallen müssen, weltweite Einigungen trotzdem zustande. Weltkultur Die ISO-Normen fallen unter das, was die Soziologen ▶▸Frank Lechner und John Boli als “world culture” bezeichnen (Lechner und Boli 2005). Hierzu gehören ihnen zufolge globale Standards im Transport- und Kommunikationswesen und bei den Staats-, Unternehmens- und Marktformen, das von der Wissenschaft produzierte und in den Schulen der Welt vermittelte Faktenwissen sowie Werte und Normen, vor allem diejenigen der europäischen Aufklärung wie Demokratie oder Menschenrechte. Olympische Spiele oder UN-Gipfel sind die Rituale dieser Weltkultur, aber ihre Pioniere sind laut Lechner und Boli vor allem die mittlerweile mehr als 25.000 internationalen Nichtregierungsorganisationen (▶▸INGOs). Darunter sind sehr bekannte wie die FIFA, das Rote Kreuz oder die Sozialistische Internationale, aber auch so unauffällige wie eben ISO oder das ▶▸International Cable Protection Committee, das für die unterseeischen Glasfaserkabel – also das Rückgrat der elektronischen Weltkommunikation – zuständig ist. Die von diesen Organisationen geschaffene Weltkultur hat in den Gesellschaften weltweit immer größeren Einfluß. Das Konzept der Weltkultur widerspricht der vorherrschenden ethnologischen Sichtweise der Globalisierung. Hannerz betont ja mit „Kreolisierung” und Appadurai mit „Indigenisierung”, daß importierte Kulturgüter lokalen Bedürfnissen angepaßt werden und dabei neue Formen und Bedeutungen erhalten. So wird das Weihnachtsfest auf Trinidad zum Anlaß, die Wohnung zu renovieren, der Futon steigt bei uns von einer gewöhnlichen japanischen Schlafunterlage zu einem Distinktionsmerkmal gehobenen Lebensstils auf, und venezianische Glasperlen werden für Sanburu-Frauen zu Symbolen der Fülle und der Fruchtbarkeit und für amerikanische New- VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 230 Age-Anhängerinnen zu Reliquien eines im Untergang befindlichen authentischen Lebensstils. Ethnologen betonen die Allgegenwart solcher Phänomene und ihre Widerständigkeit gegen eine globale kulturelle Vereinheitlichung immer wieder gerne, auch wenn ohnehin niemand im Fach entschieden in eine andere Richtung argumentiert. Nicht selten begrüßen sie den Fortbestand der kulturellen Vielfalt zudem. Marshall Sahlins zufolge ermöglichen es passend eingefügte Kulturimporte unseren Informanten, mehr sie selbst zu sein: ▶▸„The first commercial impulse of the people is not to become just like us but more like themselves. They turn foreign goods to the service of domestic ideas, to the objectification of their own relations and notions of the good life” (Sahlins 1993: 17). Und ▶▸Ulf Hannerz führt in einem Kapitel seines GlobalisierungsBuchs (Hannerz 1996) „[s]even advantages of cultural difference” auf, während ein entsprechendes Kapitel über die Vorteile kultureller Übereinstimmungen fehlt. Schon aus professionellen Interessen scheinen die Sympathien der Ethnologen genau in die Gegenrichtung der ISO-Bemühungen zu gehen. Aber stimmt die Interpretation der Globalisierung als Hervorbringer immer neuer kultureller Vielfalt? Ich persönlich halte sie für übertrieben. Globalisierungsbedingte Kulturimporte erweitern zweifellos das an den verschiedenen Orten und in den verschiedenen Gemeinschaften zur Verfügung stehende Repertoire der kulturellen Formen – es ist einfach mehr Kultur da, aus der man seine persönliche Version auswählen kann. Außerdem erweitert Globalisierung den Kreis der als Quellen oder auch als Publikum solcher Kulturelemente wahrgenommenen Personen, Institutionen und Orte, also die Bezugspunkte für kulturelle Ausdrucksformen. Selbst die Urapmin machen sich Gedanken über den Papst oder über den Golfkrieg, so weit entfernt diese von ihrem Alltag auch sind. Und wo die kulturellen Repertoires und die Referenzpunkte sich vervielfältigen, sinkt die kulturelle Einheitlichkeit, da die Individuen und Gruppen mehr Möglichkeiten haben, unterschiedliche Auswahlen zu treffen. Gleichzeitig steigt die Wahrscheinlichkeit, daß an verschiedenen Orten und in verschiedenen Gemeinschaften die gleichen Kulturelemente auftauchen. Was dabei vor allem aufgebrochen wird, ist die Kongruenz von Ort, Gemeinschaft und Kultur – deutliche kulturelle Inseln mit großem kulturellen Abstand nach außen hin werden immer seltener. Diese wachsende Unübersichtlichkeit der kulturellen Verteilungen kann man je nach Sichtweise als Heterogenisierung der Kultur verstehen. Doch halte ich es für wahrscheinlich, daß der Gesamtvorrat an Kulturelementen in der Welt abnimmt. Hannerz schließt dies aus, weil er meint, daß sich unsere Möglichkeiten zur Speicherung und Archivierung alter Kultur so verbessert haben, daß das ▶▸„haphazard forgetting of old culture” (Hannerz 1996: 24) seltener wird. Aber wenn Steinäxte nur noch im Museum stehen oder nur noch aus symbolischen VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 231 Gründen gebraucht werden, bedeutet es eben doch, daß sich die effektiveren Alternativen – Stahläxte oder gleich Kettensägen – global durchsetzen. Die Verfügbarkeit industriell produzierter und weltweit exportierter Massengüter reduziert die Zahl der Sonderlösungen, die früher aus den lokal verfügbaren Ressourcen entwickelt werden mußten. Zwar wird ständig neue Kultur produziert, und schon allein der moderne Massen- und Markenkonsum bringt unaufhörlich neue Detailvariationen hervor. Aber auch wenn es Zehntausende T-Shirt- und Hemdenschnitte und -designs geben mag, erscheint mir das heutige Spektrum der auf dieser Erde getragenenen Kleidung trotzdem enger als die Vielfalt der Formen und Materialien, die z. B. im Jahr 1500 existiert hat. Längst nicht immer ist dies eine Frage der Effektivität: Das Prestige westlicher Modernität und Handelsbedingungen, die die multinationalen Konzerne bevorteilen, sind sicher ebenso wichtig. Aber nicht nur in den von Lechner und Boli als „Weltkultur” apostrophierten Bereichen, sondern auch in der materiellen Kultur von Kleidung, Behausungen, Möbeln, Alltagsgeräten vom Besteck bis zum PC, Nahrungsmitteln oder Fahrzeugen, in Technik, Wirtschaft, Staatsführung und Medizin oder bei den Sprachen gibt es deutliche Anzeichen dafür, daß die kulturelle Spannweite durch Globalisierung schrumpft. Dieselbe Globalisierung sorgt zwar wie gerade ausgeführt für undeutlichere Verteilungen innerhalb der verengten Spannweite und für mehr Bewußtheit für die eigene kulturelle Ausstattung, so daß für den Kulturforscher genug zu tun bleibt. Doch eine Ethnologie, die Globalisierung einseitig als Quelle der kulturellen Diversifizierung darstellt, mag zwar als Reaktion auf den populären „radical diffusionism” im Hannerz’schen Sinne erklärlich sein, ist aber trotzdem für die genannten Kulturbereiche nicht sehr realistisch. In Kulturbereichen, die nicht so sehr von praktischen Erwägungen oder von dem, was der Markt hergibt, diktiert sind – so wie etwa Sozialorganisation oder Religion – gibt es weniger Anzeichen für globale Vereinheitlichungstendenzen. Ganz von der Hand zu weisen sind sie aber auch hier nicht. Neuere Arbeiten ▶▸(Hirsch und Wardlow 2006) dokumentieren z. B. einen weltweiten Trend hin zur companionate marriage, in der der Ehepartner nicht nur Versorger, Haushälter, Kindererzieher oder Angehöriger einer verbündeten Lineage ist, sondern Geliebe/r, Freund und emotionale Stütze. Ein Zusammenhang mit der Anziehungskraft der telenovelas und anderer soap operas ist hier sicher vorhanden. Andere globale soziale Trends – z. B. hin zur Kleinfamilie oder weg von komplexen Verwandtschaftssystemen – sind ebenfalls prinzipiell vorstellbar, doch fehlen hierzu bislang systematische Untersuchungen, die darauf mehr machen würden als bloße Spekulation. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 232 Kreolisierung Weltkultur, also die Idee von einer global verbreiteten Kulturschicht oder mehreren solcher Schichten, halte ich daher für ein durchaus bedenkenswertes Konzept. Und Kreolisierung ist weniger unproblematisch, als es zunächst erscheinen mag. ▶▸In den letzten Jahren sind einige neue Beiträge erschienen, die den Begriff kritisch diskutieren und auf seine Ablösung vom karibischen Kontext und die Ignorierung der ideologisch-nationalistischen Dimension, die dort bestand, hinweisen (Munasinghe 2006, Palmié 2006). ▶▸Hannerz als Hauptverbreiter hat hierauf meines Erachtens berechtigterweise entgegnet, daß er sich weniger auf das bezogen hat, was „Kreole” oder „kreolisch” in der Karibik bedeutet, sondern eher auf den allgemeinen linguistischen Fachterminus, so wie ja auch “Kaste” in einer vom indischen Raum abstrahierten allgemeinen Bedeutung verwendet wird (Hannerz 2006). Aber das linguistische Konzept trifft meiner Meinung das eigentlich Angezielte gar nicht richtig. Denn Kreolsprachen entstehen nach klassischer Definition dann, wenn ein in der kolonialen Kontaktsituation entstandenes Pidgin zur Muttersprache wird, wie z. B. auf Jamaika oder Haiti. Damit ist das einstmals Fremde zu eigen gemacht und die Verschmelzung komplett, denn die eigene Muttersprache als etwas Externes anzusehen, wird sicherlich unmöglich sein. Ähnlich stark integrierte Kulturimporte kommen ganz sicher vor. Kaum jemand denkt z. B. bei Kartoffelpüree oder Reibekuchen daran, daß die darin verarbeitete Feldfrucht erst vor wenigen Jahrhunderten aus Südamerika gekommen ist. Schon bei Bier und Whiskey in Japan liegt die Sache jedoch anders. Sie sind zwar, wie bereits im Kapitel über die Globalisierung des Warenkonsums geschildert, mittlerweile ein ganz normaler Alltagsbestandteil. Aber in der einschlägigen Werbung treten Harrison Ford oder andere westliche Stars auf, in der SakeWerbung dagegen immer nur Japaner. Bier und Whiskey bleiben also im allgemeinen Bewußtsein Kulturimporte, und gerade die Tatsache, daß sie etwas Westliches sind, macht einen Teil ihrer Anziehungskraft aus. Ähnlich sehe ich es bei der deutsch-italienischen Kaffeekultur. Cappuccino oder Latte macchiato sind für uns ebenfalls nichts Besonderes mehr, aber weiterhin ist es für die meisten ihrer Genießer nicht unwichtig, daß sie aus Italien stammen, und ein Espresso wird sich besser verkaufen, wenn der Markenname Lavazza und nicht etwa Schmidtbauer oder Kasparek ist. Die Attraktivität des importierten Kulturelements liegt in diesen Fällen gerade darin begründet, daß es seinen Abstand wahrt; man könnte von einem Stück Gastkultur sprechen. Und wachsende Vertrautheit mit der Gastkultur kann auch zu größerem Purismus führen: Aus Reis gebrautes Bier – also ein deutliches Kreolisierungsprodukt – gibt es in Japan zwar durchaus, aber die Kleinbrauereien produzieren wie bereits erwähnt mittlerweile kerushi taipu und andere lokale VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 233 deutsche Sorten für einen Liebhabermarkt, werden also originaler. Und der italienisch gebraute Kaffee hierzulande ist auch im Laufe der Zeit authentischer geworden, Cappuccino mit Sahne statt Milchschaum z. B. bekommt man mittlerweile nur noch selten serviert. Der Grad der Kulturintegration ist hier ein anderer als bei der deutschen Kartoffel, und all diese Kulturadaptionen als Kreolisierung zu bezeichnen, kann gewichtige Unterschiede verdecken. Stattdessen sollte differenziert werden: Erfolgt eine komplette Integration des Kulturimports (wie bei der Kartoffel), oder bleibt der Kulturimport als solcher sichtbar (wie beim Bier in Japan)? Wird der Kulturimport verändert oder nicht? Wird die Veränderung bemerkt oder nicht? (Futons werden hierzulande mit Dingen wie Roßhaar oder Latex gefüllt, während sie in Japan immer nur aus Baumwolle bestehen, doch scheint dies kaum jemand zu wissen.) Wird die Veränderung sogar bewußt herausgestellt, wie etwa vielfach bei Weltmusik? Und geschieht die Herausstellung der Veränderung in affirmativer oder in kritischer Absicht? (Bei Mecca Cola ist das letztere der Fall.) All diese Fragen lassen sich außerdem noch einmal separat für die wahrnehmbare Form der Kulturimporte und die ihnen zugeschriebenen Bedeutungen betrachten, wobei beides nicht gekoppelt sein muß. Es gibt also sehr vielfältige Formen der Kreolisierung, Indigenisierung, Glokalisierung oder wie immer man es nennen möchte, und es wird sich lohnen, sie systematischer zu unterscheiden. Global systems of common difference und die Vervielfältigung der Zentren Oft sind es ohnehin weniger bestimmte Kulturbestandteile als vielmehr die Achsen der Kulturdifferenzierung, die sich global vereinheitlichen. Im Kapitel über Nationalismus habe ich Orvar Löfgrens Überlegungen vorgestellt, wonach das Konzept der Nation als eine einheitliche Grundstruktur zu sehen ist, zu der solche Dinge wie Nationalflaggen, Nationalhelden oder Nationalgerichte gehören. Diese Grammatik, wie Löfgren es ausdrückt, ist aber mit einem spezifischen Lexikon zu füllen, d. h. im Fall Italiens mit grün-weiß-rot, Garibaldi und Pasta und Pizza, von denen jeder Bestandteil unverwechselbar zu sein hat. Was jedoch nicht existiert, sind Alternativen zu der Grammatik, also z. B. ein Nationaltattoo statt einer Nationalflagge oder ein Nationalsprichwort statt eines Nationalgerichts. ▶▸Der amerikanische Ethnologe Richard Wilk (Wilk 1995) hat hier von „global systems of common difference” gesprochen (eigentlich ein Oxmyoron): Kultur bleibt heterogen, aber innerhalb geteilter Grundstrukturen, die jeweils mit Unterschiedlichem gefüllt werden. Genauso wie eine allgemeine Leerstruktur der Nation gibt es auch eine des Indigenen oder eine der Fernseh-Seifenoper, und was sich unterscheidet, sind die konkreten Füllungen dieser geteiltenLeerstruktur, also die besonderen Formen der ägyptischen TV-Serie im Gegensatz zur brasilianischen oder die besondere Formen der Naturnähe und der VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 234 Spiritualität bei den Hopi im Gegensatz zu den Maori. Solche Kanalisierung der Differenz wird zusehends wichtiger, und die bereits erwähnte Zunahme der globalen Bezugspunkte sorgt für Vorbilder und Gegenbilder, an die man sich anlehnen oder von denen man sich absetzen kann. Ob das nun Homogenisierung oder Heterogenisierung von Kultur ist, ist eine Frage der Sichtweise; am ehesten kann man wohl von einer Kanalisierung der Heterogenität sprechen. Die Räume, in denen all dies stattfindet, sind zwar einerseits geschrumpft, indem es die Transport- und Kommunikationstechnologien erleichtern, ferne Orte zu erreichen. Fast alles, was ich ihnen in dieser Vorlesung vorgestellt habe, deutet aber darauf hin, daß es weiterhin heterogene Räume sind, mit eindeutigen Zentren der globalen Aktivitäten und Imaginationen und anderen Orten, die ihnen gegenüber peripher sind, so daß ich zumindest diesen Ansatz der Dependenz- und Weltsystemtheorien nicht aufgeben würde. Für die aktuelle Kulturentwicklung charakteristisch erscheint mir aber die Vervielfältigung der Zentren. Die gängigen global cities wie New York oder London sind in dieser Vorlesung mehrmals vorgekommen. Ausdrücklich oder implizit ging es aber auch um andere Zentren, wie etwa Washington (der Sitz der IFIs), Toronto (der Sitz von Inco, der Bergwerksgesellschaft, die die Mine in Soroako betreibt), Mekka (als Inspirationsquelle für Mecca Cola und als spirituelle Attraktion für die in die Golfstaaten migrierenden Männer aus Talukpur), Kairo (als Standort der Al-Azhar-Universität, der wichtigsten Ausbildungsstätte des Islam, und Legitimator für die von dort stammenden Islamgelehrten in Frankreich), Rom (als Sitz des Antichristen – zumindest in der Sicht der Urapmin), Genf (als Treffpunkt der Working Group on Indigenous Peoples) oder Meizhou (als Ort des Mazu-Haupttempels) haben eine Rolle gespielt. Und die wachsende Zahl weltumspannender Organisationen, Bewegungen, Moden und anderer Aktivitäten sorgen dafür, daß auch viele andere Orte für bestimmte von ihnen zentral sind und weltweit ausstrahlen. Diese globalen Zentren liegen zwar häufig, aber längst nicht immer in den reichen Ländern – an Kingston in Jamaika (für den Reggae), ▶▸Auroville in Indien (für die Anhänger gesellschaftlicher Utopien und Hippies der Welt) oder ▶▸Qom im Iran (der heiligen Stadt der Schiiten) hängt ebenfalls jeweils ein kleines Weltsystem. Die Vervielfältigung der Bezugspunkte, von denen ich sprach, ist also durchaus auch topographisch zu verstehen, und die wachsende Zahl der für irgendetwas als globale Zentren fungierenden Orte trägt ebenfalls zur Erweiterung der lokal jeweils vorhandenen kulturellen Repertoires da. Globale Orte und Institutionen Eine Ethnologie der Globalisierung muß sich meines Erachtens nicht nur auf solche Fragen VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 235 beziehen und diesen sicherlich auch systematischer nachgehen, als ich es getan habe. Eine weitere Aufgabe ist es zu klären, was an globalen Orten und in globalen Institutionen vor sich geht. Zum Teil liegen diesen in den gerade beschriebenen, zahlreicher gewordenen Zentren des globalen Kultursystems. Es gibt jedoch durchaus auch Orte, die selbst keine Zentren sind, aber an denen sich Menschen und Menschengruppen mit unterschiedlichen Zentrumsorientierungen zusammenfinden und die deshalb eine besondere, globale Qualität haben. Mit drei globalen Orten bzw. Institutionen – in allen Fällen ist beides beteiligt – möchte ich mich in der Folge beschäftigen. Ich beginne bei der globalen Organisation mit dem umfassendsten Vertretungsanspruch, nämlich den Vereinten Nationen. 1945 gegründet, ist die UN aus dem bereits 1920 gegründeten Völkerbund (der League of Nations) hervorgangen und heute eine der einflußreichsten globalen Organisationen. Dem Ziel, eine Art Weltregierung zu bilden, der sich die Nationalstaaten fügen, sind die UN und ihre vielen Neben- und Sonderorganisationen sicherlich weiterhin fern, aber in eine große Zahl politischer und wirtschaftlicher Vorgänge der Gegenwart sind sie trotzdem involviert. Gleichzeitig werden diese Gremien aber nicht von der Weltbevölkerung gewählt, sondern von den Mitgliedsstaaten gebildet; im Fall der Vereinten Nationen nicht weniger als 192 an der Zahl. Und aus dem Gegensatz zwischen universalem Anspruch und nationalen Partikularinteressen erwachsen viele der Funktionsprobleme, die die UN heute hat, wie einen schon die tägliche Zeitungslektüre lehrt. Die verschiedenen UN-Organisationen sind bereits das Objekt einiger ethnologischer Studien geworden, z. B. die bereits in der letzten Woche vorgestellten Arbeiten zur Working Group on Indigenous Peoples, die dem UN-Menschenrechtsrat zugeordnet ist. Ich werde mit einer Studie zu den UN-Friedensmissionen fortfahren und ihnen dann einen kurzen Einblick in meine eigenen ersten Erkundungen zum Welterbe der UNESCO geben. Die Stützpunkte der UN-Friedenstruppen in Israel ▶▸Zwei israelische Ethnologen, Eyal Ben-Ari und Efrat Elron von der Hebrew University in Jerusalem, haben eine Studie über die Friedenstruppen der UN, die an den diversen Brennpunkten in und um Israel stationiert sind, durchgeführt (Ben-Ari und Elron 2001), worauf besonders Ben-Ari als Erforscher des israelischen Militärs gut vorbereitet war ▶▸(Ben-Ari 1998). Über drei Jahre hinweg haben sie mehr als 70 zumeist bereitwillig gewährte Interviews mit den Soldaten verschiedener Truppenkontingente geführt, hauptsächlich mit Offizieren, da diese die meisten Begegnungen mit Angehörigen anderer Nationen haben und für die Fragestellung der VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 236 Studie daher am interessantesten waren. Bei der Auswahl achteten Ben-Ari und Elron auf größtmögliche Varianz bezüglich Nationalität, Dienstgrad und Arbeitsaufgaben der Soldaten. Zu den Interviews kamen Beobachtungen und die Auswertung von Dokumenten. Sicherlich würde man mit einer längeren Feldforschung tiefer dringen können, aber Institutionen wie Armeen sind wenig gewillt, sich in die Karten schauen zu lassen, so daß die Alternative wohl nur der vollständige Verzicht auf eine Untersuchung gewesen wäre. All die weltweit verteilten UN-Friedensmissionen tragen einen eigenen Namen mit eigener Abkürzung, im Untersuchungsfall gehörten die Soldaten zu ▶▸UNTSO, einer Truppe, die bereits seit 1948 auf den Golan-Höhen und im Suez-Kanal die Waffenstillstände zwischen Israel und seinen Nachbarn überwacht, UNDOF, einer weiteren Truppe, die den Waffenstillstand speziell zwischen Israel und Syrien überwacht, und UNIFIL, einer dritten Truppe, die das Grenzgebiet zwischen Israel und Libanon kontrolliert. UNDOF hat Soldaten aus Australien, Japan, Kanada, Polen und der Slowakei, UNIFIL Soldaten aus Fiji, Finnland, Ghana, Indien, Irland und Nepal, und UNTSO setzt sich aus den Mitgliedern nicht weniger als 24 nationaler Armeen zusammen. Dies entspricht UN-Prinzipien, nach denen sich die Friedenstruppen immer multinational zusammensetzen sollen, nach Möglichkeit zudem aus unterschiedlichen Weltgegenden. Die Hauptquartiere sind ebenfalls bei all den drei untersuchten Truppen multinational, so daß also die Angehörigen unterschiedlichster Nationen in großem Stil miteinander kooperieren müssen. Neben der allgemeinen Frage, zu welchen Prozessen es in einer so multinationalen Arena kommt, interessierte Ben-Ari und Elron im speziellen, ob sich unter diesen Bedingungen eine Art transnationaler Kosmopolitismus herausbildet oder ob die nationalen Grenzen ihre Bedeutung behalten. Doppelte Hierarchien In symbolischer Hinsicht werden die Herkunftsnationen transzendiert, denn UN-Friedenstruppen tragen zwar die gewöhnlichen Uniformen der sie entsendenden Staaten, aber dazu die namensgebenden blaue Helme oder Barette mit dem UN-Symbol, und ihre Kommandeure stammen nicht selten aus anderen Staaten als dem eigenen. Doch existiert eine inoffizielle Doppelhierarchie: Wie in allen Armeen dieser Welt gibt es auch unter den Blauhelmen eine Rang- und Kommandoordnung, aber daneben treffen sich die Kommandeure der nationalen Kontingente ebenfalls regelmäßig zu ihren eigenen Besprechungen, auch wenn diese Kommandeure in der Blauhelm-Hierarchie gar keine besondere Position haben. Dies macht deutlich, daß für die einzelnen Soldaten die nationalen Entsendearmeen, die sie für den Blauhelm-Einsatz abordnen und in die sie nach dessen Ende zurückkehren werden, weiterhin der VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 237 wichtigste Bezugsrahmen sind. In diesen spielen sich nämlich ihre persönlichen Karrieren ab, und ein zu engagiertes Blauhelm-Bewußtsein kann diesen eher abträglich sein, wenn z. B. ein zu langer Einsatz die Aufstiegschancen in der Heimat gefährdet. Auch bei dienstlichen Verfehlungen – die im Blauhelm-Dienst bekanntlich ja schon vorgekommen sind, etwa Vergewaltigungen oder die Nutzung von Kinderprostitution – greifen die nationalen Hierarchien: Die Vorgesetzten des Täters in der Blauhelm-Hierarchie dürfen nur berichten; die disziplinarischen Maßnahmen bleiben Ländersache und obliegen der entsendenden Armee. Auch haben die nationalen Kommandeure ihre eigenen nationalstaatlichen Vorgaben, z. B. bezüglich dessen, was sie im Rahmen des Blauhelmeinsatzes tun dürfen und was nicht. Und so sehr die Befehlshaber der Blauhelm-Truppen es sich auch anders wünschen, behalten diese nationalen Vorgaben schon aus politischen Gründen – z. B. dem, daß Todesopfer bei UNMissionen der eigenen nationalen Wählerschaft nur sehr schwer zu verkaufen sind – den Vorrang. Die häufigen Besuche von Militärs und Politikern aus der Heimat sorgen zusätzlich dafür, daß dies nicht in Vergessenheit gerät. Wie es ein australischer Kommandeur den beiden Forschern gegenüber für den speziellen Fall Somalia, wo es tatsächlich Todesopfer unter den Blauhelmen gegeben hat, beschreibt: ▶▸„You start this other chain of command: Am I allowed to do this if my troops are in danger? Am I a commander from Sydney or am I a commander of the United Nations?” (Ben-Ari und Elron 2001: 282). Aus dem Nebeneinander – und manchmal eben auch dem Gegeneinander – von UN-Kommandostruktur, Heimatarmeen und dem an der jeweiligen Blauhelm-Truppe beteiligten spezifischen Nationen-Cocktail ergibt sich ein Großteil der existierenden Spannungen und Reibungen. Militärische Gemeinsamkeiten Dessen ungeachtet entwickelt sich aber während des Einsatzes auch eine gemeinsame BlauhelmIdentität, wie Elron und Ben-Ari eine große Zahl ihrer Interviewpartner bestätigen. Und diese bezieht sich ganz wesentlich aus dem geteilten militärischen Hintergrund. Wie es ein Neuseeländer beschreibt: ▶▸„… the basic military principles are always the same; the need for discipline, the need for organization, the need for an appreciation for proper action” (Ben-Ari und Elron 2001: 283). Dies liegt zum einen daran, daß die militärischen Formen global diffundiert sind; laut den Autoren ist die preußische Armee das den Armeen der Welt gemeinsame Vorbild gewesen. Zum anderen gibt es aber auch in der Gegenwart einen intensiven Austausch zwischen den Armeen verschiedener Länder, etwa durch den gegenseitigen Besuch von Militärakademien oder durch die Lektüre derselben Fachzeitschriften. Der in diesem Kontext wesentliche „Andere” – im Barth’schen Sinne – wird stattdessen durch das zivile VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 238 Personal der Blauhelm-Missionen und die UN-Spitze in New York verkörpert. Über deren Unverständnis für die militärischen Bedürfnisse klagen die interviewten Soldaten immer wieder, und Ben-Ari und Elron sehen hier eine ironische Fortsetzung der in den nationalen Armeen der Welt verbreiteten Vorbehalte gegenüber den Zivilisten. Die Blauhelme können also trotz ihrer disparaten Herkunft binnen weniger Wochen erstaunlich effektiv zusammenarbeiten, zum einen durch Rückgriff auf eine große Zahl von formalen Prozeduren wie der Anfertigung von Berichten und anderen Dokumenten, Lagebesprechungen aller Art oder standardisierten Vorgehensweisen, zum anderen aber auch aufgrund geteilter Symbole. Darunter sind eine Identifizierungsplakette, die jeder Blauhelmsoldat trägt, und auch die allgemeine Verbreitung des Wissens über die Geschichte der jeweiligen Mission. Gedenkzeremonien für gefallene Soldaten, interne Zeitungen und Newsletters sowie die Begrüßungs- und Verabschiedungszeremonien für die ausgewechselten Einheiten erfüllen dieselbe Funktion. Ein gewisser Blauhelm-Corpsgeist kommt also durchaus auf. ▶▸In einem anderen Artikel (Ghosh 1994) hat der indische Romancier, Journalist und promovierte Ethnologe Amitav Ghosh auf ein weiteres einigendes Element hingewiesen, nämlich den Abstand zur die Einsatzorte umgebenden Zivilbevölkerung, der in allen Fällen weit größer ist als der der Soldaten untereinander. Elron und Ben-Ari sprechen nicht davon, doch wird dieser Umstand in Israel nicht weniger wichtig sein. Die Produktion nationaler Differenz Ben-Ari und Elron zufolge verwenden viele der interviewten Soldaten Begriffe wie „cultural exchange” oder „multi-culturalism”, wenn sie über den Einsatz reden. Die Begegnung mit Soldaten aus anderen Nationen und die Auseinandersetzung mit ihrer Sicht der Dinge ist – neben der Langeweile – eines der prägenden Merkmale des Einsatzes, und gewöhnlich wird dies positiv bewertet. Hier scheint sich also auf den ersten Blick eine kosmopolitische Welthaltung anzudeuten. Kultur wird jedoch hierbei mit großer Konstanz als Nationalkultur aufgefaßt, und letztendlich trägt die multinationale Situation dazu bei, daß sich die Nationen als kulturelle Einheiten überhaupt erst bilden. So ist es üblich, daß die nationalen Kontingente reihum die anderen zu Festen, offenen Abenden oder zum jeweiligen Nationalfeiertag einladen, eine das Gemeinschaftsgefühl sicher stärkende Praxis. Doch führt dies zur Demonstration der eigenen Nationalität, etwa durch das Servieren landestypischer, dann auch bewußt als nationale Errungenschaften präsentierter Speisen – die Polen servieren Pirogi, die Schweden Fleischbällchen, die Japaner Sushi – oder durch das Aufhängen von Postern – norwegische VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 239 Fjorde, niederländische Tulpenfelder, der japanische Berg Fuji –, die in einer Art Selbststereotypisierung das Landestypische herausstellen sollen. „During such events, nationality is used as a building block for something beyond any particular contingent but at the very same time is accentuated. In other words, members of the different contingents interact as peculiar entities, as national-cultural beings” (Ben-Ari und Elron 2001: 290). Was dabei präsentiert wird, ist eine homogene Nationalkultur: Nicht das französische oder das britische, sondern ein vereinigtes Kanada wird vorgezeigt, und auch etwa die Differenzen zwischen den Sikhs und den anderen, hinduistischen oder muslimischen Angehörigen der indischen Armee werden nicht vertieft. Auch im Reden der Soldaten über ihre Erfahrungen während des multinationalen Dienstes ist die implizite Vorstellung, daß jede der beteiligten Einheiten eine eigene, klar definierte Nationalkultur hat, die zum Verständnis des jeweiligen Individuums wesentlich ist, sehr verbreitet. Der wichtigste Unterschied zwischen den einzelnen Soldaten ist also ihre Nationalkultur, und unwissentlich reproduziert so das Miteinander der Blauhelme aus verschiedenen Nationen auch die Grundbedingung der UN, die eben ein Verbund von in ihrer Souveränität ausdrücklich anerkannten Nationalstaaten ist. Der offiziellen Zielsetzung der UN zufolge sind diese Nationalstaaten alle gleich, und in der UN-Generalversammlung hat jeder der Mitgliedsstaaten eine Stimme. Bereits im Sicherheitsrat ist dies aber bekanntlich anders, denn dort sind die fünf alten Atommächte ständige Mitglieder mit Vetorecht, alle anderen aber nicht. Da die finanziellen Beiträge zur UN an das Bruttosozialprodukt geknüpft sind, tragen die einzelnen Staaten auch sehr unterschiedlich zum UN-Budget bei, die USA im Jahr 2006 gleich 22 %, Japan 19 %, Deutschland, Frankreich und Großbritannien jeweils zwischen 6 und 9 %, aber alle anderen Mitgliedsstaaten unter 5 % und die Hälfte von ihnen ohnehin nur den nicht mehr unterschreitungsfähigen Mindestbeitrag von 0,001 %, also ein bloßes Hundertausendstel des Gesamtbudgets. Und diese Realitäten politischer und wirtschaftlicher Ungleichheit prägen auch die Blauhelm-Einsätze. Die sehr unterschiedliche militärische Kompetenz der einzelnen nationalen Kontingente etwa, so schreiben sie, wird immer wieder thematisiert, selten sehr offensiv – hier scheint die egalitäre UN-Rhetorik als Bremse zu wirken –, aber doch in einer Vielzahl von Randbemerkungen. Auch werden die Kontingente unterschiedlich bezahlt. Von der UN erhalten sie alle gleich viel, doch nicht von ihren Heimatländern, die ihnen entweder – wie z. B. die Volksrepublik China – gar nichts zahlen, da der UN-Sold bereits das Zehnfache des gewöhnlichen Soldes beträgt, oder eben die in Industrieländern üblichen Löhne. Dies ist den Soldaten bewußt und Gegenstand beständiger Diskussionen, und dies hemmt auch das Gemeinschaftsleben, wenn etwa die Soldaten aus den ärmeren Ländern sich z. B. gemeinsame Kneipengänge nicht leisten können VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 240 oder wollen oder es nötig ist, ihre Zeche stillschweigend mitzubezahlen. Und dieses Bewußtsein für den trotz der egalitären Rhetorik sehr unterschiedlichen Rang der einzelnen Nationen in der globalen Hackordnung schlägt sich auch in anderen Aspekten nieder. Prestigeträchtige Leitungspositionen gehen eher an die reichen, viel zum UN-Budget beitragenden Nationen, doch wird zumindest auf eine gewisse Parität geachtet, indem auch Soldaten aus „Ländern des Südens”, „unterentwickelten Ländern” oder „Dritte-Welt-Ländern” auf solche Posten berufen werden. Dies erhärtet aber laut Ben-Ari und Elron die Wahrnehmung der Welt in diesen Kategorien und auch entsprechende Stereotypen, die z. B. die Armeen der reichen Länder prinzipiell als die besser organisierten ansieht. Eine stärker kosmopolitische Orientierung, so lautet Ben-Aris und Elrons Schlußfolgerung, läßt sich also in den untersuchten Blauhelm-Missionen nicht feststellen; eher drängt die multinationale Situation die Soldaten dazu, sich als nationale Wesen mit einer nationalen Kultur wahrzunehmen und darzustellen. Und darüber thronen Bilder einer dichotomen Weltordnung, mit dem „Norden”, der „Ersten Welt” oder den „entwickelten Ländern” auf der einen und den anderen Ländern auf der anderen Seite. Dies ist allerdings in der Struktur der UN angelegt: ▶▸ „The aim of the UN in general, and the peacekeeping forces in particular, is to achieve transnationalism through multi-nationalism” (Ben-Ari und Elron 2001: 298). Damit sind die Vereinten Nationen keineswegs Feinde des Nationalismus, und ▶▸„… having many flags around one table is qualitatively different than substituting the many flags with one new flag or having no flags at all” (Ben-Ari und Elron 2001: 298). Die geistige Abwesenheit der Nationalflaggen ist allerdings – wie die beiden Autoren in leider nur einem einzigen Satz andeuten – beim Zivilpersonal der UN-Missionen verbreiteter und sicherlich auch in den Leitungsebenen multinationaler Konzerne, unter Auslandskorrespondenten oder unter anderen Spezialisten der globalen Beziehungen, die nicht in einem nationalen Auftrag tätig sind. Das UNESCO-Welterbe Die Dialektik zwischen Welt und Nationalstaat ist auch bei meinem zweiten Fallbeispiel wichtig. Gerade ist in Quebec in Kanada die Sitzung des Welterbekomitees zu Ende gegangen, und 27 neue Welterbestätten sind ernannt worden. ▶▸Damit ist ihre Zahl jetzt auf 878 gestiegen, die sich auf 145 Länder verteilen; Saudi-Arabien, Vanuatu, Papua-Neuguinea und San Marino sind erstmals bedacht worden. ▶▸Dem Welterbe liegt das “Internationale Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt” zugrunde, das 1972 von der UNESCO, d. h. der UN-Sonderorganisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur, verabschiedet wurde. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 241 („Sonderorganisation” bedeutet, daß die UNESCO rechtlich selbständig ist, wenn es auch eine Reihe von Verträgen gibt, die die UN und die UNESCO miteinander verbindet.) Wohl kaum jemand hat damals vorausgesehen, in was für eine bekannte, prestigeträchtige und lukrative globale Marke sich das UNESCO-Welterbe entwickeln würde. Ethnologisch ist dies nicht nur deshalb interessant, weil mit einem Schlüsselbegriff unseres Fachs operiert wird – mehr als drei Viertel der ernannten Stätten sind Weltkulturerbe, während das Weltnaturerbe entgegen der anfänglichen Absicht in der Minderheit ist. Es stellt sich zudem angesichts des schon erwähnten “invention of tradition”-Ansatzes von Hobsbawm und Ranger auch die Frage, welchen Zwecken das Welterbe dient, ob auch hier eine Neuerfindung der Vergangenheit stattfindet und wessen kollektive Interessen dabei bedient werden. Welterbe und Eurozentrismus Das Projekt Welterbe geht auf einige von der UNESCO koordinierte Rettungsaktionen für Kulturstätten wie ▶▸Abu Simbel in Ägypten, Borobudur auf Java oder Venedig zurück, die das Bewußtsein reifen ließen, daß für den Erhalt dieser Orte nicht nur die jeweiligen Nationalstaaten, sondern die ganze Welt Verantwortung trägt, aber auch ein Recht darauf hat. Dem wurde schließlich durch die Verabschiedung der Konvention Rechnung getragen. 1978 nahm das ▶▸ „Komitee für das Erbe der Welt“ als oberstes Entscheidungsorgan die ersten Ernennungen vor. In ihm sitzt je ein Delegierter aus 21 Staaten, die von der ▶▸Generalversammlung aller Unterzeichnerstaaten gewählt werden. Unterstützt wird das jährlich nur eine Woche tagende Komitee von einem ständigen Sekretariat, dem ▶▸„World Heritage Centre“ in Paris. Die Unterzeichnerstaaten sind gehalten, eine vorläufige Liste mit potentiellen Welterbestätten zu führen, von denen sie jedes Jahr bis zu zwei vorschlagen dürfen. Die Vorschläge müssen ausführlich begründet werden, und es folgen eingehende Prüfungen mit Ortsbegehungen durch vom Welterbekomitee beauftragte Experten. Je nach Art der Stätte kommen diese Experten vom ▶▸Internationalen Rat für Kulturdenkmäler (ICOMOS) oder von der ▶▸Weltnaturschutzunion (IUCN). Auf ihre Empfehlung hin entscheidet das Komitee, und 2008 wurden etwa zwei Drittel der Kandidaten auch angenommen. Ist eine Welterbestätte ernannt, muß der jeweilige Nationalstaat für ihren Erhalt sorgen, regelmäßig über ihren Zustand berichten und Kontrollmissionen empfangen sowie das WelterbeLogo anbringen. Verletzt der Nationalstaat diese seine Pflichten, kann es zu einem Eintrag auf die ▶▸„Liste des gefährdeten Welterbes” oder einfach „Rote Liste“ und schließlich auch zur Streichung kommen. Letzteres ist bisher erst einmal passiert, das Dresdener Elbtal könnte aber VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 242 nächstes Jahr folgen. Andere Sanktionsmöglichkeiten hat die UNESCO nicht, und ihre Finanzmittel sind ebenfalls begrenzt, aber der drohende Prestige- und Einnahmenverlust bringt viele der Nationalstaaten trotzdem zur Räson, wie ja auch hier in Köln bei den HochhausBauvorhaben auf der Deutzer Seite, die die Dominanz des Doms gefährdert hätten. Die Nationalstaaten gehen also eine Selbstverpflichtung ein und treten freiwillig ein Stück Souveränität an die UNESCO ab, die gewisse Bedingungen diktieren kann. Trotzdem ist die Welterbe-Ernennung sehr begehrt und umkämpft, und von ausgiebiger Lobbyarbeit sowohl innerhalb der nominierenden Staaten als auch gegenüber der UNESCO ist die Rede. Auch haben alle Appelle keine freiwillige Zurückhaltung bei den Nominierungen bewirkt, so daß mittlerweile Obergrenzen für die Anzahl der pro Jahr behandelten Kandidaten gelten. Das erschwert es allerdings, die entstandene Schieflage zu korrigieren. ▶▸Denn fast die Hälfte der Welterbestätten befinden sich in Europa, das im Verhältnis zur Bevölkerungszahl zehnmal so gut vertreten ist wie Asien. Andere Regionen wie z. B. Afrika fallen noch mehr ab, während vor allem die westeuropäischen Staaten außerordentlich gut bedacht sind. Ist das so wichtig, werden Sie sich fragen, Bangladesh oder Nigeria haben doch sicher andere Sorgen als ihre eigene Unterrepräsentierung beim Welterbe. Die Welterbe-Institutionen treibt jedoch nichts anderes so sehr um, denn was auf dem Spiel steht, so die immer wieder geäußerte Sorge, ist die „credibility“ des Welterbes. Die Zahl der bereits ernannten Stätten des nominierenden Staates ist allerdings kein Kriterium für die Zurückweisung eines neuen Antrags; dieser muß vielmehr sachbezogen entschieden werden. Und so bleibt es beim vielbeklagten Eurozentrismus der Liste und der Überrepräsentierung von Kirchen, Palästen und Altstädten. Das so bedingte schlechte Gewissen des Welterbes besteht schon seit den 1980er Jahren und hat immer neue Gegenmaßnahmen veranlaßt. ▶▸So wurde 1994 die seither leitende „Global Strategy“ verabschiedet, die als zu vertiefende Bereiche – ausdrücklich „in their broad anthropological context“ verstanden – uns wohlvertraute Stichwörter wie Nomadismus, Subsistenzweisen oder soziale Interaktion liefert. Seither sind mit dem Alltagsleben verbundene Denkmalkategorien tatsächlich gestärkt worden oder neu hinzugekommen, etwa Vernakulararchitektur, Industrieanlagen, Bergwerksregionen und technologische Denkmäler, historische Eisenbahnstrecken, Wege, Routen und Kanäle, Architektur des 20. Jahrhunderts oder Meilensteine der Stadtplanung. Zusätzlich wurde eine neue Großkategorie eingeführt, nämlich die der Kulturlandschaft (cultural landscape), die Kultur- und Naturerbe verbinder und bei der die menschliche Nutzung der Landschaft eine wesentliche Komponente ist. Außerdem hat das Welterbe-Komitee den Kulturrelativismus ausgerufen, letztendlich ausgelöst durch den Antrag Japans auf Ernennung des ▶▸Hôryûji-Tempels bei Nara. Die dort VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 243 stehenden ältesten Holzbauten der Welt sind im Laufe ihrer Geschichte mehrmals komplett auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt worden, wobei viel schadhaftes Material ersetzt wurde. Europäische Denkmalexperten stellten daher ihre Kontinuität in Frage, konnten sich aber auf einer Konferenz in Nara 1994 nicht durchsetzen. Daher kann jetzt nicht mehr nur Form, Design und Material die Authentizität einer Welterbestätte belegen, sondern die Gebrauchsweise, die Umgebung oder die emotional-spirituelle Atmosphäre. All dies soll außerdem innerhalb des jeweiligen kulturellen Kontextes bewertet werden, nicht durch Anlegung universal einheitlicher Maßstäbe, die es hier – wie es heißt – gar nicht geben kann. An der westlichen Vorherrschaft hat dies wenig geändert, da die europäischen Länder auch die neuen Denkmalskategorien dominieren und immer noch 9 der insgesamt 27 im Jahr 2008 ernannten Stätten stellen. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist nun mit dem 2003 von der UNESCO verabschiedeten ▶▸„Internationale Übereinkommen zum Schutz des immateriellen Kulturerbes“ eine parallele Struktur für das immaterielle Erbe geschaffen worden, die bis in die Details dem organisatorischen Vorbild des materiellen Welterbes nachempfunden ist. Was hier ernannt werden kann, ist noch offener formuliert als beim materiellen Welterbe, das ja ebenfalls keine universalen Standards vorsetzen möchte. ▶▸Ein Vorgängerprogramm, die 2001 bis 2005 von der UNESCO ernannten „Meisterwerke des oralen und immateriellen Erbes der Menschheit“, war sehr folkloristisch angehaucht: „Kleine“ Traditionen der performativen und expressiven Kultur wie z. B. litauisches Kreuzschnitzen, sizilianisches Puppentheater oder Querhorn-Musik von der Elfenbeinküste waren vertreten, nicht aber die urbane „Hochkultur“ der Metropolen. Dem Ziel der Bekämpfung des Eurozentrismus kam das Meisterwerke-Programm allerdings tatsächlich näher, denn Europa war weniger üppig repräsentiert als beim materiellen Welterbe.. Der Wandel des Welterbes Wie sieht es beim Welterbe mit Zentrum und Peripherie und mit der Frage der weltweiten Kulturvereinheitlichung aus? Die westliche Dominanz legt ja nahe, daß sich auch hier konventionelle globale Hackordnungen dominieren. Das ist aber bei näherem Hinsehen nicht ganz so. Denn der Dauereinsatz gegen den eigenen Eurozentrismus hat zu tatsächlichem Wandel geführt, und die Inspirationen dafür kamen nicht aus den Zentren des Weltsystems. So war für die Einführung der Kategorie der „Kulturlandschaft“ das Vorbild des australischen Denkmalschutzes wichtig, wo in der ▶▸Burra Charter von 1979 der spirituelle Wert der Nationalparks für ihre traditionellen Aborigine-Bewohner als Teil des Erhaltungsziels anerkannt wurde. Und nicht nur die Entgrenzung der Authentizitätskriterien wurde durch den Antrag Japans für den Hôryûji-Tempel ausgelöst, auch das Programm für das immaterielle Erbe nimmt VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 244 Anregungen des japanischen Denkmalschutzes auf, wo selbiges schon seit kurz nach dem Kriegsende vom Staat ernannt und geschützt wird. Der Charakter der ernannten Stätten hat sich durch den in der Global Strategy geforderten stärkeren Alltagsfokus außerdem gegenüber den Anfangsjahren verändert. Ganz allgemein ist das Interesse an Welterbestätten gestiegen, die paradoxerweise weniger durch Unwandelbarkeit auffallen, sondern eine Geschichte des Wandels erzählen, etwa des technologischen Fortschritts – wenn mit der ▶▸Radiostation Varberg in Schweden ein Pionier der transatlantischen Kommunikation ernannt wird – oder des politischen Triumphs – wenn ▶▸Robben Island vor der Küste von Kapstadt, also Nelson Mandelas langjähriges Gefängnis, auf die Liste kommt. Der solchermaßen gefeierte Wandel kann auch einer der Kreolisierung sein: ▶▸2005 wurde der Heilige Hain der Yoruba-Göttin Osun in der nigerianischen Stadt Osogbo zum Welterbe ernannt. Begründet wurde dies nicht nur mit der traditionellen religiösen Bedeutung des Ortes, die seit der Kolonialzeit sehr gelitten hat, und seiner besonderen Lage in einem übriggebliebenen Stück Primärwald. Ausdrücklich erwähnt wurde vielmehr auch das künstlerische Revival mit neuartigen Götterbildern und Schreinen, das die Österreicherin Suzanne Wenger und einheimische Künstler dort unter dem Etikett "New Sacred Art" angestoßen haben. Gerade kreative Verschmelzungsprozesse in einer postkolonialen Situation wurden hier also gewürdigt und für welterbefähig befunden. Der so bedingte Wandel des Denkmalsbegriffs erfolgt also nicht nur aufgrund westlicher Vorgaben, und er hat Rückwirkungen auf alle – auch die westlichen – Nationalstaaten. Diese können jetzt z. B. nicht mehr umhin, sich ebenfalls für Kulturlandschaften oder für Alltagsdenkmäler zu interessieren, wo es mit dem Welterbe die gewissermaßen ranghöchste aller Denkmalskategorien vorexerziert. Ohnehin ist den Welterbe-Programmen die Dynamik bereits eingebaut. Statt über regelmäßige programmatische Sitzungen entsteht die Welterbe-Politik nämlich eher in der Auseinandersetzung mit neuen Anträgen. Und wenn hier z. B. einer der Vertragsstaaten eine Eisenbahnlinie vorschlägt, bringt dies das Welterbekomitee erst dazu, diese neue Denkmalskategorie eingehender zu betrachten, Experten zu befragen, Fachkonferenzen zu veranstalten und schließlich neue Standards vorzulegen und Präzedenzfälle der Ernennung zu schaffen, die den Kontext für die nächsten Kandidaten verändern. Daher scheint mir die künftige inhaltliche Entwicklung der beiden Welterbe-Programme kaum vorhersagbar. Jetzt schon klar ist allerdings, daß es sich hier ebenfalls um eines von Richard Wilks „global systems of common difference“ handelt. Denn ein wesentliches Moment in den Welterbe-Anträgen ist der Vergleich: Um den erforderlichen „outstanding universal value“ nachzuweisen, muß der Kandidat hier in den Kontext anderer bereits ernannter und noch VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 245 nicht ernannter Welterbe-Stätten eingeordnet werden, also eben z. B. klargemacht werden, wodurch die vorgeschlagene gotische Kathedrale sich unter den vielen anderen gotischen Kathedralen heraushebt. Eine eindeutige globale Homogenisierung findet außerdem auf der prozeduralen Ebene statt. Denkmalregister, Pufferzonen und Managementpläne muß jeder vorweisen, der beim Welterbekomitee Erfolg haben will. So einmalig die Stätte selbst natürlich sein muß – die Art des Umgangs mit ihr hat den gesetzten Standards zu entsprechen. Trotz allen nationalen Geltungsdrangs in der Antragspolitik ist außerdem das Welterbe auch eine Arena zur Zähmung des Nationalen. Denn wie wir hierzulande beim Kölner Dom und beim Dresdener Elbtal gesehen haben, ist einmal ernanntes Welterbe tatsächlich nicht mehr nur die Sache der jeweiligen Standorte und Nationalstaaten, und selbst wenn die Einwände des Welterbekomitees sich nicht immer durchsetzen, lösen sie doch zumindest intensive Diskussionen aus. Der soziale Mechanismus des „invention of tradition“-Ansatzes – Traditionen und Kulturerbe als Mittel der Selbstabgrenzung und Selbsterhöhung von ethnischen oder nationalen Kollektiven – kann hier nicht so unkompliziert greifen, denn die imaginierte Weltgemeinschaft ist keine exklusive Kategorie, da ihr das Gegenüber fehlt, und sie tritt eher in Konkurrenz zu den etablierten imaginierten Gemeinschaften, die sie einschließt. Chunking Mansions – der globalisierteste Ort der Erde? Nun noch zu einem dritten globalen Ort bzw. einer globalen Institution. Im letzten Kapitel habe ich Ihnen mit North Sentinel Island den womöglich globalisierungsfernsten Ort der Erde vorgestellt, nun soll der globalisierteste folgen, zumindest wenn man dem amerikanischen, an der Chinese University of Hong Kong lehrenden Ethnologen Gordon Mathews glaubt (Mathews o. J.) Dies ist Chungking Mansions, ein reichlich heruntergekommenes Hochhaus aus dem Jahr 1961, das im Herzen des Hongkonger Touristenviertels Tsim Sha Tsui auf einem etwa zwei Fußballfelder großen Grundstück steht. Wong Kar Wais bekannter Film „Chungking Express“ spielt größtenteils hier, auch wenn er das Gebäude laut Mathews völlig unrealistisch darstellt. Auf den 17 Stockwerken befinden sich nicht weniger als 90 guesthouses und 380 Geschäfte und Büros, im Erdgeschoß auch in einer offenen Ladenpassage. Mehr als 4000 Menschen schlafen hier jede Nacht, und vielleicht 10000 kommen jeden Tag hierher. Mathews selbst übernachtet hier seit 2006 zu Forschungszwecken ein- bis dreimal die Woche, und bei meinem Besuch im Frühjahr führte er mich freundlicherweise herum, beköstigte mich auf das Schmackhaftste in einem der indischen Restaurants und stellte mir einige seiner äußerst freundlichen Informanten aus Indien, Bangladesh, Nigeria und Ghana vor, so daß ich also auch VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 246 einen persönlichen Bezug zum Thema habe. Bewohner und Gäste Für Mathews ist Chungking Mansions ein Zentrum der „low-end globalization“, für ihn definiert als ▶▸„the transnational flow of people and goods involving relatively small amounts of capital and informal, sometimes semi-legal or illegal transactions, commonly associated within [sic] the developing world” (Mathews o. J.: 2-3). Dies liegt an den unschlagbar billigen Preisen der guesthouses im Bereich von nur etwa 10 bis 25 Euro pro Nacht und an den vielen Läden und Restaurants, die sich an den kleinen Geldbeutel richten. In den 1970er und 80er Jahren dominierten Rucksacktouristen aus dem Westen, auch weil der Lonely Planet Guide die Billighotels prominent empfahl. Seit den 1990ern sind Afrikaner im Vormarsch, die mittlerweile mehr als die Hälfte der Übernachtungsgäste ausmachen. Dazu kommen viele Südasiaten und Touristen vom chinesischen Festland, die auf ihr Budget achten müssen, aber auch andere Weltgegenden sind vertreten, so daß Mathews in den Gästelisten auf nicht weniger als 142 Nationen stößt. Dazu trägt neben den Preisen auch die relativ tolerante Hongkonger Visapolitik bei. Anders als in vielen anderen reichen Staaten können hier auch die Bürger der meisten ärmeren Länder am Flughafen ein Visum erwerben, und fast jeder erhält zumindest ein Touristenvisum für 14 Tage, das sich oft durch Aus- und Wiedereinreise verlängern läßt. Weiterhin wichtig ist die Nähe zu Südchina, das sich bekanntlich ja vor allem für preiswerte Produkte immer mehr zur Werkstatt der Welt mit Hongkong als Büro entwickelt, und auch die Volksrepublik errichtet nur wenig Einreisehindernisse. Daher ist die Mehrheit der in Chungking Mansions übernachtenden Ausländer und vor allem der Afrikaner als Kleinhändler unterwegs. Es lohnt sich für sie, mit dem Geld von Freunden und Bekannten die Reise nach Hongkong zu finanzieren, in Südchina begehrte Waren wie echte oder imitierte Markenhandys, andere Elektronikartikel, Kleidung, gebrauchte Autoteile, Kacheln u. ä. zu erwerben, mit den auf den billigen afrikanischen Fluglinien erlaubten bis zu 40 Kilogramm Gepäck oder noch zusätzlichem bezahlten Übergepäck zurückzufliegen oder die eingekauften Güter mit der Post oder per Container zu verschicken, gegebenenfalls den heimischen Zoll zu bestechen und die Ware dann zu verkaufen. Dieses Geschäftsmodell birgt mannigfaltige Risiken, und Hongkong ist nicht zuletzt deshalb beliebt, weil hier die Gefahr, mit größeren Mengen Bargeld beraubt zu werden, gering ist – kleiner übrigens auch als mittlerweile in der Volksrepublik. Denn der bargeldlose Verkehr würde Konten bei in Hongkong vertretenen Banken oder Kreditkarten voraussetzen, und diese können nur die wenigsten der Händler erhalten. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 247 Kaum einer der Händler hat einen Aufenthaltsstatus, der es erlauben würde, in Chungking Mansions Immobilien zu erwerben. 70 Prozent der nicht weniger als 920 Eigentümer sind stattdessen Chinesen, oft Immigranten vom Festland, die sich vor einigen Jahrzehnten nichts Besseres leisten konnten. (Gerade die Tatsache, daß sie so viele und so schlecht organisiert sind, schützt Chungking Mansions, denn vergleichbare Gebäude sind schon lange abgerissen und durch Lukrativeres ersetzt worden.) Nur die wenigsten dieser Eigentümer wohnen und arbeiten selbst im Gebäude. Stattdessen überlassen sie die Verwaltung ihres Eigentums meist Südasiaten, gewöhnlich solchen, die aufgrund der britischen Kolonialvergangenheit einen dauerhaften Aufenthaltsstatus haben. Diese stellen ihrerseits wiederum häufig Landsleute auf Touristenvisen ein, bemerkenswert oft aus einem bestimmten Stadtteil in Kalkutta. Diese Angestellten zweiter Ordnung erhalten zwar nur niedrige Löhne, aber können mit dem Hin- und Hertransport begehrter Waren – Reis aus Indien, Elektronik aus Hongkong und Südchina – hohe Gewinne erzielen. Nicht wenige überschreiten ihre Aufenthaltsdauer, doch sind sie nur schwer zu fassen, denn sobald Hongkonger Polizei – als Chinesen selbst inkognito leicht zu erkennen – auftaucht, starten die Handy-Rundrufe. Eine weitere signifikante Gruppe sind Asylbewerber. Nur wenige von ihnen werden anerkannt, aber ihre Verfahren ziehen sich in Hongkong oft jahrelang hin. Wie auch bei uns dürfen sie nicht arbeiten, was bedeutet, daß es nur diejenigen tun, die bei der so wahrscheinlicher werdenden Zwangsabschiebung nichts zu befürchten haben. Und schließlich gibt es weiterhin auch Touristen, einerseits aus dem Westen und oft angezogen vom besonderen Flair des Baus, andererseits aber auch vom chinesischen Festland. Gerade die letzteren wissen oft wenig vom besonderen Charakter des Gebäudes und sind von seiner Multinationalität entsprechend überrascht. Die etwa 80 Prostituierten sind in einer vorwiegend männlichen Welt zu erwarten, und auch einige Drogenhändler gehen hier ihren Geschäften nach. Doch der unter gewöhnlichen Bewohnern der Stadt verbreitete Eindruck einer großen Lasterhöhle geht laut Mathews fehl, was eine wachsenden Anzahl junger Hongkong-Chinesen nun auch begreift und damit beginnt, die Restaurants zu frequentieren und die multinationale Exotik zu genießen. Geteilte Werte Trotz seiner zweifelhaften Reputation, stellt Mathews fest, ist Chungking Mansions ein sehr friedlicher Ort. Zu physischer Gewalt kommt es nur selten, was er angesichts der Zerrissenheit vieler der Herkunftsländer durch Bürgerkriege u. ä. bemerkenswert findet. Eine multiethnischmultinationale Utopie ergibt sich aber nicht automatisch: Viele Afrikaner bleiben bei ihren Speisevorlieben und haben wenig Toleranz für das, was ihnen die südasiatischen Restaurantbetreiber vorsetzen wollen, nicht wenige der Chinesen, mit denen Mathews spricht, pflegen ihre Rassismen, und bei den Fernsehprogrammen guckt jeder das Angebot aus der VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 248 eigenen Heimat, wenn es denn vorhanden ist. Andererseits berichtet Mathews aber auch von einem chinesischen guesthouse-Betreiber, für den westafrikanische Muslime wegen ihrer Freundlichkeit und Ehrlichkeit die Lieblingsgäste sind, die er seinen eigenen, von ihm als aufdringlich empfundenen Landsleuten vorzieht, so daß tatsächlich eine gewisse globale Konvergenz erfolgt. Wie Mathews sagt: ▶▸„For at least a few of the entrepreneurs, workers, and asylum seekers I know, there are no ‚others’ anymore within the global mix of Chungking Mansions – except, perhaps, for Hong Kong Chinese” (Mathews o. J.: 17-18). Daß das Haus mit Englisch eine allgemein akzeptierte lingua franca hat, trägt dazu bei. Die Friedlichkeit und die Abwesenheit ethnisch-nationaler Spannungen hat aber auch noch einen anderen, sehr handfesten Grund. Denn wenn an einem irgendeinen Ort die politische Globalisierungskritik keine Stimme hat, dann ist es hier. Nicht nur ist Hongkong als solches mit seinen extrem niedrigen Steuern und Zöllen und seiner relativ entspannten Haltung gegenüber den sans papiers, die bei unauffälligem Verhalten weitgehend in Ruhe gelassen worden sind, eine Hochburg des Neoliberalismus. Die Klientel von Chungking Mansions steht auch selbst vollständig hinter dem grenzüberschreitenden Kapitalismus und seinen Möglichkeiten, und reich wird nach Auffassung der meisten derjenige, der sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Hier schlägt sich sicherlich auch die nieder, daß die wenigsten der Bewohner und Gäste in ihrer Heimat zu den ganz Armen zählen. Stattdessen handelt es sich bei ihnen meist um die Mitteloder gar Oberschicht aus im Weltsystem allerdings peripheren Ländern, die hier das Fundament für ihren (weiteren) wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstieg legen können. Die vorherigen Beispiele – Blauhelmtruppen in Israel und das UNESCO-Welterbe – sind Arenen der „high-end globalisation“, in denen die UN-Organisationen den Ton angeben und nationale Regierungen um Macht und Prestige konkurrieren. Hier bestimmt tatsächlich eine globale Elite mit ausgesuchten Bildungsabschlüssen und hohen Einkommen die Geschehnisse, selbst wenn dies nicht bis hinunter zum letzten Blauhelm-Gefreiten gilt. Aber auch „low-end globalisation“ wie in Chungking Mansions findet heute an vielen Orten statt, selbst wenn man nach ihr sicherlich oft länger suchen muß. Sie dürfte für die Arten und Weisen, wie die Welt heute imaginiert wird, kaum weniger wichtig sein. Daher gebührt ihr auch entsprechende ethnologische Aufmerksamkeit, wie auch überhaupt die globalen Orte und Institutionen noch sehr viel mehr ethnographische Forschung vertragen könnten, als ihnen bislang (z. B. Benedict 1991, Garsten 1994, Knight 1992, Little 1995) zuteil geworden ist. VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 249 Schlußbemerkung Soweit meine Vorlesung zu den kulturellen Folgen der Globalisierung und zu den zu ihr aufgestellten Theorien. Man hätte auch noch anderes behandeln können: Zu Themen wie Entwicklungszusammenarbeit, Tourismus oder Sport und ihren Zusammenhängen mit der Globalisierung gibt es ebenfalls Literatur, aus der man eigenständige Kapitel entwickeln könnte. Zu anderen wie etwa dem weltweiten Medizin- und Pharmasystem und dem globalen Verkehr der Ärzte, Krankenschwestern und Patienten – wie auch dem der traditionellen Heiler und Schamanen – gibt es noch nicht so viele ethnographische Studien. ▶▸Die in einem jüngeren Spiegel-Artikel beschriebenen Verhältnisse in einer Bangkoker Klinik mit Medizintouristen aus allen Mittelschichten der Welt (Buse 2008) würden allerdings eine reizvolle Feldforschung ermöglichen. Global cities sind in den vergangenen Kapiteln immer wieder aufgetaucht, aber könnten ebenfalls einen eigenständigen Kapitel-Fokus vertragen, und ▶▸Hannerz hat hier bereits erste Vorarbeit geleistet (Hannerz 1996: 127-161). Das Kapitel über den Warenkonsum ließe sich um eine Betrachtung der Globalisierung der ▶▸Werbe- und Marketingstrategien (Mazzarella 2003a, 2003b, Miller 1997, Moeran 1996) und das Kapitel über das Fernsehen um eine ▶▸Behandlung der anderen Massenmedien (Miller und Slater 2000, Spitulnik 1993) erweitern. Und auch zur Ethnologie selbst, ihrer Globalisierung und ihren Zentrums- und PeripherieStrukturen gibt es mittlerweile ▶▸Literatur (Kuwayama 2004, Ribeiro und Escobar 2006, van Bremen und Shimizu 1999). Auch existieren häufig wohl eher außerhalb der Ethnologie als innerhalb sicherlich mehr Verallgemeinerungsversuche z. B. zum globalen Wandel der Religionen oder der Familienstrukturen, als ich sie ihnen hier vorgestellt habe. Ich hoffe, sie haben auch so etwas mitgenommen. Zumindest sollte klargeworden sein, daß die Ethnologie von der Globalisierung nichts zu befürchten hat und es keinen Grund gibt, sie aus der Betrachtung auszublenden, so wie es manche der Klassiker im Fach getan haben. Bestimmte kulturelle Formationen, vor allem stark abgegrenzte Inselkulturen im physischen oder sozialen Sinne, werden trotz Ausnahmen wie North Sentinel Island heutzutage tatsächlich seltener. Doch die kulturellen Prozesse vereinfachen sich nicht und werden vermutlich auch noch im Jahr 2500 der Deutung durch Ethnologen – oder wer immer ihre Nachfolge antritt – bedürfen. Globalisierung ist in punkto Kultur natürlich längst nicht alles, und die Menschen leben weiterhin lokal, allerdings eben selten ohne daß sich die weitere Welt bemerkbar macht. Sollten Sie das verstanden haben und es in Ihren eigenen zukünftigen Forschungen berücksichtigen, hätte die Vorlesung ihren Zweck erfüllt. An Literatur zur Vertiefung der vorgestellten Punkte ist kein Mangel, und es gibt im Bereich der ethnologischen Einführungen zu Globalisierung und VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 250 Globalisierungstheorien auch Konkurrenzprodukte, deren Lektüre sicherlich ebenfalls nicht schadet ▶▸(Breidenbach und Zukrigl 2000, Hauser-Schäublin und Braukämper 2002, Kreff 2003, Lewellen 2002). VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008 251 Literatur Abu-Lughod, Lila 1995. The objects of soap opera: Egyptian television and the cultural politics of modernity. In: Daniel Miller (Hg.), Worlds apart: Modernity through the prism of the local, S. 190-210. London: Routledge. — 2005. Dramas of nationhood: The politics of television in Egypt. Chicago: University of Chicago Press. Anderson, Benedict 1983. Imagined communities: Reflections on the origin and spread of nationalism. 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