Vorlesung: Kyoto – Biographie einer Kaiserstadt - UK

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Vorlesung: Kyoto – Biographie einer Kaiserstadt - UK
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
Christoph Brumann
ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG
Manuskript der Vorlesung im SS 2008
Institut für Völkerkunde
Universität zu Köln
i
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
ii
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis............................................................................................................................ii
Teil I: Einführung............................................................................................................................1
Was ist Globalisierung? ..............................................................................................................1
Die ethnologische Bedeutung des Globalisierungsthemas..........................................................4
Thematischer Überblick ..............................................................................................................5
Die Pont-des-Arts-Affäre in Kyoto als Fallbeispiel....................................................................6
Der Plan des Bürgermeisters ...................................................................................................7
Japan und die Globalisierung ..................................................................................................8
Globalisierung und die Pont-des-Arts-Befürworter ................................................................9
Globalisierung und die Pont-des-Arts-Gegner......................................................................10
Globalisierung in der Renaissance der Flußufer ...................................................................11
Globalisierung in der Ideologie des künstlerischen Originals ..............................................13
Globalisierung in der politischen Kultur...............................................................................14
Fazit.......................................................................................................................................17
Teil II: Die europäische Expansion...............................................................................................19
Der Kolonialismus als neues Zeitalter ......................................................................................19
Die frühen Kolonialreiche.........................................................................................................21
Portugal .................................................................................................................................21
Spanien ..................................................................................................................................23
Kolonialismus im 17. und 18. Jahrhundert ...............................................................................24
Die Niederlande.....................................................................................................................25
Frankreich..............................................................................................................................25
Großbritannien ......................................................................................................................25
Kolonialismus ab 1800..............................................................................................................26
Die Aufteilung der Welt........................................................................................................26
Die Kolonialreiche um 1900 .................................................................................................27
Formen der Kolonialherrschaft .............................................................................................29
Welthandel und Migration ....................................................................................................29
Die Dekolonisation....................................................................................................................31
Ethnologische Forschung zum Kolonialismus ..........................................................................33
Die süße Macht: Zucker und die koloniale Weltwirtschaft.......................................................33
Die Entwicklung der Zuckerproduktion................................................................................34
Die Entwicklung der Zuckerkonsumtion ..............................................................................35
Gender und Dominanz in der Kolonialgesellschaft ..................................................................36
Teil III: Die Kontroverse um die wirtschaftliche Globalisierung .................................................39
Einleitung ..................................................................................................................................39
Globalisierung der Wirtschaft: Ein alter Hut?...........................................................................40
Die neoliberale Globalisierung seit den 1970er Jahren.............................................................41
Die globalen Finanz- und Handelsinstitutionen ........................................................................45
Internationaler Währungsfonds .............................................................................................46
Weltbank ...............................................................................................................................46
GATT und WTO ...................................................................................................................47
Der Washingtoner Konsens und die Kritik ...........................................................................48
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iii
Die Globalisierungskritiker ...................................................................................................52
Möglichkeiten und Grenzen der Nationalstaaten ..................................................................53
Fluch oder Segen? .................................................................................................................55
Teil IV: Die politische Ökonomie des Weltsystems .....................................................................57
Einleitung ..................................................................................................................................57
Die peasant studies....................................................................................................................57
Modernisierungs- versus Dependenztheorie .............................................................................60
Wallersteins Weltsystemtheorie................................................................................................61
Weltreiche und Weltwirtschaften..........................................................................................62
Zentrum, Peripherie und Semiperipherie ..............................................................................62
Kritik an Wallerstein .............................................................................................................64
Soroako im Weltsystem ............................................................................................................66
Von den Anfängen bis zur Nickelmine .................................................................................66
Sozialgeographie, Wirtschaft und Sozialordnung Soroakos .................................................67
Rassische und ethnische Hierarchien ....................................................................................70
Geister zwischen Microchips ....................................................................................................73
Historischer Hintergrund.......................................................................................................73
Frauen in den Montagefabriken der Sonderwirtschaftszonen...............................................74
Moralische Sorge und Geisterattacken..................................................................................76
De-Kapitalisierung der Globalisierung?................................................................................77
Flexible Kleiderfabrikation im ländlichen Mexiko...................................................................78
Bauern zu Proletariern...........................................................................................................78
Proletarier zu (Schein?-)Selbständigen .................................................................................80
Teil V: Globalisierungstheorien der 1980er und 90er Jahre .........................................................83
Arjun Appadurai: Entkoppelung, Deterritorialisierung und Imagination .................................84
Entkoppelte „-scapes” ...........................................................................................................84
Deterritorialisierung, Staat und Nation .................................................................................86
Die Rolle der Imagination .....................................................................................................88
Kritische Bewertung..............................................................................................................89
Ulf Hannerz: Globale Ökumene und Kreolisierung..................................................................90
Die globale Ökumene und ihre Subkulturen .........................................................................91
Radikaler Diffusionismus......................................................................................................91
Kreolisierung.........................................................................................................................93
Ethnologie des Kontakts........................................................................................................95
Kritische Bewertung..............................................................................................................95
Roland Robertson: Globalisierung und Weltbewußtsein ..........................................................96
Fazit...........................................................................................................................................98
Teil VI: Die Globalisierung des Warenkonsums ........................................................................101
Ethnologische Konsumforschung ...........................................................................................101
Mecca Cola: Antiamerikanismus als Brause...........................................................................102
Brasilianische Weintrauben und die Frischobstwelle .............................................................103
Die Globalisierung von frischem Obst und Gemüse...........................................................103
Weintraubenproduktion in Brasilien ...................................................................................104
Groß- und Kleinfarmen .......................................................................................................105
Das Makellosigkeitgebot und die Vertriebsbedingungen ...................................................106
Venezianische Glasperlen, ostafrikanische Pastoralnomaden und das New Age ...................107
Die mporo-Ketten der Samburu ..........................................................................................107
Die Symbolik der Perlenketten ...........................................................................................108
Der spirituelle Reimport der Perlen ....................................................................................109
Wahrzeichen der Globalisierung? .......................................................................................110
Sebago-Bootsschuhe in Dakar ................................................................................................111
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iv
Importmode und Prestige in einer afrikanischen „global city” ...........................................111
Transnationale Verbindungen .............................................................................................112
Dirty Drinking: Die Domestizierung des Biers in Japan.........................................................113
„Den Becher erwidern” .......................................................................................................114
Bier, Whiskey und die Grenzen der Reziprozität................................................................115
Die neue Glokal-Authentizität ............................................................................................116
Weihnachten und Konsum in Trinidad ...................................................................................117
Hausputz und Hausbesuche.................................................................................................118
Heim und Welt ....................................................................................................................119
Fazit.........................................................................................................................................120
Teil VII: Die Globalisierung des Fernsehens..............................................................................122
Einleitung ................................................................................................................................122
Fernseh-Erstkontakt in Amazonien.........................................................................................123
Fernseher und sozialer Umgang..........................................................................................124
Fernsehen und Weltsicht .....................................................................................................125
Fernsehen in Brasilien.............................................................................................................126
Fernsehinhalte, telenovelas und Kultur...............................................................................127
Die Evolution des Fernsehkonsums ....................................................................................129
Soziale Effekte des Fernsehens ...........................................................................................130
Themen und Ergebnisse der ethnologischen Fernsehforschung .............................................132
Die Massenverbreitung des Fernsehens ..............................................................................132
Persönliche Aneignungsweisen...........................................................................................133
Serien, Familie und Gender.................................................................................................135
Serien, Nation und Klasse ...................................................................................................137
Das Fernsehen in der (Globalisierungs-)Kritik ...................................................................140
Fazit.........................................................................................................................................142
Teil VIII: Ethnizität und Nationalismus......................................................................................143
Ethnizität .................................................................................................................................143
Begriffsbestimmung ............................................................................................................144
Primordialismus und Konstruktivismus ..............................................................................146
Weitere Merkmale...............................................................................................................148
Ethnizität und Globalisierung im Nordwesten Ghanas .......................................................151
Nationalismus..........................................................................................................................153
Vorgestellte Gemeinschaften der Gleichzeitigkeit..............................................................154
Buchdruck, Landessprachen und Synchronität ...................................................................154
Die Ausbreitung des Nationalismus....................................................................................156
Andere Nationalismustheorien............................................................................................157
Ethnisch-nationale Traditionspolitik .......................................................................................159
Die Erfindung von Traditionen ...........................................................................................160
Erfindung und ihre Grenzen bei den Maori ........................................................................161
Kritik an der „Erfindung”....................................................................................................163
Teil IX: Migration, Diaspora und Transnationalismus ...............................................................165
Internationale Migration..........................................................................................................165
Migration im Dorfleben Bangladeshs .....................................................................................167
Geschichte ...........................................................................................................................167
Soziale Formen und Folgen.................................................................................................168
Desh und bidesh ..................................................................................................................169
Die Globalisierung des lokalen Islam .................................................................................170
Diaspora ..................................................................................................................................171
Die Diaspora der philippinischen Haushaltshilfen in Hongkong............................................173
Moralische Gefahren ...........................................................................................................174
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v
Ambivalente Heimat ...........................................................................................................176
Transnationalismus..................................................................................................................177
Karibisch-US-amerikanischer Transnationalismus.................................................................178
Historische Ursprünge.........................................................................................................179
Aufkommen und Formen ....................................................................................................180
Transnationale Organisationen und Identität ......................................................................182
Transnationalismus und Nationalstaaten.................................................................................184
Die transnationale Nation in Eritrea....................................................................................185
Das Verhältnis von Diaspora und Transnationalismus ...........................................................187
Multilokale Feldforschung ......................................................................................................188
Teil X: Die Globalisierung der Religion .....................................................................................190
Einleitung ................................................................................................................................190
Cargo-Kulte in Melanesien .....................................................................................................191
„Vailala Madness”...............................................................................................................192
Die Dekonstruktion des „Cargo-Kultes”.............................................................................193
Der Kult der Mami Wata in Westafrika ..................................................................................195
Merkmale der Mami Wata ..................................................................................................196
Mami Wata bei den Ewe und Mina.....................................................................................197
Apokalyptisches Christentum in Papua-Neuguinea................................................................198
Die apokalyptischen Erzählungen der Urapmin..................................................................199
Die christliche Überwindung der Nation ............................................................................200
Islam in Frankreich..................................................................................................................202
„Islam de France” statt „en France”....................................................................................202
Die Strategie des französischen Staates ..............................................................................203
Globaler Islam und die Grenzen des „Islam de France” .....................................................204
Eine Meeresgöttin als Brücke zwischen China und Taiwan ...................................................206
Die Göttin Mazu..................................................................................................................207
Hintergründe des Mazu-Kultes ...........................................................................................208
Fazit.........................................................................................................................................209
Teil XI: Die Globalisierung der Indigenen .................................................................................212
Einleitung ................................................................................................................................212
North Sentinel Island – der globalisierungsfernste Ort der Erde? ..........................................213
Die Amazonas-Indianer und die Umweltschützer ..................................................................217
Die Entstehung der Indianer-Öko-Allianz ..........................................................................217
Probleme der Allianz...........................................................................................................219
Nacktheit und Authentizität ................................................................................................221
Der Trend zum Schamanen .................................................................................................222
Transnationale Indigenen-Politik ............................................................................................223
Fazit.........................................................................................................................................225
Teil XII: Weltkultur, Kreolisierung und globale Orte.................................................................227
Konzepte zur globalen Kulturentwicklung .............................................................................227
Frachtcontainer und ISO-Normen.......................................................................................227
Weltkultur............................................................................................................................229
Kreolisierung.......................................................................................................................232
Global systems of common difference und die Vervielfältigung der Zentren .....................233
Globale Orte und Institutionen................................................................................................234
Die Stützpunkte der UN-Friedenstruppen in Israel.................................................................235
Doppelte Hierarchien ..........................................................................................................236
Militärische Gemeinsamkeiten............................................................................................237
Die Produktion nationaler Differenz ...................................................................................238
Das UNESCO-Welterbe..........................................................................................................240
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vi
Welterbe und Eurozentrismus .............................................................................................241
Der Wandel des Welterbes..................................................................................................243
Chunking Mansions – der globalisierteste Ort der Erde? .......................................................245
Bewohner und Gäste ...........................................................................................................246
Geteilte Werte .....................................................................................................................247
Schlußbemerkung....................................................................................................................249
Literatur.......................................................................................................................................251
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1
Teil I: Einführung
Was ist Globalisierung?
Globalisierung ist noch gar nicht so lange Thema. In meiner 1986er Ausgabe von Wahrigs
Deutschem Wörterbuch findet man das Stichwort „Globalisierung” noch gar nicht. Und ich
selbst erinnere mich noch daran, wie ich das Wort als ein für mich neues kennenlernte und – als
ich 1992 meine erste Lehrveranstaltung dazu abhielt – Freunden erklären mußte, was das
eigentlich ist. Nichts könnte inzwischen unnötiger sein. Denn Globalisierung ist eines der
meistgebrauchten Schlagworte unserer Zeit; 2005 sind zum Beispiel weltweit fast 1000
englischsprachige Bücher erschienen, die „globalisation” (mit s oder z) im Titel tragen. Die
politische Diskussion ist kontrovers, und „Globalisierungkritiker” oder „Globalisierungsgegner”
sind mittlerweile ebenfalls geläufige Vokabeln. Meistens ist dann die wirtschaftliche
Globalisierung gemeint, oft in Verbindung mit dem Stichwort – oder Schimpfwort –
Neoliberalismus. Doch sind sich die meisten Sozialwissenschaftler darüber einig, daß
Globalisierung auch andere Bereiche einschließt und es z. B. auch eine Globalisierung der
Religion oder eine Globalisierung des Klimas gibt. Und unter diesen Wendungen können sich
auch außerhalb der Wissenschaft heutzutage viele etwas vorstellen.
Globalisierung bezeichnet in all diesen Kontexten einen Prozeß, in dem Zustände und
Ereignisse aller Art immer mehr von sehr weit entfernten oder weltweit wirksamen Kräften und
Faktoren bestimmt sind. „Weit” ist die Entfernung, wenn verschiedene Staaten oder sogar
Kontinente im Spiel sind. Denn wenn sich etwa die Oberfranken anders als in früheren
Jahrhunderten mit der bayrischen Staatskanzlei in München auseinandersetzen müssen, wird
sicher kaum jemand von Globalisierung reden. Wohl aber kann man es eine Folge der
Globalisierung nennen, wenn ein großer Teil der Kleidungsstücke, die sich jetzt gerade in diesem
Raum befinden, schon einmal außerhalb Europas gewesen ist. Einerseits, weil Sie sie selbst
dorthin getragen haben, denn sie reisen mehr und weiter als frühere Generationen. Andererseits,
weil die Kleidungsstücke bereits dort waren, bevor Sie sie gekauft haben – während des
Herstellungsprozesses nämlich, der mittlerweile schon beim einfachsten T-Shirt eine Vielzahl
von weltweit verteilten Arbeitsschritten beinhaltet.
„Weltweit wirksam” bedeutet, daß viele Einflußfaktoren der Globalisierung gar nicht mehr
eindeutig verortbar sind. In diesem Fall bedeutet Globalisierung auch Vereinheitlichung, oft in
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2
Form von Verwestlichung, denn die euroamerikanischen Staaten haben einen größeren Einfluß
auf die globalen Einheitlichkeiten als der Rest der Welt. Damit ist gegenüber früheren Zeiten
nicht nur Ihre Chance gestiegen, sich außerhalb Europas aufzuhalten, sondern auch die
Wahrscheinlichkeit, daß sie dort Leute treffen, die ähnlich gekleidet sind wie sie. Womöglich
sogar mit ihrem eigenen abgelegten T-Shirt, denn europäische Altkleider sind ja in vielen
Ländern des Südens beliebte und für die einheimischen Textilindustrien problematische
Importgüter.
Mit dem T-Shirt habe ich ein Beispiel gebracht, das man als einen Fall von unbewußter
Globalisierung bezeichnen könnte. Im Kaufhaus denken sicher nur die wenigsten darüber nach,
wie weltumspannend der Produktionsprozeß hinter dem Shirt war und wie weltumspannend auch
die Angebots- und Nachfrageprozesse sind, die seinen Preis bestimmen. Beim Milchkauf
wahrscheinlich auch nicht, aber der Zeitung war jüngst zu entnehmen, daß es gerade die starke
Nachfrage in China ist, die den Preis von Milchprodukten hierzulande so sehr in die Höhe treibt.
Vor zwanzig Jahren wäre ein solcher Zusammenhang undenkbar gewesen, nicht nur wegen der
damals
undurchlässigeren
politischen
Systemgrenzen
und
höheren
wirtschaftlichen
Handelsschranken, sondern auch weil es schlichtweg keine Möglichkeit gab, EU-Milchprodukte
zu akzeptablen Kosten nach Asien zu bringen. ▶▸Doch inzwischen hat sich dies mit der
Ausbreitung der Transportcontainer grundlegend geändert. Eine Flasche Wein von Chile nach
Europa zu verschiffen, kostet nur noch Centbeträge, und die wenigen Kilometer vom Hafen zum
Laden sind teurer. Für viele Waren und für das Geld ohnehin ist die Welt damit ein
zusammenhängender Wirtschaftsraum geworden, ein Prozeß, der sich besonders in den letzten
drei Jahrzehnten enorm beschleunigt hat.
▶▸Angefangen hat er aber bereits im 15. Jahrhundert mit dem Zeitalter des Kolonialismus,
und gerade Ethnologen haben – wie wir noch hören werden – sehr anschaulich gemacht, welch
umwälzende Wirkungen die europäische Expansion auch schon auf diejenigen hatte, die sie nur
indirekt zu spüren bekamen. So begegnet uns in jedem Western die Kultur der berittenen und
Bisons jagenden Prärieindianer, doch war diese erst wenige Jahrzehnte vor dem Kontakt mit den
vorrückenden Siedlern entstanden. Und sie konnte dies auch nur deshalb, weil die den
spanischen Kolonialisten entlaufenen Pferde von Mexiko über mehrere Zwischenstationen bis in
die Great Plains gehandelt worden waren. Viele Plains-Indianer stiegen dann vom Gartenbau auf
die Jagd um, natürlich ohne zu wissen, welchen Prozessen sie diese Möglichkeit verdankten.
Neben der unbewußten Globalisierung hinter der Plains-Kultur und der halbbewußten, ständig
von neuem vergessenen Globalisierung hinter dem Warenangebot im deutschen Einzelhandel
gibt es aber auch eine bewußte Globalisierung. Das Bewußtsein darüber, daß es eine Welt
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3
jenseits des eigenen persönlichen Umfeldes gibt und beide miteinander verbunden sind, hat sich
in den letzten Jahrzehnten ebenso rasant entwickelt. Die augenblicklichen Geschehnisse im
Vorfeld der Olympischen Spiele sind ein gutes Beispiel dafür. Die Spiele sind selbst Produkt
einer ersten Globalisierungsphase um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, die von vielerlei
idealistischen Weltverbrüderungsprojekten geprägt war, und haben sich zu einem weltweit von
Milliarden verfolgten Megaevent entwickelt. Doch weil der Austragungsstaat weltweit
verbreiteten Idealen wie Menschenrechten und kultureller Selbstbestimmung nur begrenzt Folge
leistet, haben junge Tibeter den Moment für eine Rebellion als günstig gesehen. Sie dürfen dabei
nicht nur auf die weltweit verbreitete Tibet-Romantik und den weltweiten Starstatus des Dalai
Lama bauen, sondern auch auf die Möglichkeit, die Nachrichtensperre der chinesischen Führung
mit weltweit vernetzten Kommunikationsmitteln – Handy, Internet, YouTube – zu umgehen. An
der Glaubhaftigkeit der dort und in den Medien zirkulierenden Erzählungen und Bilder gibt es
Zweifel, und über diese wird in Internet-Foren mit weltweiter Beteiligung diskutiert. Das harte
Vorgehen der chinesischen Führung ruft Kritiker auf den Plan, ▶▸die den an weltweit verteilten
Orten stattfindenden Staffellauf mit dem Olympischen Feuer mit Protesten stören, worüber
wiederum weltweit in den Medien und im Internet berichtet wird. Die Organisatoren reagieren
mit der Abkürzung oder kurzfristigen Verlegung der Laufstrecke und der Vermeidung besonders
prominenter Orte wie etwa der Golden Gate Bridge. Aber damit ist ein wesentlicher Zweck der
Veranstaltung verhindert, nämlich die Produktion von weltweit zu verbreitenden Fernsehbildern.
Weltweit werden demokratischer gesinnte Staatenlenker nun wankelmütig, was ihre eigene
Teilnahme an den Olympischen Spielen betrifft. Aber viele Chinesen sind über das, was sie als
Angriff auf ihre Spiele und eine übertriebene Brandmarkung als Gewaltstaat empfinden, empört,
und zwar längst nicht nur in der Volksrepublik, sondern auch in den weltweit vertreuten
Gemeinden von Auslandschinesen wie etwa in San Francisco. In diesem kurzen Abschnitt habe
ich bereits zwölfmal das Wort „weltweit” verwendet, und die meisten der erwähnten Phänomene
und die Tatsache, daß sie auf einer Art Weltbühne stattfinden, sind allen Beteiligten sehr wohl
bewußt. Und daß hier eine Entwicklung stattgefunden hat, ist offenkundig, denn vor dreißig
Jahren
wären
weder
die
weltweiten
Kommunikationsmöglichkeiten,
der
weltweite
Demokratiediskurs noch der Status Tibets und des Dalai Lama genügend entwickelt gewesen,
von einer Vergabe der Spiele an das kommunistische China ganz zu schweigen.
▶▸Ich hätte andere Beispiele bringen können, etwa das Aufsehen um die dänischen
Karikaturenserie „Das Gesicht Mohammeds” von 2005. Nicht nur die Anzahl und Reichweite
solcher globalen Ereignisse nimmt zu, sondern auch das, was man das Weltbewußtsein nennen
könnte. Wir bereisen die weite Welt nicht nur mehr als in früheren Zeiten und haben mehr
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Umgang mit Menschen, Dingen und Ideen, die aus der weiten Welt kommen, sondern
beschäftigen uns auch gedanklich sehr viel mehr mit der weiten Welt. Es liegt noch gar nicht so
lange zurück, daß Luftaufnahmen und Satellitenbilder staatlicher Geheimhaltung unterlagen;
doch nun kann mein Kollege per Google Earth feststellen, daß sein Feldforschungsauto noch auf
dem Parkplatz in Kenia steht, wo er es hinterlassen hat. Die Tragweite dieser Entwicklung für
unsere Lebensrealität und die der meisten anderen Menschen ist nicht zu unterschätzen.
Die ethnologische Bedeutung des Globalisierungsthemas
Vor allem außerhalb der Ethnologie wird gerne angenommen, daß die über große Distanzen oder
gar weltweit wirksamen Kräfte und Faktoren eine globale kulturelle Vereinheitlichung bewirken,
meist in Form einer westlich geprägten Konsumkultur. Jeder wird dieser Vorstellung zufolge
eines Tages Coca-Cola, McDonald’s und Microsoft haben, und gewöhnlich ist dies für
diejenigen, die das heraufbeschwören, keine erstrebenswerte Vorstellung. Daß es dafür viele
Belege gibt, ist nicht zu leugnen: ▶▸Mir selbst fiel z. B. nach meiner kürzlichen Rückkehr aus
Hongkong auf, daß nicht nur genau dieselbe H&M-Werbung wie im Bild auch in Köln zu sehen
war, sondern daß das beworbene Top auch noch an beiden Orten den gleichen Preis hatte, bis auf
einen mehrwertsteuerbedingten Unterschied. Den meisten werden solche Phänomene einfallen,
wenn sie das Wort „Globalisierung” hören.
Doch sind die Globalisierungsfolgen tatsächlich komplexer, und nicht selten führen sie – wie
Sie im weiteren Verlauf noch erfahren werden – eher zur Zementierung von kulturellen
Unterschieden als zu ihrem Abbau. Da Ethnologen dies in ihren Forschungen häufig festgestellt
haben ist, ist das Fach sicherlich besonders berufen, die populären Vorstellungen zu
differenzieren und zu erweitern. Doch auch wenn man als Ethnologe daran kein Interesse hat und
statt weltumspannender Verbindungen lieber lokales Leben in einem namibischen Hirtencamp
oder einem mexikanischen Bauerndorf erforschen möchte, kommt man um das Thema
Globalisierung heute kaum mehr herum.
Ethnologen waren davon nicht immer überzeugt: ▶▸Bronislaw Malinowski, Stammvater der
ethnographischen Feldforschung und Mitbegründer des Funktionalismus, widmete der
bemerkenswerten Tatsache, daß die von ihm während des Ersten Weltkriegs erforschten
Bewohner der Trobriand-Inseln bei Neuguinea Cricket spielten, nur eine Fußnote. Die
Trobriander haben diesen zutiefst englischen Sport auf sehr kreative Weise angepaßt. Aber für
Malinowski war dies nur eine Degenerationserscheinung. ▶▸Stattdessen klagte er gleich im
ersten Satz seiner berühmten Ethnographie Argonauts of the western Pacific darüber, daß der in
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seinen Augen eigentliche Gegenstand der Ethnologie – das von Außeneinflüssen unverfälschte,
ursprüngliche Leben der „Primitiven” – im Verschwinden begriffen war: „Ethnology is in the
sadly ludicrous, not to say tragic, position, that at the very moment it begins to put its workshop
in order, to forge proper tools, to start ready for work on its appointed task, the material of its
study melts away with hopeless rapidity” (Malinowski 1953 [1922]: xv).
Ob man dieses eigentliche Material der Ethnologie auf den Trobriand-Inseln finden konnte,
war schon zu Malinowskis Zeiten sehr fraglich, denn Fernhandel, Kolonialherren und Missionare
waren dort schon vor ihm angekommen, was er wie auch andere Ethnologen seiner Zeit
schlichtweg ausblendete. Heutige Fachvertreter teilen Malinowskis Lamento ohnehin nur noch
selten, sondern nehmen die Herausforderung an, denn auch ein namibisches Hirtencamp oder ein
mexikanisches Bauerndorf ist nicht zu verstehen, wenn man die nach außen führenden und von
außen kommenden Beziehungen und Einflüsse ignoriert. Globalisierung ist dabei kein neuer
Teilbereich, der einfach neben die etablierten wie z. B. Wirtschaft, Sozialsystem oder Religion
tritt, sondern eine Größe, die all diese Teilbereiche durchdringt. Das tut sie in unterschiedlichem
Ausmaß, in Ostasien mehr als in Zentralafrika und in den Innenstädten der Metropolen mehr als
in abgelegenen Dörfern. Aber das Ausmaß der globalen Einbindung wächst an den meisten
Orten, und den Menschen ist dies bewußt.
Sich mit den kulturellen Folgen der Globalisierung befassen heißt also nicht, ein völlig
eigenes Phänomen zu betrachten, sondern eher eine bestimmte Perspektive einzunehmen. Es
heißt, das in den Vordergrund zu stellen, was an Wirtschaft, Sozialsystem, Religion etc. auf
Fernwirkungen aller Art und auf weltweit verbreitete Kulturströmungen zurückzuführen ist. Es
heißt, auch die Grenzen aufzuzeigen, wo sich eben trotz weltweiter Kulturflüsse das Lokale
behauptet oder neu konstituiert – wie wir sehen werden, oft in einer sehr komplexen Dynamik,
die auch als „Glokalisierung” bezeichnet worden ist. Und es heißt schließlich auch, die weltweite
Reflexion über die Globalisierung, den emischen Blick auf sie, einzubeziehen. Und genau in
diese Perspektive möchte ich Sie mit dieser Vorlesung einführen.
Thematischer Überblick
Ich werde beginnen mit einem Überblick über die Kolonialgeschichte seit 1400. So sehr auch
schon vorher Weltreiche und Fernhandel überregionale Verbindungen geschaffen haben, so ist
doch durch die europäische Expansion eine neue Qualität entstanden, nämlich ein die gesamte
Erde umspannendes wirtschaftliches und politisches System. Ethnologen haben zu diesem
Prozeß ihre eigenen Theorien entwickelt und auch ethnohistorische Studien zu den ersten sich
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entspinnenden Kontakten und zur Struktur der Kolonialgesellschaften vorgelegt. Ich werde dann
zur wirtschaftlichen Globalisierung der Gegenwart übergehen und ihnen auch die wichtigsten
Argumente der politischen Globalisierungsdebatte vorstellen.
Den Theorien soll in dieser Vorlesung ein besonders Augenmerk gelten, und ich werde ihnen
in der Folge zunächst allgemeine sozialwissenschaftliche, häufig neomarxistisch inspirierte
Theorien zum modernen Weltsystem präsentieren. Daran an schließen sich die theoretischen
Beiträge aus der Ethnologie, die die nicht-wirtschaftlichen Aspekte stärker in den Vordergrund
stellen. Auf die großen Würfe folgt dann der Blick auf Einzelbereiche der Globalisierung und die
dazu entwickelten Theorien. Dazu gehören der moderne Warenkonsum und das Fernsehen, die ja
häufig besonders stark mit der Globalisierung in Verbindung gebracht werden. Dazu gehören
aber auch Ethnizität und Nationalismus, also Kräfte, die gerne als der Globalisierung
entgegenwirkend gesehen werden und die heute in den danach behandelten Phänomenen der
Diasporagemeinschaften und des Transnationalismus eine Differenzierung und Brechung
erfahren. Daran an schließt sich ein Blick auf weltumspannende Normen und Institutionen wie
die der UN und ihre Interaktionen mit Nationalstaaten und Lokalbevölkerungen. Ob man die
Vorstellung von der Herausbildung einer einheitlichen Weltkultur tatsächlich so leichthin ad acta
legen kann, wie es viele Ethnologen tun, wird uns ebenfalls beschäftigen. Den Abschluß bildet
dann ein Blick auf die allerneusten ethnologischen Globalisierungstheorien. Soviel zunächst
einmal zum Gesamtplan.
Die Pont-des-Arts-Affäre in Kyoto als Fallbeispiel
Ethnologen leben ja bekanntlich vom Fallbeispiel, und da möchte ich mich dem Brauch beugen
und ebenfalls mit einem beginnen. Es stammt aus meiner eigenen Feldforschung in der
japanischen Stadt Kyoto, die von 794 bis 1868 für mehr als tausende Jahre der Sitz des
japanischen Kaisers war. Dort habe ich 1998/99, 2001 und 2007 insgesamt zwanzig Monate lang
die Konflikte um Stadterhaltung und Stadtentwicklung verfolgt ▶▸(die Ergebnisse kann man
mittlerweile nachlesen in Brumann 2001, 2002, 2005a, 2005b, 2006). ▶▸Wegen der besonderen
historischen Bedeutung der Stadt und da sie unbeschadet durch den Krieg gekommen ist, findet
man hier so viel alte Bausubstanz und herausragende historische Architektur wie in keiner
anderen japanischen Stadt vergleichbarer Größe, ▶▸und sie gilt mit ihren Klöstern, Schreinen,
Palästen und Geishavierteln als der unbestrittene Hort der Tradition in Japan.
Gleichzeitig ist Kyoto jedoch eine moderne Millionenstadt mit entsprechendem Bedarf an
urbaner Entwicklung, und die Diskussionen darüber, wie sich die Geschichte der Stadt mit ihrer
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Zukunft verbinden läßt, nehmen kein Ende. Über kontroverse Bauprojekte ist es dabei immer
wieder zu heftigen, die Stadt spaltenden Konflikten gekommen. ▶▸Die größten Streitfälle waren
der in den 1960er Jahren gebaute Kyoto Tower, ein Aussichtsturm vor dem Hauptbahnhof, und
zwei Großprojekte um 1990, ▶▸das neue, postmoderne Bahnhofsgebäude von Stararchitekt Hara
Hiroshi und der Neubau des Kyoto Hotel. All diese Gebäude waren nicht nur architektonisch
umstritten, sondern auch, weil sie bisherige Höhengrenzen überschritten und damit die pittoreske
Aussicht in die Hügel der Umgebung zu verstellen drohten. Aller Bürgerprotest konnte ihre
Fertigstellung jedoch nicht verhindern.
Der Plan des Bürgermeisters
Mein Beispiel ist ein weiterer Konflikt aus meiner Feldforschungszeit, nämlich der um die Kopie
des Pont des Arts. Diese „Brücke der Künste” steht eigentlich in Paris, wo sie seit dem Jahr 1804
vor dem Louvre die Seine überspannt. Als reine Fußgängerbrücke besteht sie aus Holzplanken
und bietet Spaziergängern und Touristen Blumenkästen, Bänke zum Verweilen und einen
schönen Blick über die Île de la Cité und andere Attraktionen.
▶▸Am 20. November 1996 wurde diese Brücke in Kyoto auf einen Schlag prominent. Denn
da kündigte der vom Volk gewählte Bürgermeister der Stadt, Masumoto Yorikane, auf einer
Pressekonferenz an, eine Kopie des Pont des Arts in Kyoto bauen zu wollen. Dies sollte mitten
im Zentrum geschehen, über dem Fluß Kamogawa und an einer Stelle zwischen zwei alten
Geishavierteln, die wegen des Ausblicks in die Berge und auf die traditionellen Holzhäuser am
Ufer berühmt ist. Auf Kölner Verhältnisse übertragen wäre das mit dem Wunsch vergleichbar,
im Altstadtbereich eine neue Brücke in chinesischem Stil zu bauen. Masumoto sagte, daß er mit
dem Plan einen Vorschlag des auf Staatsbesuch weilenden französischen Präsidenten Jacques
Chirac aufgreife, den er am Vorabend auf einem Empfang in Tokyo getroffen hatte. Eine Brücke
an der vorgesehenen Stelle würde zur Touristenattraktion werden, und wie auch ihr Original
sollte sie mit Bänken und Blumen zum Verweilen auffordern und Raum z. B. für Straßenkünstler
bieten. Mit der für 1998 geplanten Fertigstellung sollte sie zudem eine Hauptattraktion des dann
stattfindenden „Französische Jahr” und des gleichzeitigen Jubiläums der Städtepartnerschaft
zwischen Kyoto und Paris werden.
Über diesen vergleichsweise bescheidenen Plan entbrannte der bislang heftigste
Stadtbildkonflikt in Kyoto. Und anders als in den vorhergehenden Fällen gelang es der sich
bildenden Protestbewegung wider alles Erwarten, den Bürgermeister zum Einlenken zu bewegen.
▶▸Die ausländische Herkunft der Brücke war ein zentraler Streitpunkt, und der wichtigste Slogan
der Gegner lautete „Gaikoku no hashi wa irimasen”, zu deutsch „Wir brauchen keine
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ausländische Brücke” (hier vor der französischen Botschaft in Tokyo dargeboten). Man könnte
also in der Affäre den Sieg von Globalisierungskritikern oder auch Nationalchauvinisten sehen,
die sich erfolgreich gegen die modische Selbstunterwerfung unter alles Westliche gewehrt haben.
In Wirklichkeit liegen die Dinge jedoch anders, und man kann sogar behaupten, daß es im
Gegenteil gerade die Globalisierung ist, die hier gewissermaßen sich selbst besiegt hat. Da
solche Komplexitäten und Paradoxien beim globalisierungsbedingten Kulturgeschehen gar nicht
so selten sind, ist der Fall als Einstieg in das Thema gut geeignet.
Japan und die Globalisierung
Daß der französische Präsident und Masumoto sich begegnen und gemeinsam Brückenpläne
schmieden können, beruht zunächst einmal auf einer großen Zahl von geteilten Voraussetzungen,
die erst in den letzten 150 Jahren geschaffen worden sind. Zuvor hätten sich japanische und
französische Repräsentanten gar nicht treffen können, denn das japanische Kaiserreich befolgte
ab 1639 die Politik des sakoku, d. h. der bewußten Selbstisolierung gegenüber allem Verkehr mit
dem Ausland. ▶▸Diese Zeit folgte auf ein knappes Jahrhundert der Handelskontakte mit
Portugiesen, Spaniern, Niederländern und Briten und gewisse Erfolge christlicher Missionare aus
diesen Ländern. Nach einem Aufstand christlicher Japaner verbot die Regierung aber allen
Ausländern die Einreise nach Japan und allen Japanern die Ausreise, und das Christentum wurde
gewaltsam unterdrückt. Nur Chinesen und die in Sachen Mission zurückhaltenden Niederländer
durften weiterhin Handel treiben, letztere aber nur auf der künstlichen Insel Dejima vor Nagaski
und unter strengen Auflagen. Erst nach mehr als zwei Jahrhunderten erzwangen vier USamerikanische Kanonenboote 1854 die Öffnung des Landes und den Abschluß von Verträgen,
die den Kolonialmächten Handelsprivilegien garantierte.
Direkt danach, als Japan ein im Weltgeschehen peripheres Land unter semikolonialen
Bedingungen war, hätte sicher kein französischer Würdenträger die Notwendigkeit zu einem
Staatsbesuch gesehen, von der monatelangen Reise ganz abgesehen. Das (und übrigens auch die
Reisezeiten) sollte sich allerdings in den folgenden Jahrzehnten ändern, denn die japanische
Regierung begann das wohl systematischste Modernisierungsprogramm eines außereuropäischen
Staates. Japaner wurden zur Ausbildung nach Europa und Nordamerika entsandt und eine große
Zahl ausländischer Berater und Experten nach Japan geholt. ▶▸In der zweijährigen IwakuraMission 1871-73 reiste fast die gesamte spätere Staatsspitze durch Europa und die USA, um sich
dort die geeignetsten Vorbilder für Wirtschaft, Technik, Staatssystem und Wissenschaft
auszusuchen, aus Frankreich z. B. die Militärorganisation, aus Deutschland das Zivilrecht usw.
Im Verbund mit einem wirtschaftlichen Aufschwung wurde so in wenigen Jahrzehnten ein
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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moderner Staat geschaffen. Dieser besiegte in zwei Kriegen 1894/95 China und 1904/05
Rußland, um in der Folge selbst Kolonialmacht in Taiwan, Korea und der Mandschurei zu
werden und im Zweiten Weltkrieg fast ganz Ostasien und Südostasien zu erobern, ein Schlag,
von dem sich die dortigen Kolonialreiche der Briten, Franzosen und Niederländer nicht mehr
erholen sollten.
Die Übernahmen der westlichen Kultur erfolgten durchaus selektiv, das Christentum z. B.
hatte nach der Landesöffnung nie großen Einfluß in Japan, ganz im Gegenteil z. B. zu Südkorea.
Auch wandelte sich die materielle Kultur außerhalb der städtischen Eliten zunächst nur langsam.
Seit der Kriegsniederlage 1945 und der darauf folgenden US-amerikanischen Besatzungszeit hat
sich jedoch die Globalisierung des japanischen Alltagslebens stetig beschleunigt, angekurbelt
durch ein Wirtschaftswunder, das selbst das deutsche in den Schatten stellt. Ich erinnere mich
noch an meine eigene Ernüchterung, als ich bei meiner ersten Ankunft in Japan 1987 auf der
langen Fahrt vom Flughafen hinein nach Tokyo außer ein paar Reisfeldern und den
Schriftzeichen fast nichts sah, was mir in irgendeiner Weise ungewohnt erschien. ▶▸Japan hat
sämtliche politischen und wirtschaftlichen Institutionen einer modernen Industrienation und eine
materielle Kultur, die in vielem mit unserer identisch ist. In den Schulen wird von der
japanischen Sprache, Literatur und Geschichte abgesehen weitgehend dasselbe unterrichtet wie
bei uns, und McDonald’s, Coca-Cola und Microsoft sind ebenso präsent. Und verglichen mit
früheren Jahrzehnten trifft es immer weniger zu, dies mit Verwestlichung oder Amerikanisierung
zu bezeichnen. Denn Japan trägt selbst mit Sushi und Walkmans, Anime und Futons zu dem bei,
was man eine globale Kulturschicht nennen kann.
▶▸Dem politischen und kulturellen Austausch zwischen Frankreich und Japan stehen damit
kaum größere Hindernisse entgegen als etwa dem zwischen Frankreich und Deutschland. Man
muß länger reisen, und es gibt weniger Menschen, die beide Sprachen beherrschen. Aber es
handelt sich um eine Reise über Nacht, nicht über Monate. Die Staatssysteme sind bis hinunter
auf die Gemeindeebene vergleichbar, der friedliche Kulturaustausch über Ländergrenzen hinweg
ist als Wert beidseitig anerkannt, der demokratische Druck auf Politiker, sich hier zu profilieren,
besteht in beiden Ländern, und es besteht Einigkeit, daß Bauprojekte wie eben eine Brücke
Symbole der Völkerverständigung sein können. Die globalisierungsbedingte Vereinheitlichung
der politischen Kultur war also deutlich eine Voraussetzung für die Geschehnisse.
Globalisierung und die Pont-des-Arts-Befürworter
Neben diesem allgemeinen Globalisierungshintergrund spielten aber auch konkrete soziale
Fernbeziehungen eine Rolle. Chirac war als Japan-Fan bereits mehrmals in Kyoto gewesen, und
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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unter den französischen Organisatoren des Frankreich-Jahrs in Japan, denen eine Informantin die
Brückenidee zuschrieb, konnten einige Japanisch und hatten lange in Japan gelebt. In Kyoto
wiederum gibt es ein französisches Kulturinstitut und in dessen Umfeld einen Kreis von
frankophilen Kyotoern, darunter der Chef der Industrie- und Handelskammer, ▶▸Tsukamoto
Kôichi, den viele meiner Informanten als den Einflüsterer des noch nicht lange amtierenden
Bürgermeisters sahen. Denn dieser Tsukamoto hatte die einzige europäische Filiale seines
Damenwäscheunternehmens in Frankreich. Da er bereits einen Orden der französischen
Regierung erhalten hatte, sah er die Unterstützung des Brückenprojekts – so das Gerücht – als
eine Art Dankeschön. Globale soziale Beziehungsnetzwerke waren also ebenfalls beteiligt.
Diese Netzwerke wurden sicherlich dadurch befördert, daß beide Städte gerne als historische
Metropolen der Eleganz und des guten Geschmacks wahrgenommen werden, man sich also
gewissermaßen unter Gleichgesinnten bewegte. Das hat auch in der Vergangenheit dazu geführt,
daß Paris wiederholt zum Vorbild für stadtplanerische Projekte in Kyoto genommen wurde.
Gerade erst war z. B. bei der Neugestaltung einer der Hauptstraßen ausdrücklich von den
„Champs-Elysées von Kyoto” gesprochen worden. Hier wird die Globalisierung selektiv, denn
auch in meinen eigenen Befragungen konnte ich feststellen, daß eine ganze Reihe von Kyotoern
eher Affinitäten zu Europa als zu den USA haben. Die Kyotoer sehen sich gerne in einer Art
interner Opposition zum Hauptstadtnachfolger Tokyo, und das impliziert häufig auch eine
Ablehnung des mit diesem modernen Zentrum verbundenen kulturellen Mainstreams. Zu diesem
Mainstream gehört die in Japan dominante Orientierung an den Vereinigten Staaten. Ich halte es
daher nicht für abwegig, daß das Europa- und speziell das Frankreichfaible mancher Kyotoer,
also eine selektive Globalisierung, teilweise dieser landesinternen Rivalität geschuldet ist.
Globalisierung und die Pont-des-Arts-Gegner
Auch wenn also vielleicht nicht in der in Japan konventionellsten Form, so war es damit
trotzdem ein Stück Globalisierung, das mit der Brücke verwirklicht werden sollte. ▶▸Doch die
Brückengegner operierten nicht minder unter Umständen und mit Mitteln, die mit der
Globalisierung in Verbindung stehen. Das beinhaltete auch bei ihnen soziale Beziehungen über
große Distanzen hinweg. In der Protestbewegung waren einige Ausländer engagiert, die in Kyoto
leben. Einer von ihnen, ein amerikanischer Gartenarchitekt mit besonders flüssigem Japanisch,
wurde bewußt auf jedes Diskussionspodium gesetzt, um das Ausmaß der internationalen
Unterstützung zu demonstrieren. Auch wandten sich die Gegner an prominente Kyoto-Freunde
in Übersee, bei denen sie Unterschriften in großer Zahl sammelten. Unter den Kyotoer
Brückengegnern waren es gerade Leute mit besonderer Verbindung zu Frankreich wie etwa
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Professoren für Romanistik, die sich engagierten, teilweise aus der ausdrücklichen Sorge um die
gegenseitigen Beziehungen. Und auch insgesamt hatten die zentralen Aktivisten der
Protestbewegung
eher
mehr
Auslandserfahrung
und
–verbindungen
als
der
Bevölkerungsdurchschnitt.
▶▸Die globalisierten sozialen Beziehungen spielten auch in der Folge insofern eine Rolle, als
sich französische Akteure an der Diskussion in Kyoto beteiligten. Die eigentliche öffentliche
Debatte wurde nämlich erst ein gutes halbes Jahr nach der Ankündigung durch den
Bürgermeister eröffnet, und zwar durch einen Zeitschriftenartikel in Le Monde. Dort berichtete
nämlich ein französischer Journalist auf der Titelseite über den Unmut, den Chiracs Vorschlag in
Kyoto ausgelöst hatte. Darüber berichteten dann ihrerseits die Kyotoer Zeitungen und
Lokalseiten, und erst dann entspann sich auch in den einheimischen Medien eine intensive
Diskussion über das Für und Wider des Brückenplans.
Nicht zuletzt deshalb sahen sich schließlich auch Präsident Chirac und Premierminister Jospin
genötigt, sich zu äußern. Beide vermieden eine deutliche Parteinnahme und betonten, daß der
Brückenbau natürlich vollständig der demokratischen Entscheidung der Kyotoer überlassen
bleibe. Zum schlußendlichen Rückzug des Projekts im August 1998 äußerten sie sich nicht, aber
einige Monate später erschien als letzte französische Intervention ein Zeitungsinterview mit einer
der französischen Organisatorinnen des Frankreich-Jahres in Japan, die nicht verstehen konnte,
daß die gute Idee so wenig Anklang gefunden hatte.
Der Globalisierungsaspekt des Brückenprojekts war für die Gegner ein wesentlicher Grund
für dessen Ablehnung. Das recht unverblümte „Wir brauchen keine ausländische Brücke” war
wie schon gesagt der Hauptslogan der Protestbewegung. Einige der Aktivisten sagten mir
allerdings, daß ich das nicht mit Nationalismus verwechseln dürfe, eher ginge es ihnen darum,
daß Kyoto eben Kyoto bleiben solle und Paris Paris. Bewußte Globalisierung zeigte sich auch in
einer Art Globalisierungshumor. ▶▸So war etwa auf einem Plakat eine Kyotoer Brücke per
Fotomontage in eine Pariser Szenerie gestellt. Und einer der Kulturschaffenden, die auf einen
Unterschriftenaufruf reagierten, fragte ironisch, ob man jetzt auch neben dem Arc de Triomphe
eine buddhistische Tempelpagode erwarten dürfe. Ein anderer verglich das Unternehmen mit
ochazuke mit Mayonnaise. ▶▸Ochazuke ist das traditionelle Kyotoer Frühstück – Restreis vom
Vortag, ein paar Pickles und darüber grüner Tee. Dazu paßt Mayonnaise ungefähr so gut wie
Ketchup auf Sushi.
Globalisierung in der Renaissance der Flußufer
Bis hierhin handelt es sich bei den Globalisierungsaspekten um solche, die vermutlich jedem als
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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solche bewußt waren, aber es gibt noch drei weitere in meinen Augen wichtige, die längst nicht
so sehr ins allgemeine Bewußtsein drangen. Der erste ist die Tatsache, daß der Bürgermeister die
Wahrnehmung des von dem Brückenbau betroffenen Raums nicht richtig eingeschätzt hat.
▶▸Der Kamogawa ist gewöhnlich kein besonders breiter Fluß, und meist reicht er einem kaum
bis zu den Knien. Ein paar Stunden Regen reichen aber aufgrund der zerklüfteten Topographie
Japans, um ihn in einen reißenden Strom zu verwandeln. Heute ist der Fluß mit Deichen
weitgehend eingedämmt. Früher aber konnte man ihn kaum bändigen, so daß den Flüssen
breitere, die meiste Zeit aber dann trockene Betten gelassen wurden. Dort wohnte bloß, wer es
nicht vermeiden konnte, so etwa Peripatetiker und die Angehörigen anderer verachteter Berufe
wie etwa Bestatter, Abdecker, Lederverarbeiter, Träger, Gärtner u. ä. Ansonsten fanden in den
trockenen Betten Theatervorführungen und andere Volksbelustigungen statt, und die Ufer des
Kamogawa dienten auch als Richtstätte. Aus der Sicht der ehrbaren Bürger handelte es sich beim
Fluß und seinen Ufern also um einen Un-Ort und eine Quelle der physischen und moralischen
Risiken. Das setzt sich zum Teil bis heute fort, wo immer noch die Viertel der Nachfahren der
früheren Ausgestoßen – der sogenannten burakumin – an den Ufern liegen und viele japanische
Städte den Flüssen ihren Rücken zukehren und sie mit Fabriken und ähnlichem zustellen.
In westlichen Ländern ist das lange auch nicht anders gewesen, doch ist es hier zu einer
Wiederentdeckung der Flußufer gekommen, und überall in den Städten Europas und
Nordamerikas gibt es jetzt waterfront-Projekte, wo alte Hafen- und Industriegebäude für neue
Wohn- und Vergnügungszwecke umfunktioniert werden. In Köln entsteht am Rheinauhafen
unsere eigene Version, und der durch Untertunnelung geschaffene Rheingarten vor der Altstadt
ist die Frühphase dieser Entwicklung. Auch dort wurde aus einem reinen Nutzraum für den
Autoverkehr und noch früher die Köln-Bonner Eisenbahn ein Flanier- und Konsumierraum, mit
dem Fluß als einer Hauptattraktion.
Dieser globale Trend hat durch die wachsende Reisefreude der Japaner und durch die
intensive Beschäftigung der Stadtplaner mit euroamerikanischen Vorbildern inzwischen auch
Japan erreicht. ▶▸In Kyoto war der Kamogawa bereits auf großen Teilen seines Laufes mit
Spazierwegen ausgestattet worden, die von den Kyotoern auch rege in Anspruch genommen
werden. Auch am geplanten Bauplatz war der Ausbau des einen Flußufers mit einem Spazierweg
gerade mitten im Gange. Ich vermute, daß durch diese Entwicklung einer großen Zahl von
Kyotoern der Kamogawa wieder vertraut geworden ist, und zwar gerade auch als Naturraum,
denn er bietet Schilf und andere Pflanzen, im flachen Wasser staksende Reiher, Möven, Fische
etc. Dazu trägt sicher auch in Japan ein gewachsenes Umweltbewußtsein bei, das wiederum zum
Teil eine globalisierungsbedingte Übernahme ist und seinen Ausdruck in einer gerade in Kyoto
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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besonders großen Zahl von Umweltgruppen und -initiativen findet.
Der Kamogawa ist also für viele Kyotoer nicht mehr einfach nur ein Leerraum oder sogar ein
Anti-Raum, den man mit jeder beliebigen Zutat eigentlich nur verschönern kann, sondern ein
positiv bewerteter Erlebnis- und Naturraum, in dem eine neue Brücke zunächst einmal ein
Eindringling ist. Diesen Aspekt hat der Bürgermeister sicherlich unterschätzt. Auch erwuchs ihm
dadurch ein schlagkräftiger Gegenspieler, denn die Kyotoer Umweltgruppen sind recht gut
organisiert und hatten in den vorangegangen Jahren im Kampf gegen Staudämme und Golfplätze
durchaus ihre Erfolge gefeiert. Daß mit dem Fluß ein als natürlich definierter Raum berührt war,
zog diese Aktivisten in die Debatte hinein, aus der sich bei einem gewöhnlichen städtischen
Bauprojekt sicher herausgehalten hätten. Der Bürgermeister übersah also die gerade
stattfindende
Neubewertung
der
Flüsse
und
des
Kamogawa,
die
ganz
deutlich
globalisierungsbedingt ist.
Globalisierung in der Ideologie des künstlerischen Originals
Ein zweiter wenig offenkundiger Aspekt ist der Umstand, daß die allgemeine Empörung über
eine Brückenkopie ebenfalls globalisierungsbedingten Entwicklungen entspringt. Besonders
Künstler und sich mit dem Kunstgedanken identifizierende Bürger brachte die Idee, einfach eine
bestehende Brücke nachzubauen, besonders auf. Die Protestbewegung nutzte dies einerseits mit
dem erwähnten Appell speziell an die Kulturschaffenden in ganz Japan aus, und tatsächlich
äußerten sich viele von diesen gerade gegen den Kopieaspekt. Andererseits stammten auch viele
der lokalen Aktivisten aus solchen Kreisen. Bei einer der beiden hauptsächlichen
Protestinitiativen hatte meiner Erhebung zufolge nicht weniger als die Hälfte der Mitglieder
beruflich mit Kunst, Kunsthandwerk oder anderen kreativen Betätigungen zu tun bzw. eine
professionelle Ausbildung in einem dieser Bereiche. Und gerade diese Mitglieder waren es, die
auf den Kopieaspekt besonders allergisch reagierten.
Deutlich zu sehen ist das an den Resultaten einer von mir durchgeführten schriftlichen
Befragung dieser Protestinitiative. Wie sie zeigt, wurden sehr viele Punkte an der geplanten
Brücke als problematisch empfunden, und unter diesen rangierte der Kopieaspekt eher im
Mittelfeld, hinter anderen wie dem dubiosen Entscheidungsprozeß oder dem negativen Einfluß
auf das Stadtbild. Der Kopieaspekt ist aber interessanterweise der Punkt, der die Informanten am
meisten spaltete. Sie tendierten dazu, entweder gar kein Problem oder aber ein besonders großes
Problem darin zu sehen, daß die Brücke eine Replik war, und das unabhängig von der Frage, wie
sie die ausländische Herkunft der Brücke sahen. Wenn man dies in Verbindung mit der
Variablen „kreativ tätig oder nicht” bringt, ergibt sich ein statistisch signifikanter
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Zusammenhang: Die Mitglieder mit kreativem Hintergrund sahen tendenziell ein großes
Problem, die ohne einen solchen Hintergrund kein Problem.
Ich erkläre mir dies folgendermaßen. Die meisten der kreativ tätigen Mitglieder der AntiPont-des-Arts-Initiative sind in den westlich geprägten künstlerischen und gestalterischen Genres
tätig, sie machen also z. B. gewöhnliche moderne Kunst statt traditioneller japanischer Malerei
oder entwerfen als Architekten Neubauten im westlichen Stil. Damit sind sie aber in ihrer
Ausbildung auch unausweichlich mit der Ideologie vom künstlerischen Original in Berührung
gekommen. Im Mittelalter waren die Tafelbilder noch unsigniert, und Stilelemente wurden
relativ frei übernommen. Doch seit der Renaissance galt es immer stärker, Künstler statt
Handwerker zu sein, also ein schöpferisches Individuum, das nicht imitiert oder plagiiert,
sondern seine eigene Persönlichkeit auf unverwechselbare Weise in originalen Kreationen zum
Ausdruck bringt. Dies ist eine Ideologie, die in allen westlichen Kunstformen bestimmend ist,
auch von den Praktikern in vielen angewandten Bereichen (wie etwa Design oder Fotografie)
sowie von Kunstkritikern und Kunsthistorikern geteilt wird. Diese Ideologie vom künstlerischen
Original ist auch in der traditionellen japanischen Kunst nicht unwichtig, doch sind es hier oft
nicht weniger als die Schöpfer prominente vormalige Eigentümer, die z. B. einer alten Teeschale
der Spitzenklasse ihre unverwechselbare Individualität verleihen.
Daß also die zahlreichen Künstler in der Protestbewegung die Brücke als eine Art Fälschung
ablehnten, ist also zumindest in gewissem Maße eine Folge der Globalisierung, wiederum eine
eher unbewußte. Auch für diese Informanten waren letztendlich andere Aspekte der Pont-desArts-Kopie problematischer, allen voran der politische Entscheidungsprozeß. Hätte es sich aber
um ein ganz gewöhnliches politisches Problem gehandelt, bezweifle ich sehr, daß sich die
meisten von ihnen engagiert hätten.
Globalisierung in der politischen Kultur
Am folgenschwersten hat sich die Globalisierung aber in einem dritten ebenfalls eher
unbewußten Punkt ausgewirkt. Sie hat nämlich konventionelle Modelle japanischer Politik
herausgefordert und neue politische Akteure und Formen ins Spiel gebracht, die deutlich durch
internationale Entwicklungen und Vorbilder angeregt sind.
Die parlamentarische Demokratie ist nicht in Japan entstanden, sondern ihrerseits aus dem
Ausland übernommen. Der spezifisch japanische Zug liegt in der Umsetzung, und die erfolgte
zunächst recht zögerlich. In der Vorkriegszeit hatten die Parlamente wenig zu sagen, und erst
nach dem Krieg erhielten die Frauen das Wahlrecht, und ein vollgültiges parlamentarisches
System mit Parteien als Hauptakteuren etablierte sich. Doch in einem anderen Punkt herrschte
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Kontinuität gegenüber der Vorkriegszeit, nämlich in der großen Bedeutung der Exekutive
gegenüber der Legislative, d. h. der Verwaltung gegenüber den Parlamenten. In den Augen vieler
Japaner wird das Land von den Ministerialbeamten regiert, während die gewählten Politiker und
auch die Minister oft nur wenig Sachverstand besitzen und mehr damit beschäftigt sind, ihre
Wahlkreise durch die Beschaffung staatlicher Subventionen und Bauprojekte bei Laune zu halten.
Ohnehin ist die gegenwärtig regierende Liberaldemokratische Partei (LDP) fast über die gesamte
Nachkriegszeit an der Macht gewesen. Gerade ihr wird häufig nachgesagt, daß sie außer einem
generellen Konservatismus und der Unterstützung der Partikularinteressen ihrer Wählerschaft –
Groß- und Kleinunternehmer sowie die Landbevölkerung – kaum ein nennenswertes
Parteiprogramm hat.
In der japanischen Lokalpolitik ist diese Tendenz zur programmbefreiten Politik eher noch
bestimmender. Hier beherrschen oft große Koalitionen vieler oder aller Parteien den Gemeindeoder Präfekturrat und nominieren einen gemeinsamen Kandidaten für die direkt vom Volk
gewählten Bürgermeister- und Präfekturgouverneursämter, der dann auch gewählt wird. Die
Kandidaten sind selbst oft ehemalige Verwaltungsbeamte, meist aus den nationalen Ministerien,
und sehen ihre Aufgabe darin, ihre alten Kontakte zum Nutzen der eigenen Präfektur oder
Gemeinde einzusetzen. Es handelt sich also um ein klientelistische, sehr stark von persönlichen
Netzwerken geprägte Struktur, und diese setzte sich auch auf der Seite der Anhänger fort. Denn
Wahlkampfmittel aus Steuergeldern gibt es in Japan nicht, und so sind potentielle Bürgermeister
und Präfekturgouverneure auf Spenden und logistische Unterstützung ihrer Anhänger
angewiesen. Wer sich aber dort engagiert, hofft auf Gegenleistung, nämlich auf eine privilegierte
Berücksichtigung der eigenen Wünsche und Sorgen, sobald der Kandidat siegreich ins Amt
eingezogen ist.
Insgesamt muß dies gar nicht einmal bedeuten, daß ein Bürgermeister für Bürgerwünsche
unerreichbar ist, denn zu irgendeiner der diversen Unterstützergruppen und –organisationen
gehört oft fast jeder. Es ist aber trotzdem eine Politik der Hinterzimmer und der persönlichen
Loyalitäten, die so gefördert wird, und keine der öffentlichen Debatte über Sachfragen. In den
späten 60er und 70er Jahren hat sich dieses traditionelle Modell japanischer Lokalpolitik
aufgeweicht, als viele Bürgerinitiativen gegen Umweltverschmutzung entstanden und linke
Kandidaten in die Rathäuser der Millionenstädte einzogen. In den 80ern und 90ern ist das
traditionelle Modell aber vielfach zurückgekehrt.
Für Kyoto gilt dies ebenfalls. Bürgermeister Masumoto ist von Haus aus Verwaltungsbeamter.
Vor jeder Wahl wurde er von allen im Stadtrat vertretenen Parteien außer den in Kyoto starken
Kommunisten und von einer großen Zahl von Interessen- und Berufsverbänden in ziemlich
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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ritualisierter Weise über Wochen hinweg öffentlich zur neuerlichen Kandidatur gedrängt, bis er
dann irgendwann nachgab. Ist ein Amtsträger dann jedoch wiedergewählt, muß er auf die
Interessen dieses Unterstützerkreises Rücksicht nehmen, während das gewöhnliche Volk ihn ja
bereits direkt gewählt und damit auch zu eigenmächtigen Entscheidungen autorisiert hat.
Genauso darf man es sich auch bei der Pont-des-Arts-Kopie vorstellen. Es ist wahrscheinlich,
daß sich der gerade erst ins Amt gelangte Bürgermeister bereits im Vorfeld mit seinen
wichtigsten Verbündeten abgesprochen haben, darunter Figuren wie Tsukamoto, und auch
zwischen Paris und Kyoto wird es vorbereitende Kontakte gegeben haben. Aber diese
Diskussion war eben privatissime, und der Öffentlichkeit wurde nur der einsame und angeblich
spontane Beschluß des Bürgermeisters präsentiert, nach nur einer Nacht auf Chiracs Vorschlag
hin getroffen.
Diese Eigenmächtigkeit brachte viele Kyotoer gegen den Plan auf, gerade auch, weil die
offizielle Zielsetzung für das Verhältnis von Bürgermeister, Verwaltung und Bürgern eine ganz
andere ist. ▶▸Da wird die Stadtverwaltung nämlich nicht müde, wie auch andere Verwaltungen
in Japan das Schlagwort pâtonashippu zu betonen. Dies ist wiederum ein Stück Globalisierung,
denn es ist das englische Wort „partnership”, das hier übernommen wurde, und zu einem guten
Teil auch der Geist dahinter, nämlich mehr Bürgerdialog und Bürgerengagement in Zeiten leerer
öffentlicher Kassen und eine Abkehr von früheren Verhältnissen, wo der Verwaltung mit
Ehrerbietung begegnet wurde. Der Bürgermeister war selbst einer der eifrigsten Verfechter
dieses Modells und vergaß nie, es in seinen Ansprachen zu erwähnen. Um so schlechter kam es
an, daß er in der Frage der Brückenkopie so offensichtlich dagegen verstieß.
▶▸Hier war es also gerade nicht das Importmodell der „partnership”, sondern das heimische
Modell der Klientelpolitik, das der vermeintliche Globalisierungsfreund, nämlich der
Bürgermeister, befolgte. Dagegen waren es die vermeintlichen Globalisierungskritiker, nämlich
die Brückengegner, die auf aus dem Ausland übernommene Strategien zurückgriffen. Der der
kommunistischen Partei nahestehende Flügel der Protestbewegung setzte einerseits zwar eine
Reihe von traditionellen und nicht mehr besonders aufregenden Mitteln ein. ▶▸Dazu gehören
Kundgebungen vom Lautsprecherwagen aus, Unterschriftensammlungen und Petitionen, oft über
parteinahe Gewerkschaften und andere Berufsverbände organisiert. ▶▸Doch bildete er
andererseits bei einer Kundgebung eine Menschenkette um den geplanten Bauplatz. Damit griff
dieser Flügel ein von der japanischen Antiatomkraftbewegung importiertes politisches Werkzeug
auf, übrigens ein deutscher Beitrag zur Globalisierung, der von der Friedensbewegung Anfang
der 1980er Jahre entwickelt wurde. ▶▸Legendär ist etwa die 1983 gebildete, 108 km lange
Menschenkette zwischen amerikanischen Militäreinrichtungen in Stuttgart und Neu-Ulm.
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Mehr öffentliche Aufmerksamkeit erhielt allerdings der andere Flügel der Protestbewegung,
der bewußten Abstand zu politischen Parteien hielt. Diese ist eine für japanische
Bürgerinitiativen neue Strategie, die sicherlich vom großen Erfolg international tätiger
Organisationen wie Greenpeace oder Amnesty International inspiriert ist. ▶▸Dieser Flügel baute
auf das für Japan neue politische Ideal der direkten Demokratie. Bürgerentscheide sind ja bei in
den meisten deutschen Gemeinden und in einigen Bundesländern zulässig, und in der Schweiz
oder in der US-amerikanischen Lokalpolitik spielen sie eine sehr große Rolle. In Japan waren
Volksabstimmungen jedoch damals noch etwas Neues. Zwar sehen die Gesetze diese
Möglichkeit auf Gemeindeebene durchaus vor, doch sind Stadtrat und Bürgermeister weder dazu
verpflichtet, einen von den Bürgern beantragten Bürgerentscheid durchzuführen, noch dazu, sich
an
sein
Ergebnis
zu
halten.
Doch
nachdem
der
Brückenplan
alle
politischen
Entscheidungsgremien bereits glatt durchlaufen hatte, erschien das Werben um eine
Volksabstimmung dem parteifernen Protestflügel als seine einzige Chance. Die Globalisierung
war in diesem Fall besonders offenkundig, denn auf den öffentlichen Treffen wurden Vorträge
darüber gehalten, wie denn Bürgerentscheide in den USA oder der Schweiz ablaufen. Hier war
auch eine Art evolutionistisches Globalisierungsmodell wirksam. Die unausgesprochene, aber
doch breit geteilte Annahme von der politischen Fortschrittlichkeit des Westens erhöhte das
Prestige der Volksabstimmung und brachte ein besonders großes Medienecho.
▶▸Nach einigen schlechten lokalen Wahlergebnissen und Kritik auch von seinen
gewöhnlichen Unterstützern blieb dem Bürgermeister schließlich nichts anderes übrig als der
Rückzug des Pont-des-Arts-Plans, den er im August 1998 verkündete. Das machte in ganz Japan
und sogar weltweit bis z. B. in die Frankfurter Allgemeine Zeitung Schlagzeilen – wiederum
Globalisierung –, und die Protestinitiativen feierten einen Erfolg, an denen viele ihrer Mitglieder
anfangs selbst nicht geglaubt hatten. Nach erfolgter Wiederwahl machte der Bürgermeister einen
neuen Anlauf, nun für eine gewöhnliche, nicht mehr französische Fußgängerbrücke. Aber was
vorher in den genutzten Kontakten, Strategien und Argumentationen so globalisiert gewesen war,
endete nun als extrem lokale Angelegenheit: Die Anwohner des einen Flußufers, die die Brücke
wollten, und die des anderen Ufers, die sie nicht wollten, manövrierten sich in eine Pattsituation
hinein, und nach dem Abtritt des Bürgermeisters vor wenigen Monaten besteht der
Planungsentscheid für eine Fußgängerbrücke an der besagten Stelle zwar weiterhin, aber sie ist
nach wie vor nicht gebaut.
Fazit
Um zu rekapitulieren: Der Aufstieg und Fall der Pont-des-Arts-Kopie sieht zunächst wie ein
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Scheitern der Globalisierung aus, bei dem sich die lokale Bevölkerung gegen den Import eines
Stücks westlicher Kultur wendete und damit schließlich auch Erfolg hatte. Zum Teil wurde der
Konflikt auch ganz bewußt so aufgefaßt und dargestellt. Bei näherer Betrachtung wird jedoch
deutlich, daß Befürworter und Gegner gleichermaßen an der Globalisierung teilhatten und sich
aus dem Ausland kommender Kontakte, Konzepte und Bezugsrahmen bedienten. Zum Teil
geschah dies ganz gezielt, zum Teil aber auch in weniger bewußter Form. Zu den letzteren
Folgen einer unbewußten Globalisierung rechne ich die Umdeutung von städtischen
Flußlandschaften zu Natur- und Flanierräumen, die den Kamogawa in neuem Licht erscheinen
ließ, und die Ideologie des künstlerischen Originals, die eine bloße Kopie inakzeptabel machte.
Am gewichtigsten waren jedoch neue politische Formen, vor allem die der bewußt parteifernen
Bürgerinitiative und des Bürgerentscheids, die aus dem euroamerikanischen Ausland importiert
wurden. Wenn also die Globalisierung obsiegte, dann hier, wo der der Bürgermeister mit seinem
eher traditionell-japanischen Amtsverständnis – Absprache mit seinen treuen Unterstützern, aber
dann autokratische Entscheidung ohne öffentliche Beteiligung – schließlich scheiterte.
Wie bei alledem deutlich geworden sein sollte, sind die Übernahmen selektiv, und
verschiedene Akteure suchen sich in der globalen Ferne unterschiedliche Anknüpfungspunkte
aus. Der Bürgermeister vereinnahmte Chirac, die Protestbewegung den Journalisten von Le
Monde, der gegen Chiracs Vorschlag anschrieb. Die Stadtverwaltung übernahm das Konzept der
„partnership” (auch wenn sich der Bürgermeister nicht daran hielt), die Kommunisten die
Menschenkette, die parteifernen Brückengegner die Volksabstimmung. Nichts davon ist
zwingend, in allen Fällen liegt dem vielmehr eine bewußte Entscheidung für bestimmte
Alternativen statt eben anderen möglichen Alternativen zugrunde. Und diese oftmals auch
ausgiebig reflektierte Entscheidung entspringt den konkreten, ganz und gar lokal bestimmten
Bedürfnissen der sozialen Akteure.
So viel zur Pont-des-Arts-Affäre, viele der angesprochenen Aspekte werden uns
wiederbegegnen.
Beim
nächsten
Mal
werde
ich
mit
einem
Kolonialgeschichte als Wegbereiter der Globalisierung fortfahren.
Überblick
über
die
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Teil II: Die europäische Expansion
Der Kolonialismus als neues Zeitalter
Nach dem inhaltlichen Überblick und dem Fallbeispiel der letzten Woche möchte ich heute die
historischen Grundlagen der Globalisierung behandeln. Globalisierung ist zwar ein
vergleichsweise neues Wort, doch Kontakte und Austausch über große Entfernung sind
keineswegs bloß ein rezentes Phänomen. ▶▸So errichteten beispielsweise die Phönizier oder
Phöniker ab dem 9. Jh. vor Chr. ein das ganze Mittelmeer überspannendes Handelsnetzwerk.
Dessen Zentrum bildeten anfangs Stadtstaaten wie Tyros, Biblos oder Sidon im Küstengebiet
von Libanon und Israel, aber die Kolonien erstreckten sich bis nach Spanien und Marokko, und
Karthago im heutigen Tunesien wurde im Westen des Mittelmeers zum mächtigsten Zentrum der
Phönizier, die dort als Karthager oder Punier bekannt waren. Herodot schreibt einer
phönizischen Flotte sogar eine um ca. 600 v. Chr. im Auftrag des ägyptischen Pharao Necho II.
unternommene Umseglung Afrikas zu, die drei Jahre gedauert haben soll. Auch in anderen
Weltgegenden sorgte der Warenverkehr wie etwa über die Seidenstraße für vielfältige
Kulturkontakte. Im Shôsôin, einem im 8. Jahrhundert errichteten kaiserlichen Speicherhaus in
der damaligen japanischen Hauptstadt Nara, finden sich Objekte aus der ganzen eurasischen
Welt, bis hin zu einem römischen Glasgefäß, das über fast 10.000 Kilometer dorthin gelangt ist.
▶▸Auch in den großen Weltreichen kam es zu vielfältigem kulturellen Austausch und
Synkretismus, und Städte wie Rom, Alexandria, Bagdad oder die Hauptstadt Chinas in der TangZeit, Chang’an – das heutige Xian, bekannt für die dort ausgegrabene Terracotta-Armee – waren
zu ihren Blütezeiten ausgesprochen multiethnisch. Und im europäischen Mittelalter sorgten
Pilgerorte wie Santiago de Compostela, Rom oder auch Köln mit den Dreikönigsreliquien im
Dom ebenfalls dafür, daß sich Menschen mit ganz verschiedenen Herkunftsorten begegneten.
Der Arbeitsmarkt für begabte Künstler und Kunsthandwerker war damals international: Der
berühmten Kölner Malerschule gehörten viele Immigranten aus den Niederlanden, Frankreich
oder Italien umfaßt, und niemals wieder war die europäische Kunst stilistisch so einheitlich wie
um 1400. Auch die Kleriker verkehrten über alle Reichsgrenzen hinweg, begünstigt durch Latein
als gemeinsame Sprache.
Neu an der Entwicklung seit etwa 1400 ist allerdings, daß diese ein nach und nach die ganze
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Welt einbeziehendes politisches und wirtschaftliches System geschaffen hat, nicht mehr mit
einem einzigen Machtzentrum wie in den Weltreichen oder wie im Fall der Seidenstraße ganz
ohne politische Integration, sondern unter der Herrschaft einer kleineren Zahl von
konkurrierenden Staaten, die jeder Gebiete auf mehreren oder sogar allen Kontinenten
kontrollierten. Die meiste Zeit war dieses System eines der kolonialen Herrschaft, und ich
möchte Ihnen daher zunächst einen Überblick über die koloniale Geschichte geben, bevor wir
uns dann mit den kulturellen Seiten dieses Prozesses und den dazu entwickelten ethnologischen
Perspektiven beschäftigen.
Die Staaten außerhalb Europas, die niemals Kolonie gewesen sind, lassen sich an zwei
Händen abzählen. In Afrika sind es Liberia und – mit Einschränkungen – Äthiopien, in Asien
Afghanistan, der Iran, Nepal, Thailand, China und Japan. Auch von diesen Staaten entging
keiner der massiven politischen und wirtschaftlichen Einflußnahme der Kolonialmächte. Beim
Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren nicht weniger als 84 Prozent der globalen Landfläche
ehemaliges oder aktuelles Kolonialgebiet. Euroamerikanische oder japanische Fremdherrschaft
gehört damit für fast die gesamte Welt zur geschichtlichen Erfahrung und hat überall tiefe
Spuren hinterlassen.
Es lassen sich drei hauptsächliche Phasen der Kolonialgeschichte unterscheiden. Eine erste
dauerte von kurz nach 1400 bis etwa 1800. Europäische Flächenkolonien größeren Ausmaßes
entstanden damals nur in Nord- und Südamerika, während in der restlichen Welt meist nur
Handelsstützpunkte unterhalten wurden. Die zweite Phase reicht von etwa 1800 bis zum Ersten
Weltkrieg. Während die meisten amerikanischen Kolonien hier bereits unabhängig wurden,
kamen neue Flächenkolonien in Afrika und Asien hinzu, und im Zeitalter des
Hochimperialismus teilten Ende des 19. Jahrhundertes eine wachsende Zahl europäischer
Mächte, die USA und Japan die Welt unter sich auf. Die dritte Phase seit dem Ersten Weltkrieg
brachte die Dekolonisierung, die Ende der 1960er Jahre im wesentlichen abgeschlossen war.
Letzte Reste der Kolonialreiche bestehen allerdings bis heute fort.
Das Europa des ausgehenden Mittelalters war keineswegs ein zwingender Kandidat für die
Weltherrschaft. Technologisch und wissenschaftlich war es eher Empfänger der Innovationen,
die aus dem Nahen Osten, Indien und China herübergelangten, gerade auch in den für die
Kolonisierung wichtigen Bereichen wie Kartographie, Navigation, Schiffbau und Waffentechnik.
▶▸Eines dieser mächtigen asiatischen Reiche ging selbst auf Entdeckungsfahrt: Riesige
chinesische Schiffe unter dem Admiral Zheng He unternahmen zwischen 1405 und 1433
insgesamt sieben Reisen in den Pazifik und den Indischen Ozean, wobei sie sogar Ostafrika
erreichten. Bis weit in das Kolonialzeitalter hinein standen Teile Europas unter der militärischen
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Bedrohung der Mongolen und später der Türken. Außerdem kam es nach 1300 zu einer Krise
des europäischen Feudalismus. Befördert durch eine klimatische Abkühlung und Epidemien wie
die Pest gelangte die landwirtschaftliche Entwicklung an ihre Grenzen, und die Konjunktur
lahmte.
Die Lösung für diese Probleme war die Expansion, und in nicht geringem Maße verdankt sie
sich paradoxerweise der Tatsache, daß Europa vergleichsweise schwach und politisch zersplittert
war. Hätte nicht das Osmanische Reich das östliche Mittelmeer kontrolliert, wären Colón oder
Vasco da Gama nicht auf die Suche nach einem Seeweg nach Indien gegangen. Noch 1683, als
die Kolonialreiche bereits wuchsen, belagterte ein türkisches Heer die Stadt Wien, und Wäre
Europa ein geeintes Reich gewesen, wären mehr Energien in die Verteidigung und Absicherung
des Territoriums geflossen. Genau mit diesem Zusammenhang wird gemeinhin die Tatsache
erklärt, daß die chinesische Regierung nach den Fahrten Zheng Hes keine weiteren Expeditionen
ausrüstete. Das Reich der Ming-Kaiser zusammenzuhalten, war aufwendig genug, und zudem
gab es in diesem Reich so gut wie alles, was wirtschaftlich interessant war. Europa aber war
zersplittert, und seine einzelnen oft recht kleinen Staaten hatten durchaus vitalen Bedarf an
exotischen Handelswaren. Und so war es denn solch ein kleiner, aber am Rande Europas günstig
gelegener Staat, nämlich Portugal, der die europäische Expansion einläutete.
Die frühen Kolonialreiche
Portugal
Portugal hatte sich als Staat frühzeitig konsolidiert, war relativ stark urbanisiert und hatte ein am
Handel interessiertes aufstrebendes Bürgertum, litt aber unter Versorgungsengpässen bei
Grundnahrungsmitteln und Gewürzen sowie unter einem Mangel an Gold und Silber, also
Edelmetallen, die man in Afrika vermutete. Der religiöse Kampf gegen die damals ja noch gar
nicht völlig von der Iberischen Halbinsel vertriebenen Araber lieferte zusätzlich eine
ideologische Rechtfertigung für das Vordringen in deren Herrschaftsraum. Die Krone, allen
voran Prinz Heinrich der Seefahrer, der entgegen seinem Beinamen selbst nie reiste, förderte die
Expansion daher aktiv, und genuesische Bankiers lieferten Geldkapital und Knowhow.
1415 begann daher die europäische Expansion mit einem vergleichsweise bescheidenen
Ereignis, nämlich der Eroberung Ceutas, das ja bis heute eine mittlerweile spanische Enklave in
Marokko ist. Fortan drangen die Portugiesen immer weiter entlang der afrikanischen Westküste
vor und etablierten Stützpunkte an der Küste und auf vorgelagerten Inseln wie Madeira, den
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Kapverdischen Inseln sowie São Tomé und Principe. Gold und Elfenbein waren zentrale
Handelsgüter, daneben aber auch Sklaven, für die die 1482 gegründete Festung El Mina im
heutigen Ghana der Hauptumschlagplatz wurde. Auf den Inseln im Atlantik, vor allem Madeira,
wurden diese auf Zuckerplantagen eingesetzt, ein erfolgreiches Produktionssystem, das dann
auch andernorts angewandt und (wie wir noch hören werden) äußerst folgenreich wurde. 1491
wurde Angola erreicht, und 1498 umsegelte Vasco da Gama schließlich Kap Hoorn und erreichte
das Ziel der Bemühungen, nämlich Indien, das auf dem vom Osmanischen Reich kontrollierten
Landweg nicht erreicht werden konnte.
▶▸Im Laufe des frühen 16. Jahrhunderts erkämpften sich die Portugiesen schließlich durch
ihre überlegenen Kanonenschiffe den Vorrang im Seehandel des gesamten Indischen Ozeans und
weiter bis hin nach Japan. Strategisch günstig gelegene islamische Handelsstützpunkte wurden
erobert und mit Festungen und Militär ausgestattet. Im indischen Goa residierte der Vizekönig,
aber eine noch nie dagewesene Kette von Stützpunkten über Mosambik, Mombasa, Aden (im
heutigen Jemen), Hormuz (im heutigen Iran), größere Teile des heutigen Sri Lankas, Malakka im
heutigen Malaysia und die als Gewürzinseln interessanten indonesischen Molukken bis nach
Macao in China und Nagasaki in Japan hin. Pfeffer, Muskatnuß und Ingwer konnten so billiger
nach Europa gebracht werden als über den Landweg, und diese neue Konkurrenz läutete den
Niedergang der Mittelmeer-Seehäfen wie Venedig und Genua ein, die vorher die zentralen
Zwischenhändler gewesen waren.
Von einer unumstrittenen Dominanz der Portugiesen im Indischen Ozean kann allerdings
keine Rede sein. Eher fügten sie sich in ein bereits bestehendes und auch weiterhin von z. B.
arabischen und chinesischen Schiffen bedientes Handelsnetz ein, und stark reglementierte
Handelshäfen wie Macao und Nagasaki dürften im chinesischen bzw. japanischen Kaiserreich
niemand dazu veranlaßt haben, sich als kolonisiert anzusehen. Großflächige Eroberungen
blieben gegen diese starken Staaten und bei einer portugiesischen Bevölkerung von nicht einmal
einer Million Menschen unmöglich. Es ist allerdings erstaunlich genug, daß es den Portugiesen
trotz nur 300 Schiffen und ständigen Personalmangels, der u. a. zu äußerst multinationalen
Schiffsbesatzungen führte, gelang, dieses Handelsnetz aufzubauen und ein Jahrhundert lang zu
erhalten.
Das Zentrum des portugiesischen Kolonialreichs war ab 1600 Brasilien, im Jahr 1500 von
Pedro Álvares Cabral als „Nebenprodukt” der Indienfahrten zufällig entdeckt. Hier blühte der
Zuckeranbau, und nach 1700 brachten Gold- und Diamantenfunde im Inland einen
wirtschaftlichen Aufschwung. Im Laufe der napoleonischen Kriege wurde Portugal selbst aber
erobert und so sehr geschwächt, daß Brasilien 1822 die Unabhängigkeit erlangen konnte. Angola,
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Mosambik und Guinea-Bissau blieben bis Mitte der 1970er portugiesisch, außerdem Goa, das
1961 von Indien besetzt und dann zurückgegeben wurde, Osttimor, das 1975 von Indonesien
annektiert wurde und seit 2002 unabhängig ist, sowie Macao, das 1999 an die Volksrepublik
China ging. Portugiesisch geblieben sind Madeira und die Azoren.
Spanien
Die Position Portugals als dominante Kolonialmacht übernahm aber bereits im 16. Jahrhundert
das größere Nachbarland Spanien. Im Auftrag der Krone erreichte Cristobal Colón 1492 die
Bahamas-Insel Guanahani und auf späteren Reisen auch das mittel- und südamerikanische
Festland. 1494 bereits schlossen Spanien und Portugal den Vertrag von Tordesillas, der eine
Linie auf etwa 46°37’ westlicher Breite zur Aufteilung der Welt benutzte: Alles östlich davon
Gelegene ging an Spanien, alles westliche Gelegene an Portugal, dem damit neben Afrika und
Asien auch das brasilianische Kernland zufiel. Diese Aufteilung hatte nicht lange Bestand, gab
aber zumindest die grobe Entwicklungslinie vor. Die Spanier unterwarfen nun zunächst die
Karibikinseln, dann Mexiko und Mittelamerika – 1521 eroberte Hernan Cortés die aztekische
Hauptstadt Tenochtitlán – und schließlich Südamerika – 1533 eroberte Franzisco Pizarro die
Inka-Hauptstadt Cuzco, 1541 wurde Santiago de Chile gegründet. Die Philippinen kamen 1565
als einzige asiatische Kolonie dazu; hier allerdings trieben die Spanier nur Handel, und eine
Besiedlung erfolgte nicht. Auch im Südwesten der Vereinigten Staaten gab es anfangs spanische
Kolonien; diese waren jedoch längst nicht so gut erfaßt und beherrscht wie die mittel- und
südamerikanischen Gebiete und gingen später an die USA verloren.
▶▸Ganz anders als der portugiesische Kolonialismus in Asien, der meist auf Anpassung
basierte und etwa in Macao auch viele Phänomene der kulturellen Mischung mit sich brachte,
war der spanische Kolonialismus in Amerika einer der Unterwerfung. Zu spanischen Reich
gehörten wie zu dem der Portugiesen Zuckerplantagen mit indianischen, später afrikanischen
Sklaven auf den Karibikinseln Santo Domingo (die sich heute in die beiden Staaten Haiti und
Dominikanische Republik teilt) und Kuba. Im Zentrum standen jedoch zunächst das Gold und
später der hauptsächlich in Mexiko, Peru und Bolivien mit zwangsverpflichteten Indianern
betriebene Bergbau. Zur Versorgung dieser Arbeitskräfte gab es Landgüter, ▶▸die sogenannten
encomiendas und haciendas, die ebenfalls mit arbeitsverpflichteten Indianern betrieben wurden.
Die Städte waren spanisch geprägt, während den Indianerdörfern meist als sogenannten
repúblicas de indios die interne Autonomie belassen wurde. Verwaltung, Wirtschaft und
kirchliche Organisation waren eng vom Mutterland kontrolliert, wohin einmal im Jahr eine Flotte
mit den Exportgütern aufbrach.
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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▶▸Die katastrophalen Folgen der spanischen Herrschaft für die Indianer sind bekannt;
Massaker, Versklavung und Epidemien sorgten etwa dafür, daß die mexikanische Bevölkerung
sich in wenigen Jahrzehnten von 25 Millionen auf 1,5 Millionen reduzierte. Vielfach hatten
außerdem wie etwa im Inkareich in der vorkolonialen Zeit ausgedehnte redistrutive
Wirtschaftssysteme bestanden, die auch die unterschiedlichen Höhenlagen ausnutzten. Hier
wirkte schon der kleinste Eingriff verheerend, da auf keinen einzelnen Beitrag verzichtet werden
konnte. Da die spanische Krone eine ruinöse Ausgabenpolitik betrieb, trug die koloniale
Ausbeutung kaum zu einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung Spaniens bei, sondern
machte eher die Banken Antwerpens und später Amsterdams reich. Spanien wurde so allmählich
selbst zu einer Peripherie innerhalb Europas und konnte Anfang des 19. Jahrhunderts dem
Unabhängigkeitsstreben der Kolonien nichts entgegensetzen. Kuba und Puerto Rico blieben
zunächst noch spanisch, gingen dann aber 1898 wie auch die Philippinen an die USA. Letzte
Kolonien in Marokko, der Westsahara und Äquatorialguinea wurden erst im 20. Jahrhundert
aufgegeben, so daß heute vom spanischen Kolonialreich nur noch die marokkanischen Enklaven
Ceuta und Melilla übrig sind.
Kolonialismus im 17. und 18. Jahrhundert
Ab dem 17. Jahrhundert ging die koloniale Initiative an Niederländer, Franzosen und Engländer
über. Nordamerika kam als neues Kolonialgebiet hinzu, ansonsten aber mußten sich diese
Staaten gegen die alten Kolonialmächte Spanien und Portugal durchsetzen. Dafür lieferte im Fall
von Engländern und Niederländern auch der religiöse Gegensatz zwischen Katholizismus und
Protestantismus eine Rechtfertigung. Anders als im Fall von Portugal und Spanien, wo die Krone
sich zwar Geld lieh, aber selbst der koloniale Hauptakteur blieb, waren es bei den neuen
kolonialen Mächten private Handelsgesellschaften – gewissermaßen die ersten multinationalen
Konzerne –, die die Expansion vorantrieben. Die East India Company oder die Vereenigde
Oostindische Compagnie (VOC) erhielten zwar von ihrem Mutterstaat das Handelsmonopol
garantiert und auch Hoheitsrechte in den Kolonien zugewiesen, aber hinter ihnen stand
hauptsächlich das Kapital des wohlhabenden Bürgertums, das sich in diesen Ländern besonders
früh entwickelt hatte. Im französischen Fall hielt die private Kontrolle nicht lange vor, doch
übernahmen die englische und die niederländische Krone erst im 19. Jahrhundert die offizielle
Herrschaftsgewalt in den Kolonien.
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Die Niederlande
Die Niederlande, ein wie Portugal kleines, aber durch den Ostseehandel, eine leistungsfähige
Landwirtschaft und nicht zuletzt auch durch Finanz- und Transport-Dienstleistungen für die
älteren Kolonialmächte wirtschaftlich besonders stark gewordenes Land, beerbten die
Portugiesen, denen sie nach und nach die meisten Handelsstützpunkte abnahmen. ▶▸Zusätzlich
gründeten sie Kolonien in Nordamerika (New York hieß ja zunächst Nieuw Amsterdam) und im
karibischen Raum. Zum Zentrum des Kolonialreichs wurde Batavia (das heutige Djakarta) auf
der Insel Java, ebenfalls wichtig war die Kolonie am südafrikanischen Kap der Guten Hoffnung.
Viel davon ging im 18. Jahrhundert wieder verloren bzw. wurde wie die afrikanischen
Küstenforts verkauft, und die Kap-Kolonie wurde Ende des 19. Jahrhunderts von den Briten
erobert. Dagegen verblieb Niederländisch-Ostindien, das zum Zentrum des späteren
Kolonialreichs werden sollte.
Frankreich
Frankreich als katholisches Land tat sich zunächst schwer damit, in die koloniale Konkurrenz
mit Spanien und Portugal einzusteigen, ▶▸begann dann aber mit Nordamerika und der Karibik,
wo in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts Kanada, Louisiana und Teile der Karibik
kolonialisiert wurden. Von dem 1673 gegründeten Pondicherry versuchte Frankreich zudem, ein
indisches Kolonialreich aufzubauen. Der größte Teil davon – Kanada, Louisiana, das indische
Territorium – ging bis etwa 1800 an die Briten verloren, und in Haiti – der französisch
kolonialisierte Westteil der Insel Santo Domingo – gab es die erste erfolgreiche antikoloniale
Bewegung, als sich die Sklaven 1804 erhoben und ihre Unabhängigkeit erkämpften. So blieb den
Franzosen zunächst nur eine Kette von Stützpunkten, darunter Französisch-Guayana,
Guadeloupe und Martinique, die Senegalmündung, Réunion und das nur noch auf ein kleines
Gebiet beschränkte Pondicherry.
Großbritannien
Die Briten engagierten sich nach ihrem Sieg über die Armada 1588 ebenfalls zunächst in
Nordamerika und Indien, dann auch in der für die Zuckerproduktion interessanten Karibik. Dort
wurden im Laufe des 17. Jh. die Bermudas, St. Kitts, Barbados, Jamaika und die Bahamas
kolonialisiert. Der Expansion kam eine starke Interessenübereinstimmung von Krone, Adel und
wohlhabendem Bürgertum im Mutterland zugute, die ab der zweiten Hälfte des 17. Jhs.
Englands Aufstieg zur führenden Seemacht und zum Pionierland der Industriellen Revolution
ermöglichte. Durch die Einführung des Freihandels begünstigt, engagierten sich die Briten vor
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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allem im Sklavenhandel. Im Laufe des 18. Jahrhunderts konnten sie die französische
Vorherrschaft in Kanada und Indien brechen, auch wenn die 13 nordamerikanischen Kolonien
1776 ihre Unabhängigkeit erklärten und im nachfolgenden Krieg auch behaupten konnten.
Neben den „großen” Kolonialmächten hatten auch Schweden, Dänemark und sogar
Brandenburg-Preußen koloniale Stützpunkte in der Karibik und in Afrika, die aber im
wesentlichen kurzlebig waren; Groß-Friedrichsburg im heutigen Ghana etwa bestand nur von
1685 bis 1720, als es an die Niederländer verkauft wurde.
Kolonialismus ab 1800
Es wird gesagt, daß der Kolonialismus im 19. Jahrhundert noch einmal neu erfunden werden
mußte. Ein großer Teil der von den Europäern besiedelten Kolonien erkämpfte sich nun nämlich
die Unabhängigkeit, die USA von 1776 bis 1783, das spanische Lateinamerika von 1810 bis
1824 und Brasilien 1822. Das Vorbild der Vereinigten Staaten, die Französische Revolution und
ihr Ideal der egalité und nicht zuletzt auch die neue Ideologie des Nationalismus, deren Aufstieg
uns noch beschäftigen wird, trugen dazu bei. Den frühesten Kolonialmächten Portugal und
Spanien blieb fortan nur noch eine Nebenrolle. Der Schwerpunkt bei den noch existierenden
Kolonien der anderen europäischen Mächte lag zunächst auf Handelsstützpunkten, und große
Teile Afrikas und Asiens standen noch gar nicht unter kolonialer Herrschaft bzw. waren völlig
unbekannt.
Die Aufteilung der Welt
Im 19. Jahrhundert konsolidierten sich zunächst die noch bestehenden oder jetzt erst gegründeten
britischen Siedlerkolonien Kanada, Südafrika, Australien und Neuseeland sowie das französische
Algerien, dazu kam die Ausdehnung der britischen Herrschaft in Indien und der niederländischen
Herrschaft in Indonesien, beides Länder, die erst jetzt unter vollständige Kontrolle kamen. Die
Konkurrenz vor allem zwischen Großbritannien, Frankreich und dem nachdrängenden
Deutschland sowie der Einstieg neuer Mächte wie Italien, Belgien, den USA und Japan führte
dann aber im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zum Zeitalter des Hochimperialismus mit der
fast vollständigen Aufteilung der bislang noch nicht erfaßten Gebiete. Außerdem führten die
verbesserten Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten dazu, daß es jetzt nicht mehr nur um
Edelmetalle und Luxusgüter, sondern um Rohstoffe und Absatzmärkte für die industrielle
Produktion der Mutterländer ging. Der technologische Fortschritt machte die europäischen
Kolonialmächte nun eindeutig überlegen, und die ideologischen Rechtfertigungen des
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Kolonialismus richteten sich danach aus. Während die Sklaverei sich nicht mehr mit den neuen
Idealen vertrug und nach und nach aufgegeben wurde, bestand weiterhin in den Augen der
Kolonialherren die sogenannte „white man’s burden”, d. h. die Pflicht der technologisch und
nach verbreiteten Vorstellungen auch rassisch überlegenen Kolonialherren, den Kolonisierten
westliche Zivilisation und Christentum zu bringen.
▶▸Das zuvor im wesentlichen nur mit Handelsstützpunkten versehene Afrika wurde im Zuge
des sogenannten „scramble for Africa” auf der Berliner Afrikakonferenz von 1884 so gut wie
vollständig aufgeteilt; nur Äthiopien und Liberia blieben selbständig, letzteres aber
gewissermaßen selbst als Kolonie von befreiten und repatriierten US-amerikanischen Sklaven. In
Asien erfolgte zur gleichen Zeit ebenfalls die koloniale Restaufteilung, bei der Burma bzw.
Myanmar 1886 an England und Indochina 1884 an Frankreich ging; Spanien verlor 1898 die
Philippinen im Krieg an die USA. China, Thailand, Afghanistan, der Iran und das Osmanische
Reich blieben formal unabhängig, wurden aber trotzdem zu semikolonialen Rohstofflieferanten
und Absatzmärkten, zum Teil von europäischen Mächten abhängig, zum Teil bewußt als
machtlose Puffer belassen. Japans Öffnung zum Westen wurde 1854 nach jahrhundertelanger
Abschließung durch amerikanische Kanonenboote erzwungen, und das Land bekam ungleiche
Handelsverträge aufoktroyiert. China blieb wegen seiner Größe und der Rivalität der
Kolonialmächte zwar ebenfalls unabhängig. Es mußte jedoch Handelsstützpunkte wie das
britische Hongkong und Freihäfen wie Shanghai und Kanton/Guangzhou an der chinesischen
Küste zulassen und 1900 die Niederschlagung des Boxer-Aufstandes durch eine beispiellose
Koalition von acht Kolonialmächten hinnehmen.
▶▸Und schließlich fällt auch die Herausbildung zweier der danach flächenmäßig größten
Staaten hauptsächlich in das 19. Jahrhundert: Die USA erweiterte ihr Siedlungs- und Staatsgebiet
mit den bekannten Folgen für die Indianer bis zum Pazifik, und das russische Zarenreich
expandierte mit oftmals nicht weniger gravierenden Folgen für die indigene Bevölkerung über
Zentralasien und Sibirien bis zum Pazifik und sogar nach Alaska, das dann später an die
Amerikaner verkauft wurde. Zwar handelte es sich hierbei um mit dem Mutterland räumlich
verbundene Gebiete, aber die Dominanzverhältnisse unterschieden sich kaum vom
„gewöhnlichen” Kolonialismus der europäischen Staaten.
Die Kolonialreiche um 1900
Um 1900 war damit der Höhepunkt des imperialistischen Weltsystems erreicht, und es lohnt sich,
einen Blick auf die damaligen Kolonialreiche zu werfen. ▶▸Führend war eindeutig das britische
Empire. Sein Kern lag in Indien, also dem Gebiet der heutigen Staaten Pakistan, Indien,
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Bangladesh und Sri Lanka, das nach Niederschlagung des Großen Aufstands von 1857/58
Vizekönigreich wurde und genauso wie „Hinterindien” (Myanmar und Malaysia) erst der
britischen Textilindustrie, später dann über den Eisenbahnbau der britischen Stahl- und
Kohleindustrie riesige Absätzmärkte brachte. Außerdem wurde in Indien das Opium angebaut,
mit dem sich im 19. Jahrhundert der Weg in den lukrativen Handel mit China öffnete, wo nun
endlich Seide, Porzellan und Tee erworben werden konnte. Zuvor hatte die Chinesen nur das
schwer zu beschaffende Silber interessiert. In Afrika existierte ein geschlossenes Band britischer
Kolonien vom Kap der Guten Hoffnung bis nach Kairo, und Gibraltar, Aden, St. Helena,
Mauritius, Singapur und Hongkong waren weitere wichtige Stützpunkte. Die britischen
Siedlungsgebiete Kanada, Australien und Neuseeland waren damals ebenfalls noch nicht in die
Unabhängigkeit entlassen.
▶▸An zweiter Stelle standen die Franzosen, die ein riesiges, größtenteils zusammenhängendes
Gebiet in Nord-, West- und Zentralafrika kontrollierten. Einträglicher war jedoch aufgrund von
Bergbau und Kautschukproduktion das französische Kolonialgebiet in Indochina, das das heutige
Vietnam, Laos und Kambodscha umfaßte. Die Niederlande bauten ihre Kolonie in Indonesien
erst im 19. Jh. zur vollen Größe aus und hatten zudem mit Niederländisch-Guayana (dem
heutigen Surinam) und einige Inseln auch ein Standbein in der Karibik. Belgien betrieb den
Kongo-Freistaat (die heutige Demokratische Republik Kongo) zunächst als Privatunternehmen
des Königs Leopold II., nach internationaler Empörung über die besonders brutale Herrschaft ab
1908 dann staatlich. Italien kolonisierte Teile Somalias, Eritrea und Libyen; Äthiopien wurde
kurzzeitig erobert, aber nie wirklich kontrolliert. Grönland ist seit 1814 dänische Kolonie und bis
heute nicht völlig unabhängig. Drittgrößte Kolonialmacht nach Großbritannien und Frankreich
war allerdings Deutschland, das ab 1884 Togo, Kamerun, Deutsch-Ostafrika, d. h. Tansania,
Deutsch-Südwestafrika, d. h. Namibia, sowie den nördlichen Teil des heutigen PapuaNeuguineas kolonisierte. Die Herrlichkeit währte nur kurz, denn schon mit dem Versailler
Vertrag von 1919 waren die Kolonien wieder verloren und wurden zu Mandatsgebieten des
Völkerbunds oder zu Protektoraten anderer Kolonialmächte. Die 35 Jahre kolonialer Geschchte
reichten allerdings, um mit der Niederschlagung des Herero-Aufstands in Namibia 1905 einen
der moralischen Tiefpunkte der Kolonialgeschichte zu setzen.
▶▸Ein Novum war zudem die Betätigung außereuropäischer Kolonialmächte. Japan konnte
nach erfolgreicher Modernisierung und Industrialisierung bald die Aufhebung der ungleichen
Handelsverträge erreichen und betätigte sich danach selbst imperialistisch, indem es 1895 in
Taiwan und 1905 in Korea die Herrschaft übernahm. 1932 verschaffte es außerdem der
Mandschurei die vorgebliche Unabhängigkeit von China, unter der Herrschaft von Pu Yi, dem
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letzten der selbst ja aus der Mandschurei stammenden chinesischen Qing-Kaiser, der allerdings
nur
als
Marionette
fungierte.
Die
USA
verhalf
1898
auf
den
Philippinen
der
Unabhängigkeitsbewegung gegen Spanien zum Sieg, nur um sich das Land dann selbst
anzueignen, neben einer Reihe von Inseln im Pazifik. Und schließlich stieg auch noch Australien
ein, das erst den südlichen Teil des heutigen Papua-Neuguinea von Großbritannien als Kolonie
erhielt und dann nach dem Ersten Weltkrieg mit der Verwaltung der ehemals deutschen
Nordhälfte beauftragt wurde, die Mandatsgebiet des Völkerbunds war.
Formen der Kolonialherrschaft
Die Welt war nun also aufgeteilt, und trotz des Abbaus von Standes- und Klassenschranken
innerhalb der Mutterländer war das hierarchische Überlegenheitsbewußtsein gegenüber dem Rest
der Welt so groß wie nie. Dort, wo es Widerstand gegeben hatte oder wo es weiße Siedler in
größerer Zahl gab, drückte sich dies in einer direkten Herrschaft der Kolonialisten aus; Beispiele
dafür sind Algerien, Angola, Namibia, Südafrika, Rhodesien, Mosambik, Tansania, das
Hochland von Kenia und Vietnam. Andernorts zog man es vor, die einheimischen
Herrschaftsformen unangetastet zu lassen bzw. zu konservieren oder zu retraditionalisieren,
häufig in Form von Operettenregimen, während die wahre Macht in den Händen von Beratern
und Kolonialbeamten lag. Die Briten erprobten ihre Doktrin des „indirect rule” zunächst in
Indien, wo sie den höfischen Prunk der Rajs, d. h. der regionalen Fürsten, alimentierten, ihnen
gleichzeitig aber jeden politischen Einfluß nahmen. Dies sparte vor allem Personal, und auch zur
Blüte des Vizekönigreichs waren nie mehr als ein paar Tausend Briten in Indien. Das System des
„indirect rule” wurde auch nach Afrika übertragen, etwa auf Ägypten, Uganda und Sansibar, und
die Franzosen praktizierten Vergleichbares in Marokko, Tunesien, Laos und Kambodscha.
Abhängigkeit von den euroamerikanischen Mächten war allerdings nicht auf die koloniale
Herrschaft beschränkt. Die nun offiziell unabhängigen lateinamerikanischen Staaten blieben auf
britisches und später US-amerikanisches Kapital, Handelsgüter und in Form der vielen
europäischen Migranten, etwa nach Brasilien oder Argentinien, auch auf Personal angewiesen.
Später bildeten Unternehmen wie der Chiquita-Vorgänger United Fruit Company Staaten im
Staat heraus, kein formaler Kolonialismus also, aber auch weit entfernt von einer wirklichen
Selbstbestimmung und wirtschaftlichen Eigenständigkeit.
Welthandel und Migration
Damit befinden wir uns bereits beim Thema Welthandel, und charakteristisch für die
Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. und im 20. Jahrhundert ist, daß dieser sich immer
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stärker als Freihandel gestaltete, der sich von den politischen Dominanzverhältnissen abkoppelte.
In der frühen Phase des Kolonialismus herrschten noch merkantilistische Strategien vor: Jede der
kolonialen
Mächte
versuchte,
mit
ihren
Kolonien
die
eigenen
wirtschaftlichen
Rohstoffbedürfnisse selbst abzudecken. Nun aber dehnten sich die internationalen Warenströme
aus und schlossen auch immer stärker Massengüter wie industrielle Rohstoffe wie Kohle und
Baumwolle, Nahrungsmittel wie Weizen und Reis und Fertigprodukte ein. Von 1800 bis 1913
stieg das Volumen des Welthandels um das 25fache. Auch die internationale Migration
intensivierte sich, nun aber ebenfalls liberalisiert, da die Sklaverei allmählich abgeschafft wurde.
Dies wurde ermöglicht durch technologische Fortschritte beim Transport von Menschen,
Gütern und Informationen. 1840 gab es weltweit 7200 km Eisenbahnstrecke, 1880 waren es
schon 365.000 (aber selbst 1920 nur 13 % davon in Asien und Afrika), und die Schiffe erhielten
nun Eisen- und Stahlrümpfe, segelten schneller und wurden schließlich mit Dampf betrieben.
Die Fertigstellung des Suezkanals 1869 und des Panamakanals 1914 verkürzte langwierige
Seerouten um Monate. 1866 funktionierte das erste Transatlantikkabel, und um 1880 konnte man
so jeden bedeutenden Ort im britischen Empire erreichen, was die unmittelbare Kommunikation
ermöglichte und die vormalige Bindung der Kommunikationsgeschwindigkeit an die des
Warenverkehrs aufhob.
All diese Neuerungen begünstigten die Herausbildung dualer Wirtschaftssysteme. Um die von
den Kolonialregimen auferlegten Steuern zu zahlen, mußten die Einheimischen Geld verdienen,
durch den Anbau von cash crops, also Agrarprodukten für den Handel, oder durch die Arbeit in
Plantagen und Bergwerken, die ebenfalls für den Export produzierten. Baumwolle, zunächst aus
der Karibik und dem Osmanischen Reich, nach 1800 dann aus der britischen Kolonie Ägypten
und den US-Südstaaten, wurde zum Motor der Frühphase der industriellen Revolution. Der
Bergbau im südlichen Afrika lieferte Gold und Diamanten, geschürft von Wanderarbeitern, die
zwischen ihren Heimatgebieten und den Abbaugebieten hin- und hermigrierten. Tropische
Plantagenprodukte wie Bananen aus Mittelamerika, Kolumbien und Ecuador, Palmöl und später
Kakao aus Westafrika, Rohrzucker aus Trinidad, Britisch-Guayana, dem südafrikanischen Natal,
Java und dem australischen Queensland, Kaffee aus Brasilien; Mexiko, Guatemala und Java
sowie Tee zunächst aus China, ab Mitte des 19. Jahrhunderts auch aus dem indischen Assam und
aus Sri Lanka wurden im Westen immer mehr zu Alltagsgütern. Ein wichtiger industrieller
Rohstoff war vor der Zeit der Erdölprodukte außerdem der Kautschuk, der ebenfalls auf
Plantagen in Brasilien und nach 1900 auch in Malaysia und Indonesien gewonnen wurde.
Daß die in diesen extraktiven Ökonomien arbeitenden Einheimischen nebenher weiterhin
Subsistenzwirtschaft betrieben, ermöglichte es, die Löhne niedrig zu halten. Am anderen Ende
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der
Verwendungskette
halfen
die
kolonialen
Importprodukte
ebenfalls
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dabei,
die
Industrialisierung in Gang zu bringen und den Konsum und damit auch die Löhne zu verbilligen.
Außerdem spielten Stimulantien wie Tee und Kaffee und in Verbindung mit ihnen der Zucker
auch eine nicht zu unterschätzende Rolle als Seelentröster für die Industriearbeiter (dazu gleich
noch mehr).
Die fortschreitende Industrialisierung und die Ausbreitung des Welthandels ging einher mit
der Ausbreitung der Migration, zum einen als Binnenmigration vom Land in die Städte, zum
anderen nach Übersee. Von 1800 bis 1914 verließen allein 50 Millionen Menschen Europa,
darunter besonders viele Iren, Italiener, Osteuropäer und Deutsche. Über 30 Millionen gingen in
die USA, doch auch Brasilien, Argentinien und viele andere Länder waren beliebte Ziele. Aber
auch aus den Kolonien heraus wurde migriert. Da die Sklaverei überall abgeschafft wurde,
zuletzt 1888 in Brasilien, wurde in den Plantagen und Bergwerken jetzt vielfach auf
Kontraktarbeiter gesetzt, die für längere Zeiträume angeworben waren, aber häufig gleich ganz
in ihrem Gastland blieben. So kommt es, daß es heute große indische Bevölkerungsgruppen in
Trinidad, Südafrika, Mauritius, Myanmar, Malaysia und Singapur gibt, und in Britisch-Guayana
und in Fiji stellen die Inder sogar die Mehrheit. Mehrere Millionen Tamilen aus Südindien
emigrierten außerdem in den Nordteil Sri Lankas. Besonders emigrationsfreudig waren auch die
Chinesen der südchinesischen Küstengebiete. In ganz Südostasien dominieren sie heute den
Handel, in Singapur stellen sie die Bevölkerungsmehrheit, und die USA waren ein weiteres Ziel.
Heutige multiethnische Konstellationen in den genannten Ländern, die zum Teil konfliktbeladen
sind, haben ihre Wurzeln also bereits in den Massenmigrationen des Hochimperialismus.
Die Dekolonisation
500 Jahre hatte es gedauert, bis die koloniale Ausdehnung zur Zeit des Ersten Weltkriegs ihren
Höhepunkt erreichte, doch bloß 50 Jahre später war sie schon weitgehend Geschichte. Erste
Nationalbewegungen entstanden in Indien, Ägypten und Tunesien, angeführt nicht selten von
Personen, die in den Mutterländern ausgebildet worden waren. Marokko wurde der 1921
begonnene Aufstand der Kabylen des Rif-Gebirges 1926 niedergeschlagen, von französischen
und spanischen Truppen, die auch vor dem Gebrauch von Senfgas nicht haltmachten. Der Zweite
Weltkrieg läutete dann endgültig das Ende der Kolonialzeit ein, denn viele Kolonialmächte
gingen sehr geschwächt daraus hervor. Japan hatte im Zweiten Weltkrieg die europäischen
Kolonien in Südostasien erobert und dem Ruf dieser Kolonialmächte irreparablen Schaden
zugefügt, und auch in den Mutterländern war der Kolonialismus immer weniger zu rechtfertigen.
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Von den beiden neuen Weltmächten lehnte die Sowjetunion den Kolonialismus ohnehin ab, und
die USA bekehrte sich ebenfalls zu dieser Haltung, nicht zuletzt aus der Sorge, siegreiche
Befreiungsbewegungen auf die jeweils andere Seite der Fronten des Kalten Krieges zu treiben.
1946 wurden als erste asiatische Kolonie die Philippinen selbständig. Besondere
Signalwirkung hatte die Unabhängigkeit Indiens 1947, Indonesien folgte 1949, das französische
Indochina 1954 und Malaysia 1963. Folgend auf den Sudan 1956 wurde Ghana 1957 als erster
subsaharischer Staat unabhängig, und schon in den frühen 1960er Jahren waren dort kaum mehr
Kolonien übrig. Der Algerienkrieg von 1954-63, der mit der Unabhängigkeit endete, zeigte den
Kolonialmächten ebenfalls deutlich ihre Grenzen auf. Der größte Teil der Karibik wurde in den
1950er und 60er Jahren selbständig, die pazifischen Inseln und Papua-Neuguinea in den 1970er
und 80er Jahren. Den längsten Widerstand leisteten die erste Kolonialmacht Portugal, die in
Angola, Mosambik und Guinea-Bissau jahrzehntelang Krieg führte und sie erste Mitte der 70er
aufgab, und die Apartheidsregime in Rhodesien, dem heutigen Zimbabwe, das 1980 selbständig
wurde, und in Namibia, das erst 1990 von Südafrika in die Unabhängigkeit entlassen wurde.
Auch den Zusammenbruch der Sowjetunion kann man mit einigem Recht als Dekolonisation
sehen, aus der im Kaukasus und in Zentralasien eine große Zahl neuer Staaten hervorging.
An die Unabhängigkeit knüpften sich große Hoffnungen, und politische Führer wie Nehru in
Indien, Nyerere in Tansania oder Nkrumah in Ghana wurden weithin bewunderte Leitfiguren.
Viele der neuen Nationen fanden sich in der politischen Bewegung der Blockfreien zusammen.
Bürgerkriege folgten aber vielfach auf dem Fuß, Indien etwa zerfiel über den religiösen
Gegensatz zwischen Hindus und Muslimen sogleich in zwei Staaten, und Ostpakistan machte
sich dann als Bangladesh noch einmal von Westpakistan unabhängig, in beiden Fällen von
opferreichen Kriegen begleitet. Viele der neuen Nationalstaaten waren politisch instabil, und oft
führte dies zur Errichtung von Militärdiktaturen. Stellvertreterkriege zwischen von den USA und
der Sowjetunion ausgerüsteten und finanzierten Staaten waren zudem an der Tagesordnung, mit
dem Vietnamkrieg 1965-75 als bekanntestem Fall. Die Nachwehen dieser Konflikte reichen bis
in die Gegenwart. Und auch heute kann natürlich keine Rede davon sein, daß sich die
ehemaligen Mutterländer und Kolonien als Gleiche begegnen, denn das Macht- und
Reichtumsgefälle besteht weiterhin. In welchen Formen es dies tut und wie sich dies kulturell
auswirkt, wird uns noch beschäftigen.
Es sind auch nicht alle Kolonien unabhängig geworden. Gerade wenn es sich um Inseln
handelt, wäre ein Überleben ohne die Zuschüsse des Mutterlandes oft nicht möglich, und so gibt
es zum Beispiel auf Guadeloupe, Martinique oder in Französisch-Guayana keine nennenswerten
Unabhängigkeitsbestrebungen. Doch ist es andernorts nicht so, und so können nach der bislang
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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letzten Dekolonisation 2002, als die ehemalig portugiesische, später indonesisch besetzte
Kolonie Osttimor nach blutigen Kämpfen unabhängig wurde, noch weitere neue Staaten
hinzukommen.
Ethnologische Forschung zum Kolonialismus
Die koloniale Erblast ist auch für ganz und gar der Gegenwart zugewandte Ethnologen ein
relevanter Faktor, denn sie prägt die Interaktion der Abkömmlinge von Kolonialherren und
Kolonisierten bis heute. Mehrfach haben mir z. B. in Afrika tätige Kollegen erzählt, wie spürbar
anders der Umgang mit den Einheimischen in Äthiopien ist, das im Gegensatz zu den anderen
afrikanischen Ländern nie wirklich kolonisiert war. Daneben gibt es allerdings auch ein breites
ethnohistorisches Forschungsfeld, das sich mit dem Kolonialismus auseinandersetzt, und ich
möchte ihnen hier zwei Beispiele vorstellen.
Die süße Macht: Zucker und die koloniale Weltwirtschaft
Eine der bekanntesten Analysen des kolonialen Systems kommt von Sidney Mintz, heute
emeritierter Professor der Johns Hopkins University in Baltimore. ▶▸In seinem Buch Sweetness
and Power, zu deutsch Die süße Macht, erzählt und analysiert er die Geschichte eines uns heute
recht banal vorkommenden Nahrungs- und Genußmittels, nämlich des Zuckers (Mintz 1985,
1987 [1985]). Große Teile der Studie sind deskriptiv angelegt, man erfährt viele Details etwa zur
Herkunft und frühen Geschichte des Zuckergebrauchs, etwa an den europäischen Fürstenhöfen,
oder auch zu gegenwärtigen Konzernstrategien, den Zucker als gesundes Nahrungsmittel
darzustellen. Aber der Kern des Buchs ist eine These zur Verbindung von Kolonialismus und
Kapitalismus, die durch den Zucker geschaffen wurde.
Mintz beginnt mit Eindrücken von seiner ersten Feldforschung 1948 in Puerto Rico, in einer
Gegend, die vom Zuckerrohranbau beherrscht war. Zur Erntezeit verwandelte sich die
Landschaft in einen Dschungel, denn Zuckerrohr wird bis zu fünf Meter hoch und überragt dann
alle Wege und Straßen. Doch obwohl Mintz – selbst auf dem Land großgeworden – sich auf dem
Lande befand, stellte er überrascht fest, daß seine Informanten keine Bauern waren. So gut wie
nichts von dem, was sie im Alltag benötigten, bauten sie selbst an oder stellten sie selbst her,
vielmehr kauften sie fast alles, da sie eben selbst kein Land hatten, sondern in den
Zuckerrohrplantagen gegen Lohn arbeiteten. Auch wußten seine Informanten fast nichts darüber,
was mit dem Rohzucker, den ihre Arbeitgeber weiterverkauften, geschah und wer ihn
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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verwendete, und es interessierte sie auch nicht. Sie wußten jedoch alles über den Zuckermarkt,
von dessen Kapriolen sie abhängig waren. Mintz stellt sich die Frage, wie es zu solchen
Verhältnissen kommen konnte und warum der Zucker so enorm erfolgreich gewesen ist, daß die
Weltproduktion seit 500 Jahren von höchstens einmal einem Jahrzehnt Pause abgesehen stetig
gestiegen ist. Hierfür reicht eine lokale Perspektive nicht aus, erst recht nicht, wenn man
überlokale Verbindungen dabei ausblendet. Mintz beginnt, wie er sagt, mit dem
Alleralltäglichsten, was sich auf (fast) jedem Eßtisch befindet, und entwickelt von dort eine
Analyse, die die Jahrhunderte und die Kontinente überspannt.
Die Entwicklung der Zuckerproduktion
Mintz zufolge gibt es keine sicheren Hinweise darauf, daß bereits in der Antike Zucker
produziert worden ist, und auch noch um 1000 herum war er in Nordeuropa praktisch unbekannt.
Die Araber bauten um diese Zeit im Mittelmeerraum Zucker an, doch wurden diese
Produktionsstätten nach 1400 im Zuge der kolonialen Expansion von den atlantischen Inseln
verdrängt, also Madeira, den Azoren, den Kanaren, den Kapverdischen Inseln sowie São Tomé
und Principe, auf denen erst die Portugiesen, später auch andere Kolonialmächte ihre Plantagen
hatten. 1493 kam der Zucker auf Columbus’ zweiter Reise in die Neue Welt, und Santo
Domingo und die anderen Karibikinseln wurden wichtige Anbauorte. Schon im späten 16. Jh.
gerieten die spanischen Inseln jedoch ins Hintertreffen, und die Zuckerproduktion im
portugiesischen Brasilien und auf den britisch und französisch beherrschten Karibikinseln
übernahm die Führung. Zucker überrundete schon Ende des 17. Jhs. den Tabak als das
einträglichste Produkt der Neuen Welt. Für die größte, um 1660 auf Barbados und Jamaika in
das Zuckergeschäft eingestiegene Kolonialmacht Großbritannien brachte der Zucker fortan mehr
ein als alle anderen Kolonialwaren zusammen.
▶▸Der Zucker befeuerte den berühmt-berüchtigten transatlantischen Dreieckshandel: Die ihn
transportierenden Schiffe fuhren nicht zwischen zwei Orten hin und her, sondern steuerten drei
Stationen an. Von Europa ging es mit Fertigwaren aller Art an die afrikanische Küste, wo
Sklaven eingekauft wurden. Diese wurden sodann in die Karibik und die anderen
amerikanischen Zuckerkolonien verfrachtet, wo sie zur Arbeit auf den Plantagen gezwungen
wurden – unter welchen Bedingungen und mit wievielen Opfern, ist denke ich allgemein bekannt.
In der Karibik wurde dann Zucker geladen und nach Europa gefahren. Die Briten taten sich auf
diesem Gebiet besonders hervor und gestalteten ihren Zuckerhandel nach merkantilistischen
Prinzipien: Wo es nur ging, blieben Produktion, Weiterverarbeitung in Raffinerien, Handel und
Transport in nationaler Hand. Und obwohl anfangs auch in andere Länder verkauft wurde,
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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drängte sich der nationale Absatzmarkt immer mehr in den Vordergrund.
▶▸Die Zuckerplantagen waren eine „Synthese aus Feld und Fabrik”, wie Mintz es formuliert.
Da man annahm, daß Zuckerrohr genau zur Reife geschnitten und sogleich weiterverarbeitet
werden muß, arbeiteten manchmal Hunderte von Sklaven in feiner, genau abgestimmer
Arbeitsteilung. Oft liefen die Mühlen, die das Zuckerrohr auspreßten und den unraffinierten
Rohzuckersaft gewannen, Tag und Nacht. Zwar bildete anders als später in den europäischen
Fabriken die Sklaverei und nicht die freie Lohnarbeit die Grundlage. Auch ist zwischen dem
späten 17. und dem frühen 19. Jh. kaum technologischer Fortschritt erkennbar, so daß die
Ausweitung der Anbaufläche und der Anzahl der Arbeitskräfte die einzige Möglichkeit zur
Expansion bot. Doch sonst finden sich viele Züge dessen, was ab dem späten 18. Jh. auch in den
kapitalistischen Fabriken der Industriellen Revolution praktiziert wurde. Die beträchtlichen
Gewinne der britischen Zuckerpflanzer wurden zudem reinvestiert und lieferten damit Kapital
für die neuen Fabriken im Mutterland. Man kann den Zuckerplantagen und damit dem
Kolonialismus laut Mintz also eine vorbereitende Rolle für die Industrielle Revolution
zusprechen.
Die Entwicklung der Zuckerkonsumtion
Dies gilt auch noch in anderer Hinsicht, denn Mintz’ besonderes Verdienst ist es, nicht nur die
Bedingungen der kolonialen Ausbeutung zu beleuchten, sondern auch die Folgen, die die
Kolonialwaren im Mutterland zeitigten. Zucker war bis in die frühe Neuzeit ein Luxusgut, das
eher als Gewürz denn als Nahrungsmittel eingesetzt wurde und dem außerdem auch
medizinische Wirkungen zugeschrieben wurden. Zucker- und Marzipandekor und –figuren
waren zudem am Hofe und unter den Reichen beliebt. Die neue koloniale Verfügbarkeit des
Zuckers bewirkte aber nun zunächst in Großbritannien, später auch in anderen Industrieländern,
daß das Luxusgut zu einem Massenartikel wurde, und auch dies hatte direkte Folgen für die
industrielle Entwicklung.
Zucker als Süßstoff rückte in den Vordergrund, als sich nach 1650 Tee, Kaffee und Kakao in
England ausbreiteten, alles bitter schmeckende Stimulantien, zu denen der Zucker paßte. Vor
allem Tee setzte sich durch, Mintz zufolge auch deshalb, weil er sparsamer verwendet werden
kann, denn einige wenige Blätter oder ein zweiter Aufguß mit reichlich Zucker schmecken
besser als ein zu dünner Kaffee oder Kakao. Nebenbei entalkoholisierte er das Leben, denn die
Verwendung von selbstgebrautem Bier trat vergleichsweise in den Hintergrund. Um 1750 war
Zucker bereits so verbreitet, daß auch die Ärmsten ihn zur Süßung ihres Tees benutzten, und von
1700 bis 1800 stieg der durchschnittliche Jahresverbrauch von 2 auf 9 Kilogramm. (Wir liegen
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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heute bei knapp 40.)
Noch eine neue Qualität bekam der Zuckerkonsum im 19. Jh. Nun wurde nicht nur die
Sklaverei, sondern zwischen etwa 1850 und 1870 auch der Handelsprotektionismus aufgegeben,
was zwar die älteren britischen Zuckerkolonien unter Druck setzte, aber die Preise weiter fallen
ließ. Zusätzlich gelang nun auch die Herstellung von Zucker aus Zuckerrüben. Damit wurde
Zucker endgültig zur Massenware, die Weltproduktion verfünffachte sich von 1800 bis 1860 und
verzehnfachte sich dann noch einmal bis 1918, von 245000 bis auf über 16 Millionen Tonnen.
Zucker breitete sich nun auch in der Ernährung aus. Vor allem trat hier im hier Zeitalter vor der
allgemeinen Verbreitung des Kühlschranks sein konservierender Effekt in den Vordergrund.
Marmelade auf Weißbrot mit gesüßtem Tee wurde die zumindest teilweise warme, gut zu
lagernde und leicht zu bereitende Standardmahlzeit der ärmeren Schichten. Gerade die Frauen
und Kinder mußten oft fast ganz damit auskommen, wenn das wenige Fleisch, das man sich
leisten konnte, für den Arbeiter und Ernährer reserviert war. Zucker trug also, so Mintz, ganz
wesentlich zur billigen Ernährung der Arbeiter und zu den so möglichen geringen Lohnkosten
bei, die die britische Industrielle Revolution trugen.
Mintz liefert so eine mustergültige Globalisierungsstudie. Der Bezug auf die kleine, in
intensiver Feldforschung beobachtete Gemeinschaft bildet zwar den Ausgangspunkt, aber es
gelingt ihm, die größeren, ja sogar weltumspannenden Zusammenhänge zu beleuchten. Zudem
erhellt er nicht nur die sozialen Folgen dieser Zusammenhänge in der Peripherie, sondern auch
die im Zentrum der Weltwirtschaft, und zeigt auf, wie beide ein System bildeten, in dem der
Zucker für beide Seiten tiefgreifende Veränderungen mit sich brachte.
Gender und Dominanz in der Kolonialgesellschaft
Neben solchen Analysen kolonialwirtschaftlicher Zusammenhänge haben Ethnologen aber auch
dazu beigetragen, die Mikropolitik der einzelnen Kolonialgesellschaften zu verstehen. ▶▸Hier
möchte ich beispielhaft einen Artikel der amerikanischen Ethnohistorikerin Ann Stoler von der
Columbia University vorstellen (Stoler 1989).
Stoler bemerkt hier eine gewachsene Aufmerksamkeit für die Produktion von Dominanz im
kolonialen Alltag und nimmt es sich selbst vor, die Rolle von Geschlechterbeziehungen, Ehe und
Familie in diesem Zusammenhang beleuchten. Diese haben die Kolonialisten sehr beschäftigt:
„Probably no subject is discussed more than sex in colonial literature and no subject more
frequently invoked to foster the racist stereotypes of European society” (1989: 635). Stoler geht
dem mit Bezug auf die. Mit hauptsächlichem Bezug auf die französischen und niederländischen
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Kolonialgesellschaften in Südostasien verarbeitet Stoler einerseits die Forschungsergebnisse
anderer Historiker und Ethnohistoriker und andererseits die koloniale Literatur der damaligen
Zeit, etwa Handbücher für koloniale Ehefrauen.
Sexualbeziehungen waren, stellt Stoler fest, in keinem Kolonialsystem ein Refugium des
Privaten, sondern ein Bereich der intensiven Debatte und der politischen Regelung. In
Südostasien fiel diese so aus, daß in den ersten beiden Jahrhunderten die Ansiedlung
europäischer Frauen in den Kolonien bewußt verhindert wurde. Die Tropen galten als
gesundheitlich heikel und politisch unsicher und somit als Männersache. Stattdessen bildete für
die Angestellten der Vereenigde Oostindische Compagnie (VOC) und auch für die französischen
Kolonialisten das Zusammenwohnen mit einer einheimischen Geliebten die Norm und wurde so
z. B. auch in der Ratgeberliteratur propagiert wurde. Dies sollte emotionale Stabilität garantieren
und die vom Kontakt mit Prostituierten ausgehenden gesundheitlichen und moralischen
Gefahren verhindern. Gleichzeitig senkten solche Konkubinate die erforderlichen Lohnkosten,
da die standesgemäße Unterhaltung einer europäischen Ehefrau weit teurer gekommen wäre. Die
einschlägigen Arbeitsverträge verboten entsprechend die Eheschließung entweder für die ersten
Jahre oder sogar für den gesamten Kolonialdienst, und europäische Ehefrauen waren das Privileg
der Offiziersschicht. Die koloniale Dominanzbeziehung wurde somit im privaten Raum als
patriarchalische Dominanzbeziehung zwischen weißem Mann und einheimischer Frau
reproduziert.
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jhs. wandelte sich dies jedoch. Es wurden nun moralische
Bedenken gegen die Konkubinate vorgebracht, und stattdessen galten nun die Ansiedlung
europäischer Frauen in den Kolonien und die Eheschließung und Familiengründung als
wünschenswert und setzten sich in den Zwischdenkriegsjahren allgemein durch. Auch wurden
Bordelle jetzt oft stillschweigend toleriert. Stoler zufolge ist dies nicht mit der verbesserten
Sicherheitslage und medizinischen Versorgung zu erklären, denn dies hatte schon länger
gegolten. Vielmehr wurde nun, in der Spätphase des wirtschaftlich und politisch immer mehr
unter Druck geratenden Kolonialismus, die Aufrechterhaltung der Grenzen zwischen
Kolonialisten und Kolonisierten und die Sicherung des weißen Prestiges immer zentraler.
Diesem Ziel dienten auch andere Maßnahmen: So wurden die Kolonialbeamten bereits mit 55
pensioniert und zur Rückkehr ins Mutterland verpflichtet, um den Einheimischen keine
gebrechlichen Weißen zu präsentieren, und auch die Anwesenheit verarmter Europäer in den
Kolonien wurde mit Argwohn betrachtet oder gleich ganz verhindert. Mir fiel hier der bekannte
autobiographische Roman L'amant (zu deutsch Der Liebhaber) von Marguerite Duras ein, in
dem genau diese Themen – arme Weiße und die Brisanz der Grenzüberschreitung zwischen
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Kolonialisten und Kolonisierten – eine große Rolle spielen.
Das
geistige
Rüstzeug
für
die
verstärkte
koloniale
Grenzziehung
in
den
Geschlechterbeziehungen lieferten die sich in diesen Jahren ausbreitenden rassenkundlichen
Ideen. Aus diesem Blickwinkel waren besonders die aus den Konkubinaten hervorgehenden
Mischlingskinder verdächtig, nicht nur der möglichen rassischen Degeneration, sondern auch der
mangelnden Loyalität zu den Kolonialisten. Ehen zwischen Europäern schlossen diese
Verwischung der Grenzen aus. Bedroht blieb die Grenze aber auch so, denn in der
Kolonialliteratur ist keine andere Sorge so beherrschend wie die vor sexuellen Übergriffen
einheimischer Männer auf Kolonialistenfrauen, so selten diese tatsächlich vorkamen. Und die
Ratgeberliteratur weist gerade den Ehefrauen die Aufgabe zu, die Grenzen zu wahren und nicht
durch unbedachtes Verhalten solche Übergriffe zu ermutigen. Stattdessen waren sie gehalten,
ihren Ehemännern ein sorgenfreies und von europäischer Lebensart erfülltes Heim zu bereiten,
um sie so gegen die einheimischen Versuchungen zu feien, und auch in der Erziehung der
Kinder auf klare Grenzen zu den Einheimischen zu achten. Die vorher so wünschenswerten
Konkubinate der Kolonialherren mit einheimischen Frauen wurden dagegen nun als Quelle
gesundheitlicher und moralischer Übel verdammt.
▶▸Stoler betont, daß Sexualmoral und Rassismus eigenständige Kräfte im kolonialen Gefüge
waren, zwar mit der wirtschaftlichen und politischen Lage in Wechselwirkung stehend, aber
nicht auf sie zu reduzieren. Der vermeintlich private Bereich von Sexualität, Ehe und Familie
war im kolonialen System überaus politisch, von Herrschaftsmechanismen zwar geprägt, aber
seinerseits – neben den eindeutigeren Machtmitteln wie Gewehre – auch für die Durchsetzung
weißer Dominanz wichtig. Insofern liefert ethnohistorische Forschung wie Stolers einen
unverzichtbaren Beitrag zur Klärung der Frage, warum die koloniale Unterjochung der Welt über
Jahrhunderte fortbestehen konnte.
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Teil III: Die Kontroverse um die
wirtschaftliche Globalisierung
Einleitung
Im Anschluß an den Überblick über die Kolonialgeschichte möchte ich Ihnen heute die
gegenwärtige politische Debatte über die Globalisierung und die wichtigsten dabei
thematisierten Inhalte vorstellen. Im Gegensatz zu der meiner Vorlesung zugrundeliegenden und
in der Ethnologie verbreiteten Haltung, die globalen Verflechtungen in allen Lebensbereichen zu
betrachten, konzentriert sich diese politische Debatte meist auf das globale Wirtschaftssystem.
Dies ist bemerkenswert, denn genauso gut könnte es ja auch um die Weltpolitik gehen. Doch
deren schon lange anhaltende Globalisierung – weltumspannende Kolonialreiche, zwei
Weltkriege, die beiden Weltmächte des Kalten Krieges mit ihren global verteilten
Einmischungsgebieten – ist für uns gewohnter als die tiefgreifenden Transformationen der
Weltwirtschaft seit den 1970er Jahren. Die Ironie an der politischen Debatte über dieses Thema
liegt darin, daß sie die Abwesenheit der Politik thematisiert: Die Befürworter des freien
Welthandels freuen sich über seine von staatlicher Lenkung ungestörte Dynamik, die Kritiker
beklagen, daß die jüngeren Transformationen politisch zu wenig und wenn, dann auf
bedenkliche Weise – nur von wenigen reichen Staaten, nur in undurchsichtigen Gremien –
kontrolliert sind. Als problematisch gilt hier also ein Primat der Wirtschaft über die Politik bzw.
über eine demokratisch legitimierte Politik.
Im folgenden gehe ich zunächst anhand einer kurzen historischen Rückschau der Frage nach,
ob die jüngere Globalisierung der Wirtschaft tatsächlich so revolutionär ist, wie oft behauptet
wird. Danach werde ich die neuere Entwicklung, die daran zentral beteiligten Institutionen und
die Standpunkte der Globalisierungskritiker eingehender betrachten. Mit alledem möchte ich
einen für Ethnologen wichtigen Hintergrund zumindest im Überblick beschreiben, denn die
Globalisierung der Weltwirtschaft hat gerade auf viele der außereuropäischen Länder, auf die
sich die ethnologische Forschung traditionsgemäß ja konzentriert, tiefgreifende und auch viele
nicht-wirtschaftliche Lebensbereiche entscheidend beeinflussende Auswirkungen.
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Globalisierung der Wirtschaft: Ein alter Hut?
Die Historiker Osterhammel und Petersson beschäftigen sich in einem kurzen Buch mit der
Geschichte der Globalisierung (Osterhammel und Petersson 2003) und der Frage, wie alt die
heutigen weltweiten Verflechtungen sind. Ihnen zufolge gab es vor der Kolonialzeit in der
Menschheitsgeschichte zwar immer wieder Globalisierungsanläufe, doch folgten auf diese
regelmäßig Phasen der Deglobalisierung. Noch Anfang des 18. Jhs. konnte man kaum von
Globalisierung im heutigen Sinne sprechen. Das Gewicht des Fernhandel gegenüber der lokalen
und regionalen Produktion war noch gering. Außer den Niederlanden gab es keine Gesellschaft,
die vorrangig dem Fernhandel ihren Reichtum verdankte, und außer den zuckerproduzierenden
Sklavenhaltergesellschaften in Amerikas gab es nirgendwo überwiegende Exportproduktion.
Wirtschaftlich nicht vernetzt zu sein bedeutete damals noch kein gravierendes Problem.
Um 1750 waren jedoch die europäischen Handels- und Kriegsmarinen auf allen Meeren
dominant, und es wurden nun bis etwa 1880 ungekannte weltwirtschaftliche Verflechtungen
aufgebaut, die eine irreversible Vernetzung schufen. Mit der Baumwolle wurde ein überseeischer
Rohstoff zur Grundlage der frühen Industriellen Revolution, und einmal in Fahrt gekommen,
beförderten ihre Produkte – Eisenbahnen, Dampfschiffe, schwere Waffen – die weitere globale
Verflechtung. 1846 schaffte Großbritannien seine Importzölle ab und gestattete auch in seinen
Kolonien den Angehörigen anderer Staaten den freien Handel. Diese Vorbild machte Schule,
und ab den 1870er Jahren standen alle wichtigen Währungen in einem festen Verhältnis zum
Gold,
was
weltumspannende
Handelsgeschäfte
und
Investitionen
ohne
Kurs-
und
Inflationsrisiken ermöglichte und multinational tätigen Unternehmen ihre Arbeit erleichterte. Ab
etwa 1880 wird es alltäglich, von einer „Weltwirtschaft” zu sprechen, und in manchen Bereichen
ist die globale Verflechtung zur Zeit des Ersten Weltkriegs bis heute nicht wieder erreicht
worden. In diese Zeit fallen auch die ersten weltweit spürbaren Konjunkturbewegungen und –
krisen. Begleitet wurde dieses Goldene Zeitalter des Freihandels technisch-organisatorischen
Verflechtungen und Standardisierungen in anderen Bereich, wie z. B. der Einführung der
Weltzeit
1884,
der
bereits
angesprochenen
Ausbreitung
der
Telegrafenkabel,
der
Vereinheitlichung des Postwesens, dem Versuch, Esperanto zur Weltsprache aufzubauen u. ä. Es
gab damals auch schon etwa 200 INGOs (internationale Nichtregierungsorganisationen) wie
etwa das Internationale Rote Kreuz, und auch politische Bewegungen wie der Suffragismus oder
die Arbeiterbewegung breiteten sich international aus. Damit war laut Osterhammel und
Petersson all das, was die gegenwärtige Globalisierung kennzeichnet, rudimentär schon
vorhanden.
Ab etwa 1880 und verstärkt durch die beiden Weltkriege folgte darauf eine Phase, die sich
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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nicht unbedingt als Deglobalisierung einschätzen, sondern eher als Versuch starker
Nationalstaaten, die Globalisierung nach ihren Bedingungen zu formen. Der Goldstandard der
Währung zerbrach am Ersten Weltkrieg, und in der Weltwirtschaftskrise ab 1929 brach der
Welthandel um zwei Drittel ein. Statt eines „Weltbewußtseins” bekämpften sich – die jede für
sich durchaus weltweit verbreiteten – Ideologien des Liberalismus, des Kommunismus und des
Faschismus. Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen reduzierten diese ideologische Konkurrenz
auf die der beiden Blöcke des Kalten Krieges und ihrer Weltordnungen. Im Lager der westlichen
Industrieländer kam es zu einer neuen Blüte des Freihandels und zu kräftigem wirtschaftlichem
Wachstum, doch blieben die sozialistischen Staaten davon abgeschottet. Auch viele
außereuropäische Länder schützten sich mit Einfuhrbeschränkungen und der sogenannten
Importsubstitution, bei der versucht wird, Weltmarktprodukte durch solche aus eigener
Produktion zu ersetzen, vor der globalen Konkurrenz, und aufgrund der Rivalität der
Supermächte wurde ihnen dies damals auch noch zugestanden. Japan und später den
„Tigerstaaten” Südkorea, Taiwan, Singapur, Hongkong gelang damit der wirtschaftliche
Aufstieg, anderen Staaten jedoch nicht, und weiterhin war es z. B. der Volksrepublik China
möglich, sich so gut wie völlig aus der Weltwirtschaft und übrigens auch der
Weltkommunikation (über das opferreichste Erdbeben der Moderne – das Tangshan-Erdbeben
1976 – wurde damals z. B. im Westen fast nichts bekannt) auszuschalten. Voll in die
Weltwirtschaft eingebunden wurden zunächst nur die Ölstaaten, und auch in den westlichen
Industrieländern regierte damals noch die – nach John Maynard Keynes benannte –
keynesianische Wirtschaftslehre, nach der volkswirtschaftliche Gesundheit einen stark
steuernden und lenkenden Staat erforderte. Die sozialdemokratischen Wohlfahrtsmodelle blühten,
und Protektionismus war weit üblicher als heute und (was Osterhammel und Petersson nicht
erwähnen) etwa für die Beziehungen zwischen den USA und Japan eine beträchtliche Belastung.
Auch
andere
Ingredienzen
der
wirtschaftlichen
Globalisierung
wie
etwa
der
Massenferntourismus, die Massenmigration und die Konsum- und Markenorientierung begannen
erst in den 1960er Jahren ihre Blütezeit. Für die frühen 1970er Jahre ist damit – trotz aller
politischen Veränderungen und trotz der erfolgten Dekolonisation – noch kein fundamentaler
Unterschied zur Situation vor dem Ersten Weltkrieg festzustellen, und was gewöhnlich als
Globalisierung der Weltwirtschaft diskutiert wird, geschah größtenteils danach.
Die neoliberale Globalisierung seit den 1970er Jahren
In den 1970er Jahren erfolgten dann aber zwei wichtige Entwicklungen. Die eine betraf den US-
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42
Dollar, der in der westlichen Nachkriegsordnung als globale Leitwährung fungiert hatte, einmal
aufgrund der überragenden Wirtschaftskraft der USA und zum anderen, weil sein Wert durch die
Goldreserven in Fort Knox abgesichert war. Die wichtigsten anderen Währungen waren durch
feste Wechselkurse aneinander gekoppelt; ein Dollar kostete damals z. B. vier Mark, und für das
britische Pfund mußte man zwölf Mark hinlegen. Durch Spekulationsgeschäfte und durch die ab
Mitte der 1960er Jahre expansive und inflationäre US-Ausgabenpolitik, die aufwendige
Sozialprogramme und den Vietnamkrieg zu finanzieren hatte, geriet der Dollar jedoch unter
Abwertungsdruck. 1971 gab Präsident Nixon zunächst die Goldbindung – also die Garantie, von
der Federal Reserve jederzeit den Gegenwert eines Dollars in Gold erhalten zu können – auf, und
1973 wurden die vorher zwischen den Regierungen vereinbarten Wechselkurse der wichtigsten
Währungen freigegeben. In den 1980er Jahren entwickelten sich frei gehandelte Währungen zur
globalen Norm, und der Umfang der Devisentransaktionen wuchs rasant an (hierzu und zum
folgenden siehe Autor/innen/kollektiv Telematik 2003, Müller 2002).
Die zweite wichtige Entwicklung wurde durch die beiden Ölkrisen 1973 und 1979, die nicht
zu stoppende Inflation und den Beginn der Massenarbeitslosigkeit in den Industrieländern
angestoßen. All dies zeigte die Grenzen staatlicher Konjunktursteuerung und Wohlfahrtspolitik
auf, und in der Folge setzten sich die neoliberalen Überzeugungen des Chicagoer
Wirtschaftsprofessors und Nobelpreisträgers Milton Friedman und seiner Anhänger gegenüber
dem
Keynesianismus
durch.
Der
Staat
sollte
sich
ihrer
Ansicht
nach
auf
eine
inflationsvermeidende Geldpolitik beschränken und sowohl seine eigene Einnahmen – d. h. die
Steuern – als auch seine Ausgaben reduzieren. Die Wahlsiege von Margaret Thatcher in
Großbritannien 1979 und von Ronald Reagan in den USA 1981 halfen, diese Überzeugungen
politisch durchzusetzen, und die internationalen Finanzinstitutionen (dazu gleich mehr) spielten
für ihre weltweite Verbreitung eine wichtige Rolle.
Vor allem in vier Bereichen machte sich der Siegeszug der neoliberalen Globalisierung
bemerkbar. Erstens expandierte der Welthandel. Von 1975 bis 2000 wuchs die weltweite
Produktion inflationsbereinigt um jährlich 6 Prozent, der Welthandel jedoch um jährlich 13
Prozent (Autor/innen/kollektiv Telematik 2003). Besonders stark betraf dies den Handel mit
Dienstleistungen und darunter wiederum wissensintensive Dienstleistungen. Begünstigt wurde
dies durch erhebliche Kostensenkungen des Waren- und Informationsverkehrs. Die Schiffs- und
Nagivationstechnik wurde noch einmal erheblich verbessert, die Durchsetzung der
Transportcontainer hatte geradezu revolutionäre Folgen für die Transportkosten und -zeiten, und
die Deregulierung der Telefonie und die Ausbreitung des Internets beschleunigte und verbilligte
die Kommunikation.
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Zweitens wuchs die Bedeutung multinationaler Konzerne. Die grenzüberschreitenden
Direktinvestionen haben sich zwischen 1982 und 2000 verdreißigfacht, zehnmal schneller als
selbst der Welthandel (Autor/innen/kollektiv Telematik 2003), wozu die Marktöffnung vieler
Länder – darunter auch der postsozialistischen Staaten – erheblich beitrug. Früher entstanden
multinationale Konzerne meist durch die Gründung von Auslandsfilialen, die im wesentlichen
verkleinerte Kopien der Zentrale waren, und dienten hauptsächlich dazu, die damals noch
höheren Transportkosten zu verringern und Einfuhrzölle zu umgehen. Der überwiegende Teil der
Direktinvestitionen von einem Staat in einen anderen fließt jedoch heute nicht in Neugründungen
auf der grünen Wiese, sondern in grenzüberschreitende Unternehmensaufkäufe und Fusionen.
Wo bei den entstehenden Konglomeraten eigentlich die Zentrale und wo die Filiale liegt, ist oft
kaum mehr zu sagen, und die Produktionsschritte werden ganz nach den lokalen Bedingungen
(Löhne, Fachqualifikationen, Arbeitsrecht etc.) auf die weltweiten Standorte verteilt. Gleiches
gilt auch für die Gewinne, die sich der Besteuerung entsprechend verschieben lassen, etwa indem
eine Konzerntochter in einem Land mit niedrigen Steuern einer anderen Tochter in einem Land
mit hohen Steuern Produktionskomponenten, Dienstleitungen oder Software zu überteuerten
Preisen verkauft. Diese Entwicklung ist besonders in Bereichen mit globalen Märkten (Autos,
Pharmazeutika), in vormals staatlich geregelten, nun aber privatisierten Branchen (Energie,
Telekommunikation) und bei Finanzdienstleistungen (Banken, Versicherungen) zu beobachten.
Hierzulande vertraute Beispiele sind DaimlerChrysler, die weltweiten Einkaufstouren von
Telekom und Bertelsmann, das Vordringen des schwedischen Energieunternehmens Vattenfall
nach Deutschland oder die Übernahmeschlacht zwischen Mannesmann und Vodafone. An die
Beteiligung japanischer Unternehmen an diesen Firmenhochzeiten sind wir schon länger
gewöhnt, doch mittlerweile treten hier auch chinesische und indische Konzerne – wie die
Stahlfirma Mittal, die den europäischen Hauptkonkurrenten Arcelor geschluckt hat, oder der
Autohersteller Tata, an den Ford die Firmen Jaguar und Land Rover verkauft hat – auf den Plan.
Nicht weniger als 60 Prozent des Welthandels, schätzt die OECD (Organisation for Economic
Co-operation and Development; Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung), erfolgen heute innerhalb solcher multinationaler Konzerne (Liebert 2008).
Drittens und in der Globalisierungsdiskussion besonders beachtet sind der Umfang und die
Verflechtungen der weltweiten Finanzmärkte stark angestiegen. Mittlerweile ist es zu jeder
Tages- und Nachtzeit möglich, irgendwo auf der Welt Devisen und Wertpapiere zu handeln. Der
Umsatz der Devisenmärkte hat sich von 1975 bis 2000 verdreißigfacht. Nur drei Prozent dieses
Umsatzes entfällt auf Handel und Direktinvestitionen (Autor/innen/kollektiv Telematik 2003).
Ein Teil der restlichen Transaktionen dient der Absicherung: Wenn z. B. ein Unternehmen für
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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ein jetzt in den USA bestelltes, aber erst in einem halben Jahr geliefertes und dann auch zu
bezahlendes Importprodukt den augenblicklichen Dollarkurs garantieren möchte, kann es bei den
Banken entsprechende Optionsscheine erwerben. Die große Mehrheit der Transaktionen sind
jedoch spekulativer Art, d. h. sie bauen darauf, daß die erworbene Währung zukünftig im Wert
steigt, oder betreffen gleich die Optionen statt das reale Geld. Im gleichen Zeitraum ist auch der
Handel mit Aktien um ein Mehrfaches schneller gewachsen als der Kapitalwert der Aktien
(Autor/innen/kollektiv Telematik 2003). Banken und andere Finanzunternehmen verdienen so
immer weniger mit ihrer ursprünglichen Aufgabe der Kreditvergabe und immer mehr mit
Gebühren und Beratung für Devisen- und Wertpapiertransaktionen, und daher liegt diese
Expansion ganz in ihrem Interesse. Obwohl die institutionellen Anleger – Versicherungen,
Investment- und Pensionsfonds – an Gewicht gewonnen haben, sind die dabei zu beobachtenden
Anlagestrategien kurzfristiger, spekulativer (auch durch die Einführung von Derivaten wie
Optionen und Futures) und anonymer geworden, und auch vormals konservative Anleger wie
etwa die semiöffentlichen deutschen Landesbanken haben in amerikanische Hypothekenfonds
investiert und sind durch das Platzen der amerikanischen Immobilienblase in entsprechende
Schwierigkeiten geraten. Kritiker beklagen hier „Kasino-Kapitalismus”, und tatsächlich gab es in
den basalen Wirtschaftsdaten der südostasiatischen Länder wenig, was auf die Asienkrise 1997
und das Absacken ihrer Währungen vorbereitet hätte. Die Finanzwirtschaft ist gegenüber nicht
recht erklärbaren, sich aber trotzdem auf sehr dynamische Weise selbst verstärkenden
Schwankungen anfälliger geworden.
Ein vierter Bereich, der sowohl als globalisierend als auch als deglobalisierend verstanden
werden kann, sind die regionale Freihandels- und Wirtschaftsräume. Am weitesten
fortgeschritten ist hier die EU, die nicht nur eine Währung, eine Zentralbank und eine
gemeinsame Wirtschaftspolitik teilt, sondern auch in vielen anderen außen- und innenpolitischen
Bereichen Standardisierungen und Liberalisierungen vorgenommen hat. Noch weitgehend auf
den Wegfall interner Zollschranken und Investitionshemmnisse konzentriert sind andere
Bündnisse wie das die USA, Kanada und Mexiko umfassende NAFTA (North American Free
Trade Agreement; Nordamerikanisches Freihandelsabkommen), MERCOSUR (Mercado Común
del Sur, Gemeinsamer Markt des Südens) mit den Mitgliedern Argentinien, Uruguay, Paraguay,
und Brasilien, dem in der Aufnahme befindlichen Venezuela und weiteren assoziierten
lateinamerikanischen Staaten sowie ASEAN (Association of Southeast Asian Nations, Verband
Südostasiatischer Nationen) mit zehn südostasiatischen Mitgliedern. 2000 wurde ein Drittel des
Welthandels innerhalb dieser vier Freihandelszonen abgewickelt (Autor/innen/kollektiv
Telematik
2003).
Intern
bewirken
diese
Wirtschaftsräume
natürlich
zunehmende
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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grenzüberschreitende Verflechtungen, doch sind sie nach außen hin oft mit protektionistischen
Maßnahmen geschützt und auch in anderer Hinsicht – wie z. B. der Immigration – sehr auf den
Erhalt ihrer Grenzen bedacht.
Die globalen Finanz- und Handelsinstitutionen
Doch sind nicht nur indische Stahlkonzerne oder amerikanische Pensionsfonds die big players
der Globalisierung. Fast noch mehr konzentriert sich die Kritik auf die internationalen
Finanzinstitutionen oder IFIs, die auch als Bretton-Woods-Institutionen bekannt sind (siehe
hierzu Hütz-Adams 2004, Leggewie 2003: 102-109, Miller 1997: 35-57, Müller 2002: 86-129
und die Internet-Seiten der IFIs). In Bretton Woods, einem kleinen, mittlerweile eingemeindeten
Ort in New Hampshire, fand nämlich 1944 die Konferenz der Kriegsallierten statt, auf der
angesichts der sich abzeichnenden Kriegsniederlage der Achsenmächte diese Institutionen
geplant wurden. Zum Teil waren sie eine Lehre aus dem Ersten Weltkrieg und den sich
anschließenden protektionistischen Alleingängen mancher Staaten, die zur Weltwirtschaftskrise
1929 und damit indirekt auch zum Zweiten Weltkrieg beigetragen hatten. Die neuen
Institutionen sollten auf der Grundlage von stabilen Wechselkursen den freien Kapital- und
Warenfluß sichern und so zum Selbstbestimmungsrecht der Völker und zu einem kollektiven
Sicherheitssystem beitragen. Dies stand durchaus auch im Einklang mit den wirtschaftlichen
Zielen der sich gerade zur Weltmacht aufschwingenden USA, doch war an ein multilaterales
System gedacht, nicht an bilaterale, durch den stärkeren Partner diktierte Handelsbeziehungen
wie innerhalb der Kolonialreiche oder später zwischen der Sowjetunion und ihren sozialistischen
Verbündeten.
Aus dieser Konferenz gingen drei Institutionen hervor, die alle Sonderorganisationen der
1945 gegründeten UN sind, nämlich der Internationale Währungsfonds (IWF, International
Monetary Fund [IMF]), die Weltbank (World Bank) und GATT (General Agreement on Tariffs
and Trade, Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen). Der IWF und die Weltbank, beide mit
Sitz in Washington, haben dieselben 185 Mitglieder und verfügen über Einlagen der
Mitgliedsstaaten von 600 Milliarden Dollar. Die WTO (World Trade Organization,
Welthandelsorganisation) mit Sitz in Genf, die 1995 die Nachfolge von GATT antrat, hat 151
Mitgliedsstaaten, und ihre Regelungen betreffen heute nicht mehr nur wie in den GATTAnfangsjahren 20, sondern über 90 Prozent des Welthandels. Was genau tun diese
Organisationen?
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Internationaler Währungsfonds
Der Internationale Währungsfonds wurde als gemeinsamer Fonds zur Stabilisierung der
Wechselkurse und zur Verhinderung der Abwertungswettläufe der Vorkriegszeit ins Leben
gerufen. Wechselkursänderungen waren fortan nur noch mit seiner Zustimmung möglich, und
geriet eine der Währung durch massive Verkäufe unter Druck, wurde dem mit stabilisierenden
Aufkäufen aus dem gemeinsamen Fonds oder – bei längerfristigen Problemen – mit der Vergabe
von mit bestimmten Auflagen verbundenen Krediten begegnet. Noch bis in die 1970er nutzten
gerade die westlichen Industrieländer diese Ressource. 1973 scheiterte das System der fixierten
Wechselkurse jedoch endgültig, und der IWF hatte seinen ursprünglichen Daseinszweck damit
verfehlt.
In der Folge erfand sich der IWF neu, nunmehr als Kreditgeber für die oft schon hoch
verschuldeten armen Länder und insofern zunehmend bereits mit den Folgen von Liberalisierung
und Globalisierung befaßt. In den 1970er Jahren entwickelte sich nämlich die viele Länder des
Südens betreffende Schuldenkrise. Das Geld der arabischen Ölstaaten ließ europäische und
amerikanischen Banken nach neuen Anlagemöglichkeiten suchen, und viele außereuropäische
Staaten bedienten sich begeistert bei den angebotenen günstigen Krediten. Bald jedoch stiegen
die vom US-Finanzmarkt diktierten Zinsen, die für die Exporterlöse der Länder des Südens
wichtigen
Rohstoffpreise
sanken,
und
die
Wechselkurse
erfuhren
unvorhersehbare
Schwankungen. 1982 erklärte sich Mexiko für unfähig, seine Zinsen zu zahlen, und auch andere
vor allem lateinamerikanische Länder häuften gewaltige Schuldenberge auf. Damit begann ein
bis heute anhaltende Prozeß der Verhandlungen über den Umgang mit diesen Belastungen, die
teils durch Rückzahlungen und (selten genug) durch Streichungen reduziert, häufiger jedoch
durch Umschuldungen in neue Kredite aufgefangen, aber so auch perpetuiert wurden. Der IWF
übernahm hier im Verein mit der Weltbank eine neue Rolle als Organisator der Umschuldung
und als mächtiger Kreditgeber, was dann gewöhnlich mit der Übernahme der sogenannten
Strukturanpassungsprogramme (structural adjustment programs [SAP]; s. u.) verbunden ist.
Daneben fällt auch die Standardisierung und Zentralisierung der globalen Wirtschaftsdaten in
den Aufgabenbereich des IWF.
Weltbank
Im Gegensatz zum erst später in diesen Bereich eingestiegenen IWF waren die Weltbank und
ihre beiden Einzelbestandteile, die International Bank for Reconstruction and Development
(IBRD) und die 1960 hinzugekommene International Development Association (IDA), von
Anfang an auf wirtschaftliche Entwicklung ausgerichtet. Zunächst betraf dies die Kriegsschäden,
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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bald schon trat jedoch die Entwicklung der armen Länder und ehemaligen Kolonialstaaten in den
Vordergrund. Hat der IWF eine grundsätzliche Kreditwürdigkeit festgestellt, vergibt die
Weltbank Kredite für von ihr als aussichtsreich beurteilte Projekte aller Art zu günstigen
Zinssätzen (IBRD) oder – für die ärmsten Länder – fast zinslos oder sogar als Geschenk (IDA).
Die Weltbank ist nicht nur der wichtigste einzelne Kreditgeber der armen Länder, sondern auch
ein Meinungsführer im internationalen Entwicklungshilfediskurs.
GATT und WTO
Das Handelsabkommen GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) war zunächst nur eine
Notlösung, da die eigentlich angestrebte internationale Handelsorganisation als nicht
durchsetzbar erschien. Ihr standen die Schwierigkeiten der Einbeziehung der Ostblockstaaten mit
ihren staatlichen Außenhandelsmonopolen und der aus politischen Gründen wie etwa den
Loyalitäten im Kalten Kreig ratsame Schutz der schwächeren Volkswirtschaften vieler
außereuropäischer Länder entgegen. Auch so wurden in insgesamt acht jeweils mehrjährigen
Verhandlungsrunden die Zölle beträchtlich gesenkt und Dumpingpraktiken reduziert.
Standardhindernisse des Prozesses waren jedoch die geschützten Agrarsektoren der reichen
Länder und der Umfang der Zugeständnisse an Entwicklungs- und Schwellenländer. 1995
übernahm die WTO die mit größerer Verbindlichkeit ausgestattete Nachfolge von GATT. Ihr
entscheidendes Gremium ist die alle zwei Jahre stattfindende Ministerkonferenz der
Mitgliedsstaaten. Das zentrale Instrument der WTO ist das Schlichtungsverfahren: Jedem
Mitgliedstaat steht es zu, ein solches zu eröffnen und darin die Import- und
Handelsbestimmungen eines anderen Mitgliedstaates als “unerlaubtes Handelshemmnis”
überprüfen zu lassen. Für die Entscheidungen des Schlichtungsverfahrens gilt die
„Meistbegünstigung”: Einem anderen Staat eingeräumte Handelsprivilegien müssen allen WTOStaaten eingeräumt werden, und bilaterale Bevorzugungen sind verboten. Anders als GATT
brechen die WTO-Entscheidungen nationales Recht, und sie sind auch – als neben dem
Sicherheitsrat einzigen Fall unter den UN-Institutionen – mit Sanktionen wie Schadensersatz und
Strafzöllen bewehrt. Die beschuldigten Ländern verfügen jedoch über umfangreiche Blockadeund Veto-Rechte.
Im Laufe der Zeit haben sich die GATT- und WTO-Kompetenzen erweitert. Sie regeln nun
nicht mehr nur den Handel im engeren Sinne, sondern auch Auslandsinvestitionen,
Wettbewerbsbedingungen und Arbeitsrecht, zum Teil in Konkurrenz mit anderen UNOrganisationen
wie
der
ILO
(International
Labor
Organization;
Internationale
Arbeitsorganisation). Stein des Anstoßes für viele Kritiker sind außerdem die beiden Abkommen
GATS (General Agreement on Trade in Services, Allgemeines Abkommen über den Handel mit
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Dienstleistungen) und TRIPS (Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property
Rights, Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum), da
sie sich in bislang aus solchen Regelungen herausgehaltene (Dienstleistungen) und moralisch
umstrittene (z. B. Patente auf lebenswichtige Arzneimittel oder Gensequenzen) Bereiche
einmischen.
Der Washingtoner Konsens und die Kritik
Zwischen den Strategien der IFIs gibt es Unterschiede; die Weltbank ist z. B. aufgeschlossener
für andere als rein marktwirtschaftliche Kriterien als der IWF. Trotzdem haben sich ihre
Aufgabengebiete und ihre Politiken im Laufe der Zeit angenähert, so daß sie auch in der
verbreiteten Kritik an ihrer Politik häufig in einem Atemzug genannt werden. Die
Arbeitsgrundlage der IFIs bildeten lange Zeit die neoliberalen Prinzipien des – niemals offiziell
verabschiedeten
–
Washingtoner
Konsens
(Washington
Consensus),
wie
der
Wirtschaftswissenschaftler John Williamson sie 1989 bezeichnet hat. Der ideale Kreditnehmer
von Weltbank und IWF strebt demnach nach einem ausgeglichenen Staatshaushalt, privatisiert
die Staatsunternehmen, senkt die Steuern, liberalisiert Handel, Finanzen und ausländische
Direktinvestitionen und sorgt für klare und respektierte Eigentumsrechte. Nur dann – so die
Annahme – können die Selbstheilungskräfte des Marktes ihre Wirkung entfalten, Ineffizienzen
ausmerzen und Wachstum und Wohlstand für alle bringen. Längst nicht jedem Staat, der bei
diesen Institutionen vorstellig geworden ist, sagt dieses Programm zu, aber vielfach besteht keine
Alternative, als sich unter der Last des Schuldendienstes, die oft einen beträchtlichen Teil der
Exporterlöse auffrißt, dem Regime der „Strukturanpassungen” zu unterwerfen.
Immer wieder wird den IFIs vorgeworfen, nicht mehr als die Vertreter der
Wirtschaftsinteressen reichen Länder zu sein. Anders als etwa bei UN-Vollversammlungen hat
nicht jedes Land eine Stimme, sondern die Stimmanteile an IWF und Weltbank bemessen sich
nach den Einlagen des jeweiligen Staates. Da alle Entscheidungen von den Inhabern von
mindestens 85 Prozent der Anteile gefällt werden müssen, hat die USA mit etwa 17 Prozent der
Anteile ein faktisches Vetorecht, und die nächstgrößten Einleger Japan, Deutschland und
Großbritannien haben es zusammen ebenfalls. Die Sitze von IWF und Weltbank befinden sich in
der US-Hauptstadt, und Weltbankdirektor ist traditionsgemäß ein US-Amerikaner (momentan
Robert Zoellich) und IWF-Direktor ein Europäer (momentan Dominique Strauss-Kahn). Der
WTO sitzt gegenwärtig ebenfalls ein Franzose (Pascal Lamy) vor. Politische Motive der USA
und der westlichen Länder werden hinter einer Vielzahl von Entscheidungen vermutet. So
erhielten die lateinamerikanischen Großschuldner immer wieder neue Kredite, die letztendlich
den Außenständen der westlichen Gläubigerbanken zugute kamen. Kaum hatten sich Ägypten
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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oder Pakistan im Golfkrieg und nach dem 11. September als kooperativ erwiesen, zeigten sich
die IFIs ihren Anliegen gegenüber sehr offen. Die seit 1975 immer wieder zu Gipfeltreffen
zusammenkommende „Gruppe der Sieben” (G7) – die USA, Kanada, Deutschland, Frankreich,
Großbritannien, Italien und Japan; seit 1998 durch die (faktisch eingeschränkte) Aufnahme
Rußlands zur G8 geworden – genießt besonders Vorrechte und trifft sich regelmäßig vor den
entscheidenden WTO-Sitzungen mit dem Generaldirektor. Und der proklamierte Respekt für
Menschenrechte war lange Zeit kein Hindernis, auch den Diktatoren der Welt IWF- und
Weltbank-Mittel zukommen zu lassen
Die WTO ist am aktivsten bei Industrieprodukten und Dienstleistungen, die überwiegend bzw.
zu 90 % von den Industrieländern exportiert werden, während bei arbeitsintensiven Produkte,
Textilien und Agrarprodukten, die zu 70 % von den ärmeren Ländern exportiert werden, weit
weniger auf Liberalisierung der Märkte gedrängt wird. Gerade hier könnte jedoch eine Änderung
besonders viel bewirken, denn die Agrarsubventionen der Industrieländer übertreffen das
Sozialprodukt Afrikas, und eine konsequente Liberalisierung könnte – so die WTO selbst – das
Dreifache der gesamten Entwicklungshilfe einbringen (Müller 2002: 108). Die EU und die USA
nehmen vielfältige Ausnahmen in Anspruch, und die eigentlich verpönten bilateralen
Handelsabkommen gibt es weiterhin. Die Ausweitung der WTO-Kompetenzen auf
Dienstleistungen (GATS) und geistiges Eigentum (TRIPS) führt zudem zu Konflikten in den
Bereichen, die in vielen Staaten wie den westeuropäischen zur Daseinsvorsorge gerechnet
werden und noch nicht komplett privatisiert sind, wie etwa Strom, Wasser, Gesundheit, Bildung
oder öffentlich-rechtliche Sender. Bei uns durchaus als legitim verstandene staatliche
Einschränkungen
–
Ladenöffnungszeiten,
Bauvorschriften,
Umweltbestimmungen,
Kennzeichnungspflicht für genmanipulierte Inhaltsstoffe, öffentliche Finanzierung von
Bildungseinrichtungen, Buchpreisbindung o. ä. – werden dann zu „Handelshemmnissen”. Für
alle IFIs wird auch immer wieder die geringe demokratische Kontrolle beklagt. Die z. B. an den
Ministerkonferenzen beteiligten Regierungsmitglieder sind nur national gewählt, und die dortige
Entscheidungsfindung ist den Blicken der Öffentlichkeit stärker entzogen als die auf
nationalstaatlicher Ebene.
Der britische Ethnologe Daniel Miller schreibt in seiner Studie zur Entwicklung des
Kapitalismus in Trinidad (1997: 35-53), daß fast jeder, mit dem er dieses Thema diskutiert, den
Bretton-Woods-Institutionen Parteilichkeit unterstellt. Er selbst hält diese für die Erklärung ihrer
neoliberalen Stategien jedoch für gar nicht nötig, stattdessen liegt das Problem in der sehr viel
grundsätzlicheren Herrschaft der neoklassischen Wirtschaftstheorie. Aus deren Grundannahmen
– Menschen und Unternehmen als rationale Nutzenmaximierer, deren Angebot und Nachfrage
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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auf einem freien Markt die für alle günstigsten Preise und bestmögliche Versorgung sicherstellen
– ergibt sich das von den Gründervätern der Nationalökonomie, Adam Smith und David Ricardo,
ausgearbeitete Konzept der „komparativen Kostenvorteile” (comparative cost advantages). Die
größtmögliche Wohlfahrt für alle ergibt sich demnach dann, wenn jede Volkswirtschaft genau
das produziert, was sie relativ zu den anderen Volkswirtschaften und zu den eigenen
Alternativen am kostengünstigsten herstellen kann. Nicht selbst hergestellte Güter können dann
erhandelt werden. Im Klartext geht es darum, daß es genau so wenig Sinn für Deutschland macht,
Kakaoplantagen anzulegen, wie für Ghana, eine industrielle Milchwirtschaft aufzubauen. Beides
wäre – angefangen bei der Beheizung der Glashäuser für die deutschen Kakaosträucher – mit
viel zu hohen Kosten verbunden, und beide Länder fahren besser damit, sich auf das zu
spezialisieren, was sie preiswert anbieten können, und dann miteinander Handel zu treiben.
Miller spricht hier von „pure capitalism” – in der Theorie ist dieses Modell vollkommen logisch,
und als Lehrinhalt der weltweiten Wirtschaftsfakultäten und Business Schools wird es zur
Ideologie ihrer Topabsolventen, aus denen sich das IFI-Personal rekrutiert.
In der Realität herrscht jedoch das vor, was Miller „organic capitalism” nennt, und es zeigt
sich immer wieder, daß die theoretisch so einleuchtenden Modelle nicht funktionieren, die
stillschweigenden Voraussetzungen – perfekt funktionierende Märkte und Informationsströme
mit problemlosen Einstiegsmöglichkeiten für jeden Anbieter – nicht bestehen oder der Theorie
widersprechende Fälle – wie etwa die sehr stark vom Staat gelenkten Wirtschaftswunder Japans
und der Tigerstaaten – existieren. Mit geradezu religiöser Inbrunst setzen sich die IFIs Miller
zufolge trotzdem immer wieder für das neoliberale Standardrezept ein – Geldstabilität,
Privatisierung, Abbau der Staatsausgaben, freier Außenhandel, Exportorientierung –, und es sind
ironischerweise gerade ihre Schuldnerstaaten, bei denen sich all diese Strukturanpassungen auch
tatsächlich durchsetzen lassen, während gegenüber dem Protektionismus der reichen Länder des
Westens keine Druckmittel bestehen. Miller selbst zeigt eindringlich, wie das Rückschrauben des
staatlichen Sektors in Trinidad Arbeitsplätze in großer Zahl vernichtet und die neue
internationale Konkurrenz viele einheimische Unternehmen zerstört. „Ineffizient” mögen diese
zwar gewesen sein, aber ein behutsamerer Übergang hätte den betroffenen Unternehmen mehr
Möglichkeiten zur Anpassung gegeben und die Kosten für den jetzt fälligen Neuaufbau in vielen
Bereichen reduziert.
Auch das Ziel einer besseren globalen Verteilung des Reichtums haben die IFIs nicht
verwirklicht. Die durch die Liberalisierung auftretenden Schwankungen der Zinssätze und
Wechselkurse machen wirtschaftliche Transaktionen unsicherer und damit teurer. Selbst in
Westeuropa und den USA stieg das Sozialprodukt pro Einwohner 1950 bis 1973 zwar noch um
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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jährlich 3,9 Prozent, von 1973 bis 1998 jedoch nur noch um jährlich 1,8 Prozent, und bei den
ärmeren Ländern war teilweise negatives Wachstum zu verzeichnen (Müller 2002: 109-110,
112). 1960 war das Durchschnittseinkommen der 20 reichsten Länder der Welt 18 Mal so hoch
wie das der 20 ärmsten, doch 1995 hatte sich diese Spanne verdoppelt (2002: 60). Auch geht in
allen Staaten – sowohl den reichen als auch den armen und sowohl solchen mit ursprünglich
geringen als solchen mit hohen Reichtumsunterschieden – die Schere zwischen den reichsten
und den ärmsten Bürgern auseinander. Der Schuldendienst der ärmeren Länder entspricht dem
Zweieinhalbfachen der erhaltenen öffentlichen Entwicklungshilfe (2002: 112), und 42 Staaten –
die meisten im subsaharischen Afrika – gehören trotz aller Entschuldungsbemühungen auch jetzt
noch zur von der Weltbank gebildeten Gruppe der heavily indebted poor countries (HIPC) oder
stehen zur Aufnahme an. Eine Reihe von vergleichenden Studien zeigt, daß das
Wirtschaftswachstum von Staaten unter IWF-Regime geringer war als das von Staaten, die
darauf verzichtet hatten, und daß die Reallöhne sanken (2002: 114). Äthiopien hat sich durch
Nichtbefolgung der Programme und Malaysia in der Asienkrise durch eine staatliche Steuerung
des Kapitalverkehrs wirtschaftlich stabilisieren können. Hinzu kommt die inhaltliche Kritik an
vielen besonders der in früheren Jahren von der Weltbank geförderten Entwicklungsprojekte wie
etwa Staudämme, die umfangreiche Umsiedlungen erforderten, oder Agrarprojekte, denen
tropischer Regenwald zum Opfer fiel.
Die Kritiker ziehen unterschiedliche Konsequenzen: Sowohl von ganz links als auch von ganz
rechts erschallt der Ruf nach Abschaffung der IFIs, die meisten Moderaten aber wollen sie
reformieren, denn die freie Aushandlung bilateraler Abkommen oder gar die völlige
Regellosigkeit würde die ärmeren Länder noch schutzloser dastehen lassen. Auch wird angeführt,
daß nationale Regierungen oft anfälliger für Lobbyismus sind als die multinational besetzten IFIs.
Auch bei diesen selbst ist Reformwillen vorhanden, vor allem seit der Asienkrise 1997.
Mittlerweile ist ein Post-Washingtoner Konsens formuliert, der für die Kredit- und
Projektvorgabe neue Ziele nennt. Der vormalige Glaube daran, daß wirtschaftliches Wachstum
quasi-automatisch auch bis zu den Armen gelangt und demokratische Tendenzen fördert, ist nun
erschüttert, und stattdessen wird gerechtes Wachstum und Demokratie als Voraussetzung für
Wachstum gefordert. Auch ist die Staatsfeindlichkeit jetzt gemildert, und sowohl die weltweite
Vielfalt der staatlichen Institutionen als auch die generelle Sinnhaftigkeit ihrer Lenkungsfunktion
werden nun ausdrücklich anerkannt. Und schließlich finden NGOs jetzt stärkeres Gehör, oftmals
mehr als sie in den nationalen Ministerien erlangen. Eine grundlegende Umorientierung ist
jedoch auch z. B. in den Reaktion auf die jüngste Nahrungsmittelkrise nicht zu ersehen: Hier
empfehlen sowohl Weltbank-Chef Zoellick als auch WTO-Chef Lamy die Stärkung des
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Freihandels als das zentrale Mittel zur Beilegung, und Zoellick wendet sich gegen die von
einigen armen Staaten zur Sicherung der eigenen Versorgung verhängten Exportverbote
(Herbermann 2008).
Die Globalisierungskritiker
Multinationale Konzerne und IFIs gehören zu den wesentlichen Zielscheiben des Protestes einer
sehr vielgestaltigen politischen Bewegung, deren Anhänger als „Globalisierungskritiker” oder
gar „Globalisierungsgegner” bezeichnet werden (Leggewie 2003: 50-88). Bekanntermaßen ist
dies nicht immer treffend, denn meist geht es gar nicht um die vollständige Ablehnung der
Globalisierung, zu der diese Bewegung ihr Scherflein beiträgt, sondern vielmehr um ihre
politische Gestaltung. Globalisierungskritik gibt es zwar durchaus von rechts außen, und auch
Jean Marie Le Pen oder die NPD äußern sich in diesem Sinne. Überwiegend ist sie jedoch eine
eher auf der linken Seite des politischen Spektrums beheimatet. Ihr „Coming Out” erlebte die
Bewegung bei den Protesten gegen die WTO-Tagung in Seattle 1999 und gegen den G8-Gipfel
in Genua 2001, und die Begleitung der diversen weltwirtschaftlichen Gipfeltreffen mit
Protestaktionen ist seither zum festen Muster geworden, auch hierzulande beim G8-Treffen in
Heiligendamm 2007. Daneben hat sie jedoch auch eigene Foren geschaffen, allen voran das
erstmals 2001 im brasilianischen Porto Alegre veranstaltete Weltsozialforum, das zeitweilig bis
zu sechsstellige Teilnehmerzahlen hatte und das parallel stattfindende Weltwirtschaftsforum der
Spitzenpolitiker und Wirtschaftsführer im schweizerischen Davos in den Schatten stellte. Eigene
Organisationen wie Attac sind entstanden, doch kennzeichnet die Bewegung eher ihre lose
Vernetzung und die Überlappung mit schon länger etablierten institutionellen Strukturen wie z.
B. denen von Gewerkschaften oder Kirchen.
Die Bewegung wird oft mit einigen besonders prominenten Stimmen identifiziert, die
allerdings eher qua Charisma als qua Amt wirken und auch längst nicht immer für alle ihre
Anhänger sprechen. Dazu gehören Kritiker aus dem Apparat wie der Hedge-Fonds-Manager
George Soros und der Nobelpreisträger und ehemalige Vizepräsident der Weltbank, Joseph
Stiglitz, die eine Reform der IFIs fordern, aber auch immer schon außerhalb solcher Institutionen
stehende Personen wie der französische Bauernführer José Bové, der aufgrund einer Attacke auf
ein im Bau befindliches McDonald’s-Restaurant in Haft geriet und zu einer Art Märtyrerfigur
wurde. Wissenschaftler wie der 2002 verstorbene französische Soziologe und Ethnologe Pierre
Bourdieu, der Schweizer Soziologe Jean Ziegler und der als besonders scharfer Kritiker des USImperialismus bekannte amerikanische Linguist Noam Chomsky sind ebenso vertreten wie die
durch ihr Buch No Logo (Klein 2000) über den Konsum- und Markenterror bekannt gewordene
Journalistin Naomi Klein. Als eine führende Stimme aus den betroffenen Ländern gilt die
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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indische Romanautorin Arundhati Roy (The God of Small Things), die sich gegen den Bau eines
Staudamms im Narmada-Tal ihrer Heimat engagierte und auf kontroverse Weise den 11.
September zur logischen Folge der US-Politik erklärte, und für nicht wenige sind auch
Revolutionäre wie die mexikanischen Zapatistas und ihr charismatischer Anführer, der
Subcomandante Marcos, oder dem Neoliberalismus und der Bush-Administration gegenüber
renitente lateinamerikanische Staatschefs wie Fidel Castro, Hugo Chávez, Luiz Inácio Lula da
Silva und Evo Morales zu Helden der Bewegung geworden. (Der gerade gewählte paraguayische
Staatspräsident Fernando Lugo, ein ehemaliger Bischof, wird sich hier sicherlich einreihen.)
Auch Papst Johannes Paul II. äußerte sich öfters recht entschieden gegen schrankenlosen
Kapitalismus und für eine Neuverteilung des globalen Reichtums. Es muß kaum betont werden,
daß sich in der Kritik an der Globalisierung Stimmen zusammenfinden, die sich über wenig
anderes einig sind.
Die bekannteste globalisierungskritische Organisation ist das 1998 in Paris als Verein
gegründete Netzwerk Attac (Association pour la taxation des transactions pour l'aide aux
citoyens, Association for the Taxation of Financial Transactions for the Aid of Citizens), das auf
einen Artikel des Le monde diplomatique-Chefredakteurs Ignacio Ramonet zurückgeht. Darin
bezieht er sich auf den älteren Vorschlag des amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers und
Nobelpreisträgers James Tobin, die sogenannte Tobin-Steuer (Tobin Tax). Die durch die
Freigabe der Wechselkurse hervorgerufene Instabilität wollte dieser durch eine Steuer auf
Devisentransaktionen eingrenzen, denn bereits ein Steuersatz im Promillebereich würde viele
spekulative Transaktionen unrentabel machen und diesem Markt somit viel von seiner
unkalkulierbaren Dynamik nehmen. Attac geht es nicht nur um diesen Effekt, sondern auch um
die Verwendung der Erlöse für die Bereitstellung globaler Kollektivgüter, den Schuldenerlaß für
ärmere Länder und ähnliche Maßnahmen. Vereinzelte Sympathiebekundungen bis hin zu
Regierungsmitgliedern und Staatschefs hat es für diesen Gedanken zwar schon gegeben, aber
eine konkrete Umsetzung ist bislang nicht in Sicht.
Möglichkeiten und Grenzen der Nationalstaaten
Eine vielgehörte Weisheit über die Globalisierung besagt, daß diese die Nationalstaaten in ihrer
Bedeutung zurückdrängt oder gar ganz auflöst. Die wahren global players sind demnach
multinationale Konzerne, transnationale Finanzinstitutionen wie der IWF und die in diesen
Organisationen tätigen kosmopolitischen Eliten. Und herausgefordert werden sie heute am
ehesten von den INGOs (international non-governmental organizations), d. h. den in den letzten
beiden Jahrzehnten boomenden, heute auf nicht weniger als 35.000 (Müller 2002: 142)
geschätzten Nichtregierungsorganisationen, die länderübergreifend tätig sind. Greenpeace oder
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Amnesty International, Oxfam oder Médecins sans frontières leisten demnach eher einen Beitrag
zur Lösung der globalen Probleme als die trägen und verkrusteten Nationalstaaten und werden
von diesen auch immer häufiger zur Hilfe herangezogen, etwa indem bereits ein Fünftel der von
den Industrienationen bereitgestellten Entwicklungshilfe über Nichtregierungsorganisationen
abgewickelt wird (Leggewie 2003: 101).
Und tatsächlich büßen heutige Staaten an wirtschaftlicher Souveränität ein, wenn sie wie die
in der EU Aufgaben wie die Geldordnung und –schaffung an eine übergreifende Institution wie
die Europäische Zentralbank auslagern oder wenn sie ihre Währungen freiwillig an den Euro –
wie die nordafrikanische Zone des ehemaligen französischen Franc – oder an den Dollar – wie
etwa Ecuador – anbinden. Dies mag Stabilität schaffen, legt aber die eigene Geldpolitik in die
Hände fremder Regierungen. Zweifellos spielt außerdem bei der Festlegung von Steuern und
Sozialleistungen die Konkurrenz der Staaten um ausländische Investoren eine gewichtige, ihren
Handlungsspielraum einengende Rolle und verführt sie überdies dazu, stärker die nicht so mobile
Arbeit als das jederzeit abflußbereite Kapital zu besteuern.
Die Nationalstaaten werden jedoch weniger zurückgedrängt als in einen neuen Rahmen
gebracht. Die Liberalisierung von Handel und Investitionen sowie die Schaffung regionaler
Freihandelsräume wie der EU war das Werk reicher Staaten, und sie behalten ihre Aufsichts- und
Einflußfunktion bei Banken, Börsen und IFIs. Gerade die am stärksten an der Globalisierung
beteiligten Staaten haben zudem die höchsten Staatsquoten (Osterhammel und Petersson 2003:
110), d. h. geben für staatliche Investitionen und Sozialleistungen im Verhältnis am meisten aus.
Und wie kaum betont werden muß, kontrollieren Staaten und Staatenbündnisse einen für die
Globalisierung zentralen Faktor wie die grenzüberschreitende Migration in immer perfekterer
Weise.
Zudem leisten sich die reichen Staaten auch die weitestgehenden Abweichungen vom
neoliberalen Credo. Das Handelsbilanzdefizit und die Staatsverschuldung der USA würde der
IWF keinem seiner Schuldner durchgehen lassen, und wo es den Interesse Nordamerikas, der EU
oder Japans entspricht, blüht der Protektionismus wie eh und je. So wird der Export von
Schweinefleisch nach außerhalb der EU mit 54 Cent pro Kilogramm bezuschußt, so daß es auf
dem Weltmarkt statt 98 nur noch 44 Cent kostet. Selbst wenn man die nötigen Transport- und
Kühlungskosten hinzurechnet, bleibt dies billiger als die 1,72 Euro, die die Produktion von
einem Kilogramm Schweinefleisch in Westafrika kostet. In Ghana sind die Tomatenbauern
chancenlos gegen das aus der EU importierte subventionierte Tomatenmark, und in Sambia ist
die Viehwirtschaft wehrlos gegen das importierte und ebenfalls subventionierte EU-Milchpulver
(Zeiner und Herrmann 2008). Ein Zurückschlagen mit den eigenen protektionistischen Waffen
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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ist wegen der unterschiedlichen Wirtschaftsstärken aussichtslos, und steht die eigene
Volkswirtschaft unter IWF-Kuratel, ist es ohnehin unzulässig. Die USA und Japan stehen der EU
in dieser Hinsicht keineswegs nach. Von einem Ende der Nationalstaaten im Zeitalter der
Globalisierung kann bislang also noch keine Rede sein, wohl aber davon, daß die eigene Stellung
in der Weltwirtschaft immer stärker darüber bestimmt, welche Staaten tatsächlich einen
Handlungsspielraum haben und welche nicht.
Fluch oder Segen?
Eine Bewertung der wirtschaftlichen Globalisierung der letzten drei Jahrzehnte fällt nicht leicht.
Nicht nur ereignet sie sich in enger Verflechtung mit vielen anderen Prozessen, die Einschätzung
hängt vielmehr auch sehr davon ab, wessen Wohlergehen betrachtet wird. Die Globalisierung hat
im Weltdurchschnitt Wirtschaftswachstum und Wohlstandssteigerung zumindest nicht verhindert,
und viele Menschen profitieren heute von einem größeren Güterangebot und günstigeren Preisen,
angefangen dabei, daß wir heute nur noch Centbeträge fürs Telefonieren ausgeben. Sogenannte
Schwellenländer wie China, Indien, die südostasiatischen Staaten oder Brasilien haben einen
Wirtschaftsboom erlebt, und auch die Tatsache, daß Irland nicht mehr das Armenhaus, sondern
eines der reichsten Länder Europas ist, verdankt sich sehr stark der Globalisierung. Auch darauf,
daß heute nicht mehr nur wie im Jahr 1950 30 Prozent, sondern 60 Prozent der Regierungen
dieser Welt gewählt werden (Müller 2002: 27), hat die Einbindung in die Weltwirtschaft
zweifellos ihren Einfluß gehabt.
Ebenso klar ist jedoch, daß wir in einer zutiefst ungleichen Welt leben. Die G7 stellen 12
Prozent der Weltbevölkerung, aber 64 Prozent des Weltsozialprodukts (Müller 2002: 135), die
Unterschiede zwischen den Welthandelsbeiträgen der einzelnen Länder und Regionen sind
gigantisch, und mit Afrika hat ein ganzer Kontinent kaum von der Globalisierung profitiert.
Viele arme Länder bleiben weiterhin von Krediten völlig abhängig. Zudem wachsen in fast allen
Gesellschaften die Reichtumsunterschiede. Fast die Hälfte der Menschheit muß mit weniger als
zwei Dollar am Tag auskommen, was selbst dann, wenn es von der besten Subsistenzwirtschaft
begleitet ist, kaum jemals Wohlstand bedeuten kann. Und auch ein faireres und gerechteres
Wirtschaftswachstum hat nicht automatisch andere Folgen für Klima, Umwelt und Biodiversität
als das jetzige.
Die gegenwärtige Lebensmittelkrise zeigt all die Probleme in Reinkultur auf. Auch wenn der
Anteil der Nahrungsmittel am Welthandel stark abgenommen hat, sind die Märkte für
Grundnahrungsmittel und Rohstoffe längst global. Wenn daher die Nachfrage nach Fleisch und
Milchprodukten in Indien, China und Brasilien steigt, was seinerseits den Futtermittelbedarf
erhöht, und wenn sich gleichzeitig der Ölpreis in solche Höhen schraubt, daß die Gewinnung von
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Biokraftstoffen lohnend wird, treibt dies auf der ganzen Welt die Lebensmittelpreise in die Höhe,
so daß diese sich seit 2000 mehr als verdoppelt haben (Focus 2008: 217). Spekulative Geschäfte
durch Investmentsfonds, die an den tatsächlichen Gebrauch der erworbenen Rechte an Reis,
Weizen oder Orangensaftkonzentrat nicht einmal denken, tun das ihrige. Die Bauern sollte dies
freuen, sehen sie ihre Produkte doch endlich angemessen bezahlt. Doch wo die
Strukturanpassungsprogramme
gegriffen
und
subventionierte
Agrarexporte
aus
den
Industrieländern die Märkte überschwemmt haben, ist oft keine einheimische Landwirtschaft
mehr übrig, die zügig auf die sich bietenden Chancen reagieren könnte. Stattdessen müssen dort
wohl oder übel die Importpreise gezahlt werden, auf die man keinen Einfluß hat. Die Folge sind
Not und Unruhen von Mexiko bis Indonesien.
Zu einer realistischen und verantwortlichen Ethnologie gehört es, die wirtschaftliche
Globalisierung und die globale Ungleichheit im Blick zu behalten. Fast der gesamte Rest der
Vorlesung wird davon handeln, daß die weltwirtschaftlichen Verflechtungen die anderen
kulturellen Bereiche gerade nicht determinieren und hier statt einer heraufziehenden WeltKonsum-Kultur oder einer globalen Einheitsarmut überall aktiv genutzte Spielräume bestehen.
Wenn jedoch ein einzelner Faktor genannt werden soll, der diese Spielräume am meisten
einschränkt, dann sind die globalisierte Weltwirtschaft und ihre Folgen sicher der erste Kandidat.
In den armen Ländern hat, wie Miller bemerkt, jeder schon einmal vom IWF gehört (1997: 3940).
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Teil IV: Die politische Ökonomie des
Weltsystems
Einleitung
In den letzten beiden Sitzungen habe ich ihnen den Verlauf der Kolonialgeschichte und der
bereits in die postkoloniale Phase fallende wirtschaftlichen Globalisierung der letzten drei
Jahrzehnte beschrieben. Dabei kamen auch schon ethnohistorische Forschungen zum kolonialen
Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zur Sprache. Heute sollen Studien im Vordergrund stehen,
die sich mit den Auswirkungen der gegenwärtigen weltwirtschaftlichen Verflechtungen befassen
und bereits im Zeitalter der Globalisierung spielen. Die meisten dieser Studien sind von
neomarxistischen Perspektiven beeinflußt, also den in vielen Sozialwissenschaften immer noch
einflußreichen Weiterentwicklungen des klassischen Marxismus. Für sie ist die Wirtschaft nicht
ein sich selbst regulierendes System der Kräfte des Marktes, sondern die Grundlage von und
gleichzeitig die Konsequenz aus Machtbeziehungen. Bestimmend hierfür sind Klassenkonflikte,
d. h. Auseinandersetzungen zwischen Gruppen mit unterschiedlichem Zugang zu den
Produktionsmitteln, die jede versuchen, ihre materiellen Vorteile und den darauf gründenden
Einfluß zu wahren oder sogar noch auszubauen. Gegenüber dieser materiellen Basis übt der
gesellschaftliche Überbau – die sozialen Umgangsformen, Werte und Normen, Religion und
kollektive Identität – häufig eine Rechtfertigungsfunktion aus, die den Erhalt des Klassensystems
stützt, oft ohne daß es den Betroffenen selbst bewußt ist.
Zunächst werde ich die peasant studies der Nachkriegszeit behandeln und ihnen die
bekannteste Großtheorie zum globalen Wandel, die Weltsystemtheorie von Immanuel
Wallerstein, vorstellen. Den Großteil der Sitzung widme ich dann ethnographischen Studien, die
sich auf der Grundlage von Feldforschungen in der Peripherie des Weltsystems um die
Umsetzung und auch Ergänzung dieser Theorie bemühen.
Die peasant studies
Wie bereits beschreiben, hat die Ethnologie das Thema Globalisierung anfangs gemieden. Man
war nicht daran interessiert, wie sich die außereuropäischen Gesellschaften durch die koloniale
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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und weltwirtschaftliche Erfassung veränderten, sondern wie sie vorher, in einem als ursprünglich
gedachten Zustand gewesen waren, und je entlegener die Forschungsorte waren, desto mehr
glaubte man davon noch erfassen zu können. In den 1950er und 60er Jahren verschob sich dieser
Fokus einer salvage ethnography jedoch stärker hin zur Auseinandersetzung mit den nun
unabhängigen neuen Staaten, und das Gros ihrer Bevölkerung waren keine quasi-autonomen
Stammesgesellschaften, sondern seit Jahrzehnten oder sogar schon Jahrhunderten in größere
Systeme eingebundene peasants. Nicht weniger als ein Viertel der Weltbevölkerung, schätzt
Frank Cancian (1989: 128), gehört zu dieser Schicht.
Das Wort peasant ist nicht leicht zu übersetzen, da das deutsche Wort „Bauer” sowohl mit
peasant als auch mit farmer übersetzt werden kann. Ein peasant ist jedoch gerade durch den
Gegensatz zum farmer gekennzeichnet. Während farmers gezielt für einen Absatzmarkt
produzieren, oft mit erheblicher und schnell wechselnder Spezialisierung, und damit eher als
Agrarunternehmer zu bezeichnen sind, steht für peasants die Subsistenzwirtschaft, also das
Bemühen, sich mit den wesentlichen Gütern selbst zu versorgen, im Vordergrund. Nicht alles
Lebensnotwendige kann jedoch selbst produziert werden, und so verkauft auch ein peasant seine
Produkte auf dem Markt, um mit dem Erlös z. B. handwerkliche Produkte erwerben zu können.
Drängender ist dafür jedoch oft der Zwang, mit einem Teil der Ernte bzw. mit deren Gelderlös
die Steuern und Abgaben zu bezahlen, die in den historischen und gegenwärtigen peasantGesellschaften erhoben werden. Oft lastet die gesamte Nahrungsmittelversorgung der Städter
und der gesellschaftlichen Eliten auf den Schultern solcher Kleinbauern. Nur selten genießen sie
jedoch besondere Anerkennung, und meist befinden sie sich in einer marginalen und dominierten
Position. Peasants sind jedoch keine Proletarier, denn anders als z. B. die von Mintz auf Puerto
Rico beobachteten Zuckerrohrarbeiter verfügen sie gewöhnlich über eigene Produktionsmittel, d.
h. Land, das ihnen selbst gehört oder gepachtet ist.
Ein Vorreiter der peasant studies war der in Österreich aufgewachsene und als Jude in die
USA emigrierte Ethnologe ▶▸Eric Wolf, der an der gleichen Puerto-Rico-Studie teilgenommen
hatte wie Sydney Mintz. Wolfs besonderer Verdienst ist es, die Auswirkung größerer
Zusammenhänge auf die Kleinbauern aufzuzeigen, besonders mit seinem Konzept der closed
corporate peasant communities (etwa: „geschlossene korporierte Bauerngemeinschaften”). In
einem klassischen Artikel (Wolf 1957) bezeichnet er so die indianischen Bauerndörfer in
Mesoamerika – dem Zentralgebiet Mittelamerikas mit dem Südteil Mexikos und den
angrenzenden südlichen Nachbarländern – und die Bauergemeinschaften auf der indonesischen
Insel Java. Beide teilen ihm zufolge wesentliche soziale Merkmale. So entscheidet die
Gemeinschaft über den Landzugang der einzelnen Haushalte. Entweder ist der Boden
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Gemeineigentum und wird jedes Jahr neu auf die Nutzer verteilt, oder es gibt zwar private
Anbauflächen, doch ist ihr Verkauf an Auswärtige verboten. Die Gemeinschaften kennen nur
geringe Reichtumsunterschiede, da etwaige Überschüsse einzelner Haushalte in eine
Prestigeökonomie fließen. In Java sind dies zu Ehren der Ahnen veranstaltete Festmähler
(sogenannte ▶▸slametan) und Pilgerreisen nach Mekka; in Mesoamerika sind es die sogenannten
▶▸cargos, d. h. Ehrenämter im Kult eines Heiligen, vor allem während dessen jährlicher
Festwoche (▶▸fiesta). Diese cargos sind mit geradezu ruinösen Ausgaben verbunden, so daß man
jahrelang auf sie hinsparen muß. All diese Aktivitäten bringen soziales Prestige, verteilen aber
gleichzeitig die Reichtümer einzelner auf die gesamte Gemeinschaft um. Reich zu werden,
gehört ohnehin nicht zum Erwartungshorizont, und die Zurschaustellung von Luxus wird nicht
geschätzt. Zudem schotten sich diese Gemeinschaften gegen Außenkontakte ab. Zuwanderung
findet kaum statt, und die Zugehörigkeit ist durch Geburt definiert und nicht über
Verwandtschaft. Entsprechend sind gerade in Mesoamerika die sprachlichen und kulturellen
Unterschiede zwischen den einzelne Bauerngemeinden trotz geringer räumlicher Distanz oft
erstaunlich groß. Die Gemeinschaften geben sich ein traditionalistisches Gepräge, und gerne
werden sie als Überbleibsel der präkolumbianischen Zeit gesehen, bei denen die koloniale und
postkoloniale Moderne einfach nicht angekommen ist.
Man ist hier versucht, bäuerlichen Konservatismus als Erklärung ins Feld zu führen. Und
tatsächlich gibt es eine entsprechende Theorie des Ethnologen ▶▸George Foster. In einem wenige
Jahre später erschienenen Aufsatz (Foster 1965) sprach er vom „image of the limited good”, das
in Bauerngemeinschaften verbreitet sei. Diese Werthaltung geht davon aus, daß die guten Dinge
des Lebens immer in nur sehr knappen Umfang vorhanden sind und daß kleine Bauern ohnehin
kaum Einfluß darauf haben, ob sie jemals etwas davon abbekommen. Ob diese
Schicksalsergebenheit tatsächlich so verbreitet ist, wird mittlerweile sehr bezweifelt, aber sie
würde die Selbstisolierung der closed corporate peasant communities erklären helfen.
Wolf sieht jedoch andere Gründe. Ihm zufolge sind es gerade nicht lokale Faktoren, die die
lokalistischen Bauerngemeinden prägen, sondern ihre Einbindung in die Rahmengesellschaft.
Denn die koloniale Unterwerfung Mesoamerikas ließ auf dem Lande nichts beim Alten.
Vielmehr wurde die durch Gewalt und Epidemien dezimierte Bevölkerung gezielt in neue Dörfer
umgesiedelt. Diese neuen Gemeinschaften erhielten kollektives Landeigentum und die interne
Selbstverwaltung, wogegen alte Bindungen wie die verwandtschaftlichen bald verblaßten. In
Java waren es ebenfalls die Kolonialherren, die erstmals klare Dorfgrenzen festlegten und den
neuen Dörfern ihr Land als kollektives Eigentum zuteilten. In beiden Fällen wurden die
Einheimischen von den produktivsten Flächen und aus dem Handel verdrängt, und die
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Erwirtschaftung von Reichtümern war ihnen so nicht mehr möglich. Die entstandenen,
wirtschaftlich und politisch ganz auf sich selbst bezogenen Einheiten waren überdies einfach zu
verwalten. Auch bildeten die sich selbst versorgenden, aber aufgrund der begrenzten
Landflächen immer auf Zusatzverdienste bedachten Dörfler eine flexible Arbeitskräftereserve für
den Einsatz in den nahegelegenen Plantagen, Bergwerken und kommerziellen Landgütern. Die
Entstehung von closed corporate peasant communities ist somit eine Folge der Aufspaltung ihrer
Gesellschaften in eine dominante und eine dominierte Schicht. Und wo dieser Druck nicht
bestanden hat – wie etwa im vorkommunistischen China –, entwickelten sich open peasant
communities mit frei verkäuflichem Land und ohne Zuzugsrestriktionen, in denen keine
Wiederverteilungsmechanismen vorhanden waren und oft der Staat – z. B. als Organisator der
Bewässerung – eine weit größere Rolle spielte. Bäuerliches Denken allein kann es also nicht sein,
was den mesoamerikanischen und javanischen Dörfern ihre (zumindest in den 1950er Jahren
noch so stark ausgeprägte) traditionalistische und lokalistische Orientierung gegeben hat.
Peasant studies wie diese blendeten nicht nur die kolonialen und weltwirtschaftlichen
Verbindungen weniger aus als große Teile der klassischen Ethnologie, sondern sie sorgten auch
für eine stärkere Berücksichtigung der historischen Dimension. Wo globale Verflechtungen in
die Betrachtung einbezogen werden, fällt es nicht mehr so leicht, die untersuchten
außereuropäischen Gemeinschaften als „Völker ohne Geschichte” zu sehen, in denen die Zeit
bestenfalls zyklisch verläuft und für deren Erforschung die synchrone Perspektive, wie sie sich
etwa in einer einjährigen Feldforschung bietet, vollkommen ausreicht.
Modernisierungs- versus Dependenztheorie
Die peasant studies bilden zwar ein durchaus umfangreiches ethnologisches Gerne, aber für die
allgemeine sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit den postkolonialen Gesellschaften und der
Weltwirtschaft waren sie keineswegs beherrschend, wofür schon allein die neomarxistischen
Anklänge
sorgten.
Stattdessen
dominierte
in
der
Nachkriegszeit
die
sogenannte
▶▸Modernisierungstheorie (modernisation theory), die gewöhnlich von Soziologen, Politologen
und
Ökonomen
wie
etwa
dem
amerikanischen
Wirtschaftswissenschaftler
und
Präsidentenberater ▶▸Walt Whitman Rostow und weniger von Ethnologen vertreten wurde. Ihr
zufolge stand der historische Übergang der westlichen Industrieländer zu modernen
Gesellschaften auch in den als traditionelle Gesellschaften verstandenen außereuropäischen
Ländern bevor. Dieser Entwicklungsgang konnte zudem abgekürzt werden, indem man
Technologie, Verwaltung, politische Systeme und anderes Knowhow an diese Länder weitergab.
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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So würde sich zunächst eine duale Wirtschaft bilden, in der neben einen schrumpfenden
traditionellen, auf Subsistenz zielenden Sektor ein zunächst noch kleiner moderner Sektor mit z.
B. modernisierter und exportorientierter Landwirtschaft und Industrie trat. Dieser würde sich im
Laufe der Zeit ausdehnen und den traditionellen Sektor schließlich ganz verdrängen.
Modernisierung und Entwicklung sind damit bloß eine Frage der Zeit und der ausreichenden
Unterstützung von außen. Man erkennt hier unschwer das Glaubensfundament der klassischen
Entwicklungshilfe und der früheren Politik der Weltbank wieder.
Daß diese Vorhersagen längst nicht immer eintrafen, war damals in den schon seit langem
unabhängigen, aber wirtschaftlich keineswegs autonomen lateinamerikanischen Staaten
besonders offenkundig. Dort entstand denn auch Mitte der 1960er Jahre eine alternative Theorie,
die ▶▸Dependenztheorie (dependency theory), die mit Namen wie dem Soziologen und späteren
brasilianischen
Staatspräsidenten
Fernando
Henrique
Cardoso
oder
dem emigrierten
deutschjüdischen Wirtschaftswissenschaftler André Gunder Frank (vor allem Frank 1967)
verbunden war. Diese Dependenztheorie wies die Idee eines für alle Staaten gleichen
Entwicklungsgangs zurück und entdeckte vielmehr einen ursächlichen Zusammenhang zwischen
der wirtschaftlichen Entwicklung der westlichen Industriestaaten und der Unterentwicklung der
außereuropäischen Länder. In der Vergangenheit hatte die koloniale Ausbeutung für den Abfluß
der Reichtümer in den Westen gesorgt, und in der Gegenwart taten es die ungleichen
Handelsbedingungen und die vom Westen diktierten Preise, die zudem für Rohstoffe eher sanken
und für industrielle Fertigprodukte eher stiegen. Gegen eine solche ausbeuterische Struktur kann
der von den Modernisierungstheoretikern empfohlene Technologietransfer nichts ausrichten.
Einige Dependenztheoretiker forderten die völlige Abkopplung von der Weltwirtschaft und ein
Streben nach Autarkie, andere hingegen verlangten gerechtere Handelsbedingungen.
Wallersteins Weltsystemtheorie
Die bekannteste Weiterentwicklung der Dependenztheorie ist die Weltsystemtheorie (worldsystem theory) des 1930 geborenen amerikanischen Soziologen Immanuel Wallerstein (1974,
1979, 1986 [1974], 2004). Sie hat mit den Weltsystemstudien eine regelrechte Subdisziplin
geschaffen, wie es in unserem größeren Nachbarfach Soziologie ja häufiger vorkommt. Einflüsse
aus dem Marxismus und der Dependenztheorie nimmt Wallerstein zwar auf, entwickelt sie aber
auf recht eigenständige Weise weiter.
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Weltreiche und Weltwirtschaften
Wallersteins zentraler Begriff ist der des ▶▸Weltsystems. Im Unterschied zu den von ihm so
genannten Minisystemen, wo Arbeitsteilung und Austausch nicht über den Rahmen einer
einzelnen Kultur hinausgehen, vereinigen Weltsysteme kulturell unterschiedliche Einheiten in
eine gemeinsame, durch Handel verbundene Arbeitsteilung. ▶▸Bei der einen Form von
Weltsystemen, nämlich bei Weltreichen geschieht dies unter einem gemeinsamen politischen
Dach, während in einer Weltwirtschaft die politische Integration fehlt. Wallersteins
Begrifflichkeit ist hier etwas gewöhnungsbedürftig, denn Weltwirtschaften in diesem Sinne sind
für ihn z. B. auch das mittelalterliche Handelssystem der Hanse oder das Netzwerk der
norditalienischen Stadtstaaten wie Florenz und Siena zu ihrer Blütezeit. Zwar herrschte hier
wirtschaftliche Interdependenz trotz fehlender politischer Integration, doch entsprechen diese
Beispiele räumlich trotzdem nicht dem, was man mit dem Wortbestand „Welt” von
Weltwirtschaft assoziiert.
Kennzeichen der vorneuzeitlichen Weltwirtschaften war es Wallerstein zufolge, daß sie im
wesentlichen redistributiv angelegt waren. Was an Güteraustausch stattfand, war häufig stark
gelenkt und kein wirklicher Markthandel mit freier Preisbildung, und die Händlerschicht spielte
eine vergleichsweise geringe gesellschaftliche Rolle. Außerdem waren diese Weltwirtschaften
unbeständig und zerfielen entweder bald wieder oder gingen in Weltreiche über, indem sie eben
von einer einzelnen politischen Macht unter ihre Kontrolle gebracht wurden.
Die seit 1400 entstandene moderne Weltwirtschaft unterscheidet sich jedoch von den
historischen Vorläufern, denn sie ist hat nach und nach die gesamte Welt einbezogen und alle
anderen Weltreiche, Weltwirtschaften und Minisysteme in sich aufgesogen, ohne daß es
gleichzeitig jedoch zur Herausbildung eines Weltstaates gekommen wäre. Außerdem ist sie eine
kapitalistische Weltwirtschaft, und zwar schon sehr lange, nämlich seit dem 16. Jahrhundert,
auch wenn dies damals Wallerstein zufolge noch „Agrarkapitalismus” war. Denn im Unterschied
zur orthodoxen marxistischen Sichtweise ist für ihn jegliche Form, die Arbeitskraft zur Ware zu
machen, als Kapitalismus zu bezeichnen. Das beinhaltet nicht nur die industrielle Lohnarbeit,
sondern auch andere Modelle der Arbeitsorganisation, bei denen der eigentliche Produzent nicht
die volle Kontrolle über die Produktionsmittel hat, so wie Pacht, Naturalpacht (share-cropping, d.
h. die Bezahlung des Landzugangs mit einem Teil der Ernte), Leibeigenschaft oder Sklaverei.
Zentrum, Peripherie und Semiperipherie
Innerhalb der modernen Weltwirtschaft redet auch Wallersteien von einem Zentrum (core), das
für ihn zur Anfangszeit im 16. Jh. in Nordwesteuropa lag, und einer Peripherie (periphery),
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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damals die amerikanischen Kolonien und Osteuropa. Er führt zusätzlich aber auch noch eine
weitere Zone ein, nämlich die Semiperipherie (semi-periphery), die für ihn damals in Südeuropa
lag. Diese bildet einen Puffer zwischen Zentrum und Peripherie, und für das Zentrum ist sie
selbst Peripherie, während sie für die Peripherie eine Zentrumsfunktion ausübt. Das
Wesensprinzip der modernen Weltwirtschaft ist der Abfluß des Mehrwerts in Richtung Zentrum,
das sich auf Kosten von Semiperipherie und Peripherie bereichert, so wie es auch die
Semiperipherie gegenüber der Peripherie tut. Die Semiperipherie ist im Gesamtzusammenhang
notwendig, denn sie mildert die Verteilungskämpfe, wie Wallerstein es ausdrückt.
Im Zentrum erlaubt der größere Wohlstand freiere Formen der Arbeitskontrolle und höhere
Vergütungen, und in dem, was Wallerstein das „lange 16. Jahrhundert” nennt – die gesamte Zeit
zwischen 1450 und 1640 – waren dies Lohnarbeit und Pacht. In der südeuropäischen
Semiperipherie war die Naturalpacht üblich, und in der Peripherie herrschten die unfreisten
Formen mit den geringsten Vergütungen, in Osteuropa die Leibeigenschaft und in Nord- und
Südamerika die Sklaverei. Auch die Stabilität der Staatsapparate unterscheidet sich je nach
Position im Weltsystem. Im Zentrum sind die Staaten stark, denn hier decken sich die Interessen
der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. In der Semiperipherie und in der Peripherie
werden
sie
jedoch
immer
schwächer,
denn
hier
divergieren
die
Interessen:
Die
Großgrundbesitzer wollen mit ihren Sklaven oder Leibeigenen für den Weltmarkt produzieren
und haben daher andere Interessen als lokale Händler. Dies alles ist systematisch miteinander
verbunden: Die politische Schwäche der Peripherie und die unfreien Arbeitsformen ermöglichen
über den Mehrwertabfluß die politische Stärke des Zentrums und die dortigen freieren
Arbeitsformen.
Die kapitalistische Weltwirtschaft läßt keine nationalen Schranken zu. Die in der
Kolonialgeschichte wiederholt eingesetzte Strategie des Merkantilismus, d. h. der Versuch,
Importschranken zu errichten und die benötigten Waren in den eigenen Kolonien zu produzieren,
war immer die Waffe der Zweitstärksten – im 17. Jh. die Waffe Englands gegen die Niederlande,
im 18. Jh. die Frankreichs und im 19. die Deutschlands gegen die Engländer und schließlich im
20. Jh. die der Sowjetunion gegen die USA. Die Überlegenen hingegen setzten auf den
Freihandel, der sich auch immer wieder durchsetzte.
Die moderne Weltwirtschaft erzeugt jedoch Widersprüche, die sie in regelmäßige Krisen
stürzt. Zum einen schwächt der Abzug des Mehrwerts aus der Semiperipherie und der Peripherie
diese so sehr, daß sie für die Massennachfrage nach den im Zentrum produzierten Gütern
ausfallen. Zum anderen müssen oppositionelle Bewegungen aller Art kooptiert, d. h. mit der
Zuweisung ökonomischer Ressourcen bei Laune gehalten werden. Daher ist die moderne
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Weltwirtschaft auf beständige Expansion angelegt und läuft nun, wo diese an ihre Grenzen stößt
– so Wallersteins in den 1970er Jahren noch gemachte Vorhersage – auf eine sozialistische
Weltwirtschaft zu.
Nicht nur in diesem letzten Bestandteil ist das Marx’sche Element an Wallersteins Theorie
deutlich zu erkennen. Auch der Fokus auf die Formen der Arbeitskontrolle, den Mehrwert und
den Kapitalismus rührt hierher. Allerdings gibt es gewichtige Unterschiede. Denn mit
Produktionsweise meinte Marx ja ein bestimmtes System, die Produktionsmittel zu verteilen und
die Arbeit zu organisieren. Der Industriekapitalismus mit Unternehmer und Arbeitern ist die
Form, die ihn am meisten interessiert, aber daneben unterscheidet er auch die orientalische
Produktionsweise, also ein auf Zwangsabgaben an einen Herrscher und nicht auf dem freien
Kauf und Verkauf von Arbeitskraft errichtetes Produktionssystem.
Für Wallerstein ist dagegen eine Einheit wie bloß ein einzelnes Unternehmen oder selbst noch
eine gesamte Volkswirtschaft für die Analyse zu klein und aus sich selbst heraus nicht zu
erklären. Die einzige Produktionsweise, die die moderne Weltwirtschaft kennt, ist stattdessen sie
selbst in ihrer Gesamtheit. Erst durch die Struktur aus Zentrum, Semiperipherie und Peripherie
wird erklärlich, warum in jeder dieser Zonen unterschiedliche Formen der Arbeitskontrolle
vorherrschen, und auch der klassische Industriekapitalismus im Marx’schen Sinne ist laut
Wallerstein nur durch die Existenz der modernen Weltwirtschaft möglich geworden.
Kritik an Wallerstein
Man kann sich vorstellen, daß dieser Globalismus bei orthodoxeren Marxisten nicht auf
Begeisterung stieß. Schließlich ist es ja für die politische Praxis weit schwieriger, wenn nicht nur
die Eigentumsverhältnisse in einem Betrieb oder in einem Land umgewälzt werden müssen,
sondern gleich ein ganzes globales System. Stärker noch aber hat Wallerstein sein
Wirtschaftsdeterminismus Kritik eingebracht. Denn die Politik als eigenständige Größe kommt
in seinem Entwurf praktisch nicht vor. Stattdessen erklärt das moderne Weltsystem selbst noch
die Staatsstrukturen, und auch eine große Zahl von politischen Entwicklungen bis hin zum
Kommunismus und zum Kalten Krieg des 20. Jahrhunderts leitet Wallerstein allein aus den
Systemerfordernissen der modernen Weltwirtschaft ab.
Wallerstein macht sich allerdings die Mühe, die Wirkung des modernen Weltsystems
ausführlich zu schildern. In den drei Bänden seines Hauptwerks hat dies die Form einer großen
Weltgeschichts-Nacherzählung, unter dem besonderen Blickwinkel der kapitalistischen
Weltwirtschaft. Die Detailbegründungen zeigen ihn als kundigen Historiker und enthalten viele
interesse Beobachtungen. Das gesamte weltgeschichtliche Geschehen der letzten 600 Jahre nur
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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mit der Wirtschaft und dazu noch über eine relativ simple dreiteilige Struktur erklären zu wollen,
halten viele für zu hochgegriffen oder zumindest ergänzungsbedürftig.
Auch von zumeist neomarxistischen Ethnologen, die durchaus bereit sind, der Wirtschaft und
den Produktionsverhältnissen einen angemessenen Platz einzuräumen, ist Kritik gekommen. Eric
Wolf, der mit seinem bekannten Werk Europe and the People Without History (Wolf 1982, 1986
[1982]) eine Art ethnologische Geschichte der europäischen Expansion vorgelegt hat, ist hier
besonders zu nennen. Sein Hauptvorwurf an Wallerstein lautet, daß seine Großtheorie immer nur
von ganz oben auf die Weltgeschichte schaut und wenig geeignet ist, die Geschehnisse bei den
Völkern zu erklären, die bis zur Erfassung durch den europäischen Kolonialismus vermeintlich
ohne Geschichte lebten. Diese Lücke füllt Wolf mit seinem ambitionierten Buch, das eine große
Zahl von Fallstudien zu den Auswirkungen der europäischen Expansion auf die von ihr erfaßten
Gesellschaften enthält. Es zeigt dabei immer wieder, daß diese Expansion auch schon lange vor
der eigentlichen kolonialen Unterjochung dramatische Veränderungen brachte.
Neben diesem historisch-ethnographischen Anliegen besteht Wolf aber auch darauf, daß die
Produktionsweisen nach herkömmlichem Verständnis ihren Sinn behalten. Er unterscheidet drei
davon: erstens die kapitalistische Produktionsweise (ganz im Sinne von Marx), zweitens die
tributäre Produktionsweise, bei der die Produzenten einen Teil – häufig einen sehr großen Teil –
ihres Überschusses an einen Herrscher abführen müssen; also das, was für viele peasants
charakteristisch ist. Und schließlich drittens die verwandtschaftliche Produktionsweise, die in
nicht vom Staat oder von der kapitalistischen Weltwirtschaft erfaßten Gesellschaften die Norm
ist und bei der eine Arbeitsteilung höchstens nach Geschlecht und Alter erfolgt. Wolf besteht im
Unterschied zu Wallerstein darauf, daß diese Produktionsweisen nicht in zu einer einzigen
verschmelzen, sondern systemische Verbindungen miteinander eingehen. Und hier hat gerade
der Fortbestand der verwandtschaftlichen Produktionsweise in manchen Bereichen, wie etwa der
Subsistenzwirtschaft, in anderen den kapitalistischen Vormarsch z. B. von Bergwerken,
Plantagen und später dann Billiglohn-Montagefabriken erst ermöglicht. Wenn man wie
Wallerstein diesen gesamten Komplex als eine einzige Produktionsweise zusammenfaßt,
entgehen einem laut Wolf solche Feinheiten, und gerade diese prägen außerhalb Europas oft die
Lebensrealität.
Im Detail erklären Wallerstein und Wolf dieselben historischen Vorgänge oft trotzdem auf
ähnliche Weise, so daß sich die Differenz letztendlich vielleicht auf eine unterschiedliche
Sensibilität für die Vorgänge in der Peripherie des Weltsystems reduziert. Für den WeltSoziohistoriker Wallerstein sind diese nur am Rande wichtig, für den Ethnologen Wolf aber sind
sie zentral, und seine Vorgaben helfen uns daher oft mehr als Wallersteins Theorie. Die letztere
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ist aber trotzdem klar und nachprüfbar formuliert und hat den Reiz aller mutigen Versuche,
komplexe Geschehnisse auf den Punkt zu bringen.
Soroako im Weltsystem
Neben den neomarxistischen Vorgaben der peasant studies hat auch die Weltsystemtheorie viele
ethnologische Forschungen beflügelt, und vor allem in den 1970er und 80er Jahren bildeten
diese
das
beherrschende
Genre
der
ethnologischen
Globalisierungsliteratur
–
einer
Globalisierungsliteratur avant la lettre, wie man gleich betonen muß, denn das Schlagwort
existierte noch gar nicht, und es wurde eher von „Weltsystem”, „politischer Ökonomie” oder
„peripherem Kapitalismus” gesprochen. Diese Studien teilen Wolfs und Wallersteins Sinn für
ökonomische Abhängigkeiten, bemühen sich aber auch um eine ethnographische Ergänzung, die
die Peripherie des Weltsystems nicht bloß als das willenlose Opfer mächtiger Prozesse ansieht,
sondern die aktive Reaktion der außereuropäischen Gesellschaften auf die neuen Verbindungen
in den Vordergrund stellt. Ich möchte ihnen zunächst zwei ältere Monographien aus dieser
Richtung vorstellen, beide von Ethnologinnen verfaßt und auf Südostasien bezogen. Mit dem
Bergbau und mit Billiglohn-Montagefabriken konzentrieren sie sich außerdem auf zwei für den
weltweiten Vormarsch des Kapitalismus sehr wesentliche Branchen.
Von den Anfängen bis zur Nickelmine
Die erste Studie ist das Buch Stepchildren of Progress der an der Australian National University
tätigen Ethnologin Kathryn Robinson (Robinson 1986). Von 1977-79 hat sie 21 Monate und
1980-81 noch einmal 2 Monate in der Kleinstadt Soroako im Zentrum der Insel Sulawesi
geforscht, nur ein paar Hundert Kilometer nördlich übrigens vom Feldforschungsort von
Professor Rössler in Makassar. Seit den 1970er Jahren ist Soroako der Standort einer der größten
Nickelminen der Welt, Eigentum einer indonesischen Tochterfirma des kanadischen
multinationalen Konzerns Inco. Robinson analysiert die dadurch ausgelösten sozialen
Transformationen, und ihr Fokus sind die ursprünglichen Einwohner, die Soroakaner. Diese
standen dem Projekt keineswegs feindselig gegenüber, fühlen sich heute aber als seine
„Stiefkinder”, wie es der Buchtitel formuliert.
Soroako hat historisch nie eine auffällige Rolle gespielt. Es liegt am Matano-See in bergiger
Umgebung, in einem vormals von politischer Zersplitterung und Kriegführung geprägten Gebiet.
Ab dem 19. Jh. geriet die Gegend zunehmend unter den Einfluß des Bugis-Königreichs Luwu an
der Küste. (Die Bugis sind die Ethnie der Seefahrer und Händler an den Küsten Sulawesis und
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der Nachbarinseln.) Von diesen wurde auch der Islam übernommen. Kurz nach 1900 ergriffen
die Niederländer die koloniale Kontrolle und führten durch die Erhebung von Steuern nicht nur
die Geldwirtschaft, sondern auch den Naßreisanbau ein. Nach dem Krieg und der
Unabhängigkeit 1950 war das ganze Gebiet Teil einer islamischen Rebellion gegen die
Regierung Sukarno, die erst mit dem Putsch Suhartos 1965 endete. Die Dörfler assoziieren diese
Phase mit großen Entbehrungen, aber sie brachte ihrem vormals eher mit geringer Strenge
gehandhabten Islam größere Orthodoxie, etwa eine stärkere Trennung der Geschlechter und den
Verzicht auf selbstgebrannten Palmwein.
Nach seiner Machtübernahme suchte der Diktator Suharto die politische Annäherung an den
Westen
und
die
wirtschaftliche
Entwicklung
mit
einem
weltmarktgerechten
Modernisierungskurs. Ausländischen Investoren wurden Steuerbefreiungen und andere
Vergünstigungen eingeräumt, in der Hoffnung darauf, daß die wirtschaftlichen Projekte auch für
Indonesien Geld, Infrastruktur und Knowhow abwerfen würden. Nickel hatten in Soroako schon
die Niederländer und im Krieg kurze Zeit die Japaner gefördert, nun aber trat Inco, einer der
weltgrößten Produzenten, auf den Plan. 1969 begann die Aufbauphase, 1978 schließlich die volle
Produktion in sowohl einer Mine als auch einer Fabrik zur Weiterverarbeitung, ▶▸die ihrerseits
über eine Eisenbahnlinie mit einem Seehafen verbunden ist. Beide Produktionsstätten liegen
etwa fünf Kilometer vom Dorf entfernt.
Sozialgeographie, Wirtschaft und Sozialordnung Soroakos
Der Nickelabbau beherrscht das Dorf bzw. die Stadt mittlerweile so sehr, daß sie offiziell nicht
mehr ▶▸Desa Soroako, sondern Desa Nikkel heißt. („Desa” bedeutet Dorf.) Die etwa 1000
ursprünglichen Einwohner wohnen weiterhin hauptsächlich im alten Teil des Dorfes am See,
aber nebenan ist ein neues Dorf gewachsen, das vorwiegend von Immigranten aus anderen
Teilen Sulawesis bewohnt wird. Und dazu gibt es jetzt den „townsite”, d. h. eine moderne
Kleinstadt mit einem eigenen Geschäftszentrum und ausgedehnten Wohnanlagen für die
Beschäftigten von Inco. Die räumliche Segregation ist dabei sehr ausgeprägt: ▶▸Das aus dem
Ausland entsandte Topmanagement wohnt in geräumigen Villen im Bereich C, die nächste,
bereits einen größeren Anteil von Indonesiern umfassende Rangstufe in Bereich D. Der Bereich
F für die gewöhnlichen Angestellten besteht dagegen aus Firmenwohnungen nach
einheimischem Zuschnitt, die gegenüber dem direkt benachbarten Dorf nur den Vorteil von
Strom- und Wasserleitungen haben. Generell gilt, daß die Entfernung der Wohnung vom Dorf
der Höhe der Position in der Firma und auch der Entfernung des eigenen Herkunftsorts vom Dorf
entspricht: Top-Positionen bei Inco bekleiden aus Kanada oder Australien entsandte expatriates,
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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die am dorffernsten wohnen. Schon die Koreaner und Filipinos unter den Angestellten verdienen
weniger, und die von den anderen indonesischen Inseln kommenden Indonesier noch weniger,
nur ein Viertel von dem, was ein Ausländer für dieselbe Position erhält. Die am schlechtesten
bezahlten, keine Ausbildung erfordernden Positionen sind zum großen Teil mit Ortskräften
gefüllt, vorwiegend aus Sulawesi, dort allerdings aus allen möglichen Regionen und längst nicht
nur aus Soroako. Mehr als 3000 Beschäftigte hat die Firma zum Zeitpunkt der Feldforschung,
davon nur etwa 200 Frauen, und mehr als 8000 Bewohner leben zu etwa gleichen Teilen im Dorf
am See und im townsite.
Obwohl die Vergütungen bei Inco sehr unterschiedlich ausfallen, ist die Beschäftigung dort
sehr begehrt. Zusätzlich zum regelmäßigen Einkommen berechtigt sie zu Leistungen wie der
Nutzung des Firmenkrankenhauses, die anderen nicht offenstehen. Bedingt letztendlich durch
den Weltmarkt, auf dem der Nickelpreis stark schwankt, ist jedoch auch der Arbeitskräftebedarf
Incos unstet und allgemein hinter die Aufbauphase zurückgefallen. 40 Jahre ist zudem die
Altersgrenze für die ungelernten Arbeiten, so daß sich längst nicht für alle der ursprünglichen
Dörfler die Hoffnung auf einen dauerhaften Arbeitsplatz erfüllt hat. Von ihnen hat ein Viertel der
Haushaltsvorstände weder bei Inco noch sonst eine feste Anstellung.
Vor Incos Kommen hätte dies die Dörfler wenig bekümmert, denn da besaßen sie ihre
Produktionsmittel noch selbst. Reisanbau wurde auf direkt an das Dorf angrenzenden
bewässerten Feldern betrieben, zudem auch auf brandgerodeten Feldern in größerer Entfernung,
auf denen auch Gemüse, Knollenfrüchte, Bananen und anderes produziert wurde. Die
Naßreisfelder waren gleichmäßiger verteilt als sonst in Indonesien, und völlig Landlose bildeten
nur einen kleinen Teil der Bevölkerung. Brandrodungsfelder konnte jeder zudem nach Belieben
anlegen, denn der Regenwald hatte nach allgemeiner Auffassung keinen Eigentümer und wurde
auch für die Jagd und für das Sammeln von Rattan und anderen Produkten genutzt. Robinson
stellt für die Zeit vor Inco fest, daß zwar bereits eine Klassenstruktur im Entstehen war,
hauptsächlich darüber, daß einige Bewohner durch den Handel Wohlstand erwarben und diesen
dann in neues Land und in die als Arbeitstiere beim Reisanbau wichtigen Wasserbüffel
umsetzten. Doch diese Ansätze wurden durch die vielfältigen Verwandtschaftsbeziehungen
zwischen den Dorfbewohnern und die so bedingte Umverteilung abgemildert.
Mittlerweile steht die Mehrzahl der Alteingesessenen aber bei Inco oder bei den diversen
Dienstleistern der Firma (z. B. als Busfahrer, Bauarbeiter oder Gärtner in den Villen des
Managements) im Brot. Oft sind dies nur Gelegenheitsanstellungen, die nicht sehr gut entlohnt
werden. Die eigene Subsistenzwirtschaft ist aber nur noch sehr begrenzt in der Lage, die
Deckungslücken zu füllen, denn das beste Land des Dorfes mit den Naßreisfeldern wurde 1972
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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von Inco aufgekauft. Einige Alteingesessene setzen den Anbau auf brandgerodeten Feldern fort,
doch sind diese weiter entfernt als früher, und auch die alten Jagd- und Sammelorte sind nun
häufig entweder Minengebiet oder davon beeinträchtigt. Das von Inco durchgesetzte Verbot von
Feuern nahe dem townsite und von Wasserbüffeln in der Nähe der Villen-Gärten bringt
zusätzliche Hindernisse. Die Haushalte, die noch Anbau betreiben – oft nur mit den
übrigbleibenden Arbeitskräften, die nicht bei Inco und bei den Servicebetrieben unterkommen –
sind nicht einmal mehr beim Grundnahrungsmittel Reis in der Lage, den eigenen Bedarf zu
decken.
Die Alt-Soroakaner waren allerdings auch gar nicht besonders erpicht darauf, weiter
Reisbauern zu sein, und der Aufkauf des Landes durch Inco war ursprünglich sehr willkommen.
Doch wurden die dafür gezahlten Preise 1974 ohne Beteiligung der Eigentümer ausgehandelt,
direkt zwischen Inco und einer höheren Regierungsebene. Die festgesetzten Beträge wurden als
zu niedrig und zudem willkürlich festgelegt empfunden, so daß ein Großteil der Alteigentümer
die Annahme verweigerte und durch den gemeinschaftlichen Einsatz eines Rechtsanwalts auch
Zugeständnisse erreichte. Inco zahlte irgendwann das Doppelte der ursprünglichen Beträge und
stellte zudem Kompensationsland an anderem Ort in Aussicht. Doch floß das Geld an die
erwähnte Regierungsebene, und von dort war es 1981 immer noch erst zum Teil an die
Alteigentümer gegangen, und auch das Kompensationsland blieb umstritten. Inco wusch seine
Hände in Unschuld, da es ja gezahlt hatte, allerdings insgesamt auch nicht mehr, als eine einzige
Villa für einen Angestellten des Top-Managements kostet.
Dies hat die Möglichkeiten der Dörfler beeinträchtigt, sich neue Existenzen aufzubauen, etwa
über Geschäfte oder Mietwohnungen für die vielen Zuzügler. Am ehesten sind hier noch
diejenigen erfolgreich gewesen, die die anfänglich angebotenen zu niedrigen Zahlungen
angenommen hatten. Den Handel dominieren ohnehin die Neueinwohner, und auch bei der
Vergabe von neuen Baugrundstücken sind die alten Soroakaner häufig zu langsam gewesen.
Denn ihnen war zwar zugesichert worden, daß sie hier bevorzugt werden würden, doch bevor die
Vorgänge – wiederum sehr schleppend – in Gang kamen, hatten sich andere durch Beziehungen
oder
Bestechung
bereits
bedient.
Gewohnheitsrechte
an
dem
früher
nur
zum
Brandrodungsfeldbau genutzten Land, das niemals formell registriert worden war, wurden von
der Bezirksregierung ohnehin nur sehr selten anerkannt.
Die meisten Haushalte verfolgten daher zur Feldforschungszeit eine Mischstrategie mit einer
Vielzahl von Beschäftigungen sowohl im formalen als auch im informellen, d. h. ohne offizielle
rechtliche Absicherung auskommenden Sektor. Frauen bestellen Felder und fangen Fisch, man
betreibt Kleinhandel, nimmt Mieter auf, verdingt sich als Hausmädchen, sammelt Rattan und
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schlägt Holz, verrichtet unregelmäßige Jobs und/oder nutzt die Gaben und Kredite der Reicheren.
Manche Haushalte sind so arm, daß es kaum für die eigene Ernährung und gar nicht für das
eigentlich nur niedrige Schulgeld der Kinder reicht. Andere, vor allem die mit festen
Anstellungen bei Inco, profitieren jedoch von der neuen Situation und von dem sehr viel
breiteren Angebot an Konsumgütern, das ganz allgemein die Ansprüche steigen läßt. Die Schere
zwischen Arm und Reich geht also bei den Alteingesessenen immer weiter auf, und das
Wirtschaften individualisiert sich, wobei die Erträge auch weniger bereitwillig mit anderen
Haushaltsmitgliedern und Verwandten geteilt werden, als dies früher der Fall war.
Rassische und ethnische Hierarchien
Zudem stehen die Soroakaner in der neuen, durch Inco bestimmten Hierarchie ganz unten. Dies
ist eine sowohl rassistisch als auch ethnisch geprägte Hierarchie. Robinson hatte hier Kontakte
zu beiden Seiten, also auch zu den weißen expatriates, und ihre Schilderungen bestimmter
Vorfälle zeigen deutlich, daß sie hier öfters zwischen die Fronten geriet und schwierige
Situationen zu bewältigen hatte. Wie schon erwähnt bekleiden Weiße, Asiaten aus anderen
Ländern und Indonesier von anderen Inseln in dieser Reihenfolge die Spitzenpositionen bei Inco,
und nicht nur ihre Wohnorte sind segregiert, sondern auch ihr Sozialleben. Im Firmenrestaurant,
das alle besuchen, sitzt man trotzdem getrennt, und auch im Krankenhaus und in dem von Inco
betriebenen Laden gibt es separate Bereiche. Das Unwissen der Weißen über die Indonesier ist
häufig groß. An einem gemeinsam veranstalteten United Nations Day etwa servieren weiße
Frauen unter den Organisatorinnen Schweinefleisch, ohne daran gedacht zu haben, daß unter den
beteiligten Indonesierinnen viele Musliminnen sind. Auch mokieren sich Weiße, die den aus
dem Wald aufsteigenden Rauch bemerken, über die vermeintliche Kurzsichtigkeit des
Abbrennens, ohne zu wissen, daß dies für den Anbau geschieht. Eine Lehrerin in der von der
Firma für die Kinder der Angestellten betriebenen Schule versucht die Grenzen aufzuweichen,
doch als sie geht, wird wieder stärker segregiert, und nach einer Schlägerei zwischen weißen und
nichtweißen Kindern gibt es unterschiedliche Schul- und Pausenzeiten, so daß sich die beiden
Gruppen gar nicht mehr begegnen können.
Bestimmte Auswüchse schreibt Robinson dem schlechten Gewissen der Weißen zu. Ein
Dauerproblem der selbst ziemlich unterbeschäftigten Ehefrauen sind z. B. ihre Hausmädchen.
Ein solches zu haben, ist eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit, auch wenn es das erste Mal
im Leben ist, doch die Sorge, diese Dienstleistungen zu hoch zu bezahlen, ist ein ständiges
Konversationsthema unter den Herrinnen. Auch regiert die Doppelmoral, wenn etwa Diebstähle
und Einbrüche durch die Indonesier beklagt werden, aber die eigene Verwendung von
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Firmenmaterialien z. B. zum Hausbau als gutes Recht gilt. „The pervasiveness of hierarchy and
status differences in Soroako infused all relations with an exaggerated concern with inequality”,
formuliert Robinson (Robinson 1986: 251). Und so führt auch der Besuch des Dorfmarkts für die
weißen Ehefrauen nicht zur Freude über die allgemein sehr geringen Preise, sondern im
Gegenteil zum Gefühl, betrogen zu werden, wenn die Bugis-Händler sie beim Feilschen immer
wieder an ihren eigenen Reichtum erinnern und sie so zum Einlenken bewegen wollen. Auch
anfangs aufgeschlossenere Bekannte Robinsons übernehmen schließlich die Vorurteile der
anderen Weißen, und die Segregation schrumpft im Laufe der Zeit nicht, sondern wächst eher
noch. Nur wenige scheinen sich hier offener zu verhalten; immerhin berichtet Robinson von
einer Ehefrauen-Initiative, die dabei hilft, eine Klinik im Dorf weiterzubetreiben.
Die Weißen sind durchaus nicht unbeliebt. Anfangs wird z. B. ihre Anwesenheit bei
Hochzeiten als Ehrengäste gesucht, um so den eigenen Status zu steigern, auch wenn dies
peinliche Situationen heraufbeschwört, wenn etwa die weißen Gäste in Shorts kommen und aus
hygienischen Ängsten nichts von dem essen, was ihnen angeboten wird. Weiße Chefs stehen
zudem im Rufe, die Fähigkeiten ihrer Untergebenen fairer zu bewerten, als es indonesische
Chefs tun. Die höherrangigen indonesischen Angestellten dagegen fühlen sich deutlich
diskriminiert, was ja wie schon gesagt schon bei ihrem geringeren Gehalt anfängt. Jedoch bilden
die zahlenmäßig bei weitem überlegenen Indonesier keine geeinte Front gegen die Weißen,
sondern sind eher mit ihrer Differenzierung voneinander beschäftigt.
Die ethnische Hierarchie unter den Indonesiern entspricht der auch generell im Land
verbreiteten, bei der die Bewohner Javas und Sumatras einen höheren Rang einnehmen als die
der „äußeren Inseln” wie eben Sulawesi. ▶▸Genau so ist es auch bei Inco, wo die niedrigste,
zahlenmäßig größte Kategorie der ungelernten Arbeiter komplett aus Leuten aus Sulawesi
besteht, von denen drei Viertel vor Ort angeworben wurden. Bei den „managers” – also den in
einer vorgesetzten Position Arbeitenden – ist dagegen nur noch ein Viertel aus Sulawesi, und nur
3 Prozent sind lokal angeworben. Die Hierarchie drückt sich wie bereits erwähnt in der
Wohnsituation aus und bestimmt auch den sonstigen Umgang miteinander. Bessergestellte
indonesische Ehefrauen aus dem townsite unterhalten zu denen im Dorf höchstens
patronageartige Beziehungen, etwa indem sie sie zur Hilfe beim Kochen von Festmählern bitten
und sie dafür bezahlen. Auch in der Frauenvereinigung sind es diese indonesischen Ehefrauen
von anderen Inseln, die die Leitungsämter bekleiden und es als ihre Aufgabe ansehen, den
anderen Lebensstil und Kultur zu vermitteln.
Die Kategorie der alteingesessenen Soroakaner hat dabei durchaus noch Bestand. Zwar
nehmen die Ehen mit Zugezogenen zu, von 1970 etwa einem Drittel auf 1980 etwa zwei Drittel.
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Die gemeinsame Vergangenheit, die nur mit einem einzigen anderen Dorf geteilte Sprache, der
Islam und schließlich auch die gemeinsamen Erfahrungen in der Zeit seit dem Kommen Incos
erzeugen aber weiterhin ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. In einer Reihe von Fällen
verhindert dies aber den Solidarschluß mit anderen in ähnlicher Lage, etwa in den
Landkonflikten gegen Zugezogene oder in der großen Bereitschaft, die immer wieder von Inco
in Aussicht gestellten, letztendlich aber kaum eingelösten Privilegien für die Alteingesessenen
anzunehmen.
Auch
beschweren
sich
die
Soroakaner
zwar
über
die
ethnischen
Bevorzugungspraktiken vieler indonesischer Vorgesetzter, aber hauptsächlich darüber, daß sie
dabei mangels Vorgesetzten mit lokaler Herkunft nicht selbst zum Zuge kommen. Die
Bevorzugung der „eigenen Leute” an sich ist dagegen für sie etwas ganz Normales.
Rasse und Ethnizität maskieren – so formuliert es Robinson – also die tatsächlichen
Klassenverhältnisse und geben ihnen eine vermeintlich „natürliche” Grundlage, die eben in den
durch Abstammung oder kulturell erworbenen spezifischen Fähigkeiten der einzelnen Gruppen
liegt. Die weniger Privilegierten sind eher damit beschäftigt, sich untereinander abzugrenzen, als
sich zu solidarisieren und ihre gemeinsamen Interessen zu vertreten, was das Geschäft für Inco
natürlich sehr erleichtert.
Robinsons Fazit ist skeptisch: Daß sich der in der Entwicklungsideologie des indonesischen
Staates erhoffte Modernisierungsschub einstellt und allen beteiligten Indonesiern Wohlstand
bringt, ist nicht zu ersehen; eher sind es bestimmte Gruppen, die profitieren, während vor allem
die alteingesessenen Soroakaner eher leer ausgehen. Robinson besteht darauf, daß die
Interaktionen der verschiedenen am Nickelprojekt beteiligten und davon betroffenen Gruppen
keinesfalls nur aus der lokalen Dynamik heraus erklärbar sind. Vielmehr ist es die
Weltsystemsintegration, die hier entscheidend wirkt, z. B. eben über die Schwankungen des
Nickelpreises, die sich unmittelbar in der Zahl der Arbeitsplätze niederschlagen. Auch für
Robinson steht fest, daß die Entwicklung der einen ursächlich mit der Unterentwicklung der
anderen zusammenhängt, genauso wie für die Dependenztheoretiker und für Wallerstein. Wie
genau die lokalen Gemeinschaften eingebunden werden, betont sie aber, steht durch den
Charakter des Weltsystems keinesfalls fest; hier sind vielmehr Mikrostudien wie die ihre
erforderlich, die zudem aufzeigen, daß die Soroakaner und andere keineswegs passive Opfer sind,
sondern ihre Form der Weltsystemeinbindung zwar unter beträchtlichen Sachzwängen, aber eben
doch aktiv mitgestalten. Auch ist es im Gegensatz zur marxistischen Lehre nicht nur die
wirtschaftliche Basis, die den gesellschaftlichen Überbau bestimmt, sondern dieser hat durchaus
auch sein Eigenleben, wie sie selbst ja durch ihre Analyse der ethnisch-rassischen
Grenzziehungen sehr deutlich demonstriert.
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Geister zwischen Microchips
Die zweite Studie stammt von der chinesischstämmigen Malaysierin Aihwa Ong, heute
Ethnologieprofessorin an der University of California in Berkeley. Ihre Feldforschung
überschnitt sich mit der von Robinson und fand gar nicht so weit entfernt in Malaysia statt. Wir
wechseln allerdings das kapitalistische Genre, denn statt einer Mine stehen nun ausländische
Montagefabriken im Vordergrund, die sich die niedrigen Lohnkosten zunutze machen, und statt
Männern sind es Frauen, die dort arbeiten (Ong 1987).
Historischer Hintergrund
Ong verbrachte 1979-80 14 Monate in ▶▸Kuala Langat in der malaysischen Provinz Selangor.
Dies ist eine weniger periphere Gegend als Soroako, hier liegen vielmehr die Hauptstadt Kuala
Lumpur, der internationale Flughafen und ein großer Hafen nicht weit entfernt. In vorkolonialer
Zeit gab es hier malaiische Sultanate an den Flußmündungen, denen gegenüber die
Subsistenzwirtschaft betreibenden Siedlungen im Landesinneren tributpflichtig waren. Ab 1874
intensivierten die Briten per „indirect rule” ihre koloniale Kontrolle, da sich für sie mit der
Zinngewinnung und Plantagen, u. a. für den nach der Jahrhundertwende boomenden Kautschuk,
lohnende Möglichkeiten boten. Chinesische und indische Kontraktarbeiter wurden dafür
eingeführt, aber auch Migranten von Sumatra, Java und anderen indonesischen Inseln. Diese
zugezogenen Malaiien wie auch die alteingesessenen Malaiien waren für eine Rolle als peasants
vorgesehen, nicht zuletzt auch um die Nahrungsmittelversorgung der Bergwerks- und
Plantagenarbeiter zu sichern, und die Einrichtung von sogenannten „Malay Reservations”, wo
nur innerethnischer Landverkauf erlaubt war, sollte Landspekulation und die Herausbildung
eines landlosen Proletariats verhindern.
Der kommunistische Guerilla-Widerstand der Nachkriegszeit änderte die Bedingungen, denn
nun waren etwa für Sicherheitsdienste Arbeitskräfte knapp. Allerdings kontrollierten die Bauern
damals noch ihre eigenen Produktionsmittel, was der Lohnarbeit ihren Reiz nahm. Mit der
Unabhängigkeit 1957 sollte sich dies jedoch ändern, denn nun waren es vor allem die Beamten
des neuen Staates, die Land anhäuften. Hinzu kam das islamische Erbrecht, das allen Kindern
einen Anteil sichert, und ein allgemeines, politisch durchaus gewolltes Bevölkerungswachstum.
Ende der 1970er Jahre ist somit der Landmangel eine verbreitete Sorge. Im Schnitt hat jeder
Haushalt in dem von Ong besonders untersuchten Dorf nur noch etwa 1,4 ha, und ein Viertel der
Haushalte hat überhaupt keine Anbauflächen, während Wohlhabende große Besitztümer ihr
eigen nennen. Zudem gibt es zahlreiche Großplantagen in Firmenhand, wo Öl- und
Kokospalmen, Kautschuk und Tee wachsen, und manche der Kleinbauern pflanzen Kaffee und
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Kakao. Die Preise für Land steigen stetig und machen es für Kleinbauern immer illusorischer,
ihre Flächen zu vergrößern.
Frauen in den Montagefabriken der Sonderwirtschaftszonen
Die meisten Haushalte verfolgen daher ähnliche Mischstrategien wie in Soroako, wobei der
eigene Anbau gegenüber der Lohnarbeit immer mehr in den Hintergrund tritt, vor allem für die
jüngere Generation. Für diese ist vielmehr eine gute Schulbildung der Weg in die angesehensten
Beschäftigungen im Staatsdienst und als white-collar-Angestellte, zudem ein durchaus nicht
unmöglicher Weg, da für die besten Schüler Stipendien ausgelobt werden. Tatsächlich sind die
meisten Männer jedoch als gewöhnliche Arbeiter tätig, sowohl in Festanstellungen als auch auf
Gelegenheitsbasis. Nicht selten arbeiten sie auch in den Plantagen, die anders als früher nicht nur
auf Chinesen und aus Indien stammende Tamilen, sondern auch auf Malaiien zurückgreifen. Die
Arbeit als Bauer wird eher verachtet, so sehr auch ihre allmähliche Aufgabe für die gesamte
Gegend die wirtschaftlichen Verhältnisse verschlechtert.
Ein Novum ist, daß sich nun auch Frauen in großem Stil in der Lohnarbeit betätigen. Anders
als früher erhalten sie eine Schulerziehung. Allerdings ist bei Mädchen die Bereitschaft der
Eltern geringer, diese auch über die Mittelschule hinaus auszudehnen, und in den letzten
Schuljahren fallen die Noten der Mädchen oft schon stark ab, da sie stärker zur Haushaltsarbeit
herangezogen werden. Im Unterschied zu früheren Zeiten werden nun zwischen dem
Schulabschluß und der Heirat einige Jahre der Lohnarbeit eingelegt, und diese bringt sowohl den
Haushalten der Eltern und Geschwister als auch über das Angesparte den zukünftigen
Haushalten der Töchter willkommene Einkünfte. Töchter bleiben seltener ganz ohne Arbeit als
Söhne, und sie weigern sich seltener, ihren Lohn auch tatsächlich dem gesamten Haushalt zur
Verfügung zu stellen.
Die Arbeitgeber der jungen Frauen sind vor allem die Montagefabriken multinationaler
Konzerne, für die Freihandelszonen eingerichtet worden sind. Für die malaysische Regierung
war die Förderung der Leichtindustrie auf dem Lande Ende der 1960er Jahre ein Weg, der
wachsenden Verarmung und politischen Unruhe der Bauern zu begegnen, die über die
Landflucht auch den Druck auf die Städte erhöhte. In den Sonderwirtschaftszonen genießen
ausländische Investoren bis zu zehn Jahre währende Steuerbefreiungen, können Profite und
Kapital ungehindert ins Land hinein- und wieder hinaustransferieren und müssen nur minimale
Zollgebühren entrichten. Mindestlöhne existieren ebenfalls nicht, und obwohl die Möglichkeit
des Anteilserwerbs durch Malaysier als erwünscht gilt, ist die Beschäftigung von mindestens 40
Prozent Malaiien in allen Positionen die einzige harte Bedingung.
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Die Kleidungs-, Nahrungsmittel- und Elektronikfirmen, die diese Vorteile nutzen, stellen
überwiegend ledige junge Frauen im Alter von 16 bis 25 Jahren ein. Bei den drei japanischen
Fabriken in der Sonderwirtschaftszone nahe Ongs Feldforschungsdorf sind über 80 Prozent der
2000 Mitarbeiter weiblich. Frauen werden gerade dann als überlegen betrachtet, wenn die Arbeit
monoton ist und Geduld, aber auch manuelles Geschick und ein gutes Auge verlangt, und das ist
in allen drei Fabriken der Fall, denn zwei stellen Mikrochips her und eine Musikelektronik.
Überdies sind die Löhne für Frauen niedriger. Die Verheiratung beendet gewöhnlich das
Arbeitsverhältnis, viele Frauen steigen jedoch noch früher aus, nach nur drei bis vier Jahren.
Denn die Arbeit erfolgt in zwei oder sogar drei regelmäßig wechselnden Schichten, ist
anstrengend und körperlich belastend. Vor allem die Präzisionsarbeit mit Mikroskopen strengt
die Augen so sehr an, daß sie nur wenige Jahre möglich ist.
Dazu tragen die Arbeitsbedingungen bei, denn hohe Geschwindigkeiten werden verlangt bzw.
durch Akkordanteile der Entlohnung gefördert. Die Zufriedenheit mit den Bedingungen und
Löhnen ist sehr begrenzt, oft bringen nur die Zuschläge für Überstunden oder Nacht- und
Sonntagsschichten wirklich etwas ein. Viele der Frauen hoffen ohnehin darauf, später bessere
Anstellungen zu finden, für die sie ihre Schulausbildung oft auch durchaus qualifiziert. Vor
allem der Staatsdienst ist das große Ziel. Wirksame gewerkschaftliche Vertretungen existieren
nicht. Sie sind zwar nicht verboten, aber nur, wer mehr als drei Jahre gearbeitet hat, kann
Mitglied werden, und ein Streikrecht fehlt. Für die Einhaltung der Zeit- und Qualitätsstandards
ist fast ausnahmslos männliches Vorarbeiter- und Aufseherpersonal zuständig, und die wenigen
Frauen, denen diese Positionen angeboten werden, lehnen sie nicht selten deshalb ab, weil sie
fürchten, daß ihnen die entsprechende Autorität fehlt.
Eine Auflehnung gegen die patriarchalische Herrschaftsordnung findet also nicht statt, im
Gegenteil teilen die Frauen die Ansicht, daß die Männer für die vorgesetzten Positionen
geeigneter und Frauen dafür zu sehr von Emotionen geleitet sind. Auch in ihren Familien sind
die Frauen wie bereits erwähnt gegenüber ihren männlichen Geschwistern die zuverlässigeren
und bereitwilliger zur Haushaltskasse beitragenden Verdiener, die zusätzlich zu ihrer Anstellung
auch noch Haushaltsarbeit erledigen. Trotzdem bricht die traditionelle Verfügungsgewalt der
Eltern über ihre Töchter allmählich auf; Ehemänner suchen sie sich nämlich jetzt selbst aus oder
wählen zumindest unter mehreren ihnen vorgestellen Kandidaten, während dies früher Sache der
Eltern war. Auch Scheidungen sind nicht mehr selten und Wiederverheiratungen mit einem der
Frau stärker zusagenden Partner durchaus verbreitet. Ong liefert eine ganze Reihe von
Fallbeispielen zu den dadurch entstehenden Konflikten, in denen etwa durch gemeinsames
Ausreißen oder voreheliche Schwangerschaften immer wieder auch Ehen mit mißliebigen
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Partnern erzwungen werden. Auch sind die Frauen durchaus aktive Konsumentinnen.
Moralische Sorge und Geisterattacken
Der so gewonnene Spielraum hält sich nach mitteleuropäischen Vorstellungen immer noch in
sehr engen Grenzen, aber für die malaysische Gesellschaft ist er bereits ungewohnt genug und
gibt vielen gesellschaftlichen Kräften Anlaß zur Sorge. Von der Sensationspresse bis hin zu
Intellektuellen werden die Arbeiterinnen als von Konsum, Vergnügungssucht und sexueller
Zügellosigkeit bedroht dargestellt, offenbar in stark übertriebener Weise, was Ongs
Informantinnen ziemlich erbost. Trotz ihrer Beiträge zum Wirtschaftswachstum und zu den
Haushaltsbudgets hat kaum jemand ein gutes Wort über die Arbeiterinnen zu verlieren, und die
einzige Möglichkeit für sie, eine positive Gender-Identität zu gewinnen, scheint die Hingabe an
besonders asketische islamische Richtungen zu sein.
In diesem Kontext interpretiert Ong die Besessenheit durch Geister, die in den Umkleide- und
Gebetsräumen, aber auch in den Arbeitshallen regelmäßig vorkommt. Die befallenen Frauen
reden mit fremden Stimmen, schlagen um sich und fallen zu Boden, oft lassen sie sich kaum
bändigen. Manchmal steckt dies an, und in einem Fall werden 40, in einem anderen sogar 120
Frauen gleichzeitig ergriffen. Den Frauen zufolge sind es wütende Rachegeister (▶▸kenah hantu),
Ahnengeister (▶▸datuk), Erdgeister, Grabgeister oder Wertiger, die von ihnen Besitz ergreifen,
und eine Ursache wird darin gesehen, daß die Sonderwirtschaftszone über den Gräbern der
Ureinwohner errichtet worden ist. Geistheiler (▶▸botoh) sind in der Lage, mit ihren Ritualen die
Geister in die Schranken zu weisen, und sind daher in den Fabriken regelmäßige Gäste. Auch
neue Gebäude werden von ihnen gesegnet, bevor man sie in Betrieb nimmt.
Die Firmenleitungen scheinen dies zu tun, um die Frauen zu beruhigen, und sprechen selbst
von „Hysterie” oder vermuten ein nicht ausreichendes Frühstück als Auslöser. Für sie offenbart
sich hier schwer auszurottender dörflicher Aberglaube, also ein unliebsames Stück Tradition, daß
von den Frauen mit in die kapitalistische Moderne der Halbleiterherstellung gebracht wird. Ong
interpretiert die Besessenheiten jedoch anders. Für sie sind sie ein Fall von unbewußtem
Widerstand, gegen die den Frauen auferlegte kapitalistische Arbeitsdisziplin und gegen ihre
weiterhin untergeordnete, ihrem wirtschaftlichen Beitrag nicht gemäße soziale Stellung. Eine
offene Auflehnung findet wie schon gesagt nicht statt, eher rechtfertigen die Frauen ihre
Kontrolle durch männliche Aufseher und paternalistische Firmenleitungen auch noch selbst.
Außer Tränen, wenn die Kritik der Aufseher zu hart wird, oder sehr gelegentlichen Fällen von
Sabotage, Dienst nach Vorschrift oder dem Auflauern und Verprügeln der Aufseher durch
männliche Verwandte der Frauen haben sie wenige Möglichkeiten, sich zur Wehr zu setzen. Und
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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so tun es gewissermaßen die Geister für sie, auf recht wirksame Weise, denn im Falle einer
Massenbesessenheit ist erst drei Tage später und nach intensivem Einsatz von Geistheilern
wieder an die Fortsetzung der Produktion zu denken.
Billiglohnfabriken wie die beschriebenen gibt es im ost- und südostasiatischen Raum heute
zuhauf, und kaum ein von uns benutztes Elektronikgerät ist nicht durch die Hände solcher
Arbeiterinnen gegangen. Ong gelingt es sehr gut, die Einbindung dieser neuen wirtschaftlichen
Möglichkeiten in den lokalen malaysischen Kontext aufzuzeigen. Die Lohnarbeit der Frauen
verändert die Haushaltsökonomien und auch die familiären Beziehungen, als ein weiterer Faktor
neben vielen anderen weltsystemsbedingten Einflüssen auf die lokale Wirtschaft. Auch Ong
zeigt allerdings auf, daß es nur mit der Erfassung der Produktionsverhältnisse nicht getan ist. Die
lokalen
gender-Vorstellungen
sind
eine
weitere
wichtige
Dimension,
und
ihr
wirtschaftsbedingter Wandel ist von Reibungen nicht frei, die im religiösen Idiom des
Geisterglaubens ihren Ausdruck finden.
An diesem hat Ong allerdings kein großes Interesse, wie man kritisch bemerken muß: Die
Beschreibungen
der
Besessenheiten
sind
eher
knapp,
und
in
welches
religiöse
Vorstellungssystem sich die Geister einordnen, wird kaum klar. Auch steht für Ong meiner
Ansicht nach etwas zu fest, daß es sich bei den Besessenheiten um einen unbewußten
Widerstandsakt gegen die kapitalistische Arbeitsdisziplin handelt. Da eben unbewußt, ist
natürlich mit der emischen Sichtweise nicht viel anzufangen, aber man hätte sich hier schon
etwas genauere Untersuchungen gewünscht, etwa dazu, ob die besessenen Frauen in
irgendwelchen Punkten von den nichtbesessenen abweichen. Möglicherweise war dies aber
schon allein aufgrund der Tatsache nicht möglich, daß Ong gar keinen Zutritt zu den Fabriken
hatte, geschweige denn dort selbst teilnehmende Beobachtung machen konnte; zumindest sagt
sie nirgendwo, daß sie in den Fabriken war. Trotz dieser Mängel zeigt allerdings auch Ong auf,
wie die ethnographische Forschung in der Lage ist, die Makroperspektive der Weltsystemtheorie
und ähnlicher Ansätze zu ergänzen.
De-Kapitalisierung der Globalisierung?
In gewisser Weise führt Ong allerdings auch schon über das neomarxistische Paradigma hinaus.
Der Wille zur analytischen Sezierung und auch zur Demontage des Kapitalismus ist deutlich zu
spüren, und mit dem historischen Wandel der Landeigentumsverhältnisse und der
Haushaltsökonomien analysiert sie dafür klassische Felder. Doch steht die Dimension gender
stärker im Vordergrund als bei manchen früheren Studien, was einerseits dem Gegenstand,
andererseits aber sicherlich auch den neueren theoretischen Strömungen geschuldet ist. Zudem
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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bringt sie auch eine ganze Reihe von poststrukturalistischen und postmodernen Theoretikern ins
Spiel, etwa den Machtbegriff Michel Foucaults, der Macht ja weniger als durch klare Akteure
ausgeübt, sondern als den gesellschaftlichen Strukturen und diskursiven Formationen selbst
innewohnend ansieht.
Damit gibt Ong bereits vor, wie sich auch ein großer Teil der ethnologischen Beschäftigung
mit dem Thema Globalisierung seither entwickelt hat. Statt Kapitalismus und Klasse stehen nun
Identität und Transnationalismus im Vordergrund, Themen, die ich auch noch behandeln werden.
Meiner Meinung nach ist die Ablösung aber zum Teil etwas zu weit gegangen. Sicherlich ist der
Marxismus als politisches Leitbild nicht mehr vermittlungsfähig, um es gelinde auszudrücken.
Aber gerade in Gesellschaften mit eklatantem Macht- und Reichtumsgefälle, wie sie sich in der
Gegenwart zunehmend herausbilden und gerade außerhalb Europas vielfach zu finden sind, ist
ein genauer Blick auf die Produktionsverhältnisse und auf die Systemzusammenhänge zwischen
begüterten Gesellschaften wie der unseren und den sehr viel ärmeren des Südens nach wie vor
sehr sinnvoll.
Flexible Kleiderfabrikation im ländlichen Mexiko
Abschließend möchte ich noch auf eine neuere ethnographische Studie eingehen. Sie zeigt nicht
nur, was aus Eric Wolfs closed corporate peasant communities im Zeitalter der Globalisierung
geworden ist, sondern bringt auch eine neomarxistisch-weltsystemtheoretische Perspektive mit
dem Thema des Vorkapitels – dem von multinationalen Konzernen und den internationalen
Finanzinstutionen vorangetriebenen neoliberalen Umbau der Weltwirtschaft – zusammen. Die
amerikanische Ethnologin Frances Rothstein von der Montclair State University hat sie über das
mexikanische Bauerndorf verfaßt, in dem sie bereits 1971 erstmals Feldforschung gemacht hat
und in das sie seither immer wieder – zuletzt 2004 – zurückgekehrt ist (Rothstein 2007). Ihre
Forschungen schließen damit den gesamten Zeitraum der eigentlichen Globalisierung der
Weltwirtschaft ein.
Bauern zu Proletariern
Es handelt sich um ▶▸San Cosme Mazatecochco im mexikanischen Bundesstaat Tlaxcala, etwa
15 Kilometer von der Millionenstadt Puebla und etwa 100 Kilometer von einer der weltgrößten
Megacities, Mexiko-Stadt, entfernt, das mit seinen wenigen Tausend Einwohnern irgendwo
zwischen Dorf und ländlicher Kleinstadt liegt. Die meisten Bewohner sind Nachfahren der
Tlaxcaltken, d. h. der ethnischen Gruppe, die sich mit Cortés gegen die Azteken verbündete und
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in der Folge gegenüber den anderen Indigenen diverse Privilegien genoß. 1950 sprachen hier
noch 85 Prozent der Bevölkerung Nahuatl. Fast jeder war damals peasant und lebte vom Anbau
von Kürbis, Bohnen und Mais (also der bekannten milpa) auf meist kleinen Landstücken, die
man den örtlichen Großgrundbesitzern abgekauft hatte, und von saisonaler Lohnarbeit für
Bewohner des größeren und reicheren Nachbarorts. So wie Wolf es vorsah, gab es hier wenig
soziale Differenzierung, die gemeinschaftlichen Feste standen im Mittelpunkt des Soziallebens,
und der Kontakt zur Außenwelt war trotz der relativen Nähe der Großstädte gering. Dies läßt
mich vermuten, daß Wolf San Cosme als eine seiner closed corporate peasant communities
eingeordnet hätte.
Von den 1940er Jahren bis in die 1970er verfolgte der Staat Mexiko eine Politik der
Industrialisierung und der Importsubstitution, bei der statt einer Öffnung der Märkte für
ausländische Waren und Kapital die eigenständige Erzeugung der benötigten Güter im
Vordergrund stand. Es ereignete sich wie auch andernorts in der Welt ein (relativ zum deutschen
oder japanischen natürlich eher maßvolles) Wirtschaftswunder, das die Herausbildung einer
neuen Mittelklasse beförderte. In San Cosme bekam man davon anfangs jedoch wenig mit, denn
die staatliche Förderung richtete sich auf die Industrie und auf landwirtschaftliche
Großunternehmen, während sie Subsistenzbauern links liegen ließ. Den peasants in San Cosme
mit ihren kleinen Besitzungen boten sich keine Expansionsmöglichkeiten, und so konnte
Rothstein bereits bei ihrem ersten Aufenthalt beobachten, daß eine wachsende Zahl von ihnen
täglich nach Puebla oder für die ganze Woche nach Mexiko-Stadt pendelte, um dort in den
damals aufblühenden Textilfabriken zu arbeiten. 1980 betraf dies fast die Hälfte der arbeitenden
Männer.
Die Lohnarbeit brachte den Pendlern und ihren Haushalten einen gewissen Wohlstand, der
den der ausschließlichen Bauern übertraf. Manche von den Pendlern orientierten sich neu, indem
sie Taxis, Lastwagen oder Läden erwarben und auf die Schulerziehung ihrer Kinder setzten.
Über den durch die Gewerkschaften ausgeübten politischen Druck profitierte auch der gesamte
Ort,
der
nun
mehr
Infrastruktur
wie
Straßen,
Elektrizität,
Leitungswasser
und
Gesundheitsversorgung erhielt. Tiefgreifende Umwälzungen erfolgten jedoch nicht, denn die
Pendler wohnten und arbeiteten in Gruppen aus dem Heimatort zusammen und behielten ihren
Lebensmittelpunkt in San Cosme. Ihre Haushalte führten zudem die Landwirtschaft fort, und
Gewinne wurden durchaus auch in den Landkauf investiert, so daß mancher vormalige Pendler
auch wieder zum campesino-Dasein zurückkehrte. Auch die Verwandtschaftsbeziehungen durch
Heirat und ▶▸compadrazgo (d. h. die Patenschaft; in diesem Fall gewöhnlich mit nicht
verwandten Personen) behielten ihre Bedeutung.
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Proletarier zu (Schein?-)Selbständigen
Daß sich dies schlagartig änderte, führt Rothstein auf die bereits in Teil 3 angesprochene
Schuldenkrise zurück. Anfang der 1980er Jahre fielen die Preise für das von Mexiko exportierte
Erdöl, die Zinsen stiegen und die Reichen brachten ihr Kapital ins Ausland. 1982 erklärte sich
Mexiko außerstande, die Rückzahlung seiner Auslandsschulden fortzusetzen. Nun traten der
IWF, die Weltbank und die US-amerikanische Regierung auf den Plan und verordneten dem
Land das Rezept des Washingtoner Konsens, nämlich öffentliche Einsparungen, Privatisierungen,
Freihandel und einen Ausbau der exportorientierten Produktion. Die einheimischen
Textilfabriken sahen sich nun preiswerter ausländischer Konkurrenz ausgesetzt. 80 Prozent der
Firmen brachen zusammen, und im folgenden Jahrzehnt gingen mehr als 100.000 Arbeitsplätze
in der Branche verloren. In San Cosme behielt nur etwa die Hälfte der Arbeiter ihren Job, oft mit
beträchtlichen Lohnabstrichen, während die Lebenshaltungskosten für alle Bewohner in den
vielfach als „verlorenes Jahrzehnt” für Lateinamerika bezeichneten 1980er Jahren rasant stiegen.
Auch die Hoffnung auf Bildungskarrieren etwa im Schul- oder Gesundheitssektor für die
eigenen Kinder erwies sich nun, wo gerade in diesen Bereichen besonders starke Einsparungen
stattfanden, als trügerisch. Bei Rothsteins Besuch 1984 war el crisis in aller Munde, und die
Bewohner San Cosmes reagierten mit der Bildung kostensparender Großfamilienhaushalte, der
Intensivierung des ja immer noch vorhandenen Anbaus und dem Rückgriff auf Selbstgemachtes
statt Gekauftes.
Ende der 1980er Jahre kam ein neuer Trend auf. Mit der Textilindustrie bereits vertraut,
begannen die Bewohner, sich selbständig in Kleiderproduktion und –handel zu betätigen. Dies
ist eine eher indirekte Folge der wirtschaftlichen Globalisierung, denn eigentlich blühten damals
in Mexiko die sogenannten ▶▸maquiladoras oder maquilas auf, d. h. Fabriken, in denen zumeist
aus
den
USA
importierte
vorgefertigte
Einzelteile –
etwa
Elektronik
oder
auch
Kleidungsbestandteile – zusammengefügt und dann wieder exportiert werden. Mit dem Abbau
der Zollschranken hatte sich dies vor allem in den Grenzregionen zu lohnen begonnen, doch
Ende der 1980er Jahre drangen die ersten maquilas auch schon bis nach Tlaxcala vor, wo die
Löhne noch billiger waren. Die meisten Bewohner von San Cosme wählten jedoch nicht die
formale Beschäftigung in diesen Fabriken, sondern versuchten ein in der Produkthierarchie noch
darunter liegendes Segment zu bedienen. Sie nähten nur für den nationalen Markt vorgesehene
und z. B. auf Wochenmärkten verkaufte Billigbekleidung für diejenigen, die sich die Produkte
der maquilas nicht leisten konnten. Es kommt in den 1990er Jahren zu einem Boom, und bald
haben Hunderte von Haushalten in San Cosme sogenannte ▶▸talleres, d. h. oft winzige
Werkstätten entweder in an das Haus angebauten Räumen oder in der eigenen Wohnung, und
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viele Einwohner verkaufen diese Kleider auch selbst. Das Schneidern wird so populär, daß auch
die Jugend es immer häufiger der Fortsetzung der Schulerziehung vorzieht.
Kennzeichnend für diesen Bereich ist die große Flexibilisierung. Der Kapitalaufwand zum
Erwerb der ersten Nähmaschinen ist gering, das Nähen der meist unkomplizierten Kleidung läßt
sich ebenfalls recht schnell erlernen, und die eigene Familie und Verwandtschaft kann ohne
großen
Aufwand
einbezogen
werden.
Entsprechend
ändern
sich
die
Größen
und
Zusammensetzungen dieser informellen Unternehmen ständig. Die weitaus meisten reichen nicht
über eine Handvoll Personen, oft nur eine Familie, hinaus, aber einige haben auch zweistellige
Zahlen von Angestellten, meist aus der eigenen Verwandtschaft und Nachbarschaft rekrutiert.
Die Produkte wechseln je nach Marktlage, und auch zwischen Kleiderproduktion und –handel
und zwischen dem Arbeiten in Eigenregie und der Übernahme von maquila-Aufträgen für
größere Unternehmen finden häufige Gewichtsverlagerungen statt. Zudem sind die talleres Teil
von Gesamtstrategien, die durchaus auch weiterhin Lohnarbeit einzelner Haushaltsmitglieder,
den eigenen Anbau, andere informelle Wirtschaftsaktivitäten wie etwa den Verkauf von Snacks
und zukunftsorientierte Elemente wie die Investition in die Schulbildung der Kinder enthalten
können. Frauen haben hier nicht selten neue ökonomische Möglichkeiten, die ihnen in den
Zeiten der für die Männer reservierten Lohnarbeit verwehrt waren. Andererseits sind es gerade
sie, von denen oft die größte Flexibilität – etwa durch die parallele Versorgung der Kinder –
erwartet wird. Das einzige, was nicht mehr vorzukommen scheint, sind die stabilen Verhältnisse
früherer Tage, wo zunächst jeder ein campesino war und später dann die Fabrikarbeiter auf
langjährige Beschäftigung im selben Unternehmen bauen konnten.
Rothstein sieht dies aus einer recht orthodoxen marxistischen Perspektive. Ihr zufolge
verschleiern die kleinen Familienunternehmen die wahren Verhältnisse, denen zufolge die
Bewohner San Cosmes keine Unternehmer, sondern weiterhin Arbeiter in einem kapitalistischen
System sind. Das letztere und seine Produktionsbedingungen bleiben bestimmend, während die
von anderen Autoren in jüngerer Zeit gerne hervorgehobene Konsumtion nachrangig ist. Zwar
tritt nun in San Cosme an die Stelle der früheren Eigenidentifikation als Arbeiter (obrero) die
jeweilige Spezialisierung, d. h. man bezeichnet sich z. B. als Näher oder als Zuschneider, und
eine gewerkschaftliche Interessenvertretung gibt es nicht mehr. Doch verkaufen laut Rothstein
auch die scheinbar selbständigen Werkstattbetreiber weiterhin ihre Arbeitskraft zu nicht von
ihnen selbst bestimmten Bedingungen auf einem Markt. Nur harte und lange Arbeit, die sich von
den Bedingungen der maquiladoras kaum unterscheidet, und die Kostenersparnis durch die
niedrige oder überhaupt nicht erfolgende Entlohnung von Familienmitgliedern und Verwandten
erlauben es ihnen, dort konkurrenzfähig zu bleiben. Trotz aller andauernden familiären und
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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verwandtschaftlichen Solidarität beginnt eine vormals egalitäre Gemeinschaft sich nun sozial zu
differenzieren, und die erfolgreichen Unternehmerfamilien erwerben durch aufwendige
Familienfeiern oder den Bau luxuriöser Häuser soziales Renommee. Auch betont die jüngere
Generation immer mehr den individualistischen Konsum und zeigt sich am kirchlichen Leben
oder der Pflege der Verwandtschaftsbeziehungen weniger interessiert. Der Boom der talleres ist
überdies nicht von Dauer: 2004 stellt Rothstein fest, daß die zumeist illegale Arbeitsmigration in
die USA zum beherrschenden Trend geworden ist, während sich die Kleiderproduktion aufgrund
chinesischer Billigimporte, die der WTO-Beitritt Chinas 2001 ermöglicht hat, immer weniger
lohnt.
Die Bewohner von San Cosme selbst stellen allerdings weniger die wechselhaften und kaum
kontrollierbaren Verhältnisse, in denen sie leben, oder die zunehmenden sozialen Unterschiede
und den Rückgang gemeinschaftlicher Bindungen in den Vordergrund. Stattdessen bewertet fast
jeder die mit Straßen, Busverkehr, eigenen Fahrzeugen, dem Fernsehen und Internetcafes sehr
verbesserte Anbindung an die weitere Welt, den gestiegenen materiellen Lebensstandard und die
große Vielfalt der jetzt vorhandenen Konsumoptionen als wünschenswerte Entwicklung, die
höchstens nicht schnell genug geht oder manchen Mitbürger zu materialistisch werden läßt. Und
auch Rothstein sieht den für die flexiblen Wirtschaftsstrategien erfolgenden Rückgriff auf die
lokalen Familien- und Verwandtschaftsbande durchaus nicht nur negativ, sondern als eine von
ihren Informanten selbstbestimmte Strategie. Klar scheint jedoch, daß die weltwirtschaftliche
Verflechtung den Bewohnern von San Cosme Mazatecochco auch in Zukunft immer wieder von
ihnen selbst kaum kontrollierten Wandel bringen und flexible Reaktionen abverlangen wird.
Kritisch anzumerken ist bei Rothsteins Monographie die Diskrepanz zwischen der von ihr
behaupteten Flexibilisierung der Verhältnisse und ihrer eigenen Darstellungsweise. Diese bleibt
nämlich reichlich summarisch, und wo einmal die Vielfalt der Strategien aufgezeigt werden soll,
erschöpft sich dies zumeist in der Aufzählung einzelner Fallbeispiele. Hier wäre sicherlich eine
systematischere Analyse, wie sich z. B. Haushalts- und Verwandtschaftszusammensetzung,
Bildungsstand, Vorerfahrungen in der Lohnarbeit oder die Größe des Ackerlands auf die
gewählten Wirtschaftsstrategien und erzielten Erfolgen auswirken, möglich gewesen, und auch
ein stärkeres Bemühen um Quantifizierung und konkrete Zahlen hätte nicht geschadet. Die
Stärken einer über nun schon mehr als drei Jahrzehnte andauernden Langzeitbeziehung zwischen
Feldforscherin und Feldforschungsort kommen allerdings deutlich zum Tragen.
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Teil V: Globalisierungstheorien der 1980er
und 90er Jahre
Im vorangehenden Teil habe ich ihnen die peasant studies und die auf Wallersteins
Weltsystemtheorie reagierenden ethnographischen Studien vorgestellt. Diese eint eine mehr oder
minder neomarxistische Ausrichtung, die sich vor allem auf wirtschaftlich begründete Machtund Klassenbeziehungen konzentriert. Lange Zeit ist es hauptsächlich diese theoretische
Richtung gewesen, in der ein Interesse für weltumspannende Zusammenhänge bestand. Ab dem
Ende der 1980er Jahre kann man allerdings auch von einer zweiten Richtung sprechen, in der
nicht mehr nur die Produktionsverhältnisse, sondern auch „weichere” Bereiche wie etwa Medien,
Religion, politische Ideologien oder Nationalismus berücksichtigt werden. Hier wird erstmals
auch tatsächlich von Globalisierung gesprochen und die übergreifende Frage nach der Richtung
der globalen Kulturentwicklung gestellt, so daß man eigentlich erst hier von einer expliziten
ethnologischen Globalisierungstheorie sprechen kann. Vor allem zwei Ethnologen haben sich
dabei hervorgetan, nämlich der in den USA lehrende Inder Arjun Appadurai und der Schwede
Ulf Hannerz. Ich halte es für keinen Zufall, daß beide selbst nicht aus dem „Zentrum” der
Weltethnologie (die USA und mit Abstrichen Großbritannien), sondern höchstens aus der
„Semiperipherie” stammen; Hannerz selbst zumindest hält dies für bedeutsam (Hannerz 1989:
215). Ihre Ideen und die eines geistesverwandten Soziologen, des Briten Roland Robertson,
möchte ich Ihnen heute vorstellen, und wenn ich ab der nächsten Sitzung einzelne Bereiche der
kulturellen Globalisierung – wie etwa Warenkonsum oder Massenmedien – bespreche, werden
ihre Konzepte wiederkehren.
Wir werden sehen, daß dies in allen Fällen der Größe des Themas entsprechend sehr
weitreichende, nicht immer ausführlich begründete und mitunter unscharfe Entwürfe sind. Es
wäre hier ein Leichtes, sich an einzelnen Details festzubeißen und dort Mängel aufzuzeigen. Ich
möchte stattdessen eher das wohlmeinende Verstehen praktizieren und mich dort, wo etwas fehlt,
um das eigenständige Weiterdenken bemühen.
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Arjun Appadurai: Entkoppelung, Deterritorialisierung und
Imagination
Arjun Appadurai ist Professor an der New School University in New York, nach vorherigen
Stationen an den anderen Spitzenuniversitäten Chicago, Pennsylvania und Yale, und ist einer der
bekanntesten amerikanischen Ethnologen. Neben seinen meist ethnohistorisch ausgerichteten
Forschungen zu Indien ist vor allem der von ihm herausgegebene und mit einer vielzitierten
Einleitung versehene Sammelband The Social Life of Things (Appadurai 1986) sehr bekannt
geworden. Dort steht die Globalisierung zwar noch nicht im Zentrum. Aber der vertretene
Ansatz, sich bei der Erforschung von Austausch- und Konsumtionsvorgängen nicht immer nur
auf die Menschen, sondern auch einmal auf die Dinge zu konzentrieren und ihren Bewegungen
nachzuspüren, läßt sich in Appadurais Globalisierungstheorie mit ihrem Interesse für weltweite
Kulturflüsse durchaus wiederfinden.
▶▸Zur Globalisierung hat sich Appadurai in einer Reihe von Artikeln und in einem 1996
erschienenen Buch, Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globalization (Appadurai
1996), geäußert. Mit seinem besonders häufig zitierten Artikel „Disjuncture and Difference in
the Global Cultural Economy” (Appadurai 1990) werde ich beginnen.
Entkoppelte „-scapes”
In diesem Aufsatz definiert Appadurai die Spannung zwischen kultureller Homogenisierung und
kultureller Heterogenisierung als das zentrale Problem der gegenwärtigen globalen Interaktionen.
Daß eine globale Homogenisierung, also eine weltweite Vereinheitlichung der Kultur, stattfindet,
ist eine gerade außerhalb der Ethnologie verbreitete Annahme. Oft wird sie als Amerikanisierung
oder als „commoditization”, wie er sagt, also als Kommerzialisierung und Unterwerfung unter
die westliche Konsumkultur imaginiert. Tatsächlich findet laut Appadurai aber überall die
▶▸Indigenisierung (indigenization) von Kulturimporten statt, d. h. ihre Anpassung an die eigene
Lebenswelt. Oft ist es zudem weniger eine Amerikanisierung, die von den Menschen
problematisiert wird, sondern stattdessen die Indonesianisierung in Irian Jaya, d. h. dem
indonesisch beherrschten Teil Neuguineas, die Indisierung in Sri Lanka oder die
Vietnamisierung in Kambodscha, in allen Fällen also die übermäßige Ausrichtung an der Kultur
der nationalen Mehrheit oder des in der jeweiligen Weltregion beherrschenden Landes. Die
Vorstellung von einer globalen kulturellen Vereinheitlichung findet somit keine Bestätigung, und
ein Zentrum-Peripherie-Modell in der Art der Dependenztheoretiker und Wallersteins ist selbst
dann unzureichend, wenn man von mehr als nur einem Zentrum ausgeht.
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Stattdessen ist die neue „global cultural economy”, wie Appadurai sie nennt, sehr viel
komplexer. Die in ihr verlaufenden kulturellen Flüsse und Ströme finden vor allem in fünf
Bereichen statt, in deren Bezeichnungen er immer wieder das Suffix „-scape” verwendet. Die
fünf „-scapes” sind laut Appadurai ▶▸ethnoscapes, mediascapes, technoscapes, finanscapes und
ideoscapes. „-Scape” aus dem Wort „landscape” ist ja im Englischen recht produktiv, z. B. in
„seascape” und „townscape”, und dies macht sich Appadurai bei diesen Neologismen zunutze.
Die fünf Bereiche sind ihm zufolge ebenfalls als Landschaften zu sehen, und wie auch in einer
richtigen Landschaft kann der Standort des Betrachters wechseln, so daß es sich um „deeply
perspectival constructs” mit fließenden, unregelmäßigen Formen handelt. Diese fünf „-scapes”
sind die Bausteine für das, was Appadurai in Anlehnung an Benedict Anderson – den wir später
beim Thema Nationalismus noch kennenlernen werden – als „imaginierte Welten” (imagined
worlds) bezeichnet.
„Ethnoscapes” sind dabei die von den Menschen gebildeten Landschaften, vor allem von den
sich bewegenden Personen und Gruppen wie Touristen, Immigranten, Flüchtlinge, Exilanten und
Gastarbeiter. Stabile, an einem festen Ort verankerte Gemeinschaften und Netzwerke existieren
natürlich weiterhin, doch viele Vorgänge sind nur aus den Wechselbeziehungen zwischen diesen
stabilen und den sich bewegenden Gruppen zu erklären. Zudem wird die Möglichkeit zur
Bewegung immer wichtiger, und die angesteuerten Ziele liegen immer ferner. „[M]ore persons
and groups deal with the realities of having to move, or the fantasies of wanting to move”
(Appadurai 1990: 297), und indische Dorfbewohner z. B. denken dabei längst nicht nur an Poona
oder Madras, sondern auch an Dubai oder Houston.
„Technoscapes” bezeichnet sowohl die globale Verteilung von Technologien als auch die
Tatsache, daß diese ebenfalls in Bewegung sind. Multinationale Unternehmen sind zentral daran
beteiligt. Auch hier gilt, daß keine einfache Logik wie etwa die der politischen Herrschaft oder
der Marktrationalität alles erklären kann, sondern daß es um wesentlich unübersichtlichere
Vorgänge geht. „Finanscapes” ist die globale Kapitalverteilung, die sich immer schneller und auf
immer schwerer zu verfolgende Weise wandelt, oft mit beträchtlichen Auswirkungen der
kleinsten Zeit- oder Prozentwertdifferenzen etwa auf den Aktienmärkten. Zusammen bilden
diese drei „-scapes” zwar keineswegs eine einheitliche, fest verfugte Basis, aber doch eine Art
Grundlage für die nächsten beiden.
Diese sind zum einen die „mediascapes”, worunter Appadurai sowohl die Verteilung der
elektronischen Möglichkeiten, Informationen zu produzieren und zu verbreiten, versteht, als
auch die Weltbilder, die von diesen Medien geschaffen und transportiert werden. Medien aller
Art verbreiten große und komplexe Repertoires von Bildern und Erzählungen und schaffen vor
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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allem bei denjenigen, die von den dargestellen Zentren räumlich entfernt sind, „imaginierte
Welten” mit teilweise fantastischen Zügen. „Ideoscapes” sind ebenfalls Verkettungen von
Bildern, wie Appadurai sagt, aber sie sind politischer Natur und mit den Ideologien der Staaten
und den Gegenideologien der sozialen Bewegungen verbunden. Sie bestehen aus den
Komponenten der Weltsicht der Aufklärung, also aus Begriffen wie Freiheit, sozialer Wohlfahrt,
(individuellen) Rechten und dem, was er als den „master term” bezeichnet, nämlich der
Demokratie. Was diese Begriffe in ihrer jeweiligen lokalen Aneignung genau bedeuten, ist
unterschiedlich, und daß sie oft sehr viel mehr beschworen als tatsächlich umgesetzt werden,
steht außer Frage. Das mindert allerdings nicht ihren Einfluß und die Notwendigkeit für
politische Akteure, auf sie bzw. auf die Forderungen nach ihnen zu reagieren.
Der wesentliche Punkt ist für Appadurai, daß das gegenseitige Verhältnis dieser fünf
„-scapes” durch ▶▸„disjuncture”, also zu deutsch etwa „Entkoppelung”, gekennzeichnet ist.
Gemeint ist, daß die „-scapes” kein fest zusammengeschnürtes Paket sind, sondern sich
unabhängig voneinander bewegen und verändern. Japan, so eines seiner Beispiele, hat sehr eifrig
politische Ideen aus dem Westen importiert, aber immer nur sehr wenige Immigranten akzeptiert,
wo also die „ideoscape” verbunden ist, ist die „ethnoscape” es nicht. Die gegenseitige
Autonomie der „-scapes” ist zudem der wesentliche Motor für Konflikte und kulturellen Wandel,
etwa wenn die „ideoscapes” Ideen in Umlauf bringen, die sich mit der Realität der „ethnoscape”
und der gewaltsamen Unterdrückung bestimmter ethnischer Gruppen nicht decken.
Deterritorialisierung, Staat und Nation
Ein
weiterer
zentraler
Begriff
Appadurais
ist
der
der
▶▸Deterritorialisierung
(deterritorialization); nicht sein eigener übrigens, das Wort stammt von den französischen
Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari. Definiert wird der Begriff bei Appadurai nicht,
„deterritorialisiert” ist aber ganz offensichtlich jemand bzw. etwas, der/das sich von einem
vormaligen Territorium entfernt und/oder die Kontrolle über dieses Territorium verloren hat.
Deterritorialisierung kann sowohl Menschen als auch Ideen betreffen, wobei es Appadurai aber
vorrangig um die Menschen geht.
In der Deterritorialisierung sieht Appadurai eine der zentralen Kräfte der gegenwärtigen Welt
und auch eine Wurzel für weltweite Fundamentalismen wie den islamischen oder den
hinduistischen. Gleichzeitig schafft die Deterritorialisierung neue Märkte für Film- oder
Reisegesellschaften, die dem Bedürfnis nachkommen, mit dem Heimatland Kontakt zu halten.
Und manchmal kann dieses Heimatland komplett die Erfindung deterritorialisierter Gruppen sein.
Er nennt als Beispiel ▶▸Khalistan, d. h. den unabhängigen Staat, den radikale Anhänger der
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Sikh-Religion für sich gefordert und in den 1980er Jahren auch per Waffengewalt durchzusetzen
versucht haben. Sikh-Migranten- und Flüchtlingsgemeinschaften in Großbritannien, Kanada und
den USA waren hier laut Appudarai die treibenden Kräfte. Nicht nur Menschen, sondern auch
Geld, Kapital und Waren können deterritorialisiert sein bzw. so empfunden werden, und dies
kann gleichfalls zu Besorgnis bei den Einheimischen führen. Appadurai bringt hier das Beispiel
des damaligen Los Angeles, also das der späten 1980er Jahre, in dem der Aufkauf von
Immobilien durch japanische Firmen Ängste vor einer Übernahme der Stadt auslöste.
Trotz aller Deterritorialisierung behält der Nationalstaat laut Appadurai jedoch eine wichtige
Rolle. In vielen Gesellschaften, so Appadurai, „the nation and the state have become one
another’s projects” (Appadurai 1990: 303). Nationen oder Gruppen mit nationalen Amibitionen
versuchen, die Kontrolle über ein Staatsterritorium zu gewinnen, während Staaten ihren Bürgern
die Vorstellung nationaler Einheit vermitteln wollen, indem sie die vorhandenen ethnischen
Unterschiede in einer übergeordneten Gemeinschaft auflösen oder auf das FolkloristischMuseale beschränken. Überall in der Welt, heißt es recht dramatisch, hängen sich Staat und
Nation „gegenseitig an der Kehle” – „state and nation are at each’s throats” (Appadurai 1990:
304). Staaten sehen sich gedrängt, in punkto Medien, Technologie und Reisen offen zu sein, was
die moderne Konsumkultur befördert, doch genau dies bringt neue ethnoscapes, mediascapes
und ideoscapes herein, die die Staaten und ihr Nationenkonzept unter Druck setzen. Dies ist vor
allem dann der Fall, wenn die Trennungen (disjunctures) zwischen den ideoscapes und den
anderen –scapes besonders radikal ausfallen, also z. B. wenn durch die mediascapes geschürte
Konsumerwartungen auf durch die vorherrschende finanscapes geleerte Kassen stoßen.
Appudarai zufolge ergibt sich hier ein Paradox, daß er als für die heutige ethnische Politik
zentral ansieht. Gerade die primordialen, d. h. die häufig als grundlegend gedachten sozialen
Bindungen aufgrund gemeinsamer Sprache, Hautfarbe, gegenseitiger Verwandtschaft oder
Nachbarschaft, werden immer stärker globalisiert. Zwar wird in der ethnischen Selbst- und
Fremdidentifikation Identität mit Lokalität verbunden, d. h. der jeweils abgegrenzten Gruppe
wird ein bestimmtes Territorium zugeschrieben. Doch geschieht dies immer häufiger durch
Personen, die selbst durch Migration, Exil u. ä. räumlich weit verteilt sind. Moderne
Massenmedien erlauben es dann, den Kontakt zueinander zu erhalten und die gemeinsame
Imagination des Heimatlandes zu pflegen.
Die Globalisierung der Kultur ist also nicht gleichbedeutend mit ihrer Homogenisierung.
Instrumente der Kulturvereinheitlichung existieren durchaus, wie z. B. Waffen, Werbetechniken,
Sprachhegemonien oder Kleidungsstile. Diese werden allerdings indigenisiert und repatriiert, d.
h. lokalen Zwecken angepaßt. Die Staaten sehen sich dabei in einer immer heikleren Rolle,
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oftmals können sie nicht mehr als die Schiedsrichter der Repatriierung sein, und während zu viel
Offenheit die Gefahr des Kontrollverlusts birgt, führt zu wenig Offenheit wie im Fall Nordkoreas
zur Isolation. Kulturelle Homogenisierung und kulturelle Heterogenisierung „kannibalisieren”
einander, wie Appadurai es wiederum recht dramatisch formuliert (Appadurai 1990: 307). Es
gibt in der heutigen Welt einen „contest of sameness and difference”, mit zum Teil tragischen
Folgen wie ethnischen Konflikten und Menschenrechtsverletzungen, aber auch mit positiv zu
bewertenden wie der Erweiterung vieler „Hoffnungs- und Fantasiehorizonte” (Appadurai 1990:
308), wie er es ausdrückt, oder mit der Rolle der Weltöffentlichkeit etwa bei der (damals noch
nicht so lange zurückliegenden) Abschaffung der Apartheid in der Republik Südafrika.
Die Rolle der Imagination
In seinem Buch Modernity at Large (Appadurai 1996) baut Appadurai diese Themen aus und
illlustriert sie ausführlicher. Er betont hier vor allem die Zentralität zweier Phänomene, nämlich
der Medien und der Migration – also „mediascapes” und „ethnoscapes” –, die einen besonders
starken Einfluß auf eine dritte Größe, die Imagination, haben. ▶▸„The world we live in today is
characterized by a new role for the imagination in social life”, sagt er, und weiter “More persons
in more parts of the world consider a wider set of possible lives than they ever did before”
(Appadurai 1996: 31).
Die Imagination weist dabei drei besondere Kennzeichen auf. Sie ist erstens nicht mehr an
bestimmte auf sie gewissermaßen spezialisierte Bereiche wie Kunst, Mythos oder Ritual
gebunden, die von spezialisierten Praktikern beherrscht werden, sondern sie findet im ganz
normalen Leben durch ganz normale Menschen statt. Dabei ist zweitens Imagination nicht gleich
Fantasie oder Weltflucht, und die sie befeuernden Medien sind nicht nur Opium für das Volk,
sondern sie können durchaus Mittel des Widerstands, der Ironie, der Selektivität und ganz
allgemein der ▶▸agency sein, ein gegenwärtig in den Sozialwissenschaften sehr populäres
Schlagwort, das sich am besten als „individueller Handlungsspielraum” übersetzen läßt.
Imagination ist „staging ground for action, and not only for escape” (Appadurai 1996: 7), wie
Appadurai es ausdrückt. Drittens schließlich ist Imagination nicht nur eine Fähigkeit von
Individuen, sondern auch von Kollektiven, und durch kollektiven Konsum von Massenmedien
können Imaginationszusammenschlüsse entstehen, die nicht mehr nur einzelne Nationen als
„imagined communities” (im Sinne von Anderson 1983) betreffen, sondern auch über nationale
Grenzen hinausgehen. Er nennt hier die von der Fatwa des Ayatollah Khomeini 1989 ausgelöste
Kontroverse um die Satanic Verses von Salman Rushdie als Beispiel, ein Phänomen also, das
über die Vermittlung der Massenmedien in kürzester Zeit zwei weltweite Koalitionen – eine zur
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Verteidigung des von Rushdie vermeintlich beleidigten Islam, eine zur Verteidigung der
künstlerischen Freiheit und ganz allgemein der aus der Aufklärung hervorgegangenen
demokratischen Werte – mobilisierte. „… the transnational worlds of liberal aesthetics and
radical Islam met head-on, in the very different settings of Bradford and Karachi, New York and
New Delhi” (Appadurai 1996: 9). Die dabei geführte Diskussion berührte so grundsätzliche
Fragen wie die Politik des Lesens, den Stellenwert der Zensur, die Würde der Religionen oder
die Freiheit, sich auch bei nur indirekter Textkenntnis ein Urteil zu erlauben.
Kritische Bewertung
Die Behauptung von der zentralen Rolle der Imagination hat insgesamt weniger Widerhall
gefunden als Appadurais frühere Ideen, und man kann sich sicher darüber streiten, ob hier
wirklich in jüngster Zeit so massive Veränderungen erfolgt sind, wie Appadurai behauptet. Die
Mobilisierungs- und Verbreitungsmöglichkeiten für alle möglichen Ideen, wie man die
bestehenden Verhältnisse oder auch bloß das eigene Leben verändern könnte, haben sicherlich
sehr stark zugenommen. Der Einfallsreichtum als solcher, vermute ich, ist aber innerhalb der
Menschheit wohl eher eine konstante, nicht beliebig vermehrbare Größe. Auch kann man sich
fragen, ob die bei Appadurai zentrale Dialektik zwischen Nationen, die Staaten werden wollen,
und Staaten, die Nationen werden wollen, nicht etwas zu prominent dargestellt ist. Hier ist
sicherlich der Zeithintergrund in Rechnung zu stellen, denn um 1990 kam es ja mit dem
Zusammenbruch des Kommunismus überall in der Welt zu neuen staatlichen Grenzziehungen
mit ethnisch-nationaler Legitimation, nicht nur als Staatszerfall, sondern wie im deutschen oder
jemenitischen Fall auch als Wiedervereinigung getrennter Staaten, deren Bürger sich trotzdem
davon überzeugten, eine nationale Gemeinschaft zu sein. Im 1996er Buch verschärft Appadurai
seine Behauptungen allerdings noch; „the nation-state, as a complex modern political form, is on
its last legs” (Appadurai 1996: 19), heißt es da, während die neuen Formen der Öffentlichkeit der
verschiedenen Diaspora-Gemeinschaften auf dem Vormarsch sind. Das erscheint mir übertrieben,
denn selbst in einem die staatliche Souveränität relativ stark einschränkenden Staatenbund wie
der EU ist es keineswegs so, daß sich die nationalen Grenzen in Luft aufgelöst hätten.
Der Begriff der Deterritorialisierung ist allerdings durch Appadurais Vermittlung in das
ethnologische Vokabular eingegangen, und die Beschäftigung mit deterritorialisierten Gruppen,
also etwa Arbeitsmigranten, Flüchtlingen, Diasporagemeinschaften und transnational lebenden
Gruppen ist sicherlich gerade auf der ethnographischen Ebene diejenige Komponente des
Globalisierungsthemas, die in unserem Fach am intensivsten betrieben wird. Und auch die
diversen „-scapes” haben eingeschlagen. Hier kann man sich sicherlich fragen, was genau denn z.
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B. „technoscape” gegenüber einfach bloß „Technologie” bringt. Appadurai redet von „deeply
perspectival constructs”, die sich wie eine Landschaft je nach Standpunkt unterschiedlich
darstellen, aber dann ist die Frage, wie man über etwas so Subjektives so generelle Theorien
aufstellen kann. Mit solchen Widersprüchen steht Appadurai allerdings nicht allein: Auch bei
anderen Autoren findet man postmodern-modische Bekenntisse zur Situations- und
Standpunktsgebundenheit allen Wissens, während gleichzeitig die eigenen Aussagen ganz
offensichtlich übergreifende Gültigkeit beanspruchen.
Ungeachtet solcher Einwände ist die „disjuncture” der „-scapes”, also die Teilautonomie der
Einzelbereiche, die sich im sehr unterschiedlichem Tempo der Übernahmen äußert, sicherlich
eine fruchtbare Idee. Tatsächlich bedeutet ja z. B. die Übernahme westlicher Konsummuster
nicht automatisch die Übernahme westlicher Vorstellungen zum Verhältnis der Geschlechter,
und viele Reibungspunkte gehen gerade aus dieser Entkoppelung der unterschiedlichen Bereiche
hervor. Die Liste der „-scapes” bedarf allerdings der Erweiterung. Kaum vorstellbar, daß
Appadurai sie heute formulieren würde, ohne nicht zumindest auch noch „religioscapes” zu
nennen, denn die religiös motivierten Institutionen und Konflikte der Gegenwart sind ja gerade
im Fall der sogenannten Weltreligionen nicht einfach eine Sonderform ethnischer oder nationaler
Konflikte und somit mit „ethnoscape” schlecht zu fassen. Vielleicht wäre hier auch an eine
Erweiterung von „ideoscapes” zu denken, denn das säkulare Wertepaket der Aufklärung ist
längst nicht das einzige, das über den ganzen Globus verteilte Anhänger hat.
Ulf Hannerz: Globale Ökumene und Kreolisierung
Ulf Hannerz von der Universität Stockholm hat sich insgesamt noch intensiver als Arjun
Appadurai der Globalisierung gewidmet und dazu erst eine Reihe von Artikeln veröffentlicht
(Hannerz 1989, 1990), deren Inhalte dann in einem längeren Kapitel seines 1992 erschienen
Buchs Cultural Complexity zusammengefaßt sind (Hannerz 1992: 217-267). 1996, also im
selben Jahr wie Appadurai mit Modernity at Large, hat er dann auch noch ein eigenes Buch mit
dem Titel Transnational Connections: Culture, People, Places (Hannerz 1996) nachgelegt, das
die früheren Ideen breiter ausführt, ohne dabei komplett neue Gedanken zu bringen. Bekannt
wurde Hannerz als Stadtethnologe, mit Feldforschungen in den Schwarzenvierteln der USHauptstadt Washington und im nigerianischen Kafanchan, aber mehr noch mit dem 1980
erschienenen, stärker theoretisch ausgerichteten Buch ▶▸Exploring the City (Hannerz 1980), das
eines der Standardwerke der Stadtethnologie ist.
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Die globale Ökumene und ihre Subkulturen
Hannerz zufolge ist es die historische Tendenz der Ethnologie, die Welt als Mosaik zu sehen, mit
den einzelnen Kulturen als Steinen, die jeder an einem bestimmten Platz verortet und mit
scharfen und eindeutigen Rändern versehen sind. Dies wird der heutigen Weltsituation allerdings
nicht mehr gerecht, und stattdessen gilt nunmehr, daß alle Kulturen Teil eines größeren Ganzen
sind und von diesem beeinflußt werden. ▶▸„All cultures are now subcultures of global culture, in
part defined by their embeddedness in the whole” (Hannerz 1989: 201). Wie sehr sich diese
Einbettung an den einzelnen Orten auswirkt ist unterschiedlich, vorhanden ist sie aber in jedem
Fall. In seinem Buch spricht Hannerz sogar davon, die Pluralform „Kulturen” überhaupt
aufzugeben und nur noch von Kultur in der Einzahl zu sprechen. Denn Kulturen kommen immer
seltener als klar abgegrenzte und autonome Pakete daher, und stattdessen reisen ihre einzelnen
Elemente getrennt um den Erdball.
Laut Hannerz existiert in der heutigen Welt ein „global traffic in meaning”, auf den mit einer
▶▸ „macroanthropology of culture”, d. h. einer Makro-Ethnologie, reagiert werden muß (Hannerz
1989: 202). Für die weltweite Makro-Kultur hat auch er einen Begriff; statt wie bei Appadurai
„global cultural economy” heißt er ▶▸„global ecumene”, d. h. globale Ökumene. Als Ökumene
bezeichneten die alten Griechen die gesamte bewohnte Welt. Der Boas-Schüler ▶▸Alfred
Kroeber hat den Begriff einmal in einer ganz ähnlichen Weise für einen von Einfluß- und
Abhängigkeitsbeziehungen durchzogenen sozialen Raum verwendet, und dieser liegt laut
Hannerz auch in unserer heutigen Welt vor (Hannerz 1996: 6-7).
Radikaler Diffusionismus
Als Grundlage einer Makro-Ethnologie der globalen Ökumene sind marxistische Ansätze und
Wallersteins Weltsystemtheorie vorgeschlagen worden, aber dieser werden diesem Anspruch nur
zum Teil gerecht. Denn Wallersteins Interesse an Kultur beschränkt sich laut Hannerz – und da
ist ihm Recht zu geben – weitgehend auf ihre ideologische, d. h. die politischen und
wirtschaftlichen Machtverhältnisse stützende Funktion. Und auch bei anderen Autoren dieser
Richtung wird die Ebene der Bedeutungen und der symbolischen Ausdrucksformen
hauptsächlich in ihrer Abhängigkeit von der wirtschaftlich-politischen Weltsytemseinbindung
und den Vorgaben des Zentrums gesehen. ▶▸„We get the history of the impact of the center on
the periphery, rather than the history of the periphery itself”, wie Hannerz sagt (Hannerz 1989:
207). Ein Grund könnte ihm zufolge sein, daß sich viele Weltsystemstudien auf die frühe und
mittlere Kolonialzeit beziehen, wo die Anbindung noch nicht so umfassend war und viele
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kulturelle Bereiche noch nicht so stark berührte.
Im 20. Jh. und speziell nach dem Zweiten Weltkrieg und der Dekolonisation hat der globale
Kulturverkehr aber sehr zugenommen. Meist von oben herab werden in vielen Gesellschaften
fortlaufend neue institutionelle Strukturen für Verwaltung, Wirtschaft und Industrie eingeführt,
die denen des globalen Zentrums nachgebildet oder von ihnen inspiriert sind. Immer mehr
Menschen in außereuropäischen Gesellschaften beschließen und/oder werden dazu gebracht, sich
an diesen Institutionen zu beteiligen, und durch die Ausbreitung der Schulerziehung auch dazu
befähigt. Die hinzukommende wachsende Mobilität der Menschen bewirkt, daß die Beziehungen
zwischen Zentrum und Peripherie immer stärker auch kulturelle Ströme beinhalten, also Ideen
und Symbole und nicht nur Wirtschaftsgüter. (Hannerz’ hier zu spürende Beschränkung des
Kulturbegriffs auf den symbolischen Bereich ist sicher dem Einfluß der amerikanischen
Ethnologie geschuldet; andere Autoren fassen Kultur durchaus weiter.)
In der Analyse dieser Situation gehen viele Autoren gerade auch außerhalb der Ethnologie
von dem aus, was Hannerz ▶▸ „radikalen Diffusionismus” (radical diffusionism) nennt (Hannerz
1989: 206), d. h. von einer globalen kulturellen Angleichung durch die Übernahme westlicher
Muster. (Der Diffusionismus war ja bekanntlich eine theoretische Richtung innerhalb der
Ethnologie, die sich auf Kulturübernahmen und Ketten der Kulturausbreitung konzentriert hat,
und „radikaler Diffusionismus” steigert diese Orientierung, indem er gar keine andere
Möglichkeit der Kulturentwicklung mehr zuläßt.) Kultur ist aber Hannerz zufolge grundsätzlich
differentiell – also ungleichmäßig – verteilt und stellt ein breiteres Repertoire zur Verfügung, als
es jedes einzelne Individuum nutzt. Die Perspektiven und Horizonte der einzelnen Individuen
haben sich durch die Globalisierung erweitert, und Hannerz schildert hier die vielen Versuche
seiner Informanten im nigerianischen ▶▸Kafanchan, ihn für diverse Import-Export-Geschäfte mit
dem westlichen Ausland zu gewinnen. Anfangs war ihm dies lästig, da er er als Stadtethnologe
hauptsächlich daran interessiert war, wie das urbane Leben in Kafanchan selbst funktioniert.
Später erkannte er jedoch, daß die sich in solchen Plänen kundtuenden Fantasien ein wichtiger
Bestandteil eben dieses Lebens in einer Stadt war, die im globalen System zwar nur eine
periphere Rolle spielt, aber trotzdem eingebunden ist.
Die Perspektiven der einzelnen Individuen und Gruppen bleiben dabei unterschiedlich, und
die für sie Orientierung und Vorbilder liefernden Zentren sind es ebenfalls. Für manche war dies
in der Vergangenheit Maos China, für andere das Skandinavien der Wohlfahrtssysteme, für
wieder andere das Indien der Weltentrücktheit usw., so daß keine einheitlichen Ergebnisse zu
erwarten sind. Es bestehen bei den verschiedenen globalen Zentren auch nicht unbedingt
Isomorphien zwischen wirtschaftlichem und sonstigem Gewicht; Japan, so nennt er ein Beispiel,
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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strahlt kulturell weniger aus als andere ähnlich reiche Länder, und wenn, dann häufig Dinge, die
nicht speziell als japanisch zu erkennen sind. Eine besondere Bedeutung haben laut Hannerz die
regionalen Zentren, wie etwa Mexiko in Mittelamerika oder Ägypten im arabischen Raum. Daß
es aber auch außerhalb von Wirtschaft und Politik Zentren und Peripherien gibt, daß die
Beziehungen zwischen diesen ungleich sind und daß dies Auswirkungen auf den Erfolg der
jeweiligen kulturellen Exportprodukte hat, ist Hannerz zufolge nicht zu bestreiten.
Kreolisierung
Neben der Vielfalt der Zentren ist der Idee des „radikalen Diffusionismus” weiterhin
entgegenzuhalten, das das Importierte nicht so bleibt, wie es ist. Übernommene Technologien
und symbolische Formen werden vielmehr umgearbeitet und den eigenen lokalen Bedürfnissen
angepaßt. Hannerz nennt hier nigerianische Beispiele: In der World Music von Fela Kuti oder
King Sunny Ade oder in den Romanen des Literatur-Nobelpreisträgers Wole Soyinka begegnen
sich Nigerianisches und globale Einflüsse. In seinem Feldforschungsort Kafanchan ist eine große
Zahl nigerianischer Kirchen damit beschäftigt, ihre jeweils eigene Variante des Christentums zu
entwickeln und auszuleben. Und im nigerianischen Fernsehen gibt es zwar „Dallas” und andere
US-Produkte, aber daneben auch einheimische Serien, die im Vergleich die populäreren sind.
Diese befassen sich außerdem explizit und zum Teil ironisch mit der Globalisierung, etwa in den
häufiger auftretenden Figuren, die sich mit der nicht wirklich gekonnten Zurschaustellung
globaler Lebensstilelemente zum Gespött machen.
Hannerz benennt diese mit Umwidmungen und Verschmelzungen verbundenen Übernahmen
als ▶▸Kreolisierung (creolization). Der Begriff erscheint ihm passender als etwa der von anderen
Autoren verwendete der ▶▸Hybridisierung (hybridization), denn Kreolisierung – so sagt er –
konnotiert Kreativität und Ausdrucksreichtum. Auch betont er, daß kulturelle Mischungen nicht
notwendigerweise abweichend oder zweitklassig sind (Hannerz 1996: 66). Der Begriff
Kreolisierung stammt – wie Hannerz nicht eigens dazusagt, aber man trotzdem wissen sollte –
aus der Linguistik. Dort bezeichnet man als ▶▸Kreolsprachen solche wie z. B. das Haitianische,
die aus der Verschmelzung der Elemente verschiedener Sprachen entstanden sind, üblicherweise
denen einer grammatisch stark vereinfachten Kolonialsprache – im Haitianischen ist dies
Französisch – mit denen einheimischer Sprachen. Zunächst entsteht dabei eine Pidgin-Sprache,
aber wenn diese von der Zweit- und Verkehrssprache zur Muttersprache wird, spricht man von
Kreolsprache. Gewöhnlich gewinnen Kreolsprachen gegenüber Pidgins auch wieder an
grammatischer Komplexität.
Die
kulturelle
Kreolisierung
kombiniert
laut
Hannerz
ebenfalls
Verschiedenheit,
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Verbundenheit und Innovation und findet im Kontext von globalen Zentrum-PeripherieBeziehungen statt, meist über Kontinentalgrenzen hinweg. Sie bleibt von politischer und
wirtschaftlicher Ungleichheit geprägt, und so wenig man ihren Wert schmälern sollte, so wenig
ist es andererseits angezeigt, sie bedingungslos zu feiern. Typischerweise findet sich
Kreolisierung weniger in der allerfernsten Peripherie als eher etwas näher zum Zentrum des
globalen Systems, also etwa in einer Stadt wie Kafanchan. Oftmals bildet Kreolisierung ein
Kontinuum, in dem bestimmte Schichten, z. B. die besonders reichen und gebildeten, mehr von
der Zentrumskultur übernehmen und andere weniger. Nicht übersehen werden darf schließlich
auch, daß Kreolisierung auch im Zentrum des Weltsystems stattfindet, gerade in den Weltstädten
mit ihren zahlreichen Immigrantengemeinden, aber auch – so darf man das Konzept wohl
weiterdenken – in der Übernahme von Rastalocken, chinesischen Schriftzeichen oder
marokkanischen Lampen in deutsche Lebensstile, wobei all diese Kulturimporte ja Bedeutung
und Kontext ändern. Oder in ▶▸Chicken Tikka Masala, oft als „CTM” abgekürzt, einem in den
indischen Restaurants und Imbissen in Großbritannien angebotenen Gericht, das vielen als die
eigentliche britische Nationalspeise gilt. Dies ist auch gar nicht so unangemessen, denn erfunden
wurde es genau dort, nämlich in Großbritannien, und nicht etwa in Südasien. Beim Döner Kebap
gibt es da sicherlich Parallelen, denn der spielt meines Wissens in der türkischen Küche auch
eine geringere Rolle als in der deutschen Ernährung.
Die Übernahmen globaler Kulturelemente richten sich also nach lokalen Bedürfnissen aus.
▶▸„The cultural flow from center to periphery ... does not enter a void, nor does it wash out
everything that comes in its way” (1989: 212), wie Hannerz formuliert. Vielfältige
Einschränkungen existieren hier zwar, aber keine deterministischen Beziehungen. Auch kann
von einer völligen Auflösung des Lokalen und der face-to-face-Interaktionen keine Rede sein;
die meisten Menschen betrachten stattdessen weiterhin das, was sie selbst erleben, als realer als z.
B. das im Fernsehen Gesehene, und aus dem direkten sozialen Umgang erwächst mehr kulturelle
Innovation als aus dem Medienkonsum.
Hannerz stellt sich die Frage, ob es durch die Globalisierung eigentlich mehr Kultur oder
weniger gibt. Im Gegensatz zum „radikalen Diffusionismus” geht er von einer Zunahme aus.
Wissenschaft, Staatsführung, Waren und Werbung bringen ständig neue Formen hervor, nicht
zuletzt durch die besagte Kreolisierung. Gleichzeitig verfügen wir heute über bessere Techniken,
die Dinge aufzuzeichnen und festzuhalten. Somit funktioniert dasjenige, was er als ▶▸„natural,
haphazard forgetting of old culture” (1996: 24) bezeichnet, nicht mehr so gut, d. h. nicht mehr
benötigte Kultur geht nicht mehr so beiläufig verloren wie früher einmal. Aus der gelebten
Alltagspraxis verschwinden viele Konzepte und Praktiken aber tatsächlich, und er nimmt an, daß
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dadurch die gesamte kulturelle Spannweite der Menschheit schrumpft. Das, was übrigbleibt, ist
allerdings dichter und mit mehr Detailvielfalt besiedelt, ▶▸„more crowded, with more detail and
more continuously generated new microvariations on the same theme”, wie Hannerz es
ausdrückt (1996: 24). Zudem steht dem einzelnen Individuum eine sehr viel breitere Palette von
Kultur als in früheren Zeiten zur Verfügung. Hannerz’ Antwort auf die Frage „mehr Kultur oder
weniger” ist also ambivalent: weniger kulturelle Grundelemente, doch diese mit mehr
Detailvariation und größerer Verbreitung.
Ethnologie des Kontakts
Für die von ihm vorgeschlagene „macroanthropology” findet Hannerz ein Vorbild bei der
Linguistin ▶▸Mary Louise Pratt. Diese hat nämlich gefordert, statt immer nur einer „linguistics
of community”, also einer Linguistik der Gemeinschaften, auch eine „linguistics of contact”, also
eine Linguistik des Kontakts, zu betreiben, d. h. sich z. B. damit zu beschäftigen, wie Sprache
zwischen statt bloß innerhalb der sozialen Schichten verwendet wird, wie Menschen in ihren
Zweitsprachen miteinander interagieren etc (Hannerz 1989: 210-211). In ähnlicher Weise wird
es laut Hannerz für die globalisierungsbewußten EthnologIn gerade dann besonders interessant,
wenn es Konfrontationen, Durchdringungen und Durchflüsse gibt, wenn also – wie er sagt –
Diversität organisiert wird. Als konkret zu untersuchende Beispiele nennt er Bilingualismus, den
kolonialen Diskurs, die Ausbreitung der Schriftlichkeit in oralen Kulturen oder die Entstehung
von kosmopolitischen Kulturen im akademischen und literarischen Bereich. Er selbst ist hier mit
gutem
Beispiel
vorangegangen
und
hat
sich
in
seinem
neusten
Buch
mit
Auslandskorrespondenten beschäftigt, also einer für die Wahrnehmung der Welt zentralen
Berufsgruppe (Hannerz 2004).
Kritische Bewertung
Hannerz’ Globalisierungstheorie läßt sich nicht so leicht zusammenfassen wie Appadurais, was
zum Teil damit zu tun hat, daß sie vorsichtiger und bescheidener formuliert und nicht so stark
auf den rhetorischen Effekt ausgerichtet ist. Er bringt auch über das soeben Vorgetragene hinaus
eine große Zahl von nützlichen Detailüberlegungen. Manchmal würde man sich mehr
ethnographische Illustration wünschen, und gelegentlich ist eine Tendenz zu einem elitären
Kulturverständnis nicht zu übersehen, wenn z. B. Fallbeispiele aus Kunst, Literatur oder Musik
eine größere Rolle spielen als die gewöhnlichen Konsumartikel des Alltags. Das
Kreolisierungskonzept ist allerdings sicherlich fruchtbar. Vielfach liegt der Wert von Hannerz’
Überlegungen auch in der Aufforderung zu mehr Nüchternheit, etwa wenn er entgegen dem, was
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manche gerade soziologische Autoren über den nur noch digital lebenden und alle kulturellen
Einflüsse flugs verschmelzenden modernen Menschen verbreiten, die fortdauernde Bedeutung
des lokalen Lebens oder die Prägung der Kreolisierung durch Beziehungen der Ungleichheit
betont. Die Ähnlichkeiten mit Appadurai sind vielfältig – dort heißt es „global cultural
economy”, hier „global ecumene”, dort „indigenization”, hier „creolization”, und auch andere
Ideen Appadurais wie die Entkopplung der einzelnen „-scapes” lassen sich bei Hannerz
wiederfinden. Aber gerade in Hannerz’ wiederholtem Aufruf dazu, die Neuheit der
gegenwärtigen Globalisierung und ihrer Teilprozesse nicht zu übertreiben, liegt ein Unterschied.
Zuzustimmen ist Hannerz ohnehin dahingehend, daß auch Ethnologen nicht umhin kommen,
sich mit Globalisierung zu beschäftigen, und auch darin, dies nicht einfach darauf zu reduzieren,
daß man bei den weiterhin lokalen Feldforschungen einfach nur das Globale miterfaßt.
Verallgemeinerungsversuche sind daneben ebenfalls nötig, wenn wir uns nicht mit denen anderer
zufriedengeben wollen. Wie Hannerz es sehr treffend ausdrückt: ▶▸„If we are to have something
to say about what happens with cultures in the world as it is now, to policy makers, to
intellectuals, or to a wider public, we need an interpretive frame for the big picture, not only a
multitude of miniatures. And if we turn out to have nothing to say about such matters, we will
very likely be uncomfortable about some of the things that get said instead.”
Roland Robertson: Globalisierung und Weltbewußtsein
Ich möchte Ihnen noch einen dritten theoretischen Beitrag vorstellen, nämlich den des britischen
Soziologen Roland Robertson. Er gehört zur eher qualitativen Fraktion der Soziologie, bei der
die Berührungspunkte mit der Ethnologie oft zahlreich sind, und der Faktor Kultur spielt bei ihm
eine größere Rolle als bei vielen seiner Kollegen. Stärker fachtypisch ist sicherlich der
ausgiebige Bezug auf berühmte Fachkollegen, deren Schriften auf Anschlußmöglichkeiten oder
auch Widersprüche zu den eigenen Ideen abgeklopft werden; Ethnologen sind es hier eher
gewohnt, mit ethnographischen Fallbeispielen, also dem Verweis auf die empirische Realität zu
argumentieren. ▶▸Robertson liefert aber in seinem Buch mit dem schlichten Titel Globalization
(Robertson 1992) ein Modell zur Struktur der „global consciousness”, also des Bewußtseins von
der Welt, das auch für Ethnologen interessant ist.
Robertson betont, daß zur Globalisierung nicht nur das Zusammenwachsen der Welt gehört,
sondern auch das Bewußtsein der Menschen für diesen Umstand, daß es sich also um einen
reflexiven Prozeß handelt. ▶▸„Globalization as a concept refers both to the compression of the
world and the intensification of consciousness of the world as a whole” (Robertson 1992: 8), wie
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er es formuliert. Dieser Vorgang schreitet seit Jahrhunderten voran, hat aber besonders im 20. Jh.
sehr an Fahrt gewonnen, und zwar sowohl was das Zusammenwachsen als auch das Wissen
darum betrifft. Sein Modell dazu nennt Robertson das „global field” oder auch die „globalhuman condition”, und wie in der Grafik zu sehen, wird es von vier Referenzpunkten
aufgespannt. Diese sind zunächst die nationalen Gesellschaften und die Individuen oder
passender, da es ja um Arten und Weisen geht, die Welt zu denken, die „Selbste” (selves). Dazu
kommt das „world system of societies”, worunter er die Beziehungen zwischen den
nationalstaatlichen Gesellschaften versteht, und die gesamte Menschheit, d. h. „humankind”.
Jede der insgesamt sechs möglichen Beziehungen zwischen diesen vier Referenzpunkten ist ein
Spannungsverhältnis, bei dem sich die beiden Pole gegenseitig relativieren. Dieses Modell, so
Robertson, kann dabei helfen, zu analysieren, wie sich Individuen und Kollektive die Einheit der
modernen Welt vorstellen und wie sich selbst in ihr sehen, was durchaus auch die Möglichkeit
einschließt, diese Einheit als solche schlichtweg abzustreiten.
Jede der vier Komponenten behält ihre Autonomie, aber jede ist auch durch die Existenz der
anderen drei eingeschränkt. Robertson führt das Modell kaum aus, aber das können wir vielleicht
auch selbst leisten. ▶▸Zwischen den Selbsten und den nationalen Gesellschaften handelt es sich
um den bekannten, die politischen Philosophen aller Zeitalter beschäftigenden Gegensatz
zwischen dem Individuum und seiner Gesellschaft und die Frage nach der angemessenen
Verteilung der Rechten und Pflichten zwischen beiden. ▶▸Jede einzelne nationale Gesellschaft
wird aber auch durch die Existenz der anderen relativiert, zu denen sie in irgendwelche Formen
von Beziehungen treten muß, und seien es so defensive wie etwa diejenigen, die Nordkorea zu
anderen Staaten unterhält. ▶▸Für das Individuum bedeutet wiederum die Existenz vieler
nationaler Gesellschaften eine Relativierung der Ansprüche jeder einzelnen, teilweise auch die
Möglichkeit, von einem Nationalstaat in einen anderen, den eigenen Vorstellungen gemäßeren
zu migrieren, ob nun legal oder nicht. Die nationalen Gesellschaften können sich ihrerseits
mißliebiger Individuen entledigen, wenn sie etwa illegale Migranten abschieben. Eine vierte
Instanz ist schließlich die gesamte Menschheit, und es gibt eine nicht geringe Zahl von
Organisationen und Wertsystemen, die sich auf ihr Wohl beziehen bzw. sich darüber
legitimieren, angefangen bei der UN oder bei der Deklaration der Menschenrechte. ▶▸Die Idee
der Menschheit findet ihre Grenzen im von der Realpolitik bestimmten internationalen Umgang
der Nationen miteinander, ▶▸in den Ansprüchen jeder einzelnen Nation, die aus der Bruderschaft
aller
Menschen
eine
kleine,
erwählte
Gemeinschaft
herausschneidet
und
sie
mit
Staatsbürgerrechten ausstattet, die sie anderen vorenthält, ▶▸und in den Selbsten, die eben nicht
einfach nur Mensch sind wie jeder andere auch, sondern gleichzeitig unverwechselbare
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Individuen.
▶▸Robertsons Schema läßt sich meines Erachtens auf viele globale Probleme und Vorgänge
anwenden und wendet überhaupt den Blick auf ein Thema, für dessen Erforschung gerade wir
Ethnologen prädestiniert sind, nämlich wie sich Menschen im Zeitalter der Globalisierung die
Welt denken und auf welche der vier Eckpunkte sie dabei mit welchen Zielen Bezug nehmen.
Insbesondere die Tatsache, daß die Menschheit als gedachte Größe oftmals etwas ganz anderes
ist als die internationale Staatengemeinschaft, erscheint mir wichtig. Es fehlt vielleicht eine
Ebene unterhalb der der nationalen Gemeinschaften, so etwas wie die eigene ethnische Gruppe
in Vielvölkerstaaten oder ähnliches, doch mag dies auch einfach nur eine Sonderform der
nationalen Gesellschaft sein, die zu den anderen drei Eckpunkten des globalen Felds in einem
ähnlichen Verhältnis wie diese steht.
Daß in diesem Modell die Ausbreitung des westlichen Kapitalismus und des Imperialismus
nicht auftauchen, bestreitet Robertson nicht, er argumentiert hier aber, daß diese Aspekte schon
ausgiebig diskutiert worden sind und sie vielmehr einer Ergänzung bedürfen, die kulturelle
Faktoren stärker berücksichtigt. (Auch er versteht also Kultur als ein hauptsächlich symbolisches
Phänomen.) Stattdessen taucht das Individuum auf, das man bei einem solch großen Thema wie
Globalisierung vielleicht gar nicht vermutet hätte. Doch ist es gerade eine Folge der
Globalisierung, sagt Robertson, daß die Individuen ein größeres Bewußtsein für die eigene
soziale, ethnische, regionale und ganz persönliche Positionierung entwickeln, und dies geschieht
im Spannungsfeld mit den anderen drei Eckpunkten.
Fazit
Appadurai und Hannerz sind sicherlich die einflußreichsten Globalisierungstheoretiker in der
Ethnologie, aber es gibt auch noch weitere. ▶▸Gewissermaßen die „Nummer Drei” ist Jonathan
Friedman, ein amerikanischer Ethnologe an der Universität Lund in Schweden, der ebenfalls
eine große Zahl von Artikeln und mit Cultural Identity and Global Process (Friedman 1994)
auch ein Buch zum Thema geschrieben hat. Er sieht – ganz kurz gesagt – Globalität eher als eine
Struktur denn als ein Konglomerat aus bestimmten definierbaren Inhalten an. Es geht für ihn
daher weniger darum, sich auf Einzelphänomene wie etwa die Kreolisierung bestimmter
Kulturelemente zu konzentrieren, sondern eher darum, die Rolle dieser Kulturelemente in einer
durch globale Bezüge gekennzeichneten sozialen Situation zu klären. Und für den in diesem
Zusammenhang zentralen Faktor Identität ist Modernität nur eine mögliche Grundorientierung.
▶▸Traditionalismus, Primitivismus – d. h. die Abkehr von den gängigen kulturellen
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Errungenschaften, etwa von der modernen Konsumwelt – und Postmodernismus – d. h. die mal
spielerische, mal zynische Distanz zu allen Positionen, deren man sich eklektisch bedient, ohne
sich einer einzelnen ganz zu verschreiben, sind andere Möglichkeiten. Sie alle sind nur im
Gegensatz zueinander und im durch die globalen Beziehungen geschaffenen Rahmen zu erklären.
Friedman ist auch ansonsten anregend, aber nicht leicht zusammenzufassen, so daß ich sie auf
seine Texte verweise.
▶▸Auch von anderen Ethnologen gibt es vielfältige, meist dann etwas weniger ausführlich
ausfallende Ideen und Kommentare zum Thema Globalisierung oder auch zu Einzelaspekten;
letztere werde ich in den noch folgenden Sitzungen dort einbringen, wo es sich anbietet. Viele
von ihnen teilen die zentralen Aussagen Appadurais und Hannerz’, und es läßt sich so etwas wie
eine mainstream-Position der Ethnologie zur Globalisierung skizzieren. Der sich mit
Globalisierung überhaupt befassenden Ethnologen, so muß man betonen, denn viele Kollegen,
die das weniger tun, gehen z. B. durchaus noch von der Homogenisierungserwartung des
radikalen Diffusionismus aus. Wenn es allerdings einen Punkt gibt, in dem sich so gut wie alle
ethnologischen Kommentatoren der Globalisierung einig sind, dann ist es die Tatsache, daß die
gegenwärtige globale Situation keine generelle Vereinheitlichung oder Verwestlichung der
Kultur mit sich bringt. Denn die Importe kommen von überall her, nicht nur aus Nordamerika
und Europa, und es gibt kulturelle Flüsse aus den Peripherien in das globale Zentrum. Außerdem
werden die Kulturübernahmen den lokalen Bedürfnissen angepaßt und mit lokaler Kultur
verschmolzen. ▶▸Hannerz sagt dazu Kreolisierung, Appadurai Indigenisierung, aber es gibt
durchaus auch noch andere Begriffe wie etwa Domestizierung (domestication) – von dem
amerikanischen Ethnologen Joseph Tobin vorgeschlagen (Tobin 1992) – oder den besonders
populären der Hybridisierung (hybridization), den vor allem der indische, an der Harvard
University lehrende Literaturwissenschaftler Homi Bhabha verbreitet hat. Roland Robertson hat
den Begriff der „Glokalisierung” (glocalization) popularisiert, und früher hätte man – vor allem
in der Religionsethnologie – von Synkretismus (syncretism) geredet. Die lokale Ebene bestimmt
die Ausrichtung dieser kulturellen Verschmelzungen und verliert deshalb auch nicht ihre
Bedeutung. ▶▸Die wirtschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse in der Welt geben damit
die Geographie der übrigen kulturellen Bereiche keineswegs vor, hier herrscht vielmehr
„disjuncture” im Sinne Appadurais. Staaten und Nationen, oft im Bemühen darum, das jeweils
andere erst noch zu werden, spielen in dieser globalen Kulturgeographie eine unverminderte
Rolle. Es steigt jedoch allgemein die Anzahl und der Einfluß der vielen Menschen, Dinge und
Ideen, die sich jenseits ihrer Ursprungsterritorien befinden, also in Appadurais Begriff
deterritorialisiert sind, gerade auch bei der Dynamik zwischen Staaten und Nationen. Und
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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schließlich bringt die Globalisierung nicht nur wirtschaftsbedingte Einschränkungen, sondern
auch Beflügelndes mit sich, wenn sich durch die verbesserten Transportmöglichkeiten für
Menschen, Dinge und Ideen die materiellen und immateriellen Ressourcen, die an den einzelnen
Orten verfügbar sind, vermehren und Kreativität und Imagination anregen.
In den noch folgenden Sitzungen – das ist die Mehrheit – werde ich auf die Einzelbereiche
der Globalisierung eingehen und neben diversen Fallbeispielen die jeweils für diese Bereiche
entworfenen Theorien schildern. Den Anfang macht in der nächsten Sitzung die Konsumtion,
also der Bereich, der in der populären Wahrnehmung der Globalisierung häufig eine besonders
herausgehobene Stellung einnimmt. Dringt Coca Cola wirklich in die kleinste Hütte, und was hat
das für Folgen?
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Teil VI: Die Globalisierung des
Warenkonsums
Ethnologische Konsumforschung
Ich habe im letzten Teil die Globalisierungstheorien der 1980er und 90er Jahre von Ethnologen
wie Arjun Appadurai und Ulf Hannerz vorgestellt. Diese enthalten viele einzelne Komponenten,
aber auch so etwas wie einen ethnologischen Konsens zum Globalisierungsthema. Und dieser
lautet, daß die in den vorherigen Kapiteln besprochenen globalen wirtschaftlichen
Abhängigkeiten die Entwicklung in anderen kulturellen Bereichen keineswegs determinieren.
Hier betonen die besagten Autoren vielmehr die Eigenständigkeit der Kulturübernahmen
und -anpassungen und sprechen von „Kreolisierung” und „Indigenisierung”. Ob dies auch beim
modernen Warenkonsum so ist, wird heute die zentrale Frage sein. Die Präsenz westlicher
Konsumartikel selbst in den entferntesten Winkeln dieser Erde und der Vormarsch von Pepsi,
Nike, Sony und all den anderen Marken wird ja häufig als besonders charakteristisch für die
gegenwärtige Weltsituation betrachtet, und gerade hier sind die Kritiker besonders zahlreich.
Naomi Kleins Buch No Logo (Klein 2000) etwa wurde zu einem Manifest der
Globalisierungskritiker. Die Frage ist, ob es tatsächlich so aussieht. Wird wirklich alle Welt zu
Marken-Junkies, wenn sie mit den Produkten der multinationalen Konzernriesen und ihrer
Werbemaschinerie in Berührung kommt, oder findet auch hier wieder „Glokalisierung” statt?
Die Ethnologie ist heute immer besser gerüstet, darauf eine Antwort zu geben. Konsumtion ist
ursprünglich ein vernachlässigter Bereich gewesen, vielleicht weil er in den typischerweise von
Ethnologen untersuchten Gesellschaften als simple Bedürfnisbefriedigung mit nur geringer
symbolischer Bedeutung angesehen wurde. Stattdessen konzentrierten sich Ethnologen mit
Interesse an wirtschaftlichen Vorgängen auf die Produktion und die Distribution der Güter, und
die Klassiker handeln z. B. vom Kula-Ring der Trobriander, also von einem Austauschsystem
mit Prestigefunktion (Malinowski 1922). Dies hat sich allerdings in den letzten Jahrzehnten
geändert. Konsumtion und besonders die moderne Konsumkultur sind nun ebenfalls Objekt von
Feldforschungen und theoretischen Annäherungen, und besonders die über den Konsum
gesendeten sozialen Botschaften und seine Verbindung mit individueller und kollektiver Identität
finden dabei Beachtung.
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Mecca Cola: Antiamerikanismus als Brause
Ich möchte statt einer weiteren Einleitung themengerecht mit einem Werbespot beginnen. (Film
ab; siehe http://www.mecca-cola.com/en/tvads.php) Wahrscheinlich ist den meisten von ihnen
der Sinn des arabischen Textes entgangen, aber nicht der Schriftzug „Mecca Cola” auf der PETFlasche. Mecca Cola World wurde 2002 in Paris von dem tunesischstämmigen Journalisten
Tawfik Mathlouthi gegründet. Dieser hatte bereits auf seinem eigenen Radiosender eine unter
arabischsprachigen Franzosen und Migranten populäre Talkshow und dachte nun über einen
Weg nach, wie man Cola trinken konnte, ohne die USA, die Politik von Präsident Bush und das,
was er den „zionistischen Faschismus” der israelischen Regierung nennt, zu unterstützen.
Wahrscheinlich haben sie im Werbespot das Foto der US-Soldatin Lynndie England mit dem
nackten Gefangenen am Hundehalsband aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghreib bemerkt, das
diese politische Botschaft unterstreicht. Heraus kam Mecca Cola. Ein Verkaufsslogan lautet
„Don’t drink stupid, drink committed!” („Trink nicht dumm, sondern engagiert!”), und
entsprechend wird nach guter islamischer Sitte der Zehnte, d. h. zakat, gegeben, und zwar gleich
doppelt: 10 Prozent der Verkaufserlöse gehen an humanitäre Projekte in Palästina, weitere 10
Prozent an ebensolche Projekte im jeweiligen Herstellungsland. Bargeld wird dabei nicht
ausgezahlt, wenn man dem Gründer glauben darf, und es werden Schulbücher oder
Medikamente geliefert, nicht etwa Unterstützung für militante palästinensische Gruppen.
Dies ist natürlich nicht einfach nur Kreolisierung, sondern die Globalisierung wird
gewissermaßen gegen sich selbst gewendet, ein bißchen wie bei dem in der ersten Sitzung
beschriebenen Fall der Pont-des-Arts-Kopie in Kyoto. Das Design der Marke Coca Cola wird so
weitgehend imitiert, daß Coca Cola wohl keinerlei Probleme hätte, dies gerichtlich zu untersagen,
wenn das denn für die Konzerngewinne wirklich eine Rolle spielen würde und nicht bloß
unliebsame Publicity für den Imitator brächte. Gleichzeitig ist die Marke aber als ein politisches
Statement gegen die US-amerikanische Nahostpolitik und wohl auch den Imperialismus im
weiteren gedacht, oder sie versucht zumindest, mit diesem Statement den Verkaufserfolg zu
erhöhen. Nicht untypisch im Licht dessen, was wir von Appadurai über Deterritorialisierung
gehört haben, ist es ein tunesischer Franzose der zweiten Generation, überdies in der Weltstadt
Paris lebend, der Mecca Cola entwickelt hat.
Man kann sich natürlich fragen, wie konsequent es ist, die kulturellen Formen des Gegners so
weit zu übernehmen und nur in Details zu ändern. Und auch unter Muslimen ist Mecca Cola
nicht unumstritten, denn viele lehnen es ab, den Namen der heiligen Stadt für die
Verkaufsförderung eines schnöden Softdrinks zu gebrauchen. Insgesamt scheint Mecca Cola
allerdings Erfolg zu haben, nicht nur in Europa in Kiosken mit muslimischer Kundschaft und in
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
103
französischen Supermärkten, sondern auch im Nahen Osten. Dort gibt es auch schon weitere
Cola-Varianten wie Qibla Cola und Zamzam Cola, die ebenfalls dem Bedürfnis Rechnung tragen,
US-amerikanischen Konzernen, aber nicht dem importierten Stück Trinkkultur aus dem Weg zu
gehen.
Brasilianische Weintrauben und die Frischobstwelle
Ein Strang der ethnologischen Forschung zu Waren und Konsum untersucht die Ketten der
Weitergabe, die sie bedingen und die heute oftmals weltumspannend sind. Auch im Fall von
Mecca Cola gibt es solche Ketten, die auf der einen Seite von der Produktions- und Abfüllstätte
über den Groß- und Einzelhandel bis hin zu den Verbrauchern führen, auf der anderen Seite aber
auch von den diversen Rohstoff- und Teilelieferanten, etwa den Herstellern von PET-Flaschen,
hin zur Produktionsstätte. Durch die immer billigeren Transportmöglichkeiten für Massengüter
bedingt sind die Glieder solcher Ketten räumlich immer weiter verstreut, und unabhängig davon
wissen die einzelnen Glieder oft recht wenig über die anderen Glieder bzw. sind auch gar nicht
weiter daran interessiert. Aber auf sehr tiefgreifende Weise miteinander verknüpft sind sie häufig
trotzdem. Wir haben mit Sidney Mintz’ Buch bereits ein Beispiel solche einer
Warenkettenanalyse (englisch auch „commodity chain analysis”) kennengelernt, die herausstellt,
daß ein solch banales Alltagsgut wie der Zucker letztendlich ein Motor der industriellen
Revolution war, natürlich ohne daß dies dem karibischen Plantagensklaven oder dem englischen
Industriearbeiter bewußt war. Und ähnliche Analysen gibt es von ethnologischer Seite auch für
den heutigen Warenkonsum.
Die Globalisierung von frischem Obst und Gemüse
Im Sammelband Commodities and Globalization: Anthropological Perspectives von Haugerud,
Stone und Little finden sich zwei Analysen zur Bedeutung der „non-traditional crops” (NTC),
also der „nicht-traditionellen Anbauprodukte” (Collins 2000, Little und Dolan 2000). Das sind
diejenigen Feldfrüchte, die in einer bestimmten Gegend nicht zu Hause sind, sondern neu
eingeführt werden und für den Export bestimmt sind. Es geht also um Marktproduktion und nicht
wie vielfach beim traditionellen Anbau um Subsistenzwirtschaft.
Die Ausbreitung der „non-traditional crops” ist mit den veränderten Konsumgewohnheiten in
den westlichen Industrieländern verbunden. Kaum eine Ausgabe des Ihnen regelmäßig
zugehenden PR-Magazins der Krankenkasse Ihres Vertrauens verzichtet ja darauf, Ihnen den
möglichst häufigen Konsum von frischem Gemüse und frischem Obst nahezulegen. Und wir sind
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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es gewohnt, daß wir ganzjährig eine große Auswahl von Gemüse- und Obstsorten kaufen können.
Die klassische Spargelsaison ist mittlerweile so sehr verlängert, daß man sie kaum mehr als
solche bezeichnen kann, und frische Erdbeeren oder Avocados können Sie eigentlich immer
erhalten. Gleichzeitig macht fast niemand mehr Gemüse oder Obst für die Wintermonate ein, wie
es in der Generation meiner Eltern noch allgemein verbreitet war. Die meisten Konsumenten
machen sich wenig Gedanken darüber, was dahinter steht, aber wenn man es einmal tut, ist
offensichtlich, daß dies ohne fortgeschrittene Kühl- und Transporttechnologie, Welthandel und
weit verstreute Anbauregionen mit einer entsprechenden Staffelung der Erntezeiten nicht
möglich wäre. Nach Getreide und Ölsamen stehen Frischobst und –gemüse mittlerweile mit
einem Anteil von 13 Prozent an dritter Stelle der weltweiten Agrarexporte, und damit haben sie z.
B. den Zucker und auch andere landwirtschaftliche Rohstoffe überflügelt. Wie Little und Dolan
in ihrem Beitrag ausführen (Little und Dolan 2000), liegt dies nicht zuletzt daran, daß der Anbau
von
NTC
eines
der
Standardrezepte
sind,
das
IWF
und
Weltbank
bei
Strukturanpassungsprogrammen vertreten.
Weintraubenproduktion in Brasilien
In ihrem Beitrag “Tracing Social Relations in Commodity Chains: The Case of Grapes in Brazil”
untersucht
die
Agrarsoziologin
Jane
L.
Collins,
wie
sich
die
Einführung
der
Weintraubenproduktion im Saõ-Francisco-Tal der brasilianischen Bundesstaaten Bahia und
Pernambuco ausgewirkt hat (Collins 2000). Der weltweite Weintraubenkonsum wächst rasant, in
den USA z. B. stieg der Import von 14.000 Tonnen 1970 auf 400.000 Tonnen 1990, eng
verbunden mit der Erwartung der Konsumenten, Weintrauben zu jeder Zeit kaufen zu können.
Weintrauben bleiben allerdings ein Luxusprodukt, das man im Gegensatz zu Kartoffeln oder
Zwiebeln im Laden liegen läßt und durch etwas anderes ersetzt, sobald die wahrgenommene
Qualität nicht den Erwartungen entspricht, also z. B. wenn die Trauben fleckig oder angefault
sind. Dies zu verhindern, erfordert bei diesem sensiblen Produkt lückenlose Kühlketten, die auch
einen wesentlichen Teil der Produktionskosten ausmachen.
Und dies bestimmt letztendlich auch sehr stark die Produktionsbedingungen in Brasilien.
Zwischen 1987 und 1993 hat das Land seine Weintraubenexporte verzehnfacht. Das untere SaõFrancisco-Tal war in den 1970er Jahren noch ein für den armen Nordosten Brasiliens typisches,
dürregeplagtes Gebiet mit traditionell betriebenen großen Viehfarmen, wenig kapitalisiert und
mit einer wie Leibeigene gehaltenen Landarbeiterschaft. Seit der Vollendung eines von der
Weltbank geförderten und die Umsiedlung von 65.000 Menschen erfordernden Staudamms 1979
hat sich dies jedoch grundlegend gewandelt, denn nun ist Bewässerung möglich, und
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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multinationale Konzerne investieren in diesem Bereich große Summen. Auf knapp einem
Zehntel der bewässerten Anbaufläche standen 1993 Weingärten, insgesamt 4000 Hektar, wo es
15 Jahre zuvor noch keinen einzigen gegeben hatte.
Groß- und Kleinfarmen
Der Anbau wird dominiert von großen Betrieben; 18 von ihnen teilen sich drei Viertel der Fläche.
Das restliche Viertel umfaßt aber etwa 300 kleine Farmen mit jeweils unter 6 Hektar Fläche. Für
große wie kleine Produzenten gab es staatliche Kredite und technische Unterstützung, und
tatsächlich gelingt es den kleinen Farmen eher besser als den großen, exportfähige Weintrauben
zu produzieren und nicht nur Ausschuß, der dann für bloß noch die Hälfte oder ein Drittel des
Preises auf den lokalen Märkten verkauft werden muß. Außerdem haben sie, da oft
Familienbetriebe, auch bei den Arbeitskosten Vorteile. Diese sind im Weinbau beträchtlich, vor
allem wenn die Trauben exportfähig sein sollen, denn dann sind genaue Standards bezüglich
Größe, Gewicht, Zuckergehalt, Makellosigkeit und Pestizidrückständen einzuhalten. Dies
erfordert eine Vielzahl von Arbeitsschritten wie Düngung, Kontrolle und Pestizidauftrag,
Rückschneiden alter oder unproduktiver Triebe, fachgerechte Ernte und Sortierung usw., die
fortlaufend anfallen und entsprechende Fachkenntnisse erfordern. Im Jahr kommen 1500
Arbeitstage pro Hektar zusammen, also genug für 6 Vollzeitkräfte, während es z. B. bei Mangos
nur 500 sind und bei anderen Anbauprodukten noch viel weniger.
Auf den großen Farmen treibt dies die Kosten in die Höhe, denn die Arbeiter bleiben nur,
wenn sie neben einem Lohn auch noch Unterkunft und Serviceleistungen geboten bekommen,
und sie müssen von Kontrolleuren überwacht werden, denen ihrerseits wieder Kontrolleure
übergeordnet sind. Dies alles entfällt bei einer kleinen Farm in Familieneigentum, die auf auch
mit weniger Lohn und Überwachung motivierte Haushaltsmitglieder zurückgreifen kann.
Entsprechend liegen die Arbeitskosten der kleinen Weintrauben-Farmen im Nordosten Brasiliens
um 70 Prozent und die gesamten Produktionskosten um 45 Prozent niedriger als die der großen
Farmen.
Man könnte also fast vermuten, daß hier die Quadratur des Globalisierungskreises einmal
gelingt. Denn sonst wird ja gerne angenommen, daß eine zunehmende Exportorientierung kleine,
lokale Produzenten zugunsten multinationaler Konzerne aus dem Markt drängt und statt
selbständiger Bauern ein landloses Proletariat schafft, das sich nicht mehr selbst versorgen kann
und den Wechselfällen des Marktes schutzlos ausgeliefert ist. Hier aber haben wir einmal ein
Exportprodukt für den Weltmarkt, bei dem tatsächlich die kleinen Produzenten im Vorteil sind.
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Das Makellosigkeitgebot und die Vertriebsbedingungen
Doch können sie diesen Vorteil nicht nutzen, wie Collins feststellt. Und dies liegt hauptsächlich
an der Sensibilität des Produkts und damit – letztendlich – daran, daß wir alle im Supermarkt bei
Weintrauben so wählerisch sind. Nach der Ernte müssen die Weintrauben binnen Stunden in
gekühlten Lagerhäusern sein und dann mit Kühlwagen zu den Häfen und von dort mit
Kühlschiffen nach Rotterdam gebracht werden, und dies alles, ohne daß die Kühlkette auch nur
ein einziges Mal unterbrochen werden darf. Und in der Organisation dieses Transports sind die
kleinen Farmer im Nachteil, denn mit ihren geringen Produktmengen und ihrem oft auch
fehlenden politischen Gewicht können sie keine ähnlich niedrigen Preise und zeitnahen
Transporttermine aushandeln wie die großen Produzenten. Glücklicherweise standen den kleinen
Farmern
1993
zwei
Ausweichmöglichkeiten
zur
Verfügung,
denn
sowohl
eine
Vertriebsgesellschaft einiger der großen Firmen als auch eine französische Exportgesellschaft
kauften ihre Trauben auf, zumindest dann, wenn die eigene Produktion für die Aufträge nicht
reichte. Doch würde schon der Ausfall einer dieser beiden Zwischenhändler die für die
Kleinproduzenten günstige Konkurrenz beenden, und der Ausfall beider würde viele von ihnen
komplett aus dem Markt drängen. Die Zukunft der kleinen Weintraubenfarmer ist also mit
großen Risiken behaftet, weil das Distributionssystem so stark monopolisiert ist.
Unsere Vorstellungen von der makellosen Weintraube wirken sich aber auch noch in anderer
Hinsicht aus. Denn sie haben die Arbeiterschaft feminisiert; 1993 waren zwei Drittel von ihnen
Frauen. Männer erledigen die körperlich schwereren Arbeiten, aber die letztendlich für die
Produktqualität und das Aussehen der Trauben wichtigeren Arbeiten – Auswählen,
Zurückschneiden, Verpacken etc. – werden auf den großen Farmen von Frauen gemacht. Aus
vier Gründen reduziert das die Arbeitskosten: Erstens gibt es weltweit Beispiele dafür, daß die
speziellen für eine entlohnte Arbeit nötigen Kenntnisse schon allein deshalb entwertet werden,
weil sie Frauen verrichten; fachliche Fähigkeiten werden etwa zu einer quasi-angeborenen
größeren Fingerfertigkeit herabgewürdigt. Frauen erhalten in den Weingärten nur den
Minimallohn, Männer erhalten mehr. Die häuslichen Verpflichtungen der Frauen rechtfertigen
zum zweiten, sie nur in temporären Arbeitsverhältnissen zu beschäftigen, wodurch bestimmte
staatliche vorgeschriebene Vorrechte für Arbeitnehmer entfallen. Gewerkschaften üben
außerdem bei der Aufnahme von Frauen Zurückhaltung, so daß drittens auch in dieser Hinsicht
für die Produzenten wenig Ärger zu erwarten ist. Und viertens beschweren sich Frauen weniger
schnell über die beiden ihnen bei der Arbeit übergeordneten Kontrollinstanzen. Diese vier
Bedingungen sind nicht auf Brasilien beschränkt, und so arbeiten auch in anderen
lateinamerikanischen Ländern, im Senegal oder in den schnittblumenexportierenden Ländern
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Nord- oder Ostafrikas sehr große Zahlen von Frauen in der Produktion von NTC.
Collins zieht das Fazit, daß die Homogenität der Ware, die wir im Supermarkt verlangen, im
Fall des Frischobst- und –gemüsehandels neue Formen der Differenzierung fördert, speziell die
Segregierung der Geschlechter, und ganz allgemein die Ersetzung traditioneller Landwirtschaft
durch die Produktion dessen, was in den reichen Ländern gerade en vogue ist. Und sie verlangt,
diese Verbindungen wie im Fall der Weintrauben stärker offenzulegen, also nicht nur zu
untersuchen, wie sich lokale Gemeinschaften auf abstrakte globale Kräfte einstellen, sondern
stärker die durch Handel und Regulierungen aller Art geschaffenen Beziehungen zwischen
Produzenten und Konsumenten in den Blick zu nehmen.
Venezianische Glasperlen, ostafrikanische Pastoralnomaden
und das New Age
Sie werden bei dieser ethnologischen Analyse der Weintrauben-Warenkette vielleicht einwenden,
daß die Produktion sehr im Vordergrund steht und wir über die Distribution und stärker noch die
Konsumtion wenig erfahren. Der immer stärkere Hang zum Frischobst und die Bevorzugung
fleckfreier Ware wird vielmehr als aus dem Alltag bekannt vorausgesetzt. Mit ihrem Fokus auf
der Produktion ist Collins’ Studie der älteren neomarxistischen Forschung, wie ich sie Ihnen
bereits vorgestellt habe, noch recht nahe. Es gibt allerdings auch ethnologische Analysen von
Warenketten, die bei den globalen Verbindungen stärker auf die Konsumtionsseite eingehen und
auch den im Fall der Weintrauben eher zu vernachlässigenden symbolischen Gehalt der Waren
stärker in den Vordergrund stellen.
Die mporo-Ketten der Samburu
Die amerikanische Ethnologin Bilinda Straight von der Western Michigan University hat mit
dem Artikel „From Samburu Heirloom to New Age Artifact: The Cross-Cultural Consumption
of Mporo Marriage Beads” eine solche Studie vorgelegt (Straight 2002). Bei den Samburu, einer
pastoralnomadischen Ethnie in Kenia, wo sie selbst zu einem seltsamerweise nicht näher
bezeichneten Zeitpunkt Feldforschung gemacht hat, tragen die Frauen ab ihrer Heirat mporo
genannte Halsketten, in denen rote Glasperlen eine zentrale Rolle spielen. Diese roten Perlen
wurden einst in Venedig hergestellt, und zwar bewußt als Handelsgüter für außereuropäische
Regionen. In letzter Zeit finden diese Glasperlen jedoch wieder zurück in den Westen, wo sie
besonders bei Käuferinnen mit New-Age-Interessen begehrte Schmuckstücke geworden sind,
und mit welchen Vorstellungen beide Seiten die Perlen verbinden, ist Thema von Straights
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Artikel.
Die ungefähr einen Zentimeter langen, ovalen Glasperlen sind sogenannte „white heart
beads”, die aus dunkelrotem Glas mit einem weißen Kern bestehen und dem Karneol, einem
Halbedelstein, ähneln. Die Globalisierung des Handels mit „beads” – also im Unterschied zu
„pearls” den Perlen, die nicht in Austern gewachsen sind – hat eine lange Geschichte.
Handelsnetze für Glasperlen von den Herstellungsstätten in Ägypten und am Roten Meer bis
hinunter nach Tansania sind schon für das zweite Jahrhundert belegt, und Perlen aus Stein, Holz,
Knochen und Muscheln werden in Afrika schon seit 5000 Jahren gehandelt. Mit der kolonialen
Expansion nahm der Handel mit europäischen Glasperlen stark zu, und auch die im 15. Jh.
einsetzende venezianische Produktion ist fast schon von Anfang an auch nach Afrika exportiert
worden, zunächst über arabische Zwischenhändler. Die spezielle rote Glasperlensorte in den
mporo-Ketten wird seit etwa 1800 in Venedig hergestellt und gelangte offenbar über Händler aus
den verschiedensten europäischen Ländern an die ostafrikanische Küste und von dort über
Araber, aber auch über europäische Reisende ins Landesinnere. Schon um die Wende zum 20. Jh.
waren sie in der Region der Samburu außerordentlich begehrt, wie europäische Händler damals
berichteten, und offensichtlich ersetzten oder ergänzten sie einen bereits älteren Handel mit lokal
produzierten Perlen aus Karneol, wie sie bereits in 4000 Jahre alten Fundstätten am Turkana-See
auftauchen. Diese einheimischen Karneolperlen waren jedoch ein knappes Gut, und in der vorund frühkolonialen Zeit wurden immer nur einzelne von ihnen auf Giraffenhaare gezogen als
Ketten verwendet. Ab 1900 waren die roten Glasperlen jedoch durch das koloniale
Handelssystem einige Jahrzehnte lang preiswert und in großen Mengen verfügbar.
Die Symbolik der Perlenketten
Dies hat bei den Halsketten zu einer Ästhetik der Fülle geführt. Es handelt sich jetzt um schwere
Gebilde aus vielen Schichten von regelrechten Kettenbündeln, die im Laufe der Zeit sowohl
komplexer als auch regelmäßiger in der Anordnung geworden sind. Je größer die Fülle, desto
größer die Schönheit und auch das Prestige dieses Schmucks. Der Halskettenschmuck einer
Samburu-Frau hat zudem heute, wo die Perlen vor Ort schon seit einigen Jahrzehnten nicht mehr
zu kaufen sind, einen regelrechten Lebenszyklus. Ihre ersten Perlen erhalten die Frauen von
ihren Familien, wenn sie alt genug sind, mit den jungen Männern aus der Altersgruppe der
Krieger Beziehungen einzugehen (offensichtlich sexuelle Beziehungen; Straight ist hier unnötig
undeutlich). Von diesen jungen Männern erhalten sie viele weitere Perlen, allerdings noch nicht
die roten mporo-Perlen. Später heiraten sie dann, gewöhnlich Männer, die wesentlich älter sind
als sie selbst, was ihre Beziehungen zu den jungen Kriegern beendet, aber ihren Halskettenvorrat
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auf den Zenit treibt. Denn nicht nur erhalten sie viele weitere Perlen als Teil der
Heiratstransaktionen, ihre Mütter geben den Bräuten auch eine aus dem eigenen Vorrat gefertigte
mporo-Kette, die über allen anderen getragen wird und das symbolische Zeichen dafür ist, daß
die Braut nun Kinder gebären kann. Wachsen jedoch später ihre eigenen Töchter und die von
Verwandten heran, verschenken die Frauen immer mehr von ihren mporo-Perlen, bis schließlich
nur noch ein kleiner Vorrat übrigbleibt. Mporo-Perlen sind also für die Samburu-Frauen
symbolisch mit Fruchtbarkeit und mit dem erstrebten Reichtum sowohl an Kindern als auch an
Rindern verknüpft, wobei die eine Ressource – die Kinder – mit der Möglichkeit zur
Vermehrung der anderen Ressource – wenn diese zu Arbeitskräften heranwachsen – verbunden
ist. Und diese symbolische Verknüpfung, so Straight, macht einen Großteil ihrer
Anziehungskraft aus.
In jüngeren Jahren werden die mporo-Perlen jedoch zusehends nicht mehr von Frau zu Frau
weitergegeben, sondern verkauft, eine Entwicklung, die für Straights Informantinnen zwiespältig
ist. Denn eigentlich ist es nicht richtig, etwas an Fremde zu veräußern, was mit dem „Schmutz”
(latukuny) des eigenen Körpers behaftet ist; vielmehr sollte dieser an die eigenen Töchter gehen,
denn für deren Fruchtbarkeit ist der Kontakt mit dem latukuny der Mutter unerläßlich. Das
angebotene Geld reicht aber offenbar aus, um diese Bedenken letztlich doch zu überwinden. Für
den Erwerb von Nahrungsmitteln darf der Erlös allerdings nicht verwendet werden, denn das
würde bedeuten, gewissermaßen die eigene Fruchtbarkeit zu konsumieren.
Der spirituelle Reimport der Perlen
Die so auf den Markt gelangenden mporo-Perlen und –Halsketten landen bei ausländischen
Touristen, die Kenia besuchen, und in den mittlerweile in den USA sehr zahlreichen, in so gut
wie jedem Einkaufszentrum zu findenden Läden, die Perlen und Ketten anbieten. (Hierzulande
scheint es nicht anders zu sein.) Straight berichtet von Mode- und Lifestylezeitschriften, in denen
die Models wie auch die in den exotischen, häufig in der Wüste angesiedelten Szenerien
auftauchenden Einheimischen solche Ketten tragen oder in denen der Eigentümer eines
amerikanischen Geschäfts für solche Ketten in einer Art Reisebericht dabei begleitet wird, wie er
sie in Afrika im Busch campend erhandelt. Die amerikanischen Perlenläden finden sich häufig in
den besseren Vierteln, und dort hängen Beispielketten in großer Zahl. Ebenfalls zum Verkauf
stehende Bücher informieren nicht nur über die historischen Hintergründe der Perlen und
darüber, wie sie in Afrika getragen wurden bzw. werden. Sie leiten überdies auch darin an, wie
man aus den Perlen nicht nur ästhetisch befriedigende Ketten, sondern auch mit magischen oder
heilenden Kräften ausgestattete Amulette anfertigen kann. Und im Laden einer Kirche der für
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New-Age-Einflüsse offenbar besonders zugänglichen protestantischen Demomination, den
Unitarian Universalists, verkauft eine Künstlerin die Perlen als „Meditationsperlen” in
besonderen Arrangements.
Straight stellt fest, daß die Mitglieder dieser Kirche und andere Frauen, die diversen NewAge- und neuheidnischen (neopagan) Vorstellungen anhängen, einen Hang zu Objekten aus
allen möglichen außereuropäischen Kulturen haben, die sie als mit besonderer spiritueller Kraft
und Energie aufgeladen empfinden. Dafür ist ganz wesentlich, daß diese Objekte tatsächlich im
Alltag benutzt worden sind, und besonders Schalen und Gefäße aller Art sowie die Perlen stehen
dabei hoch im Kurs. In verschiedenen Geschäften und auf einer Händlerkonferenz stößt Straight
zudem auf eine weitere Attraktion der Perlen: Die Verkäufer/innen erzählen ihr, daß die Ketten
auf Elefantenhaare aufgezogen werden, letztere aber wegen des Rückgangs der Art und der
heutigen Schutzmaßnahmen nicht mehr zur Verfügung stehen. Daher hätten die Perlen für die
Ostafrikanerinnen keinen Nutzen mehr. Die umsatzförderliche Implikation dieser tatsächlich
nicht zutreffenden Geschichte – in Wahrheit werden Palmenfasern und Giraffenhaar benutzt – ist,
daß es sich hier trotz der außereuropäischen Herkunft um eine politisch korrekte Ware handelt,
deren Kauf zudem ein Stück bedrohte Kultur vor dem Untergang bewahrt. Denn auch ganz
allgemein wird verbreitet, daß es sich beim Tragen dieser Halsketten in Ostafrika um eine bereits
untergegangene Praxis handelt, wiederum fälschlich, denn tatsächlich besteht sie ja fort.
Die mythischen, naturnahen und spirituellen Dimensionen Afrikas verbinden sich im Reiz der
Perlen also mit einem nostalgischen Element. Am anderen Ende der Warenkette, bei den
Samburu, ist es das Konzept der Fülle – von Perlen, Kindern, Rindern und Prestige, in enger
Verbindung miteinander –, das die Perlen attraktiv macht, und seitdem sie nicht mehr zu kaufen
sind, ist ihre matrilineare Vererbung und die damit verbundene Symbolik hinzugekommen. Die
gleichen Perlen tragen also an beiden Enden der Warenkette ganz unterschiedliche Bedeutungen,
und für diese Bedeutungen sind letztlich die Bedürfnisse der Konsumentinnen – also der
Samburu-Frauen bzw. der modebewußten und/oder spirituell interessierten amerikanischen
Mittelklässlerinnen – entscheidend. Straight verwendet den Begriff nicht, aber deutlich haben
wir es hier auf beiden Seiten mit dem zu tun, was Hannerz Kreolisierung und Appadurai
Indigenisierung nennen. Die Perlen als solche bleiben zwar unverändert, aber ihre Anordnung zu
Ketten ist jeweils lokal bestimmt, und die Bedeutungen sind es vollständig.
Wahrzeichen der Globalisierung?
Einen Aspekt betrachtet Straight allerdings meines Erachtens zu wenig. Die Ethnographie der
US-amerikanischen Perlenfans fällt nämlich etwas knapp aus, und die Afrika-Klischees, die die
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Frauen in die Perlen hineinprojizieren, klingen in Straights Darstellung so stereotyp, daß es
schon wieder verdächtig ist. Vielleicht ist es tatsächlich so, vielleicht ist es aber auch einem
generellen Trend speziell in der jüngeren amerikanischen Ethnologie geschuldet, der die
theoretische Auskleidung gegenüber der Ethnographie sehr in den Vordergrund stellt. So dringt
auch Straight erst nach mehreren Seiten nicht sehr ergiebiger theoretischer Erwägungen zu ihrem
Fall vor und läßt selbst so elementare Angaben wie etwa Zeitpunkt und Umstände ihrer
Feldforschung unerwähnt. Vielleicht könnte ihr gerade deshalb auch die Bedeutung eines
Aspekts entgangen sein, der in ihren Schilderungen durchschimmert. Denn die Tatsache, daß die
Perlen ursprünglich aus Europa stammen, ist durchaus ein in sowohl im kenianischen
Souvenirladen als auch in den amerikanischen Geschäften und den dort verkauften Büchern
präsentes Faktum. Den Kundinnen entgeht nicht, daß sich die Perlen in längst vergangenen
Jahrhunderten aus Europa auf die Reise nach Afrika gemacht haben, dort für eigene Zwecke
verwendet worden sind und jetzt wieder in den Westen zurückgelangen. Ich halte es für
keineswegs ausgeschlossen, daß die so geschaffene Verbindung der Zeitalter und Kontinente
einen beträchtlichen Anteil am Appeal der Perlen hat; und es ist ein so naheliegender Aspekt,
daß es sich sicherlich gelohnt hätte, auch ihn zu kommentieren.
Sebago-Bootsschuhe in Dakar
Nun zu einer dritten Warenkettenanalyse, die gegenüber den symbolisch neutralen Weintrauben
und den durch ihren praktischen Gebrauch symbolisch stark aufgeladenen mporo-Perlen endlich
auch einmal die symbolische Macht der Marken ins Spiel bringt. Es geht um Bootsschuhe, mit
denen der amerikanische Hersteller Sebago seit den 1960er Jahren vor allem auf dem
europäischen Markt erfolgreich ist. Die amerikanischen Ethnologin Liza Scheld hat untersucht,
welche Bedeutungen mit ihnen in der senegalesischen Hauptstadt Dakar verknüpft werden, und
nimmt dies zum Anlaß für eine allgemeinere Kritik an den etablierten Vorstellungen zu
Weltstädten und global cities.
Importmode und Prestige in einer afrikanischen „global city”
Den gebräuchlichen, zumeist aus der Soziologie oder anderen Nachbardisziplinen stammenden
Vorstellungen zu Weltstädten zufolge ist Dakar keine solche. Im Welthandel hat sie wie Senegel
überhaupt eine eher marginale Position, und es finden sich keine Konzernzentralen oder andere
Schaltstellen der globalen Finanz-, Informations- und Warenflüsse wie etwa in New York,
London oder Tokyo, den drei Metropolen, die die niederländisch-amerikanische Soziologin
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Saskia Sassen in ihrer bekannten Studie als die einzigen global cities identifiziert (Sassen 1991).
Wie Scheld betont, aber gar nicht einmal in allen Details darstellt, hat die Agglomeration heute
jedoch fast drei Millionen Einwohner, und Dakar hat seit seiner Zeit als urbanes Zentrum des
französischen Kolonialreichs in Westafrika seinen kosmopolitischen, an ein internationales
Netzwerk von Städten angeschlossenen Status nicht verloren.
Das Bewußtsein um diese Rolle beeinflußt auch die Konsumtion der Bewohner, vor allem
junger Städter. Unter ihnen erfreuen sich die Bootsschuhe der amerikanischen Firma Sebago seit
schon mehr als zwanzig Jahren größter Beliebtheit, und zwar vor allem die Modelle mit weißen
Sohlen. Sie gelten als langlebig und bequem, da man mit ihnen auf den vielen sandigen Wegen
dieser Hafenstadt gut laufen und sie für den Moscheegang leicht ausziehen kann. In einer
Gesellschaft, in der persönliche Geltungsansprüche und Rivalitäten sehr stark über Mode
ausgetragen werden, steht allerdings ihre symbolische Bedeutung im Vordergrund. SebagoSchuhe werden mit einem als „italien” bezeichneten Stil verknüpft, zu dem auch etwa LacosteHemden gehören und den einer von Schelds Informanten wie folgt beschreibt: „It is seductive,
cool. It's comfortable. When one wears this style one feels like an engineer, a man, a good
student, an intelligent person.” Andere Informanten heben hervor, wie erst das Tragen solcher
Schuhe die eigene Person als weltläufigen Städter kennzeichnet, zu dem jedermann Beziehungen
sucht. Für diesen Distinktionsgewinn legen die Anhänger dieses Stils beträchtliche Summen hin:
80 bis 100 US-Dollar kosten die Originale und immerhin noch 30 bis 35 Dollar die chinesischen
Imitate, während z. B. selbst ein Beamtenhaushalt mit etwa 300 Dollar im Moment auskommen
muß.
Transnationale Verbindungen
Sebago selbst ist mittlerweile global. Das Unternehmen begann im US-Bundesstaat Maine als
Hersteller von Billigschuhen, die dann in den 1960er Jahren auf dem bis heute größten Markt,
nämlich Europa, „entdeckt” wurden. Die Produktion ist mit einem Zweigwerk in der
Dominikanischen Republik und der Verlagerung auf Zulieferer in Portugal ebenfalls globalisiert.
Interessanterweise ist sich die Firma Sebago, bei der Scheld nachgefragt hat, der Beliebtheit ihrer
Schuhe in Westafrika durchaus bewußt. Der dortige Verkauf entspricht etwa 10 Prozent des
europäischen Marktes. Trotzdem unterhält das Unternehmen dort keine Filialen und macht auch
keine Werbung. Den Import und Verkauf übernehmen stattdessen senegalesische Kofferhändler,
die zwischen dem Ausland und Dakar hin- und herpendeln und dabei jeweils 80 bis 100 Paare
einführen. Wie ihnen das gelingt, wird nicht gesagt, und ich könnte mir vorstellen, daß hier die
Zöllner partizipieren.
Dieser informelle Handel wird dadurch erleichtert, daß es neben dem alten Migrationsziel
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Frankreich mittlerweile mit Italien und den USA im Vergleich zugänglichere und eher noch
beliebtere Alternativen gibt. Die Senegalesen arbeiten dort in Industriebetrieben, im
Niedriglohn-Dienstleistungssektor und im Straßenhandel für Touristen, und in Städten wie New
York oder Rom haben sich komplette Infrastrukturen für alle ihre Bedürfnisse entwickelt, vom
informellen Restaurant über den Friseur zu Geldwechsel- und Reisegesellschaften, so daß ein
dortiger Aufenthalt nicht einmal mehr Sprachkenntnisse erfordert. In diesen Städten gewesen zu
sein oder mit ihnen assoziierte Konsumgüter wie die Sebago-Schuhe zu besitzen, gilt in Daker
als besonders statusträchtig, und die so gekennzeichneten Personen werden entsprechend als V.F.
(„venant de France”), V.A. („venant d’Amerique”) und V.I. („venant d’Italie”) bezeichnet,
wobei V.A. und V.I. am begehrtesten sind.
Scheld unterstreicht die Bedeutung der Konsumtion für die Schaffung und Formung
transnationaler Flüsse; ihr zufolge wird diese im Vergleich zur Produktion und Distribution
bislang vernachlässigt. Sie spricht sogar davon, daß die Konsumgüter und der eng mit ihnen
verknüpfte Fluß der Menschen die Grenzen zwischen den Städten erodiert. Für die Senegalesen,
die es bis dorthin geschafft haben, wird New York und die dortige, mittlerweile auf ca. 20.000
Personen geschätzte senegalesische community immer mehr zu einem Nobel-Vorort von Dakar.
Es wird damit genauso lokal angeeignet wie die Sebago-Schuhe, denn auch diese sind laut
Scheld weniger als der Versuch der Übernahme eines westlichen Lebensstils zu verstehen. Sie
erhalten ihre Bedeutung vielmehr vollständig aus den Bedingungen und Bedürfnissen der
senegalesischen Gesellschaft.
Dirty Drinking: Die Domestizierung des Biers in Japan
Nach diesen drei Blicken auf transnationale Warenketten und die kulturellen Auswirkungen an
ihren Enden möchte ich nun noch zwei Studien vorstellen, die sich stärker damit befassen, wie
importierte Konsumgüter und –praktiken in einheimische Lebenswelten integriert werden. Die
erste führt uns vom Luxus- und Prestigekonsum zu einem vergleichsweise banalen Alltagsgut
zurück, nämlich dem Bier. Seit den 1930er Jahren wird auch in Japan in größerem Umfang Bier
gebraut, übrigens in enger Anlehnung an deutsche Vorbilder, und mittlerweile ist zwei Drittel
der in Japan getrunkenen Menge an alkoholischen Getränken Bier, zumeist aus der Produktion
von nur vier großen Firmen. Sake oder – wie in Japan üblicher – nihonshû gilt zwar als das
alkoholische Nationalgetränk, macht aber selbst nur noch etwas mehr als ein Fünftel des
Gesamtkonsums aus und geht auch in absoluten Zahlen zurück, und dies, obwohl der
Alkoholkonsum insgesamt rasant angestiegen ist. Und auch bei den Spirituosen hat der Whiskey
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den einheimischen Schnaps shôchû, der aus allen möglichen Zutaten gebraut werden kann,
überholt. Wein ist zudem seit den 1980er Jahren stark im Kommen, vor allem unter den Frauen,
so daß sich die japanischen Trinkvorlieben immer weiter globalisieren.
„Den Becher erwidern”
Stephen R. Smith, Soziologe im Department of East Asian Studies der Wittenberg University in
Ohio, hat sich in seinem Artikel „Drinking Etiquette in a Changing Beverage Market” mit den
sozialen Auswirkungen dieses Kulturwandels und der allgemeinen Veränderungen auf dem
Getränkemarkt beschäftigt (Smith 1992). Der Vormarsch des Biers in Japan erzwingt ihm
zufolge regelrecht die Veränderung der herkömmlichen Trinksitten. Diese sind nämlich durch
ein Ritual der Reziprozität gekennzeichnet, das sogenannte henpai (wörtlich „die Tasse/den
Becher erwidern”). Alkohol wurde traditionell in Japan nämlich meistens in Gesellschaft zu
festlichen Anlässen getrunken, und noch zur Vorkriegszeit war Alkohol gleichbedeutend mit
Sake. Festliche Trinkgelage folgen einer einheitlichen Dramaturgie (siehe dazu auch Moeran
1998). Nach einem eher formalen Beginn mit Ansprachen, bei dem die Teilnehmer auf den
zugewiesenen Plätzen bleiben und die formelle Hockposition einnehmen, und der dann häufig
folgenden Mahlzeit kommt mit dem Fortschreiten der Zeit und des Alkoholkonsums irgendwann
der Moment, wo die Teilnehmer sich im Raum zu bewegen beginnen.
Mit einem Sake-Servierfläschchen (tokkuri oder o-choko) genannt machen sie sich auf den
Weg zu anderen Teilnehmern und gießen ihnen Sake bis zum Rand in die sakazuki genannten,
ziemlich kleinen Tassen oder Becher ein. Wie auch die Servierfläschchen sind diese meist aus
Porzellan, manchmal auch aus Holz, trübem Glas oder anderen Materialien. Der Empfänger
dieser Dienstleistung trinkt den Becher leer, schüttelt ihn danach aus oder wischt einmal mit der
Hand darüber und gießt nun seinerseits dem Spender Sake in denselben Becher ein, den dieser
sodann leert. Man unterhält sich dabei und danach eine Weile, bevor der erste Eingießer mit dem
Sake-Fläschchen weiter zue nächsten Person zieht; der Becher bleibt zurück. Gibt es in der
gemeinsam trinkenden Gruppe Rangunterschiede, sind es die rangniederen bzw. jüngeren
Teilnehmer, die in Bewegung sind und den Sake-Austausch initiieren, während die ranghöheren
an ihrem Platz bleiben. Smith schildert einen Fall, wo einer der Fahrer sich dem Firmendirektor
nähert und der gesamte Austausch vor allem beim sichtlich angespannten Fahrer etwas sehr
Gezwungenes hat; auch muß er um die Einschenk-Erwiderung des Direktors ausdrücklich bitten.
In dem einen Fall, wo ich selbst einmal auf einer Feier war, auf der henpai praktiziert wurde,
ging es allerdings sehr viel lockerer zu.
Smith erinnert an die bekannte Theorie des französischen Ethnologen Marcel Mauss zum
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Gabentausch, die dieser in seinem klassischen Werk Le don niedergelegt hat (Mauss 1925, 1968).
Ihm zufolge verpflichtet die Gabe in sehr starkem Maße, und der Beschenkte muß sie erwidern,
um Unheil von sich selbst fernzuhalten. So ist es auch im Fall des henpai, denn es einfach zu
verweigern ist nicht vorgesehen, und dementsprechend sorgt es dafür, daß die Individuen
Reziprozitätsbeziehungen
eingehen,
die
sie
einander
verpflichten
und
so
den
Gesamtzusammenhalt der Gruppe stärken.
Bier, Whiskey und die Grenzen der Reziprozität
Henpai funktioniert jedoch nicht mit Bier. Dieses wird zwar aus vergleichsweise kleinen Gläsern
getrunken, und auch hier gilt wie immer in Japan, daß man in Gesellschaft Alkohol nie sich
selbst, sondern immer nur den anderen einschenkt. Aber die Gläser sind trotzdem größer als die
sakazuki und nicht leicht in einem Zug zu leeren, und danach bleiben auf dem klaren Glas die
Schaumrückstände und Fingerabdrücke sichtbar, so daß man es nicht so gut einander anbieten
kann wie die sakazuki, bei denen der klare Sake zwar eine fühlbare Klebrigkeit, aber keine
sichtbaren Spuren hinterläßt. Bier leistet also einem weniger sozialen Trinken Vorschub.
Nicht anders ist es auch bei Whiskey. Dieser ist in Japan zwar nur für einen kleinen Teil der
alkoholischen Getränkemenge, aber immerhin für fast ein Viertel der reinen Alkoholmege
verantwortlich. Das Whiskeytrinken findet häufig in sehr kleinen Bars statt, wo die Wirtin
eingießt, oder in etwas größeren hostesu bâ, wo hosutesu genannte junge Frauen die Getränke
eingießen, Konversation machen, mit den männlichen Gästen schäkern usw., solange es sich
nicht um eine Gruppe handelt, bei der die weiblichen oder die jüngsten Mitglieder das
Einschenken übernehmen. Oftmals haben die vornehmlich männlichen Kunden in den Bars ihre
eigene, mit Namensschild versehene Flasche, die immer dann zum Einsatz kommt, wenn sie
wiederkommen. Am häufigsten wird Whiskey als mizuwari getrunken, d. h. mit Wasser und Eis
versetzt, und das ständige Nachfüllen der Gläser mit Whiskey, Eis und Wasser hält die damit
betraute Person beschäftigt. Doch fehlt dieser Dienstleistung das reziproke Element des henpai,
denn es ist immer die hosutesu oder die Wirtin, die eingießt, und nur als besondere Geste des
Danks oder der Zuneigung übernimmt dies auch einmal der Gast.
Ohnehin breiten sich jedoch die individuellen Trinksitten und vor allem der allein
stattfindende Alkoholkonsum aus. Smith meint, daß henpai durch die früher noch üblichere Sitte
begünstigt wurde, daß alle in einer Gesellschaft nach Möglichkeit das Gleiche trinken. Jetzt ist
das Alkoholangebot explosionsartig gewachsen, und so bestellt jeder etwas anderes und trinkt es
für sich. Dies trifft sich allerdings nicht meinen Beobachtungen bei japanischen Trinkgelagen,
wo einfach alles bestellt wird, was die Karte hergibt – Bier, Sake, shôchû, Wein, Whiskey etc. –
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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und viele auch mehreres davon durcheinander trinken, selten zu ihrem Besten. Recht zu geben ist
Smith allerdings dahingehend, daß im Handel und in den allgegenwärtigen Getränkeautomaten
Ein-Personen-Bierdosen oder Sakegläser mit Abziehdeckel im Angebot sind, die zum
individuellen Trinken gedacht sind und denen das reziproke Element fehlt.
Smith schließt, daß die Art des Bier- und des Whiskeykonsums in Japan zweifellos Elemente
der Domestizierung (domestication) aufweist. Dies ist das Wort, das der Herausgeber des
Sammelbands, Joseph J. Tobin, anstelle von „Kreolisierung” bzw. „Indigenisierung” benutzt. In
meinen Augen ist dies kein schlechtes Wort, weil es sowohl das Element der Zähmung beinhaltet
als auch über die Wortwurzel domus (lateinisch für „Haus”) das Heimischwerden bzw. -machen
des importierten Produkts betont. Smith zufolge findet diese Domestizierung bei Bier und
Whiskey in Japan aber in einem Gesamtkontext der Verwestlichung, der Modernisierung und der
Individualisierung statt, als sich gegenseitig verstärkende Prozesse. Hier wäre es sicherlich
angezeigt, diese Prozesse schärfer zu trennen und die Kausalbeziehungen genauer zu
bezeichnen; es ist z. B. eher die Individualisierung, die den Konsum von Ein-PersonenSakegläsern befördern dürfte, als umgekehrt. Auch sinkt die Menge des in Gesellschaft
konsumierten Alkohols nur relativ gesehen; absolut ist sie beständig gestiegen. Henpai mit seiner
besonderen reziproken Komponente ist allerdings ohne Sake tatsächlich nicht möglich.
Allerdings ist auch hier zu bedenken, das dies nicht nur ein Ritual der Reziprozität ist, sondern
auch eines der Hierarchien, die ja dadurch ihren Ausdruck finden, wer jeweils die Initiative
ergreift und sich dadurch als rangniedriger einordnet. Henpai federt solche Hierarchien durch
einen Akt des persönlichen Austauschs ab, aber vielleicht – so meine Vermutung – gibt es im
heutigen Japan auch nicht mehr so viele strikt hierarchische Gruppen, die des henpai bedürfen,
um ungleichen Beziehungen ein menschliches Gesicht zu geben.
Die neue Glokal-Authentizität
Ich möchte es hier nicht versäumen, eine neuere Entwicklung zu berichten, die Smith noch nicht
beobachten konnte. Seit den 1990er Jahren ist der Biermarkt in Japan liberalisiert worden, und
dies hat zur Gründungen vieler Klein- und Kleinstbrauereien geführt, die den vier etablierten
Großkonzernen Kirin, Asahi, Suntory und Sapporo jetzt Konkurrenz machen. Diese sind unter
dem allgemeinen Begriff ji-biru („Bier des Bodens”, d. h. Bier aus lokaler Produktion) bekannt,
und sie verkaufen sich gewöhnlich auch über ihren besonderen symbolischen Appeal, da sie
preislich den etablierten Marken keine Konkurrenz machen können. Hier ist nun ein besonders
interessanter Fall von Globalisierung bzw. Glokalisierung zu vermelden. Um untergäriges Bier
wie Pils oder Lager brauen zu können, braucht man nämlich relativ niedrige Temperaturen und
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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entsprechend aufwendige und teure Kühlung. Daher setzt sich bei diesen Minibrauereien eher
das obergärige Bier durch, und zwar häufig der sogenannte kerushi taipu – nichts anderes als
„Kölsch-Typ”, also etwas uns Wohlvertrautes. Ich war bei meiner Feldforschung in Kyoto nicht
wenig erstaunt, daß dort ein Machiya bîru genanntes Bier hergestellt und verkauft wird, benannt
nach den traditionellen Wohnhäusern in Kyoto, deren Wiederentdeckung eines meiner
Forschungsthemen war. Und dieses warb ebenfalls damit, kerushi taipu zu sein, und die
innerhalb einer größeren Brauerei mit seiner Herstellung befaßte junge Frau hatte in Köln bei
Päffgen ein längeres Praktikum absolviert.
Weihnachten und Konsum in Trinidad
Mein letzter ethnographischer Fall betrifft die Globalisierung und Kreolisierung eines Festes, das
in besonderem Maße als mit dem modernen Warenverkehr verknüpft gilt. Es handelt sich um das
Weihnachtsfest, das in seiner modernen Form ja immer wieder als Orgie des Konsums kritisiert
wird. Zu diesem Thema erschien 1993 der Sammelband Unwrapping Christmas, herausgegeben
von Daniel Miller, Professor am University College London (Miller 1993b). Miller ist wohl
derjenige Ethnologe, der sich am breitesten und interessantesten mit der modernen
Konsumkultur auseinandergesetzt hat. 1987-89 und dann noch einmal 1990 hat er eine
ethnographische Feldforschung auf der karibischen Insel Trinidad durchgeführt, aus der nicht
weniger als drei Monographien zur dortigen Konsum- und Internetkultur (Miller 1994, 1997,
Miller und Slater 2000) sowie eine große Zahl von Artikeln hervorgegangen sind. Einer seiner
eigenen Beiträge zum Sammelband befaßt sich daher mit Weihnachten in Trinidad und wie es
dort einerseits ein Fest des Konsums, andererseits aber paradoxerweise auch ein Fest des AntiMaterialismus ist (Miller 1993a).
Trinidad bildet mit der kleineren Nachbarinsel Tobago einen seit 1958 unabhängigen Staat
mit einer Bevölkerung von etwas mehr als einer Millionen Einwohner, also etwa so viel wie
Köln. 1498 „entdeckte” Columbus die von Arawak- und Kariben-Indianern bewohnte Insel, und
Seuchen sorgten bald für das Verschwinden der Ureinwohner als distinkter Gruppen. Die Insel
war zunächst eine spanische Kolonie, wie bereits der Name („Dreifaltigkeit”) anzeigt, die eher
wenig genutzt wurde. Sie ging im 18. Jh. an die Briten, die hier Zucker und Kakao in Plantagen
anbauten. Zunächst geschah dies mit afrikanischen Sklaven, nach 1834 dann mit
Kontraktarbeitern hauptsächlich aus Indien. Heute sind jeweils etwa 40 Prozent der Bevölkerung
Africans (lokal auch „negroes” genannt) und Indians (d. h. Südasiaten). Der Rest führt sich auf
eine große Zahl von Einwanderungswellen aus aller Welt zurück, und viele Trinis haben
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ethnisch gemischte Ahnenreihen. Religiös ist mit Christentum, Hinduismus, Islam und Voodoo
ebenfalls eine breite Auswahl vorhanden. Wie überhaupt die gesamte Karibik ist Trinidad damit
ein Ort mit einer besonders globalisierungsgeprägten „ethnoscape” im Sinne Appadurais und gilt
auch den Trinis als ein melting pot ohne tiefe historische Wurzeln, was die heutzutage hohen
Emigrationsraten hauptsächlich in andere englischsprachige Länder weiter verstärkt. Nach einer
langen Zeit als Armenhaus brachten Erdölfunde in den späten 1970ern und frühen 80ern einen
Wirtschaftsboom, und heute ist Trinidad die am meisten industrialisierte Insel der Karibik.
Steeldrums, Calypso, Soca und Karneval sorgen aber für ein Image, daß eher durch andere
kulturelle Bereiche geprägt ist.
Hausputz und Hausbesuche
Weihnachten wird in Trinidad nicht weniger geliebt als der berühmte Karneval und von allen
ethnischen Gruppen und auch von Hindus und Muslimen gefeiert. Geschenke an Kinder,
Verwandte und enge Freunde spielen dabei eine Rolle, aber für den Konsum wesentlicher ist die
Tatsache, daß sich die Familien gegenseitig darin übertreffen, in den vorangehenden Tagen und
Wochen das Haus von oben bis unten zu putzen und oftmals auch neu anzustreichen. Die Möbel
werden ebenfalls auf Vordermann gebracht, und die Polsterer sind mit Aufträgen ausgebucht,
Sofas und Sessel auszubessern. Größere Anschaffungen an Mobiliar, Kleidern oder auch neuen
Whiskeyflaschen werden ebenfalls bevorzugt in dieser Zeit getätigt; die Trinis beschenken also
eher sich selbst als andere. Der Höhepunkt der Vorbereitungen, zu denen auch die ansonsten in
der Hausarbeit wenig involvierten Männer ihren Beitrag leisten, wird an Christmas Eve, also an
Heiligabend erreicht. (Im Gegensatz zu unseren Sitten ist ja im angelsächischen Raum erst der
Erste Weihnachtstag, also Christmas Day, der eigentliche Festhöhepunkt.) Idealerweise ist die
Familie bis spät in die Nacht damit beschäftigt, den Hausputz abzuschließen, spezielle
Festspeisen und -getränke zuzubereiten, Weihnachsdekorationen anzubringen und die getätigten
Anschaffungen aus den Kartons zu holen, wo sie bis zu diesem Moment, manchmal über
Wochen und Monate, verharrt haben. Den Abschluß der Vorbereitungen bildet schließlich das
Aufhängen der entweder frisch gewaschenen oder neu gekauften Vorhänge.
Am Christmas Day ist dann das gemeinsame Mahl der Familie der private Höhepunkt der
Feierlichkeiten; es gibt ein besonders opulentes Festessen, das auch importierte Äpfel und
Weintrauben einschließt, die besonders stark mit der trinidadianischen Vorstellung vom
Weihnachtsfest verbunden sind. Dieses Essen ist ein ruhiges Zwischenspiel zwischen der
Betriebsamkeit der Vorbereitungen und der nun folgenden Hausbesuche. Bis Sylvester, aber
zunehmend auch darüber hinaus, macht man nämlich die Runde bei seinen Verwandten,
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Freunden und Kollegen, oftmals auch solchen, die man sonst kaum besucht, und setzt sich
gegenseitig die weihnachtlichen Speisen und Getränke vor.
Heim und Welt
Miller fragt sich, warum es das Haus und nicht die Personen sind, für das am meisten eingekauft
wird, und warum sich so viele der Einkäufe in der Weihnachtszeit konzentrieren. Er kommt, wie
er selbst sagt, zu einer funktionalistischen Antwort. Am Christmas Day konsolidiert sich auf
symbolische Weise die Familie, und die ganze Nation vergewissert sich der Zentralität von Heim
und Familie, bevor sich ab dem Zweiten Weihnachtstag das nun gewissermaßen abgesicherte
Haus nach außen hin öffnet und die Besuche in anderen Häusern beginnen. Zudem soll beim
Weihnachtsfest idealerweise alles so bleiben wie es, häufig aus einer nostalgisch verklärten
Perspektive, immer gewesen ist. Weihnachten bildet hier den Gegenpol zum Karneval, der kein
Familienfest ist und wo der ständige Wandel und das gespannte Warten auf die Neuerungen in
Stil, Kleidung und Musik bestimmend sind.
Darüber hinaus wird Weihnachten mit einer sehr traditionellen Ethnizität in Verbindung
gebracht; es gilt nämlich als „spanisch”, d. h. als mit den ursprünglichen Kolonialisten, aber auch
den indianischen Ureinwohnern und ganz allgemein mit gemischten Ahnenlinien verbunden.
Gerade zur Weihnachtszeit erinnern sich viele Trinis dieser Wurzeln, auch in ihren eigenen
Ahnenreihen. „Spanisch” steht in einem vagen Gegensatz zu den hauptsächlichen ethnischen
Optionen African, Indian oder Weißer und ist älter und traditioneller als diese; außerdem fehlt
hier die Verbindung mit Sklaverei und Schuldknechtschaft, die die anderen Identitäten belastet.
Das „spanisch” assoziierte Weihnachtsfest erhält so eine zeitliche Tiefe und transzendiert die
aktuellen ethnischen Frontstellungen; selten erlebt sich die Nation als so einig wie zu
Weihnachten. Zwar ist die Geschichte der Insel eine der Fragmentierung und Diskriminierung,
zum Weihnachtsfest aber „tremendous effort is invested in creating a self-image of bounded
society, nostalgic common culture, and sentimental roots” (Miller 1993a: 146), und laut Miller
leistet das Fest dies so sehr wie nichts Anderes in Trinidad.
In diesem national geteilten Ritual der familiären Häuslichkeit haben die Konsumgüter laut
Miller einen wichtigen Platz. Früher war das religiöse Element stärker, und die
Mitternachtsmesse an Heiligabend bildete den Höhepunkt. Nun steht das weltliche Ritual des
Auspackens und Aufstellens der neuen Konsumgüter im Vordergrund. Sie werden so in den
engen Nexus einbezogen, der zwischen Haus, Familie, der diese Ideale stützenden christlichen
Religion und der gesamten Nation konstruiert wird, und erfahren so eine Art weltlicher Segnung.
Auch viele Trinis machen sich Sorgen über den modernen Konsum und seine antisozialen
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Elemente,
doch
das
Weihnachtsfest
verbindet
die
Waren
mit
120
einem
positiven
Assoziationskomplex, ja es ist regelrecht eine „sacralization of shopping” (1993a: 149), wie
Miller es ausdrückt. „Christmas has come unambiguously to embody one particular consumption
ideal, to increase goods and to consume them as sociality”(1993a: 152). Es ist daher, sagt Miller,
in seinen ganzen Auswirkungen geradezu anti-materialistisch.
Miller scheint sich seiner Sache sehr sicher zu sein, denn was die Informanten zu alledem
sagen, taucht nur selten auf oder wenn, dann aus der Zeitung oder Anrufsendungen im Radio
entnommen. Allerdings beansprucht Millers Interpretation auch gar nicht, eine emische zu sein,
und damit wären eher andere ethnologische Untersuchungen als die Aussagen der Informanten in
der Lage, ihre Gültigkeit zu überprüfen.
Fazit
Lassen Sie uns zum Abschluß noch einmal überlegen, was die theoretischen Konzepte wie etwa
das der Kreolisierung zum Verständnis der Fallbeispiele beitragen. Ohne Zweifel sind sie diese
alle weltverbindend und –umspannend, letztendlich auch in Trinidad, wo zwar durchaus auch
lokale Waren zum Weihnachtsfest konsumiert werden, der vom Fest gelieferte Rahmen aber
importiert ist. Kreolisierung finden wir im Fall der trinidadischen Weihnacht, bei Mecca Cola,
bei den roten venezianischen Glasperlen und bei den Sebago-Bootsschuhen in Dakar. Ihnen allen
werden neue Zwecke und Bedeutungen hinzugefügt. Zum Teil geschieht dies bewußt, wie im
Fall
der
euroamerikanischen
Liebhaberinnen
antiken
Modeschmucks,
die
ja
die
Nutzungsgeschichte der Glasperlen sozusagen mitkonsumieren, und im Fall des trinidadischen
Weihnachtsfestes, wo viel darüber diskutiert wird, wie sehr sich das Weihnachtsfest auf die
euroamerikanischen Weihnachtssitten ausrichten sollte; zum Teil geschieht es sogar als Zeichen
des Widerstands, wie bei Mecca Cola. Bei den brasilianischen Weintrauben und auch beim
Gebrauch der Perlen durch die Samburu-Frauen finde ich das Konzept der Kreolisierung
allerdings weniger ergiebig. Es scheint nicht so, daß die nunmehr in größerer Fülle in den
Supermärkten vorhandenen Weintrauben eine Umdeutung erfahren, eher sind es symbolisch
neutrale Produkte, die durch das neue Massenangebot sogar das noch wenige, was an ihnen
einmal symbolisch war, nämlich den Luxuscharakter, einbüßen. Und für die Samburu-Frauen
haben die roten Perlen und die mporo-Ketten zwar einen reichhaltigen Bedeutungskontext, aber
der hat so gut wie gar nichts mit der europäischen Provenienz der Perlen zu tun, die den Frauen
gleichgültig zu sein scheint.
Daß in diesen beiden Fällen der symbolische Gehalt gering bzw. komplett von dem
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ursprünglichen kulturellen Kontext abgetrennt ist, hat mit einem Aspekt der Konsumgüter zu tun,
der nicht übersehen werden sollte, nämlich ihrer Materialität. Der materielle Charakter der Dinge
ist mit ihren Gebrauchsformen verknüpft, und so kann es dazu kommen, daß wie im Fall der
Weintrauben auf der Konsumentenseite gar nichts passiert, weil man dem Produkt seine neuen
Herkunftsorte nicht ansieht, daß die Glasperlen einen völlig neuen kulturellen Kontext erhalten
oder daß das Bier mit seinen „schmutzigen” Schaumresten den mit dem „sauberen” Sake
möglichen Tassentausch ausschließt und so die Trinksitten und ihren sozialen Gehalt verändert.
Kreolisierung von Konsumgütern findet also statt, aber die Dinge – oder zumindest manche
Dinge – haben ihr Eigenleben, das den Möglichkeiten der Umdeutung auch Grenzen setzen kann.
Wir werden uns auch beim nächsten Mal mit der modernen Konsumkultur befassen. Es geht
dann allerdings nicht mehr um Waren, sondern um Massenmedien, speziell um das Fernsehen,
denn die Frage nach weltweiter Homogenisierung oder im Gegenteil Kreolisierung stellt sich
dort ebenfalls.
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Teil VII: Die Globalisierung des Fernsehens
Einleitung
Wie bereits im letzten Teil erwähnt, wird gerade die Konsumtion als Bereich wahrgenommen, in
dem sich Globalisierung besonders stark durchsetzt und allen Jeans und Coca-Cola – oder
zumindest Mecca-Cola – verschafft. Nach dem Warenkonsum möchte ich heute das Fernsehen
behandeln. Die Bedeutung der Massenmedien spielt ja in den Globalisierungstheorien eine große
Rolle, Appadurai z. B. gesteht wie ja bereits geschildert den „mediascapes” ein von den anderen
„-scapes” unabhängiges Eigenleben zu und macht vor allem sie für die seiner Ansicht nach
gesteigerte Rolle der Imagination in der modernen Welt verantwortlich. ▶▸Schon 1962 hat der
Kommunikationswissenschaftler Marshall McLuhan in seinem Buch The Gutenberg Galaxy
(McLuhan 1962) den Begriff des „globalen Dorfs” (global village) geprägt. Für ihn ist dies eher
ein Zeitalter als ein Ort, nämlich die auf die Epoche des Buchdrucks folgende der elektronischen
Kommunikation. Im Gegensatz zu späteren Verwendern des Schlagworts steht er ihm allerdings
ambivalent gegenüber; die Herausbildung einer solidarischen Weltgemeinschaft ist ihm zufolge
möglich, ebenso gut aber auch die eines globalen Überwachungsstaats.
Faktisch haben sich viele Massenmedien weltweit ausgebreitet, und es stellt sich damit die
Frage, auf welche Weise sie übernommen werden. Interessant ist besonders, ob mit dem Import
der Technologien auch ein Import der Medieninhalte verbunden ist oder ob zwischen den beiden
eine Entkopplung im Appadurai’schen Sinne besteht. Mit diesem Thema beschäftigt sich das
wachsende Feld der ethnologischen Forschung zu den Massenmedien. Deren gibt es bekanntlich
viele, Zeitschriften und Bücher, das Radio – das übrigens bei McLuhan noch im Vordergrund
steht –, der Kinofilm, Tonträger, Videos und DVDs oder das Internet wären zu nennen. Ich
werde mich im folgenden auf das Fernsehen konzentrieren, und zwar aus zwei Gründen. Zum
einen ist das Fernsehen ein besonders mächtiges Medium, wie wir alle wissen, und auch ein
besonders kontroverses, dem gerne moralische und intellektuelle Gefahren aller Art
zugeschrieben werden. ▶▸”[T]elevision is one of the most powerful information disseminators,
public opinion molders, and socializing agents in today's world” (Kottak 1990: 11), schreibt der
Ethnologe Conrad Kottak, und weiter ▶▸„... its effects are comparable to those of humanity's
most powerful traditional institutions – family, church, state, and education” (Kottak 1990: 9).
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Kottak belegt dies mit einer Anekdote aus seiner Einführungsvorlesung: Niemals sonst steigt die
Stimmung so sehr wie dann, wenn er die Konventionen der Verwandtschaftsdiagramme erklärt.
Dazu zieht er nämlich eine eine bekannte amerikanische Fernsehfamilie als Beispiel heran und
läßt sich die an die jeweilige Diagrammstellen passenden Namen zurufen. ▶▸„Whenever I give
my Brady Bunch lecture, Anthropology 101 resembles a revival meeting. Hundreds of young
natives shout out in unison names made almost as familiar as their parents’ through television
reruns” (Kottak 1990: 6). Daten von Eurodata TV Worldwide zufolge lag 2007 der
durchschnittliche tägliche Fernsehkonsum in Deutschland bei 210 Minuten und im Durchschnitt
der
untersuchten
80
Länder
bei
(http://www.obs.coe.int/online_publication/expert/miptv2008_braun.pdf).
187
Da
Minuten
stellt
sich
tatsächlich die Frage, was man denn früher eigentlich stattdessen gemacht hat und wer die
Stellen im sozialen Gedächtnis besetzt hielt, die jetzt die Moderatoren, Schauspieler, Sportstarts
usw. einnehmen.
Die nötige Stromversorgung engt das Fernsehen zwar gegenüber Druckmedien ein, aber
andererseits erreicht es auch diejenigen, die nicht lesen können. Fernsehen ermöglicht LiveÜbertragungen und erlaubt so die Teilhabe an globalen Ereignissen wie etwa den Olympischen
Spielen oder Fußball-Welt- und Europameisterschaften, die wir alle in der Gewißheit gucken
können, daß es gleichzeitig auch Milliarden anderer tun. Dabei transportiert es Bilder und wirkt
damit auf uns visuell orientierte Wesen ungleich stärker und realistischer als das Radio, mit dem
die Gleichzeitigkeit ja ebenfalls möglich ist. Und schließlich bringt es uns diese Bilder in den
privaten Raum des eigenen Zuhauses, was auch denjenigen den Konsum erlaubt, die dieses
Zuhause nicht oder nur unter Restriktionen verlassen können, wie z. B. in nicht wenigen
Gesellschaften den Frauen.
Mein zweiter Grund für die Konzentration aufs Fernsehen ist pragmatischer Art: Hier gibt es
bereits eine größere Zahl von ethnologischen Studien, mehr als zu Konsum anderer
Massenmedien wie etwa dem Lesen oder dem Internet-Surfen, so daß auch schon einige
kulturübergreifende Erkenntnisse vorliegen. Insgesamt handelt es sich allerdings weiterhin um
ein relatives neues Feld, und die frühesten mir bekannten Veröffentlichungen sind von 1990. Es
bietet sich hier also ein reiches Betätigungsfeld für Sie, und erste Magisterarbeiten zur
Ethnologie des Fernsehens sind am Institut bereits geschrieben worden.
Fernseh-Erstkontakt in Amazonien
Ich beginne mit einer Studie zur Einführung des Fernsehens an einem Ort, wo es vorher keines
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gab. Das liegt ja hier bei uns lange zurück; ich selbst kann mich zwar noch daran erinnern, daß
wir zuhause unseren ersten Fernseher bekamen, aber die meisten von ihnen dürften immer mit
einem Hausgott gelebt haben. Um so interessanter ist es für westliche, mit dem Fernsehen groß
gewordene Ethnologen, zu beobachten, was sich in den Erstkontakten mit diesem Medium
abspielt.
▶▸Richard Pace, Ethnologe an der Middle Tennessee State University, hat dies für die
Gemeinde Gurupá im brasilianischen Bundesstaat Pará über insgesamt 13 Monate
ethnographischer Feldforschung zwischen 1983 und 1991 verfolgt (Pace 1993). Die fast 400
Jahre alte Kleinstadt am Ufer des Amazonas ist mit 3600 Einwohnern – viele davon mit
indianischen Vorfahren – nicht ganz klein, aber doch abgelegen: Sie ist vom Regenwald
umzingelt, und die einzigen Verkehrsverbindungen mit der Außenwelt sind das Boot und ein
gelegentliches Flugzeug nach Belém, der Hauptstadt des Bundesstaats. Die nationalen Zentren,
Rio de Janeiro und Saõ Paulo, liegen mehr als 3000 km entfernt. Der Wohlstand ist hier nicht
zuhause, Leitungswasser gibt es nur für zwölf und Elektrizität für sechs Stunden am Tag, und der
weitaus größte Teil der Einwohner ist im brasilianischen Kontext als arm zu klassifizieren.
Über Jahrhunderte erfuhr man in Gurupá über die weite Welt nur das, was Händler und
Reisende erzählten. Ab den 1950er Jahren kam das meist batteriebetriebene Radio hinzu, das
mittlerweile verbreitet ist, aber nicht annähernd so starke Folgen gehabt hat wie das Fernsehen.
Dieses kam 1982 in Form der ersten drei Geräte in die Gemeinde. Anfangs verlief der Zuwachs
schleppend, beschleunigte sich aber sehr, als man nach Einrichtung einer für alle nutzbaren
Satellitenschüssel nur noch das Gerät selbst kaufen mußte. 1991 gab es daher schon etwa 200
Fernseher, zumeist in den Häusern der Wohlhabenderen.
Fernseher und sozialer Umgang
Zugang zum Fernsehen hat in Gurupá trotzdem jeder, denn es ist schon aus Statusgründen üblich,
die Fernseher so im Haus zu postieren, daß man durch die offen stehenden Fenster auch von
außen zusehen kann. Es ist guter Ton, niemand davon abzuhalten, und bei der Bürgermeisterin
läuft der Fernseher zum Nutzen der Allgemeinheit offenbar auch dann, wenn sie und ihr Mann
gar nicht zuhause sind. Verwandte und enge Freunde der jeweiligen Familie, tendenziell aus der
gleichen eher begüterten Schicht, dürfen ins Haus kommen, aber auch für sie sind die sozialen
Konventionen vereinfacht worden, denn den Mitguckern wird anders als sonstigen Gästen kein
Kaffee serviert. Damit widerspricht Gurupá aber trotzdem den landläufigen Theorien von der
Vereinsamung durch Fernsehen, wie Pace betont, denn der soziale Kontakt mit Familie,
Nachbarn, Freunden und sogar Fremden nimmt eher zu. Er schildert allerdings auch, daß es nicht
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üblich ist, sich beim Fernsehen zu unterhalten, und damit handelt es sich wohl häufig um einen
sozialen Kontakt mit nur kurzen Gesprächen.
Das Haus wird durch das Mitschauen durchs Fenster öffentlicher, aber auch ein gegenläufiger
Trend erfolgt, denn obwohl sonst die Straße den Männern und das Haus den Frauen zugeordnet
ist, gilt es hier für Frauen und Kinder nicht als unziemlich, ebenfalls auf der Straße zu stehen und
durchs offene Fenster Fernsehen zu gucken. Zu dieser Vermischung der Geschlechter gibt es
keine Parallele im sonstigen sozialen Leben, und Pace sieht dies als eine Art symbolische
Verlängerung des Hauses und der in ihm geltenden sozialen Konventionen auf den
Straßenbereich unmittelbar vor dem Fenster.
Auch der soziale Rhythmus des Gemeindelebens hat sich durch das Fernsehen geändert.
Geguckt wird in den sechs Abendstunden, in denen es Strom gibt und auch die besonders
beliebten Programme laufen. Dies fällt aber mit der Zeit zusammen, die früher für die
Promenade durch die Hauptstraßen reserviert war. Wie ja häufig in den mediterran beeinflußten
Ländern treibt es am Abend fast jeden auf die Straße oder die Piazza, um dort Freunde und
Bekannte zu treffen, Klatsch auszutauschen, zu flirten etc. In Gurupá hat sich dies jedoch vor
allem an Wochentagen sehr reduziert, denn um 21 Uhr kommt die novela, also die telenovela,
von der ich gleich noch mehr erzählen werde, und diese zu schauen hat für so gut wie jeden
Vorrang. Das Nachtleben setzt erst danach wieder ein. Auch soziale Ereignisse wie Parties,
religiöse Feste und sogar die Abendschule werden so angesetzt, daß sich keine
Überschneidungen ergeben. Läuft einmal etwas Interessantes außerhalb der gewöhnlichen Zeit,
wie etwa Fußballspiele oder ein Präsidentenbegräbnis, werden die Stromzeiten entsprechend
ausgedehnt und der Mehrverbrauch durch Kürzungen an anderen Tagen wieder wettgemacht.
Fernsehen und Weltsicht
87 Prozent der zu diesem Punkt von Pace befragten Informanten in Gurupá bewerten das
Fernsehen positiv, ein im internationalen Vergleich außerordentlich hoher Wert. Die beliebtesten
Programme sind Nachrichten, Sport – vor allem Fußball – und die ▶▸telenovelas, d. h. die
Seifenopern, während die importierten Programme z. B. aus den USA meist weniger populär
sind. Besonders die telenovelas werden mit großer Faszination verfolgt, viele Informanten Pace’
kennen sich noch in den feinsten inhaltlichen Verästelungen aus, und die Ereignisse und
Charaktere nehmen in den Alltagsgesprächen einen breiten Raum ein.
Erstmals besteht damit in Gurupá ein regelmäßiger Kontakt zur brasilianischen mainstreamKultur bzw. dem, was für diese stilbildend ist, nämlich dem Lebensstil der Oberschicht in Rio
und Saõ Paulo, wo die telenovelas häufig spielen. Der Vergleich der eher armen Gemeinde mit
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diesem Vorbild fällt wenig vorteilhaft aus: Pace weist nach, daß die Bewohner mit mehr und
bereits länger andauerndem Fernsehkonsum eher dazu neigen, Gurupá für im Vergleich mit
Belém unterentwickelt und das Leben in Belém für besser zu halten. Auf die Dauer kann dies
laut Pace bedeuten, daß Klassengegensätze innerhalb der Kleinstadt stärker wahrgenommen
werden, und die Funktion der sozialen Anpassung und Einlullung, die dem Fernsehen sonst
gerne zugeschrieben wird, würde sich mit einer solchen Entwicklung nicht vertragen.
Auch die realen weltweiten Ereignisse drängen sich nun in die Alltagskonversation. Dies
betrifft nicht nur die zumeist eher mit Zynismus bedachte brasilianische Politik, die damals
gerade im Begriff war, sich von der Militärdiktatur zu verabschieden. Pace gerät ebenfalls in
Gespräche über das amerikanische Raumfahrtprogramm, Armut in den USA oder den
internationalen Terrorismus. Wie er feststellt, ist dies nicht nur ein Strohfeuer. Stattdessen
suchen viele Bewohner z. B. über die lokale Bücherei und andere Quellen tatsächlich mehr
Information zu den durchs Fernsehen vorgestellten Themen, und er stellt in seinen Befragungen
fest, daß das Ausmaß des Fernsehkonsums mit dem Ausmaß des sonstigen Konsums von
Druckmedien und Radio korreliert ist. Auch hier treffen also die euroamerikanischen
Gewißheiten über die schädliche Auswirkung des Fernsehkonsums auf Bildung, Schulerfolg u. ä.
nicht zu.
Pace liefert nur eine Momentaufnahme und ist sich sicher, daß sich die Situation in ein paar
Jahren bereits transformiert haben wird, auch dadurch, daß die Bewohner dann mehr Erfahrung
mit dem Medium haben werden. Denn zum Zeitpunkt der Studie liegt der Durchschnitt der
Fernseherfahrung noch unter einem Jahr und die tägliche Sehdauer unter einer Stunde. Bereits
jetzt schon galt aber laut Pace: „Gurupá was forever changed” (1993: 187).
Fernsehen in Brasilien
Ich bleibe noch beim brasilianischen Fernsehen, weil dazu die besten ethnologischen Ergebnisse
vorliegen. In den 1980er Jahren wurde unter der Leitung von Conrad Kottak von der University
of Michigan ein größeres Forschungsprojekt zum Thema in einer ganzen Reihe von
brasilianischen Orten durchgeführt; Pace’ Studie in Gurupá war Teil dieses Projekts. ▶▸Kottak
hat darüber mit Prime-Time Society eine Monographie veröffentlicht (1990). Deren Reiz liegt
nicht nur in den dort präsentierten brasilianischen Ergebnissen, sondern auch in der
vergleichenden Perspektive zum Fernsehgebrauch in den USA und den dazu entwickelten
Theorien. Außerdem verbindet das Buch auf stärker standardisierten Verfahren beruhende
quantitative Ergebnisse mit recht gekonnten qualitativen Fallstudien. Diese beziehen sich
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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ebenfalls auch auf die USA, wenn Kottak etwa über Effekte des teleconditioning unter seinen
Studenten räsonniert, die anders als es früher üblich war einfach während der Vorlesung
hinausgehen, um die Toilette zu besuchen oder sich Getränke zu holen, oder wenn er Star Trek
als Symbolserie für den amerikanischen Multikulturalismus und den Glauben an den team spirit
deutet. Brasilien steht allerdings im Vordergrund, und insgesamt liefert Kottak die bisher wohl
beste Einführung in die ethnologische Fernsehforschung.
In Brasilien gibt es das Fernsehen seit 1950, und 1979 hatte das Land das fünftgrößte
Fernsehpublikum der Welt, größer als in allen anderen lateinamerikanischen Ländern zusammen.
1990 hatten bereits drei Viertel der brasilianischen Haushalte Fernsehen. Es gibt zwar eine
größere Zahl von lokalen und nationalen Sendern, der Markt wird aber zum Zeitpunkt der
Forschung in ungewöhnlichem Ausmaß von einem einzigen Sender namens ▶▸Globo dominiert,
dessen Einschaltquoten regelmäßig über 50 und zum Teil nahe bei 100 Prozent liegen. Kottak
beschreibt, daß es diesem Medienkonzern besonders gut gelungen ist, sich mit der bis in die
1980er Jahre hinein regierenden Militärdiktatur zu arrangieren, aber auch die Vorlieben der
Brasilianer zu treffen. Und hier gilt für Brasilien insgesamt dasselbe wie in Gurupá: Sport, vor
allem Fußball, Nachrichten, Comedy und Shows werden gerne gesehen, ausländische Serien sind
weniger populär, aber mehr als alles andere liebt die Nation die telenovelas, und unter diesen vor
allem die von Globo.
Fernsehinhalte, telenovelas und Kultur
Globo sendet sechs Mal die Woche um 6, 7 und 8 Uhr abends telenovelas, unterbrochen von den
Abendnachrichten. Anders als (daily) soaps sind diese novelas endlich; nach 150 bis 180 Folgen,
also nach sechs bis sieben Monaten, beginnt eine neue. Bemerkenswert ist die im internationalen
Vergleich hohe handwerkliche Qualität der Serien: Die besten brasilianischen Schauspieler
werden engagiert, bei der Ausstattung wird nicht gespart, und die Serien haben bekannte und für
ihre Leistungen gefeierte Autoren und werden nicht von anonymen Teams geschrieben. Wie in
fast allen Fernsehserien konzentrieren sich die telenovelas auf einen festen Kreis von
Hauptpersonen, und diese erleben Liebe und Leid, Dramatisches, Triumphe und zu Tränen
Rührendes in ständig wechselnden Mischungen. Doch haben die telenovelas auch viele
spezifische Züge, die Kottak vor allem im Vergleich mit US-amerikanischen Fernsehserien
herausarbeitet. Deutlich wird hier, wie stark sich bei einem vermeintlich global einheitlichen
Format nationale Kulturelemente durchsetzen.
Zunächst einmal sind die telenovelas häuslicher angelegt. Viel weniger Serienszenen als in
den USA spielen in der Öffentlichkeit oder bei der Arbeit, und auch der Umgang mit Fremden –
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Polizisten, Außerirdischen, Massenmördern, überhaupt allen Gesetzeshütern und –brechern –
spielt eine weit geringere und weniger schicksalsträchtige Rolle. Im Zentrum steht vielmehr
häufig die Familie, interessanterweise aber eine andere Familie als in den USA: ▶▸Families of
procreation, also Ehen und Eltern-Kind-Beziehungen, zerbrechen häufig schnell, während die
families of orientation, also Großeltern, Geschwister, Onkels, Kusinen etc. und der wiederum
freud- oder leidvolle Umgang mit diesen Verwandten prominenter ist. Intrigen und Morde
geschehen natürlich auch in diesem Kreis, Problemthemen wie Inzest oder Mißbrauch, die in den
US-Serien durchaus vorkommen, werden hingegen ausgespart bzw. wurden seinerzeit von der
Zensur kassiert. Frauen stehen mehr im Vordergrund als in US-amerikanischen Serien, zum Teil
weil die Serien eben zuhause spielen. Schwarze kommen dagegen selten und nur in subalternen
Rollen vor, und auch vorrangig ein schwarzes Publikum anzielende Sendungen wie die Cosby
Show gibt es nicht. Kottak begründet dies damit, daß zwar in Brasilien nicht unbedingt der
Rassismus gegen Schwarze, aber doch die klaren, abgegrenzten und für die eigene Identität
wichtigen ethnischen und rassischen Kategorien wie in den USA fehlen. Es herrscht also, wie
auch schon andere festgestellt haben, gewissermaßen Rassismus ohne Rassen.
Klasse ist ein sehr viel präsenterer Faktor als in den USA, denn Brasilien fehlt einerseits das
egalitäre Ethos der USA, und es hat andererseits auch tatsächlich die größeren
Reichtumsunterschiede. Viele der Figuren sind mit dem Versuch des sozialen Aufstiegs
beschäftigt, etwa nach dem Muster „arme, aber schöne und herzensgute Frau liebt und bekommt
nach vielen Verwicklungen und Intrigen reichen Mann”; vielfach spielen die Serien ohnehin in
der Oberschicht. Viel häufiger als in US-Serien sind die tatsächlich gelingenden Aufstiege
jedoch mit glücklichen Zufällen und sozialen Beziehungen, etwa einem plötzlich auftauchenden
Erbonkel oder der Entdeckung der eigenen Vertauschung bei der Geburt, verbunden. Karriere
durch individuelle Leistungen, harte Arbeit und Selbstüberwindung, wie sie in den USA so gerne
glorifiziert wird, ist dagegen weniger wichtig.
Auch die Tabus verlaufen etwas anders als in den USA. Hinsichtlich Nacktheit und Sex wagt
das brasilianische Fernsehen mehr, Gewalt ist dagegen weit weniger präsent, selbst wenn
manche städtische Fernsehstation in Rio oder Saõ Paulo sehr auf lokale Verbrechensnachrichten
setzt. Die Altersbeschränkungen und –empfehlungen bei Gewaltdarstellungen sind strikter als in
den USA, Gewalt fehlt auch in der mehr spielerischen Form etwa der Roadrunner-Cartoons, und
auch im Bereich des Kinofilms findet sich zu den slasher-Filmen à la Halloween keine
brasilianische Entsprechung.
Wenig reicht an den Einfluß der telenovelas heran, und wenn die 8-Uhr-novela, meist ein
Krimi, in der letzten Folge die Auflösung bringt, sitzt mitunter so gut wie die gesamte über
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Fernsehen verfügende Nation vor dem Bildschirm. Und novelas sind sogar in der Lage, die
Sprache zu beeinflussen: Elite-Kinder in den Serien reden ihre Eltern mit der informellen Form
der 2. Person Plural an (entsprechend dem „du”), und dies breitet sich nun auch in der Mittelund Unterschicht aus, in der vorher die formelle Form (entsprechend dem „Sie”) vorherrschte.
Die Evolution des Fernsehkonsums
Ein Grund dafür, das Projekt auf Brasilien zu konzentrieren, war die Tatsache, daß das
Fernsehen hier noch nicht völlig durchgesetzt ist. Wie in Gurupá haben viele Menschen erst seit
kurzem oder noch gar nicht Zugang zu diesem Medium, wenn nicht sogar überhaupt zu
irgendeinem Massenmedium, falls ihnen auch das Radio fehlt und sie – wie nicht wenige
Brasilianer – nicht lesen können. Das Fernsehen wird in solchen Fällen zu „the only gate to the
global village”, wie Kottak formuliert. Wie die Frühphase des Kontakts mit dem Fernsehen
abläuft und was passiert, wenn das Fernsehen das erste Massenmedium ist, konnte hier also noch
beobachtet werden, anders als in Gesellschaften, wo es für die meisten immer schon da gewesen
ist.
Für das Projekt wurden daher vier ländliche Standorte – Gurupá, Arembepe, Cunha und
Ibirama – ausgesucht, in denen jeweils ein/e schon mit dem Ort vertraute Feldforscher/in mit
teilnehmender Beobachtung, aber auch mit für alle einheitlichen Fragebögen dem Einfluß der
Fernsehens nachging. Zwei städtische Feldforschungsorte – Niteroi und Americana – wurden aus
Vergleichsgründen später noch hinzugefügt. Mit den Fragebögen erfaßte Kottaks Crew eine
Reihe von Einstellungen und Verhaltensweisen, zum Teil zum Fernsehen selbst, zum Teil aber
auch zu anderen Fragen wie etwa Geschlechterbildern, dem wahrgenommenen Grad öffentlicher
Sicherheit, dem Gebrauch anderer Massenmedien usw. Diese abhängigen Variablen wurden
dann mit solch konventionellen Faktoren wie Alter, Geschlecht, Einkommen, Schulbildung etc.
des jeweiligen Informanten in Verbindung gebracht, aber auch mit zwei weiteren, ▶▸nämlich
zum einen der Menge des täglichen Fernsehkonsums („current viewing level”) und zum anderen
der Länge der häuslichen Fernseherfahrung („home TV exposure”) in Jahren, eben weil das ja
für viele z. B. in Gurupá so ein kurzer Zeitraum ist. In allen Fällen wurden auch Informanten
ganz ohne Fernseherfahrung einbezogen, denn nur so lassen sich eventuelle Fernseheffekte
identifizieren.
Kottak gelangt zu dem Ergebnis, daß der Kontakt mit dem Fernsehen in Phasen verläuft und
die unterschiedlichen Feldforschungsorte unterschiedliche Phasen repräsentieren. Phase I ist
durch den Neuigkeitswert des Fernsehens gekennzeichnet, und mehr als die transportierten
Botschaften ist es das Medium selbst, das eine faszinierende Wirkung ausübt und die Blicke aller
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am Bildschirm kleben läßt. Gurupá ist noch in dieser Phase. Arembepe und Cunha befinden sich
dagegen schon in Phase II. Auch in dieser ist das Fernsehen noch nicht universal verbreitet, doch
beginnt der Fernsehkonsum bereits selektiver zu werden, und auch eine eigenständige
Interpretation und Umarbeitung der Fernsehbotschaften findet statt. Hier sind laut Kottak die
statistisch gesehen deutlichsten Zusammenhänge zwischen Fernsehkonsum und den im Projekt
untersuchten abhängigen Variablen zu finden, und für etwa 10 bis 15 Jahre wird hier die größte
Rezeptivität für das Medium erreicht. In Phase III ist das Medium bereits allgemein verbreitet,
und der Fernsehkonsum produziert keine so deutlich meßbaren Effekte mehr. Ibirama liegt
zwischen der vorherigen und dieser Phase, während die beiden städtischen Feldforschungsorte
schon ganz zu ihr gehören. Von Phase zu Phase wird auch die Einstellung zum Medium an sich
immer kritischer, und die Wertschätzung des Fernsehens sinkt sowohl mit der Länge der
Fernseherfahrung als auch mit der Höhe des Einkommens.
Phase IV ist dann erreicht, wenn so gut wie jeder lebenslangen Fernsehkonsum hinter sich hat,
was zwar nirgendwo in Brasilien der Fall ist, wohl aber in den heutigen USA. Und schließlich
formuliert Kottak im Epilog auch noch eine Phase V, die durch stärkere Diversität und Aktivität
des Zuschauers gekennzeichnet ist und auf die die USA mit der immer weiteren Ausbreitung von
Videorekordern und Kabelfernsehen gerade zusteuerte. Diese fünfte Phase hat sich seither mit
der Ausweitung von Satelliten- und Bezahlfernsehen, digitalen Rekordern, interaktiven
Elementen und Film-on-demand-Projekten sicherlich noch stärker verbreitet, ist aber, wenn ich
es richtig sehe, für das Fernsehverhalten der meisten auch in unserer Gesellschaft weiterhin noch
nicht alleinbestimmend.
Kottaks Stufen wirken ein wenig wie die alten evolutionistischen Stufenmodelle, und wie bei
diesen wird Diversität im Raum in ein zeitliches Nacheinander umgesetzt. Für eine eingehende
Überprüfung bräuchte man natürlich Langzeitstudien. Allerdings präsentiert Kottak nichts, was
der Gültigkeit der Phasen widerspräche, und eine interessante Hypothese sind sie in jedem Fall.
Soziale Effekte des Fernsehens
In sozialer Hinsicht findet Kottak die verbreitete Sorge, daß Fernsehen zu Isolation führt, nicht
bestätigt. In den Phasen I und II, wo noch nicht jeder ein Gerät hat, bringt es im Gegenteil mehr
sozialen Kontakt, da gemeinsam mit Gästen oder an öffentlichen Orten geguckt wird, oder eben
durch das offene Fenster wie in Gurupá. Erst in den Phasen III und IV ändert sich dies, mit
einem gewissen Hang zur family of procreation, also dem gemeinsamen Gucken mit Ehepartner
und Kindern. Daneben wirkt das Fernsehen auch indirekt, indem es für den sozialen Umgang
Gesprächsthemen und Anschauungsmodelle bietet. Kottak berichtet von einer Information in
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Arembepe namens Sonia, einer kürzlich erst zugezogenen Ehefrau und Mutter, die unter
extremer Schüchternheit leidet und den Kontakt mit anderen meidet, so daß das Interview mit ihr
besonders quälend verläuft. Ein Jahr später jedoch ist Sonia sehr viel routinierter im sozialen
Umgang, macht nun regelmäßig Besuche und ist auch kein schwieriger Interviewpartner mehr.
Ganz eindeutig geht dies für Kottak darauf zurück, daß ihre Familie mittlerweile einen Fernseher
erworben und sich Sonia dort die notwendige Weltläufigkeit abgeschaut hat.
Pace’ Erkenntnis, daß die Fernsehnutzung in Gurupá mit der Nutzung anderer Medien
verknüpft ist, gilt auch allgemein. Es besteht in Brasilien ein starker statistischer Zusammenhang
zwischen dem Umfang des Fernsehkonsums und der Lesemenge. Ganz offensichtlich ist also das
Fernsehen hier Fenster zur Welt, wie auch die Informanten selbst immer wieder lobend
hervorheben, und weckt eine Neugier, für deren Stillung andere Massenmedien herangezogen
werden. Vielgucker sind allgemein mißtrauischer gegenüber Politikern, sie geben offensichtlich
von der Werbung angeregt mehr Geschenke, und sie haben weniger traditionelle Vorstellungen
zu Alters- und Geschlechterrollen, letzteres nicht bloß als Korrelation, sondern als tatsächlicher
Effekt des Fernsehens, wie Kottak bekräftigt.
Und schließlich trägt Fernsehen in Brasilien zur nationalen kulturellen Homogenisierung bei.
Die ausländischen Serien sind weit weniger beliebt als die einheimischen telenovelas. Diese aber
bringen nun den Lebensstil der Oberschicht Rios und Saõ Paulos auch in solch vergessene
Nester wie Gurupá, und so wenig die Vorbilder dort auch erreicht werden können, liefern sie
doch Orientierung. Dasselbe geschieht Kottak zufolge auch beim Karneval, der mittlerweile
landesweit übertragen wird. Selbst lokale Feste, die Tausende Kilometer entfernt von Rio
abgehalten werden, richten sich daran aus, meist durch Imitationen, manchmal aber auch in
negativer Weise durch die bewußte Zurückweisung bestimmter mit dem Karneval assoziierter
Elemente. Ein kulturelles Zusammenrücken der Nation ist also deutlich zu beobachten, statt
„global village” bildet sich also eher ein „national village”. Einschränken muß man hier, daß
weltweit gefeierte Feste wie Weihnachten und Neujahr bei den Vielguckern und in den Orten mit
langer Fernseherfahrung eher an Bedeutung zu- und lokale Feste eher abnehmen, so daß hier die
globale Ebene überwiegt. Hier dürfte allerdings nach dem von Daniel Miller über Trinidad
Gehörten ein genauerer Blick erforderlich sein, ob denn diese Feste wirklich auch ihre
transnationalen Züge behalten.
Umgekehrt sind die brasilianischen telenovelas selbst erfolgreiche Exportprodukte.
Brasilianische Fernsehproduktionen, allen voran die novelas, sind in über 100 Länder rund um
den Globus verkauft worden. Ich habe über Bekannte von Menschen auf der japanischen Insel
Kyûshû, im russischen Jaroslawl und in Taiwan gehört, die brasilianische telenovelas mit großer
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Begeisterung im Fernsehen verfolgten. In Deutschland sind zwar auch schon einige von ihnen
bei Privatsendern gelaufen, doch der Erfolg scheint wie überhaupt in Nordamerika und
Westeuropa eher geringer zu sein. Es gibt weitere Fälle, auch bei den Fernsehdramen und
Seifenopern aus anderen Ländern. ▶▸Die japanische Serie Oshin z. B., die im eigenen Land
geradezu legendären Erfolg hatte, hat in Nordamerika und Westeuropa zwar nie große
Bedeutung erlangt, sich aber trotzdem in 59 Länder verkauft, zum Teil mit spektakulärem Erfolg.
Damit sind Oshin und die brasilianischen telenovelas Fälle von Globalisierung, die der
Vermittlung des üblichen Zentrums der globalen Kulturströme, also des Westens, nicht zu
bedürfen scheinen, die also gewissermaßen von Peripherie zu Peripherie reisen (wenn man denn
im Fall Japans von Peripherie reden kann). Dafür ist auch der Begriff „Süd-Süd-Globalisierung”
geprägt worden.
Hier werden sie vielleicht einwenden, daß dies nicht stimmt. Tatsächlich ist die telenovela ja
zumindest als Gattungsbezeichnung und in ihrer Grobstruktur (tägliche Ausstrahlung mit
festgelegtem Ende, Liebesirrungen und –wirrungen) eingedeutscht worden. Offenbar war hier
also eine Kreolisierung nötig, um auch bei uns die kulturelle Akzeptanz zu schaffen, die mit den
lateinamerikanischen Originalen nicht herzustellen war. Brasilien ist hier, muß man allerdings
hinzufügen, nicht das einzige Vorbild, denn zeitgleich hat sich die Form auch in Mexico unter
dem gleichen Namen entwickelt, und auch andere lateinamerikanische Länder produzieren heute
ihre telenovelas.
Themen und Ergebnisse der ethnologischen
Fernsehforschung
Die Studien des Kottak-Projekts zum Fernsehen in Brasilien sind zwar sicherlich die
gründlichsten innerhalb der Ethnologie, aber es gibt auch noch eine ganze Reihe weiterer. Aus
diesen schälen sich bereits einige wiederkehrende Themen und Ergebnisse heraus. Ich werde
diese im weiteren thematisch geordnet vorstellen und dabei die ethnographischen Fallbeispiele,
wieder mal aus aller Welt, nach und nach einführen.
Die Massenverbreitung des Fernsehens
Es gibt Hinweise darauf, daß sich gerade in den 1970er und 80er Jahren eine kulturelle
Verschiebung erster Ordnung ereignet hat, denn eine ganze Reihe von außereuropäischen
Ländern haben in dieser Zeit den Übergang zum Massenfernsehen erlebt, ▶▸wie sie der Tabelle
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entnehmen können, in denen ich das en passant gefundene einmal zusammengestellt habe.
Weltweit
gab
es
2003
nicht
weniger
als
1,4
Milliarden
Fernsehgeräte
(http://www.nationmaster.com/graph/med_tel-media-televisions), so daß man angesichts der
Tatsache, daß der Trend zum Zweit- und Drittgerät und zur Kleinfamilie längst nicht überall so
stark ist wie bei uns, wohl davon ausgehen muß, daß die Mehrheit der Weltbevölkerung
mittlerweile Zugang zu Fernsehen hat.
Milliarden Menschen weltweit dürften sich also gegenwärtig in den Phasen I, II und III des
Kottakschen Modells befinden, vor allem wohl in Phase II. Phase III ist die universale
Ausbreitung, aber noch ohne lebenslängliche Fernseherfahrung, Phase II ist die Vorstufe, in der
das Fernsehen sich zwar stark ausbreitet, aber noch nicht flächendeckend vorhanden ist und in
der die statistischen Effekte des Mediums am klarsten sind. Gut möglich, daß wir uns also
gegenwärtig in derjenigen historischen Phase befinden, in der das Fernsehen seine größte
kulturprägende Wirkung entfaltet und in der die meisten Menschen leben, die den Übergang zu
diesem Medium miterlebt haben. Es wird viel über das Internet und seine gesellschaftlichen
Folgen geredet, aber mir scheint, daß man darüber global gesehen das Fernsehen nicht gleich
vergessen sollte und daß dieses weiterhin eindeutig das globale Leitmedium ist.
Persönliche Aneignungsweisen
So gut wie alle ethnographischen Studien, die sich mit den Zuschauern beschäftigen, sind sich
darüber einig, das man mit Verallgemeinerungen über die Wirkung des Fernsehens auf sie sehr
vorsichtig sein muß. Denn sie stellen fest, daß die einzelnen Individuen äußerst unterschiedliche
Botschaften aus dem Gesehenen herausziehen, die oft wenig mit den Intentionen der
Produzenten zu tun haben, und daß es sich hierbei um einen aktiven Aneignungsprozeß handelt.
▶▸Lila Abu-Lughod von der Columbia University, eine der aktivsten Fernsehforscherinnen, stellt
dies für ihre ägyptischen Informanten fest (Abu-Lughod 1995, 2005). Die Fernsehserien heißen
dort ▶▸musalsal und sind kürzer, mit 15 bis 30 Folgen, die aber trotzdem täglich ausgestrahlt
werden und ganz ähnliche Genre-Merkmale aufweisen wie die telenovelas. Eine 1988 erstmals
ausgestrahlte und in ungewöhnlicher Weise über die wichtigste Fernsehsaison – den Ramadan –
mehrere Jahre fortgesetzte Serie namens ▶▸Hilmiyya Nights begeisterte viele ob ihrer Qualität
und ihres Inhalts. Neben den üblichen menschlichen Irrungen und Wirrungen und dem
Lebensstil der Oberklasse wird hier nämlich auch die Geschichte der ägyptischen Nation von der
Kolonialzeit bis heute aufgerollt, und dies brachte auch Akademiker dazu, begeistert zu gucken
und über die Inhalte zu diskutieren. Unter den armen, sich als Haushaltshilfen verdingenden
Kairenerinnen, mit denen Abu-Lughod Fernsehen guckte und die sie dazu befragte, waren es
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allerdings weniger die intendierten politischen Aspekte, die Interesse fanden. Sie begeisterten
sich vielmehr für eine weibliche Hauptfigur, eine glamouröse, aber auch intrigante Adlige und
femme fatale, die immer wieder ihren eigenen Willen durchsetzte. Ihre Willenskraft und
Unabhängigkeit imponierte diesen Frauen, deren eigenes Leben der vielfältigen Beschränkungen
dem der Serienfigur kaum ferner sein könnte. Hingegen schienen sie die moralische Botschaft,
die im letztlich tiefen Fall dieser Hauptfigur bestand, kaum wahrzunehmen.
Abu-Lughod dehnt ihre Beobachtungen auf ein oberägyptisches Bauerndorf bei Luxor aus.
Von dessen Lehmziegelhäusern mit blaugestrichenen Holzpforten könnte der Glamour der
Reichenvillen und der Großraumbüros in den Serien ebenfalls nicht ferner liegen. Trotzdem
laufen die Fernseher hier fast die ganze Zeit. Abu-Lughod stellt hier eine hohe Selektivität der
Interpretationen fest: Die Aspekte, von denen aus sich eine Verbindung zur eigenen
Lebenserfahrung herstellen läßt, werden miteinander diskutiert. Andere, teils mit aufklärerischer
Absicht in die staatlich kontrollierten und zensierten Serien eingebrachten Punkte werden aber
einfach ignoriert. Die verbreitete Gewohnheit, die Menschen der eigenen Umgebung und ihr
Verhalten im Gespräch miteinander unaufhörlich zu kommentieren und zu bewerten, setzt
gegenüber den Serienfiguren allerdings weitgehend aus. Viele im Dorf besitzen ein geradezu
enzyklopädisches Wissen über diese Figuren und die sie darstellenden Schauspieler, doch
handeln die Serien laut Abu-Lughod von völlig anderen Problemen in völlig anderen
Lebenssphären. Die Figuren gehören nicht zur lokalen moralischen Gemeinschaft, und was sie
tun oder lassen, hat damit keine Konsequenzen für die eigene Lebensführung. ▶▸„Television ...is
considered a world unto itself, with its own rhythms, standards, and conventions. It need not
bleed fully into daily life, even if it is an intimate part of it”(2005: 241). Selbst als einmal eine
Serie in einem Dorf spielt und dort ein Rachemord vorkommt, wollen Abu-Lughods Informanten
keinen Bezug zu ihrem eigenen Leben erkennen, und dies, obwohl lebhafte Erzählungen über
genau einen solchen vor einem Jahrzehnt im eigenen Dorf passierten Rachemord durchaus noch
kursieren. ▶▸„What they experienced through television added to, but did not displace whatever
else already existed”, stellt Abu-Lughod fest (1995: 203). Dies setzt natürlich den Möglichkeiten,
mit den gesendeten Inhalten gezielt gesellschaftliche Entwicklungen anzustoßen, seine Grenzen.
▶▸Purnima Mankekar, indische Ethnologin an der Stanford University, von der es
mittlerweile ebenfalls eine Monographie zum Thema gibt (Mankekar 1999), hat Ähnliches in
Wohnvierteln der unteren Mittelklasse und der Arbeiter in New Delhi beobachtet (Mankekar
1993). Auch in Indien sind die Serien das beliebteste Genre; anders als in Brasilien kommt hier
als thematische Quelle die hinduistische Mythologie wie z. B. mit der Bhagavadgita oder andere
Epen hinzu. Eine Informantin hat ihre eigene Theorie zur Wirkung des Fernsehens: Sie selbst,
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die nicht lesen kann, ließen die Serien zunächst kalt, bis in irgendeiner das Schicksal einer
besonders unglücklichen Frau geschildert wurde, sie die Parallelen zu ihrer eigenen damaligen
Lage als Schwiegertochter wahrnahm und dann überhaupt nicht mehr aufhören konnte zu weinen.
Und auch bei anderen Informantinnen stellt Mankekar fest, daß diese sich zwar gerade von den
zu ihrem eigenen Leben passenden Inhalten gefühlsmäßig stark ergreifen lassen, aber gegenüber
anderen Intentionen der Handlungen so gut wie immun sind und durchaus fähig bleiben, eine
kritische Distanz zum Gesehenen aufrechtzuerhalten. Die patriotische Selbstaufopferung eines
Soldaten für die indische Nation etwa wird ignoriert, seine als Witwe in einer in Indien ja äußerst
schwierigen Position zurückbleibende Frau erfährt dagegen alles Mitgefühl, obwohl sie
eigentlich nur ein bloßer Nebenaspekt der Handlung ist. Akzeptanz und Widerstand den
intendierten Inhalten gegenüber treten also gleichzeitig auf, und Mankekar betont, daß solche
Erkenntnisse nur durch ethnographische Forschung bei den Fernsehkonsumenten zu gewinnen
sind.
Serien, Familie und Gender
Fernsehserien, die dort transportierten Bilder und die Reaktion darauf stehen auch im Zentrum
einiger weiterer ethnologischer Fernsehstudien. Denn die Serien dringen über das Fernsehgerät
nicht nur in den privaten Bereich der Zuschauer vor, sie führen diese vielmehr auch ihrerseits in
private Bereiche, so fiktional diese auch sein mögen. Wie sich dies auf Familie und Gender
auswirkt, ist daher eine naheliegende Frage.
Mankekar stellt in dem schon erwähnten Artikel fest, daß sehr häufig Frauenfragen im
Zentrum der Fernsehserien stehen, und bringt dies in Verbindung mit der staatlichen
Konstruktion indischer Weiblichkeit. Denn obwohl es auch privat produzierte Serien gibt, ist das
Fernsehen fest in staatlicher Hand und transportiert von der Regierung gewünschte Inhalte. Diese
Bilder führen allerdings zu Widersprüchen. Mankekar beobachtet etwa, wie ein Ehepaar eine
Serie schaut und sich der Ehemann über eine dort gezeigte Braut begeistert, die ihren eigenen
Ehemann gleich am ersten Tag nach der Hochzeit und in heroischer Zurückstellung ihrer eigenen
Gefühle dazu drängt, in den Krieg zu ziehen und Indien auf dem Schlachtfeld zu verteidigen.
Ähnliches scheint er nun auch von seiner Ehefrau zu erwarten, die sich z. B. seiner Meinung
nach nicht weigern sollte, ihren kleinen Sohn später zur Armee gehen zu lassen. Die Ehefrau
sieht sich in der Defensive, denn solche Opfertaten liegen ihr fern, und natürlich ist es für Frauen
auch wesentlich folgenreicher als für Männer, verwitwet und kinderlos zurückzubleiben.
Allgemein propagieren die Serien Patriotismus, produktive Arbeit und selbstlosen sozialen
Aktivismus für die Frauen, die sich vor allem dann, wenn die eigenen Ehemänner solche
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Erwartungen übernehmen, steigenden Ansprüchen gegenübersehen. Oft sind die Frauengestalten
durchaus vielschichtig. Heirat und Familie aber bleiben selbstverständliche Größen.
All das klingt so, als hätten die indischen Frauen vom Fernsehen wenig zu erwarten,
höchstens staatlich gelenkte Vorgaben, sich nicht nur für die Familie, sondern auch noch für die
Nation aufzuopfern. Ich bin allerdings nicht sicher, ob hier nicht auch neue Möglichkeiten
eröffnet werden. Denn zwar sitzt bei dem besagten Ehepaar der Mann vor dem Fernseher,
während die Frau – wie die anderen von Mankekar beobachteten Frauen auch – eigentlich immer
nur flüchtig zugucken und zuhören kann, da sie nebenher die Hausarbeit machen muß. Und
ebenfalls klar ist, daß sie sich nicht traut, ihrem Ehemann mehr als halbherzig zu widersprechen,
als dieser andere Frauen bewundert, die das Vaterland über ihr Eheglück stellen. Aber tatsächlich
verbringt das Ehepaar seine Zeit gemeinsam und diskutiert über Geschlechterrollen, selbst wenn
die Ethnologin dies angestoßen hat, und ob dies auf Dauer immer nur zu neuen Bestätigungen
der patriarchalischen Ordnung führen wird, ist noch die Frage. Die Tatsache, daß die Familie,
genauer die family of procreation, gemeinsam fernsieht statt sich an getrennten Orten zu
amüsieren, wird auch von Kottak für Brasilien bemerkt und als ein sie anderen
verwandtschaftlichen Bindungen gegenüber stärkendes Element identifiziert. Abu-Lughod macht
auf einen weiteren Aspekt aufmerksam (Abu-Lughod 1995). Sie zitiert den ägyptischen
Literaturnobelpreisträger Nagib Machfus, der beklagt, daß durch das Fernsehen im eigenen Heim
die alte Kultur der Kaffeehäuser und professionellen Erzähler verschwindet. Solche
Sentimentalitäten übersehen ihr zufolge allerdings, daß die Frauen von dieser alten Kultur
ausgeschlossen waren, nun aber mit dem Fernsehen über ein eigenes Fenster zur Welt verfügen.
Der Einfluß des Fernsehens auf die Geschlechterordnung hat eine politische Dimension, und
diese bemerkt auch ▶▸Lisa Rofel von der University of California in Santa Cruz in ihrem Artikel
„Yearnings” (Rofel 1994). Sie berichtet hier über die gleichnamige Serie, laut der New York
Times der Einzug der soap opera in die Volksrepublik China, die 1991 gerade einmal anderthalb
Jahre nach der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung gesendet wurde. Aufgrund
des riesigen Erfolges wurde sie schließlich nicht mehr wie geplant dreimal wöchentlich, sondern
täglich für gleich drei Stunden gesendet, so daß die gesamten 50 Episoden in einem Monat
ausgestrahlt waren. Für das Autorenteam, das bekannte Romanciers einschloß, war der
Nationalstolz ein Beweggrund, denn sie wollten den sich ausbreitenden Genre-Importen aus
Taiwan und Lateinamerika etwas Eigenes entgegenstellen. An mehr als publikumswirksame
Unterhaltung war nicht gedacht, aber auch hier wurden Diskussionen angestoßen, die weit
darüber hinausgingen.
Die Handlung verfolgt einige Familienschicksale durch die turbulente Zeit der
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Kulturrevolution (1966-76) und die seither erfolgten Umwälzungen, und an tragischen
Wendungen, verlorengegangenen und wiedergefundenen Babys und unerwidert bleibender Liebe
ist kein Mangel. Doch hat sie auch ihre politischen Dimensionen bzw. diese werden von den
Informanten wahrgenommen. Zum einen bedient sich die Serie beim Genre des ▶▸suku
(„Bitternis erzählen”), d. h. den Berichten von Intellektuellen über die in der Kulturrevolution
erlittenen Mißhandlungen und Erniedrigungen, für Rofel eine Strategie, den eigenen Anspruch
auf einen angemessenen Platz im nationalen Gefüge zu untermauern. Eine solche in der
Kulturrevolution leidende Intellektuellenfamilie spielt in der Serie eine wichtige Rolle. Zum
anderen stellt die Serie das Leiden einer Frau in den Vordergrund, die sich für die eigenen
Kinder aufopfert und dadurch ihre Karrierechancen ruiniert. Daß dies zu so vielen Diskussionen
gerade unter den Zuschauerinnen führt, liegt auch daran, daß keine der Hauptfiguren ohne
tragische Erfahrungen davonkommt und die meisten auch durchaus ambivalente Züge haben.
Die leidende Protagonistin ist damit für die einen eine Heldin, für die anderen dagegen ein
Versuch, die emanzipatorischen Errungenschaften der Mao-Zeit zurückzudrehen und zu einem
konventionellen
Frauenbild
der
familienorientierten Selbstaufopferung
zurückzukehren.
Letztendlich ging die öffentliche Alltagsdiskussion über die Serie für Rofel darum, wer die
Nation besser repräsentiert: Sind es die Intellektuellen, können es die Frauen sein, und wenn ja,
dann welche?
Serien, Nation und Klasse
Dem
Einfluß
des
Fernsehens
auf
die
nationale
Imagination
geht
auch
der
Kommunikationswissenschaftler ▶▸James Lull von der San Jose State University nach. Einige
Jahre vor Rofel, noch vor der Demokratiebewegung, hat er in den 1980er Jahren in China
geforscht, zwar ohne Chinesischkenntnisse, aber mit Assistentin und Übersetzerin und einem
feldforschungsartigen Vorgehen, das für brauchbare Ergebnisse sorgt (Lull 1991). Neben einer
ausführlichen Analyse des Fernsehsystems und der Fernsehverbreitung, die damals bereits in
allen großen Städten universal war, beschäftigt er sich exemplarisch mit bestimmten Sendungen.
Eine davon ist eine ebenfalls sehr melodramatisch angelegte Serie namens ▶▸Xin Xing, auf
englisch „New Star”, die 1986 gesendet wurde. Zentraler Handlungsstrang ist der Antagonismus
zwischen zwei Parteikadern in der Provinz, der eine ein junger, idealistischer Reformer, der
andere, ihm vorgesetzte ein Betonkopf der alten Schule, aber darum herum blüht ein ausgiebiges
Geflecht von Liebes- und Haßbeziehungen der verschiedensten Personen, die das Ganze
verkomplizieren. Auch hier gibt es kein eindeutig zu interpretierendes Ende und großen
Spielraum bei den Möglichkeiten, die einzelnen Personen moralisch zu bewerten. Und dies
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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feuerte offenbar die Alltagsdiskussionen über die Serie an, die ein noch nie dagewesenes
Ausmaß erreichten. Lull zufolge brachte dies eine völlig neue Erfahrung, nämlich das der
nationalen Zuschauergemeinschaft und des Bewußtseins, diese Serie gemeinsam mit dem ganzen
Land zu verfolgen. Die Wirkungsmacht dieser Erfahrung, aber auch die Tatsache, daß man aus
Fernsehbildern die verschiedensten Dinge herauslesen kann und sie nicht einfach nur das von der
politischen Führung angestrebte Propagandainstrument sind, trug für Lull ganz wesentlich zum
Aufkommen der Demokratiebewegung bei.
Lila Abu-Lughod stellt gleich ihr gesamtes Buch unter die nationale Perspektive, denn ihr
zufolge ist Fernsehen „one of the richest and most intriguing technologies of nation building in
Egypt” (2005: 8). Das Fernsehen wurde dort 1960 eingeführt und war im damals säkular, panarabisch und sozialistisch ausgerichteten Staat ausdrücklich als Instrument der Erziehung und
Aufklärung gedacht, daß die Modernisierung und wirtschaftliche Entwicklung der Nation
voranbringen sollte. Bis heute spielt die Vermittlung von der Regierung gewünschter politischer
Inhalte
eine
wichtige
Rolle,
sowohl
im
vergleichsweise
hohen
Anteil
der
Informationsprogramme als auch in den fiktionalen Inhalten der Serien. Die nationale Einheit
soll gestärkt und die sie bedrohenden Kräfte wie der transnationale islamische Extremismus in
Schach gehalten werden, wenn z. B. in den Serien geldgierige und rachsüchtige Terroristen
auftreten, wenn die gerne als hinterwäldlerisch geschmähten Ägypter aus dem oberägyptischen
Süden als positive Helden fungieren oder wenn Muslime und Kopten (d. h. ägyptische Christen)
toleranten Umgang miteinander pflegen. Die guten Helden verkörpern häufig auch andere
moderne Ideale wie Bildungsstreben, weibliche Selbstbestimmung, soziale Verantwortlichkeit
und Patriotismus und obsiegen darin gegen irrationale Traditionen, patriarchalische Willkür,
Gier und islamistische Eiferer. Auch die beteiligten Autoren, Regisseure und Schauspieler
interpretieren ihre Arbeit gerne als patriotisch-aufklärerischen Dienst an der Gemeinschaft,
durchaus auch dann, wenn sie regimekritisch eingestellt sind und sich immer wieder erst gegen
die Zensur durchsetzen müssen. Der große Erfolg des ägyptischen Fernsehens ist außerdem für
die Bürger eine Quelle des Nationalstolzes. Denn es ist allgemein bekannt und wird mit Stolz
hervorgehoben, daß die aufwendigen und qualitativ hochwertigen Serien des Staatsfernsehens
und ihre Stars im ganzen arabischen Raum beliebte und seinen Fernsehmarkt dominierende
Exportprodukte sind.
Wie bereits erwähnt, erreichen die patriotischen und modernistischen Botschaften der Serien
ihre Adressaten durchaus nicht immer, und Abu-Lughods Informanten im Dorf bei Luxor sehen
zwar begeistert Fernsehen, aber krempeln aufgrund des Gesehenen keineswegs ihr gesamtes
Leben um. Auch hat in den 1990er Jahren mit einer verstärkten Globalisierung des Konsums und
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mit dem Aufkommen von Satellitenfernsehen und ersten Privatsendern der Einfluß der alten
Ideologie der nationalen Entwicklung nachgelassen. Sowohl die globale Konsumkultur in den
immer längeren und besseren Werbespots und im luxuriösen Lebensstil der Oberschicht, in der
manche der Serien spielen, als auch der moderate Islamismus, dessen Werte zusehends zur
Grundlage für die Selbst- und Fremdzensur werden, erhalten im Programm immer mehr Raum.
Abu-Lughod zufolge bedingt dies aber keine Auflösung der Nation. Ganz im Gegenteil wird
diese ihr zufolge naturalisiert, denn in der lebhaften und auch durchaus kontroversen Diskussion
der Serieninhalte in Zeitungskolumnen wie in Alltagsgesprächen ist immer wieder Ägypten die
selbstverständliche Einheit, über deren Wohl und Wehe nachgedacht und innerhalb derer
verglichen wird. Auch der eigentlich ja universale Islam transzendiert dabei die Nation nicht,
sondern wird gewissermaßen als eine Art religiöse Subkultur eingebunden. Es ist im nationalen
Interesse, ihm seinen angemessenen Platz zu geben, und der gute Islam ist in den Serien
derjenige, der sich in den Dienst der nationalen Sache stellt.
Durch Abu-Lughods gesamtes Buch zieht sich aber auch ein zweiter Hauptaspekt, nämlich
der der Klasse. Die in den Serien gezeichneten Werte und Bilder sind nämlich die der städtischen
Mittelschicht, und dies drückt sich besonders dann sehr deutlich aus, wenn die dieser Schicht
entstammenden Autoren die Verhältnisse in anderen Bevölkerungsgruppen und Landesteilen
imaginieren. So berichtet Abu-Lughod von einer Serie, in der eine Bauerntochter als
Hausbedienstete nach Kairo geht und dort bei der Arbeit immer wieder durch das offene Fenster
den Unterricht einer nahegelegenen Schule verfolgen kann. Sie bekommt nur Bruchstücke mit
und versteht diese auf recht komische Weise falsch, aber irgendwann geht ihr Traum in
Erfüllung. Als ihr Vater sie nach einigen Jahren abholen will, um sie mit einem von ihm selbst
ausgesuchten Ehemann zu verheiraten, entzieht sie sich dem durch Fortlaufen, und die Schwester
ihrer Hausherrin verschafft ihr schließlich eine kleine Arbeitsstelle in der Stadt und die
Möglichkeit, selbst zur Schule zu gehen. Das Bauerndasein wird dabei denunziert: Nicht nur der
Traum von der Bildung läßt das Dienstmädchen davonlaufen, sondern auch die Abscheu vor
dem Schmutz und den Flöhen, und auch die familiären und verwandtschaftlichen Bindungen an
ihren Heimatort erscheinen nirgendwo in einem positiven Licht.
Deutlich handelt es sich hier um städtisch geprägte Zerrbilder des Nicht-Städtischen, und
diese existieren auch gegenüber Oberägypten, wo das von Abu-Lughod besonders beobachtete
Dorf liegt. Auch in prinzipiell versöhnlich gemeinten Serien, in denen die guten Helden aus
dieser Region stammen, erringen diese ihre positive Rolle immer nur dadurch, daß sie die
lokalen Sitten und Bindungen ablegen und z. B. Bildungskarrieren verfolgen oder westliche
Kleidung tragen. Hinzu kommen sehr stereotype Darstellungen des lokalen Dialekts und der
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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einschlägigen kulturellen Merkmale, die bei den negativen Figuren regelrecht zur Karikatur
werden, und auch an Blutrache-Verwicklungen – für die die Region berüchtigt ist – darf es nie
fehlen. Erst in jüngeren Jahren scheint sich dies zu bessern, und die Traditionen werden nun auch
in einem positivem Licht dargestellt. Abu-Lughod sieht hier einen Zusammenhang mit der
Ausbreitung islamischer Frömmigkeit, denn die ländlichen Sitten bieten eine religionsfreie
Traditionsalternative zum Islam.
Mit der kritischen Analyse dieser urbanen Mittelklasse-Fantasien scheint Abu-Lughod aber
recht alleine zu bleiben. Sie erwähnt Intellektuelle, denen diese ebenfalls aufstoßen, doch ihre
gewöhnlichen Informantinnen stören sich weit weniger daran. So stellen weder die städtischen
Haushaltshilfen in Kairo noch die Dorfbewohner den in den Serien vermittelten Wert der
Formalbildung in Frage. Dazu gäbe es durchaus Anlaß, denn die Schulen sind schlecht, die
Lehrer oft korrupt, teurer Nachhilfeunterricht ist unerläßlich, und auch mit guten Abschlüssen
gibt es nicht immer Arbeitsstellen. Und die oberägyptischen Informanten sind schon über das
kleinste Versatzstück ihrer Lokalkultur in den Serien erfreut, während sie die Klischeebilder über
ihre eigenen Lebensverhältnisse nicht monieren. Das Fernsehen spielt also seine gewichtige
Rolle darin, auch diese marginalisierten Gruppen in die nationale Gemeinschaft hineinzuziehen,
aber gibt ihnen keine Anleitung darin, die Mechanismen der eigenen Marginalisierung zu
durchschauen.
Das Fernsehen in der (Globalisierungs-)Kritik
Fast so etwas wie eine Konstante der ethnologischen Fernsehforschung ist die Entdeckung, daß
die amerikanischen und sonstigen internationalen Importe zwar gesehen werden, im Vergleich
damit aber die einheimischen Produktionen populärer sind. Dies gilt für Brasilien, Nigeria,
Ägypten, Indien und China (Abu-Lughod 1995: 193, Hannerz 1992: 244, Kottak 1990: 16, Lull
1991: 92-126, 136, Lyons 1990: 444, Mankekar 1993: 546) sowie meiner eigenen Kenntnis nach
auch für Japan. Hier besteht also tatsächlich „disjuncture” innerhalb der „mediascape”: Die
Übernahme einer einheitlichen Medientechnologie ist nicht unbedingt mit der Übernahme der
Medieninhalte verbunden und das Fernsehen eher ein Instrument, um neue Differenz zu
produzieren.
Auch begrenzte Importe können aber natürlich schon Besorgnis auslösen, und welche Form
dies in Belize, dem seit 1981 unabhängigen ehemaligen Britisch-Honduras, annimmt, beschreibt
Richard Wilk von der Indiana University (Wilk 1993). Weniger als auf die Inhalte der
Sendungen konzentriert er sich auf den öffentlichen und den Alltagsdiskurs über das Fernsehen.
Dieser sieht im Fernsehen gerne ein Problem, vor allem, weil es der weithin konstatierten
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Amerikanisierung des Landes und der Aufgabe nationaler Eigenständigkeit Vorschub leistet,
aber auch wegen einer großen Zahl von anderen bedenklichen moralischen Folgen, die dem
üblichen Vorwurfsrepertoire an das Medium entsprechen. Es hat auch schon politische Versuche
gegeben, das Fernsehen einzuschränken, denen allerdings kein Erfolg beschieden war. Die
Bedenken sind bei den Linken stärker als bei den Rechten und bei den Oberschichtler stärker als
in der Unterschicht, aber trotzdem verbreitet.
Wilk zufolge verkennt die Furcht vor der Amerikanisierung durch Fersehen aber, wie stark
der kritische Diskurs über das Medium die nur 300.000 Menschen zählende Nation
synchronisiert. Denn darüber, daß das Fernsehen schwerwiegende Veränderungen mit sich bringt
und nichts mehr so läßt, wie es war, sind sich alle sehr viel einiger als über die konkrete Art und
Bewertung der Veränderungen. Die Belizeaner haben also einen gemeinsamen Fixpunkt, ▶▸„a
cultural and historical watershed, allowing people to create a new and mythical past when
children respected their parents, and social justice and good morals were the norm” (Wilk 1993:
237). Überdies haben sie mit dem Fernsehen ein gemeinsames Anderes, was es ihnen erleichtert,
sich selbst und ihre eigene Kultur – über Musik, Essen, Tanz und Sprache – in Abgrenzung dazu
zu definieren. ▶▸„Paradoxically, television imperialism may do more to create a national culture
and national consciousness in Belize than 40 years of nationalist politics and 11 years of
independence” (Wilk 1993: 241).
Amerikanisierung und nationale Abgrenzung sind auch in Puerto Rico ein Thema. Diese
karibische Insel verweilt nämlich in einer Art kolonialer Beziehung mit den USA, mit der sie als
Freistaat assoziiert ist. Die eigenen spanischen kolonialen Wurzeln und ein unabhängiges
Selbstverständnis stoßen dabei an die Grenzen der finanziellen Abhängigkeit vom großen
Nachbarn. ▶▸Arlene Dávila von der Syracuse University beschreibt, wie sich dies im
Fernsehkontext äußert (Dávila 1998). Ihr Untersuchungsgegenstand ist die Comedy-Serie El
Kiosko Budweiser. In dieser spielen zwei bekannte ältere Komiker ein geistig nicht gerade
brillantes, ständig miteinander streitendes, vulgäres, aber sehr volksnahes und populäres Paar,
Epifanio und Susa, das gemeinsam einen kiosko, also eine einfache Getränkebude und Stehbar,
betreibt. Es gibt eine Reihe von festen Nebenfiguren, aktuelle Themen werden regelmäßig
aufgegriffen, und immer wieder sind es Fremde wie etwa Migranten von anderen Karibikinseln,
von denen die beiden Helden übervorteilt werden.
Die Serie ist sehr populär und wird in einem von amerikanischen Sendern und
Kabelnetzwerken dominierten Markt als einheimisches Produkt wahrgenommen und von Dávilas
Informanten auch sehr stark danach bewertet. Es geht also oft weniger darum, ob man selbst die
Serie mag, sondern darum, welches Bild sie Fremden von den Puertoricanern vermitteln könnte.
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Das Sponsoring durch Budweiser, eine amerikanische Biersorte, tut dem interessanterweise
keinen Abbruch, denn große Getränkeschilder gehören nun einmal zu einem kiosko, und
Budweiser wird zugutegehalten, daß es in seinen Werbestrategien schon immer die lokale
Eigenständigkeit respektiert und z. B. Kulturveranstaltungen gesponsort hat. Ohnehin steht im
Vordergrund, daß die Serie lokal produziert worden ist, „from here and made by us”, wie die
Informanten es formulieren (Dávila 1998: 463). Gleichzeitig entzieht sich die Serie aber nicht
dem multinationalen Kapitalismus, und die vertretenen Gender- und Rassebilder sind äußerst
stereotyp. Dávila sieht also sowohl widerständige als auch angepaßte Elemente und geht ganz
allgemein
davon
aus,
daß
Medienprodukte
häufig
vieldeutig
sind
und
breiten
Interpretationsspielraum lassen.
Fazit
Die vorgestellten ethnologischen Fernsehstudien zeigen, daß sich mit diesem Medium zwar eine
einheitliche Technologie immer weiter ausbreitet, aber bei den Inhalten keine simple
Vereinheitlichung festzustellen ist. Im Gegenteil wird gerade im Fernsehbereich viel neue Kultur
produziert. Diese bezieht sich außerdem häufig auf elementare Sozialbeziehungen wie die der
Familie und der Geschlechter. Gerade bei den im privaten Raum spielenden Serien ist zu
bedenken, daß dieser im tatsächlichen Alltag oft nicht für Fremde zugänglich ist, so daß man je
nach Gesellschaft außerhalb der eigenen Familie und Verwandtschaft oft wenig darüber weiß.
Daß dann Darstellungen solcher privaten Räume, in wie stark auch immer fiktionalisierter Weise,
die Fantasie beflügeln und auch zur Reflexion der eigenen privaten Lebensbedingungen anregen,
liegt denke ich auf der Hand. Für eine ethnologische Fernsehforschung wird also auch zukünftig
Raum sein, gerade weil wir ja uns intensiver mit Familie und Verwandtschaft beschäftigen und
mehr dazu wissen als viele andere Sozialwissenschaften.
In der Inhalts- und Rezeptionsanalyse sind in der geschilderten ethnologischen
Fernsehforschung ereits gute Ergebnisse erzielt worden. Schwächer ausgeprägt ist die
Produktionsanalyse: Ethnographien von Fernsehstationen und Produktionsteams sind bislang
Mangelware, was ich nicht so recht verstehe, denn eigentlich müßten hier wie auch etwa in
Zeitungsredaktionen die geringsten praktischen Probleme für die teilnehmende Beobachtung
bestehen.
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Teil VIII: Ethnizität und Nationalismus
Ethnizität
Im vorigen Teil spielte beim Thema Fernsehen die Nation bereits eine gewichtige Rolle, und
diese möchte ich heute stärker in den Blick nehmen und mich mit Ethnizität und Nationalismus
befassen. Wie vielfach hervorgehoben, auch z. B. durch Appadurai und Hannerz, bleiben diese
im Zeitalter der Globalisierung wichtige Phänomene. Auf den ersten Blick mag dies
überraschend erscheinen: Die populäre Vorstellung vom „radikalen Diffusionismus”, wie
Hannerz sie nennt, geht ja davon aus, daß der Kontakt der Kulturen ihre Unterschiede zum
Verschwinden bringt. Tatsächlich aber blühen Ethnizität und Nationalismus: Gegenwärtig gibt es
über 190 unabhängige Staaten in der Welt, das sind fast drei mal so viele wie 1946, als es erst 66
waren (http://www.isanet.org/archive/npg.html), und ohne die entsprechenden Nationalgefühle
wäre kaum einer von ihnen entstanden. Ethnische Bewegungen und ethnische bzw. als ethnisch
deklarierte Konflikte findet man ebenfalls überall. Die Mehrzahl der gegenwärtigen
Bürgerkriege hat eine ethnische Komponente, und auch innerhalb stabiler Staaten sind die
Beziehungen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Ethnien nicht immer frei von Spannungen.
Ethnizität und Nationalismus sind mitunter als ein Relikt früherer, vormoderner Zeiten
gesehen worden, das in modernen Gesellschaften von selbst seinen Platz verlieren würde. Doch
zeigt die Realität, daß dem keineswegs so ist. Schon für Ethnizität besteht der Verdacht, daß die
Globalisierung sie genauso gut fördert wie überwindet, und für Nationalismus ist dies vollends
der Fall, denn dieser ist ein Phänomen der letzten 250 Jahre und eine nicht entgegen, sondern
gerade aufgrund der Globalisierung in alle Welt gelangte politische Ideologie.
Das Wort „Ethnizität” (ethnicity) gehört noch nicht lange zum konzeptuellen Instrumentarium
der Ethnologie, und erst in den 1960er Jahren begann eine intensivere Beschäftigung mit diesem
Phänomen. Mittlerweile ist es allerdings eines der verbreitetsten Forschungsthemen überhaupt.
Dies liegt nicht nur an einem Paradigmenwechsel im Fach, sondern ist auch eine Reaktion auf
die wachsende Prominenz von ethnischen Diskursen und ethnischer Politik in der Welt.
Außerdem tun sich andere Disziplinen zum Teil schwer damit, Ethnizität angemessen zu
behandeln, so daß die Ethnologie hier besonders gefordert ist.
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Begriffsbestimmung
Ethnizität und Ethnologie haben die Wortwurzel gemeinsam, nämlich ethnos, altgriechisch für
„Volk”. Eine „ethnische Gruppe” (ethnic group) oder synonym auch „Ethnie” ist also nichts
anderes als ein Volk, sollte man meinen. Mit Völkern assoziiert man aber im allgemeinen nach
Millionen zählende Kollektive wie etwa die Deutschen oder die Norweger, und diese sind größer
als diejenigen Einheiten, mit denen sich die Ethnologie klassischerweise beschäftigt hat. Von
Navajo, Karimojong oder Toda wurde stattdessen eher als „Stamm” (tribe) geredet. In der
politischen Ethnologie hat tribe ja im Kontrast zu band, chiefdom und state eine sehr spezifische
Bedeutung, doch außerhalb dieses Teilbereichs und erst recht außerhalb der Ethnologie ist das
Wort oft eher unscharf verwendet worden. Fast immer assoziiert es aber eine im Vergleich zu
Volk geringere Größe und größere Ursprünglichkeit oder Primitivität: Stämme findet man in
Afrika, aber nicht in Köln oder wenn doch, dann höchstens im Karneval oder unter
Freizeitindianern. Aus Sicht der Ethnologie ist eine solche Unterscheidung natürlich nicht zu
halten. Die zur Bildung von Völkern oder Stämmen führenden sozialen Prozesse sind dieselben,
und so wird heute „ethnische Gruppe” als Sammelterminus verwendet. Auch Kollektive wie
soziale Rassen – z. B. Schwarze in den USA – oder die salopp als „Bindestrich-Identitäten”
bezeichneten Gruppen – z. B. Deutschtürken – werden unter ethnische Gruppen gefaßt, auch
wenn man diese kaum als Volk oder als Stamm bezeichnen würde. Denn die sozialen
Mechanismen bei der Bildung all dieser Gruppen sind sich sehr ähnlich.
Versucht man einmal, „ethnische Gruppe” ohne Bezug auf Volk oder Stamm zu definieren,
stellt man allerdings fest, daß dies gar nicht so einfach ist. ▶▸Segal und Handler setzen „ethnic
group” einfach synonym zu „cultural group” (1996: 393), aber dann wären auch religiöse oder
politische Gruppen ethnische Gruppen, wie Georg Elwert richtig bemerkt (1999), und die
Ethnologen wären es vielleicht auch. Insofern halte ich Elwerts Fassung für besser:
▶▸ „Ethnie, eine familienübergreifende und familienerfassende Gruppe, die sich selbst eine (u.
U. auch exklusive) kollektive Identität zuschreibt. Dabei sind die Zuschreibungskriterien, die die
Außengrenze setzen, wandelbar. Sie beanspruchen jedoch Dominanz gegenüber anderen
Zuschreibungskriterien. … Mit familienübergreifend und familienumfassend … wird implizit
auf die Erblichkeit der Zuordnung hingewiesen, unabhängig davon, ob der Vererbende selbst
durch Geburt oder Beitritt in die E. aufgenommen wurde.” (Elwert 1999: 99-100)
Hier sind neben dem Aspekt der Selbstzuschreibung, auf den ich noch zurückkommen werde,
zwei Bestandteile wichtig. Zum einen ist dies die Dominanz gegenüber anderen Kriterien.
Ethnische Zugehörigkeiten überschneiden Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Klasse,
Beruf und andere soziale Merkmale; die Mitglieder einer ethnischen Gruppe sind vielmehr in
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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dieser Hinsicht vielfältig. Zum anderen ist die Erblichkeit wichtig. Üblicherweise erhält man
seine ethnische Zugehörigkeit von den Eltern, und sie ist im Gegensatz etwa zu der
Zugehörigkeit zu einer Klasse nicht ohne weiteres zu erwerben oder abzulegen. Zwar kommt es
durchaus vor, daß sich die ethnische Selbstidentifizierung in einem Leben ändert. Dann hat dies
aber gewöhnlich die Form der Aktivierung einer als im Prinzip immer schon vorhanden
gedachten ethnischen Zugehörigkeit, etwa wenn Angehörige einer ethnischen Minderheit sich als
solche zu erkennen geben, statt wie vorher diesen Umstand zu verbergen und als Teil der
Mehrheit durchzugehen. Wenn ich selbst aber ab morgen Japaner sein und als solcher von
anderen Japanern anerkannt werden wollte, hätte ich es schwer, selbst dann, wenn ich mich
erfolgreich um die japanische Staatsbürgerschaft bemühen würde.
Elwert erwähnt die Kultur gar nicht, und auch das hat seinen Grund. Die weitaus meisten
ethnischen Gruppen verwenden zwar kulturelle Merkmale wie etwa Sprache, Religion, Kleidung,
Wirtschaftsweise o. ä. als Zuschreibungskriterien. Aber physische Merkmale spielen oft
ebenfalls eine Rolle, mitunter sogar die einzige. Dies ist bei den sogenannten sozialen Rassen der
Fall. Die Schwarzen in den USA, die African Americans, z. B. definieren sich als ethnische
Gruppe über ihre Hauptfarbe bzw. werden darüber definiert. Was sie ansonsten an gemeinsamer
Kultur haben, ist eher Folgeerscheinung dieser ihrer Abgrenzung als ihre Ursache, denn ihre als
Sklaven ins Land verschleppten Vorfahren kamen ja aus unterschiedlichen Regionen Afrikas und
wurden ethnisch ganz bewußt gemischt, um sie besser kontrollieren zu können.
▶▸Äußerliche Merkmale wie etwa Hautfarbe, Gesichtsschnitt, Haarfarbe und –form haben,
wie Sie noch aus dem Einführungsseminar wissen werden, mit tatsächlichen genetischen
Übereinstimmungen und Unterschieden wenig zu tun. Viele wichtige genetische Merkmale
schlagen sich nicht im Aussehen nieder, und ähnliches Aussehen hat oft keine genetischen
Korrelate. Und prinzipiell schränken weder das Aussehen noch die genetischen Merkmale den
Kulturerwerb ein. Trotzdem ist es ein Faktum, daß in vielen Gesellschaften Menschen nach
ihrem Aussehen kategorisiert und diesen Kategorien bestimmte kulturelle Merkmale
zugeschrieben werden, nicht selten in der fälschlichen Annahme, daß diese angeboren sind. Und
sind solche falschen Annahmen tief genug verwurzelt, können sie als self-fulfilling prophecies
wirken, indem sich die so Diskriminierten tatsächlich an ihnen ausrichten bzw. gar keine andere
Wahl haben, als es zu tun. Jazz liegt schwarzen Amerikanern genauso wenig im Blut wie weißen,
aber trotzdem gibt es überdurchschnittlich viele schwarze Jazzmusiker.
Gerne werden Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in einen Topf geworfen. In ihren
Konsequenzen sind sie natürlich oft insofern ähnlich, als es in beiden Fällen um soziale
Ausgrenzung geht, und häufig treten beide Faktoren ohnehin vermischt auf. Aber ob man die
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Merkmale der ausgegrenzten Gruppe für erworben, d. h. kulturell, oder angeboren hält, ist
trotzdem ein Unterschied. Denken Sie etwa an die britische Boulevardpresse: Dort werden
regelmäßig vor den einschlägigen Länderspielen die krudesten nationalen Klischees über die
krauts – also die Deutschen – oder die frogs – die Franzosen – ausgepackt. Das hat
fremdenfeindliche Züge, ist aber nicht rassistisch, insofern als nicht behauptet oder suggeriert
wird, daß die betreffenden Klischeemerkmale angeboren sind. Auch generell ist Rassimus in der
ansonsten ja wenig zimperlichen britischen yellow press tabu.
Zudem haben nicht alle Gesellschaften mit rassistischen Tendenzen soziale Rassen, d. h. über
das Aussehen gebildete Ethnien. In Brasilien gilt zwar Hellhäutigkeit allgemein als
erstrebenswert, und Diskriminierung dunkelhäutiger Menschen z. B. durch die Polizei ist
verbreitet. Auch gibt es ein differenziertes Vokabular, um die unterschiedlichen Typen des
Aussehens zu bezeichnen. Aber ethnische Gruppen, die allein über das Aussehen gebildet
werden, fehlen. Vielmehr ist so gut wie jeder Brasilianer, also Angehöriger der Mehrheitsethnie,
und als Separat-Ethnien werden nur die diversen indianischen Gruppen angesehen.
Und schließlich kann es auch dadurch noch komplizierter werden, daß mit rassistischen
Argumenten ausgegrenzte Gruppen gar nicht anders aussehen als die sie ausgrenzende
Mehrheitsethnie. Dieser Fall liegt bei den ▶▸burakumin in Japan vor. Diese ein oder zwei
Millionen Menschen umfassende Gruppe umfaßt die Nachfahren von Personen, die nach
buddhistischen und shintoistischen Vorstellungen verunreinigende oder einfach als sozial
verdächtig angesehene Tätigkeiten verrichtet haben, etwa den Umgang mit Fleisch und
Tierprodukten wie z. B. Leder, den ganzen Bereich der Bestattungen, Gärtnerei oder die
fahrenden Künstler und Schausteller. In der Tokugawa-Zeit (1603-1868) standen diese damals
noch eta oder hinin („Nicht-Menschen”) genannten Gruppen außerhalb der Ständeordnung. Mit
der Moderne wurde diese zwar offiziell abgeschafft, aber die Diskriminierung dieser Personen
und ihrer Wohnviertel setzt sich bis heute fort und erscheint erst in den letzten Jahren allmählich
aufzubrechen. Dies wäre eigentlich problemlos möglich, denn hinsichtlich des Aussehens oder
der sprachlichen und anderen kulturellen Merkmale unterscheiden sich die burakumin in nichts
von den gewöhnlichen Japanern. Ob diese Kategorie also in einigen Jahrzehnten immer noch
Bestand haben wird, ist eine interessante Frage.
Primordialismus und Konstruktivismus
Eine der zu Ethnizität vertretenen wissenschaftlichen Positionen wird mitunter als
Primordialismus (primordialism) bezeichnet (z. B. Sokolovskii und Tishkov 1996). Dieser
Position zufolge sind es primordiale, d. h. grundlegende Merkmale einer Person wie Sprache
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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oder Religion, die sie dazu bringt, sich mit anderen Personen zusammenzuschließen, die diese
Merkmale teilen, und sich von solchen Personen abzugrenzen, die sie nicht teilen. Die Bildung
von Ethnien ist also ein ganz natürlicher Vorgang, und mitunter wird auch versucht, dafür
Ursachen z. B. in unserer biologischen Natur zu finden. So ist etwa für den Humanethologen
Irenäus Eibl-Eibesfeldt Fremdenfeindlichkeit eine genauso normale Eigenschaft des Menschen
wie das Fremdeln bei kleinen Kindern.
Ein primordialistisches Denken hatten auch die frühen Theoretiker des Nationalismus, etwa
die romantischen Philosophen Johann Gottfried Herder (1744-1803) und Johann Gottlieb Fichte
(1762-1814). Diese nahmen an, daß man zusammen mit der Muttersprache ein spezifisches
Denken und Fühlen erwirbt; Herder etwa sprach vom „Volksgeist”, der alle Lebensäußerungen
einer so konstituierten Gemeinschaft durchdringt. Mit dem Primordialismus ist es allerdings
heute ähnlich wie mit der Theorie von der globalen kulturellen Homogenisierung: Man findet
zumindest in der Ethnologie eigentlich niemanden, der sie uneingeschränkt vertritt, so verbreitet
primordialistische Vorstellungen auch im Alltagsdenken, in manchen Politikerhirnen oder bei
Amateurethnologen wie Eibl-Eibesfeldt sein mögen.
Stattdessen kennzeichnet die moderne Ethnologie eine Position, die Konstruktivismus
(constructivism) genannt worden ist: Ethnische Gruppen sind demnach ein Produkt sozialer
Interaktion, und diese wird von den objektiv bestehenden kulturellen oder phänotypischen
Gemeinsamkeiten und Unterschieden nicht determiniert. ▶▸Besonders einflußreich gewesen ist
hier die Einleitung zum 1969 erschienenen Sammelband Ethnic Groups and Boundaries des
norwegischen Ethnologen Fredrik Barth, pensionierter Professor an der Universität Oslo (Barth
1969). Er beklagt dort zunächst, daß die Herausbildung ethnischer Gruppen in der Ethnologie als
die natürliche Folge geographischer und sozialer Isolation gesehen worden ist. Tatsächlich ist es
jedoch im Gegenteil gerade der Kontakt zwischen den Gruppen – durchaus auch freundlicher
Kontakt –, der ethnische Grenzziehungen erhält, und ethnische Gruppen sind häufig die
Bausteine übergreifender Sozialsysteme. Und deshalb muß sich die ethnologische Forschung auf
eben diese Grenzziehungen konzentrieren und die Art, wie sie im sozialen Umgang hergestellt
und aufrechterhalten werden. ▶▸„The critical focus of investigation … becomes the ethnic
boundary that defines the groups, not the cultural stuff that it encloses” (Barth 1969: 15).
Denn der „cultural stuff” deckt sich nicht notwendigerweise mit den ethnischen Einheiten,
oder wie Barth sagt: ▶▸„… we can assume no simple one-to-one relationship between ethnic
units and cultural similarities and differences” (Barth 1969: 14). Schon allein die Anpassung an
unterschiedliche Rahmenbedingungen kann in derselben ethnischen Gruppe zu kultureller
Vielfalt führen, und unabhängig davon heben die Akteure manche kulturellen Züge – etwa
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
148
Kleidung, Sprache, Hausformen oder den allgemeinen Lebensstil, aber auch grundlegende
Werthaltungen – als für ihre Gruppe emblematisch hervor, während die Verschiedenheit der
Mitglieder hinsichtlich anderer Merkmale ignoriert wird. Und auch eine kulturelle Annäherung
zwischen zwei Gruppen muß nicht das Verschwinden der ethnischen Grenzen bedeuten.
Dementsprechend gilt: ▶▸„The features that are taken into account are not the sum of ‚objective’
differences, but only those which the actors themselves regard as significant” (Barth 1969: 14).
Ethnische Grenzziehung impliziert also ein Gegenüber und damit auch die Existenz eines ▶▸
„polyethnischen Sozialsystems” (poly-ethnic social system), wie Barth es nennt. In diesen ist der
ethnische Status laut Barth anderen Statusformen wie Geschlecht oder Rang übergeordnet und
zwingend, in dem Sinne, daß er nicht einfach zeitweilig beiseite gelassen werden kann. Die
Mitglieder der einzelnen ethnischen Gruppen sind durch ihre jeweiligen Wertorientierungen in
ihrem Handeln eingeschränkt, wie auch durch die gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnisse, die
sich z. B. durch die Besetzung unterschiedlicher ökonomischer Nischen ergeben. Und natürlich
können sich ethnische Gruppen auch in einer Konkurrenzsituation befinden.
Dauerhaft sind in solch einer Situation vor allem die Grenzen, dagegen nicht unbedingt das
kulturelle Territorium, das sie jeweils einschließen, und auch nicht unbedingt die Zuordnung der
Individuen. ▶▸Barth weist gleich auf mehrere ethnographische Beispiele hin, die dies belegen,
etwa die Yao in Südchina, die in jeder Generation etwa 10 Prozent von Angehörigen anderer
Ethnien durch Adoption oder Einheirat aufnehmen, oder die feldbauenden Fur im Darfur-Gebiet
des Sudan, die (zumindest noch in den 1960er Jahren) auf relativ einfache Weise Baggara
werden konnten, wenn sie deren pastoralnomadischen Lebensstil annahmen.
Weitere Merkmale
Viele andere Ethnologen haben das von Barth eingeführte Modell spezifiziert oder ergänzt und
zahllose Fallbeispiele zusammengetragen. Dabei ist darauf hingewiesen worden, daß ethnische
Kategorien
sowohl
auf
Selbst-
als
auch
auf
Fremdzuschreibung
beruhen.
Eine
Selbstzuschreibung, die niemand akzeptiert – wie etwa wenn ich ab morgen Japaner sein möchte
–, bleibt folgenlos, und umgekehrt gibt es Fremdzuschreibungen ethnischer Zugehörigkeit, vor
allem solche diskriminierender Art, die von den Betroffenen gar nicht oder nur mit Widerwillen
akzeptiert werden.
Mitunter haben Personen auch mehrere Ebenen der ethnischen Identifizierung, die
hierarchisch aufeinander aufbauen. ▶▸Die Tukano im kolumbianischen Regenwald teilen sich z.
B. in 16 exogame Sprachgruppen auf (Jackson 1995). Jedes Individuum heiratet also einen
Partner, der eine andere Sprache spricht, und entsprechend beherrschen viele Tukano mehreren
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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dieser Sprachen. Aus strategischen Gründen werden diese Sprachgruppen manchmal als grupos
étnicos bezeichnet, um dann die Tukano insgesamt als Nation bezeichnen zu können, also etwas
sehr viel Größeres und Respektableres; in anderen Situationen sind aber die Tukano in ihrer
Gesamtheit die ethnische Gruppe. Auf einer noch höheren Ebene können sich Tukano als
Kolumbianer identifizieren. Welche der drei Ebenen in einer gegebenen sozialen Situation
relevant ist, hängt dabei vom Gegenüber ab: Einem Mitglied einer anderen Sprachgruppe
gegenüber ist man das Mitglied der eigenen Sprachgruppe, anderen Regenwald-Indianern wie
den Jívaro oder Yanomami gegenüber ist man Tukano, Venezolanern gegenüber ist man
Kolumbianer.
Nicht alle übergeordneten Ebenen müssen allerdings hierarchisch aufeinander aufbauen. Für
die Tukano ist es z. B. auch möglich, sich als ▶▸indígena zu identifizieren, da durch den
zunehmenden politischen Aktivismus der lateinamerikanischen Indianer eine übergreifende
soziale Identität im Entstehen ist. Diese steht quer zu den nationalen Identifikationen wie etwa
Kolumbianer, Brasilianer usw. ▶▸Eriksen bringt in seiner recht brauchbaren ethnologischen
Einführung außerdem das Beispiel Guayanas (Eriksen 1993: 47-48). Dort sind die beiden
größten ethnischen Gruppen die Africans und die East Indians, d. h. die Nachfahren der
afrikanischen Sklaven und der indischen Kontraktarbeiter, die früher auf den Zuckerplantagen
gearbeitet haben. Genau diese beiden Gruppen – Africans und East Indians – findet man wie
bereits bei Miller gehört auch in Trinidad. Begegnen sich Bewohner der beiden Staaten, tritt
allerdings keine pan-indische oder pan-afroamerikanische Identität, sondern stattdessen die
nationale Identität – also Trinidadianer oder Guayaner – in den Vordergrund, so daß hier die
hierarchische Ordnung der Identifikationen gewahrt bleibt.
Ethnizität kann je nach Individuum und je nach sozialer Situation unterschiedlich wichtig sein.
Manchen bedeutet ihre ethnische Identität viel, anderen sind z. B. berufsbedingte Identitäten
wichtiger, oder sie legen überhaupt keinen Wert auf kollektive Gruppenzugehörigkeiten. Hier ist
allerdings zu beachten, daß dies nicht immer nur auf der eigenen freien Entscheidung beruht und
man oft nicht aus seiner ethnischen Haut heraus kann, da ja eben auch die Fremdzuschreibung
wichtig ist und man sich ihrer z. B. dann, wenn das Aussehen oder die perfekte Beherrschung
einer Muttersprache involviert ist, gar nicht erwehren kann. Mitunter wird eine These vertreten,
die im Unterschied zu Primordialismus und Konstruktivismus auch als Instrumentalismus
(instrumentalism) bekannt ist, nämlich daß ethnische Mobilisierung immer politischen und
wirtschaftlichen Interessen dient, die sie letztendlich zu kaschieren hilft. Die wahren Gegensätze
sind dann oft die zwischen Klassen, und die Ethnisierung des Diskurses ermöglicht es den
Mächtigen, die Machtlosen über diesen „Hauptwiderspruch”, wie die einschlägige Vokabel des
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Marximus lautet, zu täuschen, wozu dann Disziplinen wie die Ethnologie auch noch ihren
wissenschaftlichen Segen geben. Daß Ethnizität häufig instrumentalisiert wird, ist tatsächlich
nicht zu leugnen und ein in der Beschäftigung mit ihr immer mitzuberücksichtigender Faktor.
Aber es gibt auch zahlreiche Beispiele für das Fortbestehen ethnischer Identitäten und
Grenzziehungen, wo dies keinem der Beteiligten offensichtliche wirtschaftliche oder politische
Vorteile bringt. Ethnizität ist also keine bloße Erfindung der Ethnologie und nicht vollständig auf
ihre instrumentale Funktion zu reduzieren.
Daß sich Ethnizität je nach Typus der ethnischen Gruppe ganz unterschiedlich darstellt, muß
ebenfalls beachtet werden. Manche ethnischen Gruppen sind Mehrheiten, andere Minderheiten,
manchen sind immigriert, andere nicht, manche setzen sich aus einer Verschmelzung zweier
bereits bestehender ethnischer Gruppen zusammen (z. B. Japanese Americans oder
Deutschtürken), andere nicht, manche beruhen auf phänotypischen Merkmalen, andere nur auf
kulturellen, wieder andere auf eine Mischung aus beidem. Daß dies jeweils zu ganz
unterschiedlichen sozialen Situationen und Umgangsweisen mit Ethnizität führt, muß wohl kaum
betont werden.
Und schließlich halte ich es für wichtig, ethnische Gruppen und kulturelle Gruppen analytisch
zu trennen. Ethnische Gruppe haben eine subjektive Komponente; ob jemand einer bestimmten
Ethnie angehört, kann aus der Perspektive des Konstruktivismus gesehen nicht durch
Beobachtung, sondern nur durch Befragung ermittelt werden. Kulturelle Merkmale sind dagegen
objektiv feststellbar. Verschiedentlich haben Ethnologen beides in einen Topf geworfen,
▶▸Appadurai etwa schreibt: „I suggest that we regard as cultural only those differences that
express, or set the groundwork for, the mobilization of group identities” (Appadurai 1996: 13).
Kultur ist demnach das, was in der ethnischen Abgrenzung benutzt wird. Dies verengt meines
Erachtens aber die Perspektive und raubt der Ethnologie ihr kritisches Potential. Ethnische
Gruppen haben oft weniger kulturelle Gemeinsamkeiten miteinander und weniger kulturelle
Unterschiede zu den Mitgliedern anderer Gruppen, als sie selbst wollen, und zu verstehen, wie
dann trotzdem Gemeinsamkeit konstruiert wird, ist der eigentlich interessante Punkt. Auch sollte
man weiter darauf hinweisen können, daß Serben und Kroaten oder Hutu und Tutsi sich trotz
ihrer in der jüngsten Vergangenheit ausgiebig ausgelebten Todfeindschaft kulturell kaum
unterscheiden. Die Formierung als ethnische Gruppe kann aber natürlich kulturelle Folgen hat
und zu einer Homogenisierung führen, etwa indem die zur jeweiligen ethnischen Identität als
passend empfundenen Sitten bewußt gepflegt werden. Solche Homogenisierung kann die Folge
bewußter Fördermaßnahmen, aber auch eine „self-fulfilling prophecy” sein, bei der durch die
bloße dauerhafte Existenz einer ethnischen Grenze die sozialen Interaktionen vorstrukturiert
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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werden und dies dann irgendwann wirklich kulturelle Unterschiede produziert.
Ethnizität und Globalisierung im Nordwesten Ghanas
Wie Barth betont, bedarf Ethnizität der Abgrenzung und blüht vor allem in „polyethnischen
Systemen”. Und hier besteht nun ein klarer Zusammenhang mit der Globalisierung, denn die
Massenmigrationen der letzten Jahrhunderte haben die Existenz solcher Systeme sehr befördert,
und sie haben auch westliche populäre und wissenschaftliche Vorstellungen über Völker,
Stämme und Nationen verbreitet, an denen sich die ethnische Grenzziehung ausrichten konnte.
Nicht selten haben die Kolonialverwaltungen die ethnischen Gruppen, die sie vorzufinden
meinten, tatsächlich selbst erst geschaffen, was allerdings der Wirksamkeit der einmal etablierten
Kategorien keinen Abbruch tun muß.
Ein anschauliches Fallbeispiel dafür liefert ▶▸Carola Lentz, Ethnologieprofessorin an der
Universität Mainz (Lentz 2000). Wie mittlerweile auch eine ganze Reihe anderer Autoren weist
sie darauf hin, daß in der vorkolonialen Zeit in Afrika oft keine klaren ethnischen Gruppen
auszumachen sind. Im Nordwesten Ghanas werden zwar heute, wie auf der Karte zu sehen,
bestimmte Territorien mit bestimmten ethnischen Gruppen in Verbindung gebracht, und in
vorkolonialer Zeit gab es hier tatsächlich zwei Sprachen, nämlich Dagara und Sisala, die den
entsprechenden heutigen ethnischen Gruppen zugrundeliegen. Größere politische Einheiten aber
fehlten. Die soziale Organisation war vielmehr zum einen durch Patriclans gekennzeichnet, die
über einzelne Siedlungen hinausreichten und der Aufnahme von Außenseitern gegenüber
vergleichsweise offen waren, und zum anderen durch die sich um die sogenannten Erdschreine
bildenden Netzwerke religiöser Verehrung. Beide Formen der sozialen Assoziation banden
Menschen mit unterschiedlichen Sprachen bzw. unterschiedlichen Dialekten derselben Sprache
ein. Und tatsächlich verwenden die heutigen Dagara und Sisala füreinander Bezeichnungen, die
sich auf ihre seßhafte bzw. pastoralnomadische Lebensweise beziehen, nicht auf davon
unabhängige kulturelle Aspekte.
Die heutigen Ethnonyme (d. h. Ethniennamen) wurden stattdessen von Außenseitern
aufgebracht. ▶▸Die islamischen und zum Teil urbanisierten Wala belegten ihre heidnischen
Nachbarn mit dem Terminus Grunshi, der wörtlich „Fetisch-Verehrer” bedeutet. ▶▸MandeDyula-Händler aus dem Westen führten die Bezeichnung Lobi und womöglich auch Dagara ein.
Es ist laut Lentz unwahrscheinlich, daß diese Abgrenzungen anfangs bereits einem
Zusammengehörigkeitsgefühl bei den so bezeichneten Gruppen entsprochen hat, aber als
Franzosen und Briten sich die Region aneigneten, übernahmen sie die ethnischen Bezeichnungen
ihrer Übersetzer, und diese waren eben Wala bzw. Mande-Dyula.
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Wer genau denn jeweils Dagara, Sisala oder Lobi war, erwies sich im Laufe der Zeit als sehr
flexibl. Die ethnischen Bezeichnungen als solche sind aber außerordentlich stabil geblieben, und
auch die als Bezeichnung Lobi hat sich gehalten, obwohl sie als diskriminierend empfunden wird.
Dazu haben zum einen die kolonialen Stereotypen vom afrikanischen Stamm beigetragen.
Diesen zufolge ist ein solcher Stamm ein nach außen hin klar abgegrenztes und intern
homogenes Gebilde unter der Herrschaft eines Königs, Häuptlings oder einer anderen
Autoritätsperson. Dies war eine durchaus interessengeleitete Vorstellung, denn mit solchen
wohlorganisierten Einheiten war indirect rule am besten zu praktizieren. Doch drangen solche
Vorstellungen über den Schulunterricht auch in die einheimischen Köpfe, und politische Führer
aller Art eigneten sie sich immer dann an, wenn sie sich davon einen Vorteil versprachen.
Entsprechend sind die kolonialen Verwaltungsbezirke oft bestimmten Ethnien oder Teil-Ethnien
zugeschrieben worden, und dies setzt sich auch in der postkolonialen Zeit fort. Hier ist die Frage
nach der Henne und dem Ei oft schwer zu klären, nämlich ob die Ethnie das Territorium schuf
oder das Territorium die vorher so gar nicht bestehende Ethnie.
▶▸Lentz sieht dies alles als „an effective co-production of history and culture by local chiefs
and elders, on the one hand, and, on the other, colonial officers” (Lentz 2000: 116). Von Beginn
der kolonialen Erfassung an mangelt es eigentlich nicht an der Einsicht, daß ethnische Gruppen
anfänglich gar nicht die bestimmenden Faktoren der lokalen Sozialorganisation waren, sondern
daß diese anderen, durchaus flexiblen Prinzipien folgte. Aber dieselben Autoren, die das
Konzept des Stamms und seine Anwendbarkeit auf Nordwest-Ghana relativierten, blieben in
ihren weiteren Ausführungen oft trotzdem bei den kritisierten ethnischen Einheiten. Diese
Widersprüchlichkeit gilt, wie Lentz bemerkt, für Kolonialbeamte genauso wie für die
ethnologische Forschung.
Dagara-Intellektuelle der Gegenwart tragen ihrerseits zur Ethnisierung des Diskurses bei.
Während für die Dorfbewohner die Migrationsgeschichten ihrer Patriclans den wichtigsten
historischen Rahmen bilden und sie ohnehin stärker mit der Durchsetzung von Landrechten in
der Gegenwart beschäftigt sind, ist für die Intellektuellen die Frage nach den Ursprüngen zentral.
Und die größte Anhängerschaft hat hier die These, daß die Dagara aus dem alten Königreich
▶▸Dagomba stammen, wo sie Ende des 15. Jhs. eine Rebellion anzettelten, die blutig
niedergeschlagen wurde, und danach auswanderten. Diese Geschichte hat eine Reihe von
Vorzügen: Sie begründet die ethnische Einheit der Dagara trotz ihrer nicht zu übersehenden
sprachlichen und sonstigen kulturellen Vielfalt, denn diese kann durch den Kontakt mit den an
den Zielorten der Migration bereits ansässigen Gruppen erklärt werden. Sie verschafft der
zumeist als primitiv ausgelegten Staatslosigkeit der Dagara – in einem Kontext, wo es ja
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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durchaus präkoloniale Staaten gegeben hat – den positiven Nimbus der Freiheitsliebe und
demokratischen Gesinnung. Sie paßt zur generellen Richtung der Migrationen der einzelnen
Patriclans,
die
ebenfalls
Richtung
Nordwesten
verlief,
wenn
auch
tatsächlich
zu
unterschiedlichen Zeitpunkten und nicht als geschlossene Gruppe. Und sie fügt sich ein in das
allgemeine Format der westafrikanischen Geschichte, wie sie in Schule und Universität
unterrichtet wird. Gewöhnliche Dörfler zeigen sich von dieser Version zumeist noch
unbeeindruckt, aber sie spielt auf der akademischen Ebene und in der externen Repräsentation
der Dagara eine wachsende Rolle.
Auch die Arbeitsmigration in den Süden des Landes ist eine nicht zu unterschätzende Größe,
denn hier werden Arbeitern aus derselben ethnischen Gruppe sogenannte tribal headmen
zugewiesen, zum Teil auch für neu geschaffene Obereinheiten wie z. B. ▶▸ NTfos – das sind alle
Bewohner des Nordwestens, also des „Northern Territory” –, zum Teil aber auch für feinere
ethnische Unterteilungen auf mehreren Hierarchieebenen. Da die Migranten häufig nach Hause
reisen, gewinnen diese Unterteilungen auch im Nordwesten selbst an Bedeutung. Insgesamt
ergibt sich so ein Bild, an dem eine Vielzahl von Akteuren mitgewirkt hat, Kolonialbeamte und
Ethnologen genauso wie einheimische politische Führer und Intellektuelle. Die mangelnde
räumliche Deckung zwischen ethnischen Gruppen, kulturellen Merkmalen und Territorien tut
dem Fortbestand der ethnischen Identifikation als solcher aber keinen Abbruch. Ähnlich
gelagerte Fälle, in denen ebenfalls vermeintlich stabile ethnische Gruppen die Produkte sehr
dynamischer sozialer Prozesse sind, kennt die Ethnologie mittlerweile zu Dutzenden.
Nationalismus
Dieses dynamische Moment gilt uneingeschränkt auch für das Phänomen des Nationalismus.
Nationen sind eine Spezialform von ethnischen Gruppen, nämlich solche, die sich über den
Bezug auf ein Territorium konstituieren, auf das sie exklusiven politischen Anspruch erheben,
üblicherweise in Form eines unabhängigen Staates oder einer ihm – z. B. durch weitreichende
Autonomierechte wie im schottischen oder katalanischen Fall – möglichst nahekommenden
Weise. Die Nation als politisches Konzept ist jünger, als man denken sollte, und geht nicht
weiter als bis ins 18. Jh. zurück. Trotzdem hat sie enormen Erfolg gehabt, und im 18. und 19. Jh.
wurde der Nationalstaat nicht nur in Europa zur unumstrittenen Norm, sondern in der Folge auch
weltweit. Bedingt durch Migration und die häufig willkürlichen kolonialen Grenzziehungen
besteht die erwünschte Kongruenz von Nation und Staat tatsächlich in vielen Fällen aber nicht,
und so sind Nation und Staat heute „at each’s throat” (Appadurai 1990: 304), wie wir ja schon
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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bei Appadurai gehört haben. Ethnien mit Nationenanspruch bemühen sich um ein Staatsgebiet,
und gleichzeitig bemühen sich Staaten darum, den sie bewohnenden Ethnien das Gefühl zu
vermitteln, daß sie alle zu einer einzigen Nation gehören und keinen Grund zu separatistischen
Sehnsüchten haben. Diese Dynamik ist für die Weltpolitik der letzten beiden Jahrhunderte
sicherlich eine der folgenreichsten gewesen. Und gerade in den letzten zwanzig Jahren haben die
auf den Zusammenbruch der Sowjetunion und Jugoslawiens folgenden neuen Staatsgründungen,
aber auch die Wiedervereinigungen Deutschland und Jemens eindrücklich gezeigt, welche Kraft
das Konstrukt von der Nation entwickeln kann.
Vorgestellte Gemeinschaften der Gleichzeitigkeit
Die Ethnologie beschäftigt sich erst seit den 1980er Jahren mit dem Nationalismus, allerdings
mittlerweile recht intensiv. Und kein zweiter Text war dabei so einflußreich wie der eines
Nichtethnologen, nämlich des Politologen und Indonesien-Spezialisten Benedict Anderson,
mittlerweile emeritierter Professor an der Cornell University. ▶▸Sein 1983 erschienenes Buch
Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism (Anderson 1983,
1988 [1983]) hat eine ganze Perspektive geprägt und nebenbei auch einen sehr populären Begriff,
nämlich den der vorgestellten Gemeinschaft:
Anderson definiert Nation wie folgt: ▶▸„Sie ist eine vorgestellte politische Gemeinschaft –
vorgestellt als begrenzt und souverän. Vorgestellt ist sie deswegen, weil die Mitglieder selbst der
kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen
hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert” (Anderson
1988 [1983]: 15). Begrenzt ist die Nation deshalb, weil keine Nation sich mit der gesamten
Menschheit gleichsetzt. Dies ist anders als etwa bei den Anhängern mancher Religionen, die
davon träumen, daß eines Tages alle Menschen zu ihrem Glauben konvertiert sein werden. Und
eine Gemeinschaft ist sie deshalb, „weil sie, unabhängig von realer Ungleichheit und
Ausbeutung, als ‚kameradschaftlicher’ Verbund von Gleichen verstanden wird” (Anderson 1988
[1983]: 17).
Buchdruck, Landessprachen und Synchronität
Anderson führt das Aufkommen dieser vorgestellten Gemeinschaften in Europa auf ein
Zusammenspiel einer Reihe von miteinander verbundenen Kräften zurück, nämlich dem
Niedergang des Lateins bei gleichzeitigem Aufstieg der Landessprachen, dem Buchdruck und
einer neuen Art und Weise, Zeit und Gleichzeitigkeit zu imaginieren. Vor dem Aufkommen der
Nation im 18. Jh. hatten religiöse Gemeinschaften und dynastische Reiche größeres Gewicht.
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Religiöse Gemeinschaften wie die des Islam oder des Christentum wurden durch eine heilige
Sprache zusammengehalten und erhoben einen universalen Wahrheitsanspruch. Und in
dynastischen Reichen war es der Bezug auf einen von Gott legitimierten Herrscher, der das
einigende Bindeglied lieferte, während ein auf horizontalen Beziehungen der Untertanen
miteinander beruhendes Zusammengehörigkeitsgefühl nebensächlich war. Ethnische Bindungen
hatten in beiden Fällen nur nachrangige Bedeutung.
Doch die religiöse Abstützung sowohl der Christenheit als auch der christlichen Kaiser und
Könige bekam Risse, als immer mehr außereuropäische Religionen bekannt wurden und so das
Christentum immer stärker als bloß eine Religion unter vielen relativierten. Und einen weiteren
Einfluß hatte der Buchdruck. Bücher waren laut Anderson „gewissermaßen das erste auf
moderne Weise massenproduzierte Industriegut” (Anderson 1988 [1983]: 40): Schon zwischen
Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks 1560 und 1600 wurden 20 Millionen und im folgenden
Jahrhundert 150 bis 200 Millionen Bücher gedruckt. Dies geschah laut Anderson unter
kapitalistischen, von einer Profitlogik gelenkten Bedingungen, so daß nach der Deckung des
Lesebedarfs der kleinen, lateinkundigen Elite ein neuer Markt erforderlich wurde. Und diesen
fanden die Verleger in den jeweiligen Landessprachen, die ein weit größerer Kreis von
potentiellen Lesern verstand. Daß auch die protestantische Reformation Wert auf den Gebrauch
der Landessprachen legte, um ein tatsächliches Verständnis der Bibelinhalte durch die Gläubigen
zu garantieren, kam als weiterer Grund hinzu.
Das Lateinische verlor damit an Bedeutung, die Landessprachen erlebten eine Aufwertung
und avancierten schließlich auch zu Verwaltungssprachen. Staatsgebiete wurden so allmählich
auch zu Sprachgebieten, was es in der Zeit der dynastischen Reiche nicht gegeben hatte. Die
Ausbreitung einer Schriftsprache führte dann ihrerseits zu einer Verlangsamung des sprachlichen
Wandel, anfangs eher ungesteuert, später auch als Ergebnis einer bewußten vereinheitlichenden
Sprachpolitik.
Der Buchdruck förderte aber laut Anderson nicht nur die Landessprachen und damit die
Herausbildung von unterscheidbaren Sprachterritorien, sondern auch eine andere Zeitvorstellung,
nämlich die von einer homogenen, inhaltlich neutralen Zeit, die gleichmäßig und in einer mit
Uhr und Kalender bestimmbaren Weise von der Vergangenheit in die Zukunft voranschreitet,
ohne das ein festgelegtes Endziel vorliegt. Im Mittelalter war das Zeitverständnis laut Anderson
ein anderes: Die wirklich wichtigen Dinge, nämlich die biblischen Ereignisse, waren der Zeit
praktisch enthoben und ewig wahr. Daher war es unproblematisch, z. B. bei Bilddarstellungen
der alt- und neutestamentarischen Gestalten die aktuelle Kleidermode zu verwenden, und im
Gegenteil hätten historisch korrekte Darstellungen die Ereignisse historisiert und damit
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relativiert.
Doch als der christliche Einfluß nachließ und der Buchdruck aufkam, erfolgte laut Anderson
ein Übergang zu heutigen Zeitvorstellungen. Die im 18. Jh. aufblühenden Romane schilderten
eine Vielzahl von Ereignissen, die parallel stattfanden, und die Zeitung als, wie Anderson sagt,
eine extreme Form des Buchs – ein „Eintagesbestseller” – berichtet ebenfalls nicht nur zeitgleich
stattfindende Ereignisse, sondern wird auch von einer großen Zahl von Menschen gleichzeitig
gelesen. Dies alles machte Gleichzeitigkeit leichter vorstellbar, und es förderte die Fähigkeit,
sich als in einer Schicksalsgemeinschaft mit den eigenen Landsleuten verbunden zu sehen, auch
denjenigen, die einem selbst nicht persönlich bekannt waren.
Die Ausbreitung des Nationalismus
Der erste Kontinent, auf dem sich der Nationalismus politisch durchsetzte, war
interessanterweise der amerikanische. Dort erkämpften im späten 18. und frühen 19. Jh. die USA
und die lateinamerikanischen Länder ihre Unabhängigkeit. Im Fall Lateinamerikas entstand eine
große Zahl solcher Staaten. Dies ist vor allem im Fall der spanischen Kolonien
erklärungsbedürftig, denn die staatstragende Oberschicht sprach dieselbe Sprache wie im
kolonialen Mutterland und wie in den anderen neuen Staaten. Trotzdem spalteten sich
Kolumbien, Ecuador, Peru, Bolivien usw. auf und gingen sogar so weit, auch denjenigen einen
Platz in der jeweiligen nationalen Gemeinschaft einzuräumen, die als Indigene des Spanischen
gar nicht mächtig waren. Warum also entstand kein einzelner Nationalstaat, der das gesamte
spanische Kolonialgebiet umfaßte?
Die Antwort liegt für Anderson darin, daß die neuen Staaten in den vorangegangenen
Jahrhunderten alle bereits Verwaltungseinheiten gewesen waren, durchaus mit historisch
zufälligen Umrissen, die sich aber im Laufe der Zeit verfestigt hatten. Nicht nur waren
Kommunikation und Wirtschaftsverkehr über die Verwaltungsgrenzen hinweg oft schwierig,
auch die Verwaltungsbeamten wurden bei ihrem Aufstieg durch die Hierachie von einem Ort
zum anderen, aber immer innerhalb derselben Grenzen versetzt, wobei sie sich begegneten und
ein auf das jeweilige Territorium bezogenenes Gemeinschaftsgefühl entwickelten. Der Aufstieg
in die höheren Verwaltungsebenen des kolonialen Mutterlands blieb ihnen jedoch versperrt. Dies
beförderte bei zum einen die nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen und zum anderen die
Tendenz, die Umrisse der bisherigen Territorien zu erhalten, als genau diese Schicht die Führung
in den neuen Staaten übernahm.
Die erst etwas später siegreichen europäischen Nationalismen hatten jeweils ihre eigenen
Schriftsprachen und mit dem Frankreich der Revolution von 1789 auch ein Vorbild, auf das
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bewußt hingearbeitet werden konnte. Für ihre geistige Unterfütterung war vor allem die
Ausbildung
der
vergleichenden
Sprachwissenschaft
und
der
vergleichenden
Geschichtswissenschaft ab Ende des 18. Jhs. wesentlich. Für Lexikographen, Grammatiker,
Philologen und Literaten – denken Sie etwa an die Gebrüder Grimm – war die damalige Epoche
ein goldenes Zeitalter, wie Anderson sagt. Die Verbreitung der Landessprachen setzte den
Gedanken durch, daß alle Sprachen inklusive des Lateins gleichrangig sind und daß es keine
privilegierte Schicht von Sprechern (wie eben im Mittelalter die Lateinkundigen) geben kann.
Anderson unterscheidet einen Volksnationalismus mit solchen egalitären Zügen und einen
„offiziellen” Nationalismus. Der letztere war die Antwort der dynastischen Herrscher von
Vielvölkerstaaten auf die nationalistische Herausforderung, und gewöhnlich bestand er darin,
daß eine für alle verbindliche Staatssprache von oben herab festgelegt wurde. Dieser offizielle
Nationalismus begann sich bereits im 19. Jh. nach außerhalb Europas auszubreiten, wo er z. B. in
Japan und Thailand übernommen wurde. Der Erste Weltkrieg bedeutete dann das Ende des
Zeitalters der Herrscherdynastien, und durch die Gründung des Völkerbunds als Vorläufer der
Vereinten Nationen wurde der Nationalstaat nun zur unumstrittenen Norm.
Das Konzept der Nation breitete sich dann mit der Dekolonisierung vollends aus. Oft geschah
dies in einer Mischung aus Volks- und offiziellem Nationalismus mit einer einheitlich
festgelegten Nationalsprache, die manchmal eigens für diesen Zweck adaptiert wurde, wie etwa
Bahasa Indonesia, ein Dialekt des Malaiischen, der indonesische Staatssprache wurde. Auch in
den neuen Nationen regierte eine zweisprachige Elite, die in der Kolonialzeit – genauso wie ein
Jahrhundert zuvor auch schon die lateinamerikanischen Beamten – die Erfahrung gemacht hatte,
daß die eigenen Aufstiege nie bis die Spitzenposition im Mutterland führten. Und diese Elite
hatte Modelle für den Nationalismus parat, die in den kolonialen Klassenzimmern vermittelt
worden waren. Dieser Nationalismus bezog sich zwar auf das koloniale Mutterland, doch als
Denkfigur einmal angeeignet, konnte er mit neuen Inhalten gefüllt werden, als die eigene
koloniale Verwaltungseinheit ihre Unabhängigkeit erlangt hatte.
Andere Nationalismustheorien
Andersons hier in aller Kürze geschilderter Ansatz ist unter Ethnologen vor allem deshalb so
beliebt, weil er sich damit beschäftigt, wie sich Individuen auf ihre Nation einschwören lassen.
Er läßt sich außerdem weiterspinnen; moderne Medien wie das Fernsehen bieten zur Vorstellung
einer sich gleichzeitig durch die Geschichte bewegenden nationalen Gemeinschaft ganz andere
Möglichkeiten als die Druckmedien. Anderson sagt heute selbst, daß es vor allem der „longdistance nationalism” der elektronischen Medien und des Internets ist, der gegenüber der der
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Lage
zur
Entstehungszeit
seines
Buch
zu
ergänzen
158
wäre
(http://www.culcom.uio.no/aktivitet/anderson-kapittel-eng.html). Das Konzept der vorgestellten
Gemeinschaften findet man in der Literatur sehr häufig, und auch Appadurais Überlegungen von
der gesteigerten, von den mediascapes beflügelten Rolle der Imagination in der globalisierten
Welt haben hier eine Wurzel.
Andere Theoretiker des Nationalismus stellen strukturelle Faktoren stärker in den
Vordergrund und gehen weniger von den Bedürfnissen des Individuums, sondern von
wirtschaftlichen und sozialen Funktionen aus. ▶▸So hat z. B. Ernest Gellner, britischer
Sozialphilosoph und Ethnologe, in seinem im gleichen Jahr wie Imagined Communities
erschienenen und ebenfalls einflußreichen Buch Nations and Nationalism (Gellner 1983) die
Industrialisierung zur Mutter aller nationalen Dinge erklärt. Die in den Fabriken tätigen Arbeiter
waren zum einen häufig Migranten vom Lande und somit aus ihren gewohnten sozialen
Zusammenhängen herausgerissen; Verwandtschaft, Feudalbeziehungen oder Religion konnten
ihre soziale Integration daher nicht mehr leisten. So war es eine größere Einheit, die der Nation,
die sich als neues Ordnungsprinzip anbot. Zum anderen benötigten die Fabriken Arbeiter mit
einheitlichen Fertigkeiten und einheitlichem kulturellen Hintergrund. Diese kulturelle
Homogenisierung leisteten die Schulen, deren Besuch damals zur Pflicht wurde. Andere Autoren
betonen daneben auch die Rolle der Armeen, die sowohl ihrerseits die kulturelle
Homogenisierung vorantrieben als auch auf diesbezügliche Vorleistungen der Schulen aufbauten.
Nationen erscheinen uns heute in Westeuropa wie das Selbstverständlichste von der Welt.
Deutschland wird von Deutschen bewohnt, Frankreich von Franzosen, Italien von Italienern usw.,
und höchstens die Immigranten der letzten Jahrzehnte verkomplizieren das Bild. Darüber gerät
jedoch in Vergessenheit, wie rezent die kulturelle Homogenität der Mehrheit ist, noch 1863
sprach z. B. etwa ein Viertel der Franzosen kein Französisch (Segal und Handler 1996: 846). Es
bedurfte hier wie auch in anderen Staaten gewaltiger Anstrengungen, die Grenzen des eigenen
Staates auch als die Grenzen der Nation zu etablieren und die dadurch Erfaßten davon zu
überzeugen, daß sie tatsächlich Kultur und Schicksal miteinander teilten.
▶▸In einem Artikel betont der schwedische Volkskundler Orvar Löfgren, daß Nationen nicht
einfach nur vorgestellt sind; wichtig ist vielmehr – und hier finden die Einsichten Andersons und
der Barth’schen Ethnizitätstheorie zusammen –, daß sie im Kontrast mit anderen Nationen
imaginiert werden (Löfgren 1989). Diese Imagination beruht laut Löfgren auf einer ▶▸
„international cultural grammar”, d. h. einem weltweit einheitlichen Satz von Dingen und
Kategorien, die zu einer Nation, die etwas auf sich hält, einfach dazugehören. Dazu zählen die
Nationalflagge, die Nationalhymne, Nationalfeiertage, Nationallandschaften, die dann eventuell
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zu Nationalparks erklärt werden, eine nationale Geschichte und Literatur, eine nationale Kunst
und Musik, eine nationale Volkskultur – die ersten Freilichtmuseen entstanden unter
nationalistischen Vorzeichen –, eine Nationalküche, ein Nationalsport usw. Alle Nationen
müssen diese Standardmerkmale mit ihrer jeweils eigenen Variante ausfüllen. Es ist also ein ▶▸
„national lexicon”, mit dem die „international cultural grammar” überhaupt erst zur Sprache wird,
und das Paradox ist hierbei, das eine universale kulturelle Form – die der Nation – nur dann
funktioniert, wenn diese Füllungen einmalig und unverwechselbar sind. Nationen müssen also
nach außen hin Unterschiedlichkeit demonstrieren, um überzeugend zu sein. Im Inneren müssen
sie dagegen Gleichheit suggerieren, was bedeutet, daß das ▶▸„dialect vocabulary” der internen
Diversität nicht zu sehr in den Vordergrund treten darf.
Ich sagte bereits, daß die Ethnologie das Thema Nationalismus hauptsächlich seit den 1980er
Jahren entdeckt hat. Interessant ist dabei, daß sich die bekannten, immer wieder zitierten
Pionierstudien (Handler 1988, Heiberg 1989, Herzfeld 1982, Kapferer 1988) überwiegend auf
westliche Gesellschaften beziehen und mit einem stark historischen Fokus arbeiten.
Feldforschungen zum Nationalismus in der außereuropäischen Gegenwart sind dagegen relativ
selten, zumindest wenn man nur solche zählt, die sich ausschließlich auf das Thema
konzentrieren. Das mag damit zu tun haben, daß die Imagination einer Gemeinschaft kein
regelmäßig in der Öffentlichkeit stattfindender Vorgang ist, der sich problemlos beobachten läßt.
Stattdessen taucht die Nation als Größe sehr viel häufiger in ethnologischen Forschungen auf,
die sich eigentlich auf andere Themen beziehen, etwa in den in der letzten Sitzung vorgestellten
Studien zum Fernsehen in Indien, Ägypten oder China. Sie ist hier gewissermaßen offstage
präsent, indem sie sich weniger autonom äußert als vielmehr durch alle möglichen Alltagsdinge,
die sie durchdringt. Weit häufiger als Studien zu den Nationalismen der Mehrheiten sind
außerdem solche zu all jenen Kräften, die sich ihnen gegenüber in irgendeiner Form
widerständig zeigen, deren Dasein aber trotzdem durch nationale Ausschließlichkeitsansprüche
stark bestimmt ist (gewissermaßen die „Opfer” des Nationalismus). Dazu gehören ethnische
Minderheiten und indigene Gruppen, Migranten mit unklaren Aufenthaltsrechten und Identitäten
und all diejenigen, die sich durch den Bezug auf mehr als einen Staat transnational definieren.
Ethnisch-nationale Traditionspolitik
Für die Konstituierung von Ethnien und Nationen ist häufig eine geschichtliche Perspektive
wichtig. Die vorgestellte Gemeinschaft muß Bestand haben, und je weiter sie in die
Vergangenheit zurückreicht, desto größer wird ihre Plausibilität und Legitimität und desto
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naheliegender erscheint eine ähnliche Stabilität über die Zeiten auch für die Zukunft. Historische
Rechtfertigungen aller Art spielen daher für ethnische und nationale Bewegungen eine große
Rolle. Auch hiermit beschäftigen sich Ethnologen, und auch hier ist es wieder ein
außerethnologischer Beitrag, der die Diskussion besonders stark geprägt hat, nämlich das
Konzept von der „Erfindung” von Traditionen.
Die Erfindung von Traditionen
▶▸The Invention of Tradition heißt der namensgebende Sammelband der britischen Historiker
Eric Hobsbawm und Terence Ranger (Hobsbawm und Ranger 1983), wie die Bücher Andersons
und Gellners im Jahr 1983 erschienen, das damit so eine Art Zeitenwende der
Nationalismusforschung ist. Hobsbawm war die treibende Kraft und verfaßte auch die Einleitung
(Hobsbawm 1983), die das Konzept vorstellt. Darin definiert er Tradition als repetitives
Verhalten bevorzugt symbolischer oder ritueller Natur, das die Kontinuität mit der
Vergangenheit – vorzugsweise einer angemessenen historischen Vergangenheit – impliziert. Im
Fall erfundener Traditionen ist diese Kontinuität fiktiv, und Tradition ist ganz allgemein zu
unterscheiden von ▶▸ „custom” (Brauch[tum], Konvention), denn dieses hat vorrangig praktische
und nicht symbolische Funktionen und läßt einen langsamen Wandel durchaus zu. So ist
beispielsweise der Berufsalltag britischer Richter von „custom” geprägt, also einer Vielzahl von
nutzenorientierten Konventionen; „tradition” jedoch sind ihre Gewänder und Perücken, und die
letzteren zeigen, daß es häufig gerade der Verlust ihrer Alltagsfunktion ist, der die Dinge zu
Traditionen werden läßt.
Erfundene Traditionen sind laut Hobsbawm möglicherweise ein universales Phänomen, aber
haben gerade dann Konjunktur, wenn rascher gesellschaftlicher Wandel herrscht. Ihre
Hauptaufgabe besteht darin, die Geschichte als ▶▸ „legitimator of action and cement of group
cohesion” (Hobsbawm 1983: 12) zu nutzen. Sie sind also weniger von der tatsächlichen
Vergangenheit bestimmt als von gegenwärtigen sozialen und politischen Interessen, häufig dem
von sozialen Kollektiven aller Art, sich abzugrenzen und selbst zu erhöhen. Für die europäischen
Nationalismen der letzten 250 Jahre gilt dies in besonderem Maße, und insofern sind erfundene
Traditionen eine durch und durch moderne Erscheinung und keineswegs Relikte einer
vergangenen Zeit.
▶▸Das bekannteste Fallbeispiel des Sammelbands sind der schottische Kilt und seine die
Clanzugehörigkeit anzeigenden Karomuster, die wie kaum etwas anderes das Schottentum und
die Highland-Traditionen symbolisieren (Trevor-Roper 1983). Trotz seines vermeintlich hohen
Alters wurde der Schottenrock erst Anfang des 18. Jahrhundert entwickelt, überdies von einem
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Engländer. In einigen schottischen Regimentern der britischen Armee vor dem Vergessen
gerettet, erkor ihn dann ab etwa 1780 eine nationalistische schottischen Oberschicht zum Symbol
ihres Unabhängigkeitsstrebens. Wie nicht selten in der Geschichte des Nationalismus waren es
hier intellektuelle Städter, die die vermeintlich zeitlosen Traditionen des Landes ausbeuteten.
Von einer Verbindung zwischen Karomustern und Clans ist vor 1822 nirgendwo die Rede, und
sie wurde ganz wesentlich durch die historischen Fälschungen eines hochstaplerischen
Brüderpaars popularisiert. Dies ändert jedoch nichts an der heutigen Symbolfunktion des Kilts
und uralten, zeitlosen Aura, die ihn für die meisten seiner Träger und Bewunderer umgibt.
Die ethnologische Rezeption dieses Ansatzes ist oft mit postmodern-dekonstruktionistischen
Ideen von der sozialen Bedingtheit aller (auch der wissenschaftlichen) Diskurse verbunden
worden. Für ▶▸Handler und Linnekin etwa ist Tradition ein bloßes Modell der Vergangenheit,
zwar mit Bezug auf diese, aber einer „ongoing reconstruction” (1984: 276) unterworfen. Alle als
traditionell eingeordneten Dinge und Praktiken sind gleichermaßen gegenwärtigen Interessen
untergeordnet, so daß auch die Unterscheidung zwischen „echten” und „erfundenen” Traditionen
hinfällig wird.
In sowohl der Hobsbawm’schen als auch der postmodernen Spielart erfreut sich der
„invention”-Ansatz in der heutigen Ethnologie und auch ganz allgemein in den
Sozialwissenschaften größter Beliebtheit; für manche Gesellschaften wie etwa Japan (z. B.
Vlastos 1998) oder die Rolle von ▶▸kastom (das Pidgin-Wort für Tradition) in Melanesien (z. B.
Keesing und Tonkinson 1983) lassen sich Dutzende von Titeln nennen. Kaum eine Analyse der
sozialen Dimension von Traditionen oder Kulturerbe verzichtet darauf, den Bezug auf die
Vergangenheit hauptsächlich als Phänomen der gegenwärtigen sozialen Solidarisierung und
Abgrenzung zu interpretieren. Und fast immer sind es Nationen, wie auch in den Fallbeispielen
des Hobsbawm und Ranger-Bandes, oder Ethnien, die den Bezugspunkt bilden.
Erfindung und ihre Grenzen bei den Maori
Eine bekannte Analyse dieses Genres liefert der Ethnologe ▶▸Alan Hanson von der University of
Kansas (Hanson 1989). Sein Fallbeispiel bezieht sich auf die Maori. Dies ist ein wahrscheinlich
zwischen Ethnie und Nation anzusiedelnder Fall. Denn die heutige Selbstbehauptungsbewegung
der Maori beansprucht für sie als die ursprünglichen Einwohner ganz Neuseelands einen
angemessenen Platz im gesamten Staatsterritorium, wenn auch wohl kaum einen exklusiven
Anspruch, der den der 85 Prozent ▶▸Pakeha – also der Nicht-Maori – auf das Land komplett
bestreiten würde. Die Maori haben in den 1970er und 80er Jahren ein bedeutendes ethnisches
Revival erlebt und ihre eigene Position im Staat gegen die weiße Diskriminierung erheblich
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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verbessern können, weitaus mehr auch als die Aborigines in Australien, die allerdings einen
geringeren Bevölkerungsanteil stellen. Hanson berichtet, daß in der ▶▸Maoritanga-Bewegung,
also der „Maori Power”-Bewegung, zwei Vorstellungen zur traditionellen Kultur eine besonders
große Rolle spielt. Die eine ist die von der Hochgöttin ▶▸Io, die in der einheimischen Religion
einen herausragenden, den der anderen Götter überstrahlenden Status einnahm, die andere ist die
von der „Großen Flotte”, d. h. der gemeinsamen Einwanderung der Ahnen der heutigen Maori
aus Polynesien, die um 1300 stattfand.
Hanson zeigt, daß beide Vorstellungen der Grundlage in Form historischer und
archäologischer Fakten entbehren. Die Idee von einer Hochgöttin, die alle anderen Götter
überragt, entstammt dem Wunschdenken spekulativer diffusionistischer Theoretiker. In einem
durchaus nicht zu verurteilenden Bemühen um ein gedeihliches Miteinander zwischen Europäern
und Maori waren diese daran interessiert, eine kulturelle Verwandtschaft zwischen beiden
Gruppen nachzuweisen, und dafür machte es sich gut, in der Maori-Religion monotheistische
Tendenzen feststellen zu können. Die „Große Flotte” steht auf ähnlich wackligen Füßen. Ihre
Datierung auf etwa 1300 ist nicht mehr als das Ergebnis einer Schätzung, bei der die Zahl der
Generationen in den am weitesten zurückreichenden Maori-Genealogien einfach mit einem
Standardfaktor multipliziert wurde. Archäologisch ist dieses Datum nicht bestätigt, und der
Befund weist hier stattdessen auf eine Vielzahl von Migrationsschüben über einen längeren,
schon beträchtlich vor 1300 beginnenden Zeitraum hin.
Hanson geht es ausdrücklich nicht um eine Dekonstruktion populärer Mythen. Vielmehr wirbt
er abschließend mit Bezug auf Theoretiker wie Michel Foucault dafür, alle Diskurse über die
Vergangenheit als gleichrangig zu behandeln. Denn „erfunden”, d. h. von spezifischen
historischen und sozialen Bedingungen geprägt, sind sie alle, ob wissenschaftlicher
Archäologendiskurs oder Maori-Bewegungsdiskurs, und keiner von beiden kann universale
Gültigkeit beanspruchen. Ein bißchen schief wirkt dieses Ende allerdings schon, denn man fragt
sich, warum er sich dann die Mühe macht, die Maori-Tradition als erfunden zu demaskieren.
Das Echo auf Hansons Artikel war denn auch zwiespältig. Nachrichten über den Artikel
gingen mit Schlagzeilen wie ▶▸„US Expert Says Maori Culture Invented” (Linnekin 1991: 446)
durch die neuseeländische Presse und erzeugten vor allem bei den Maori große Verärgerung.
Hanson, der als Ethnologe eigentlich Sympathien für die Maori-Bewegung hegt, hat die
Verwendung des Wortes „invention” denn auch später ausdrücklich bedauert (Hanson 1991:
450). Der Vorfall weist zum einen auf die Kehrseiten des postmodernen Erkenntnisrelativismus
hin. Es ist nicht leicht, die Gleichrangigkeit aller Diskurse zu predigen, wenn man gleichzeitig
diese Diskurse als Tatsachenbehauptungen behandelt und mit dem Verweis auf archäologische
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Fakten widerlegt. Es ist allerdings in der heutigen globalisierten Welt auch immer schwieriger,
den ethnologischen Diskurs einzuhegen und zu verhindern, daß er zu den Informanten bzw. in
diesem Fall auch den journalistischen Gegnern der Informanten vordringt und von diesen für
eigene Zwecke verwendet wird. Hier ergeben sich für die ethnologische Forschung
unübersehbare Dilemmata, für die es keine Patentlösung gibt.
Kritik an der „Erfindung”
Praktische Folgen dieser Art haben sich allerdings auf die Beliebtheit des „invention”-Ansatzes
in der Ethnologie kaum ausgewirkt, und tatsächlich sind mehr oder weniger deutlich erfundene
ethnische und nationale Traditionen heute allgegenwärtig. Die typische sozialwissenschaftliche
Analyse weist eben diese Erfindung nach, was zumeist den Rückgriff auf historische Quellen
erfordert, und versucht dann die sozialen Kräfte und Motive aufzudecken, die hinter der
Erfindung stehen. Es gibt mittlerweile allerdings auch eine Reihe von ethnologischen Kritikern,
die finden, daß das nicht reicht (z. B. Briggs 1996, Tilley 1997). ▶▸Besonders scharf fällt hier
das Urteil des bekannten amerikanischen Ethnologen Marshall Sahlins aus (1999). Für ihn ist die
stereotype Anwendung des „invention of tradition”-Ansatzes schlichtweg funktionalistisch,
wenn sie sich mit der bloßen Feststellung begnügt, daß Erfindung vorliegt. Denn dies läßt sich
bei einer genügend langen zeitlichen Perspektive für so gut wie alles sagen. Zudem
vernachlässigt es den Inhalt der Traditionen, der nur mit ihren Verwendungszwecken nicht zu
erklären ist.
Als Fallbeispiel bringt er das Sumo-Ringen in Japan, das sich ja mit einem in vieler Hinsicht
traditionellen Gepräge umgibt. Der Schiedsrichter trägt ein shintoistisches Priestergewand, über
dem Erdring thront ein shintoistisches Schreindach, Salz wird zu rituellen Reinigungszwecken
geworfen usw. Und was Sahlins nicht erwähnt: Auch die Übergabe des Siegerpokals beim
Turnier in Osaka durch die dortige Präfekturgouverneurin ist von der Sumo-Vereinigung immer
wieder mit dem Argument blockiert worden, daß der Strohring heilig ist und daher von den aus
shintoistischer Sicht unreinen Frauen nicht betreten werden darf. Das wirkt in einem mit allen
Wassern des Kommerzes und der Korruption gewaschenen Profisport ziemlich vorgeschoben,
und tatsächlich, so wiederum Sahlins, ist viel von den heutigen Sumo-Sitten erst seit dem späten
19. Jh. entstanden. Die verwendeten Versatzstücke sind aber älteren Ursprungs, und Sahlins gibt
zu bedenken, daß es gerade die Vitalität von Kulturelementen ist, die sie für kreative
Neukombinationen anbietet, also gewissermaßen ihre ▶▸„inventiveness”, wie er es in Anspielung
auf „invention” formuliert. „… traditions”, so sagt er ▶▸ „are invented in the specific terms of the
people who construct them” (1999: 409), und diese „specific terms” sind mit der Feststellung,
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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daß Erfindung vorliegt, noch keineswegs erschöpfend ergründet.
Mir selbst ging es in meiner eigenen Feldforschung in Kyoto ähnlich. Bei der gegenwärtigen
Renaissance der traditionellen Stadthäuser und bei der Durchführung eines berühmten
Traditionsfestes habe ich viele der Vorhersagen des „invention”-Ansatzes nicht bestätigt
gefunden. Kollektive Identität spielt hier nur am Rande eine Rolle, und die Traditionen sind hier
eher eine auf kreative Weise zu gebrauchende und weiterzuentwickelnde Ressource als Objekt
ehrfurchtsvoller Verehrung. Zweifellos ist aber richtig, daß die Sicht der Vergangenheit in einer
Gesellschaft sozial konstruiert wird und daß für die Art und Weise dieser Konstruktion der
tatsächliche Verlauf der Geschichte nur ein Faktor unter vielen ist. Die „invention of tradition”Perspektive bleibt also wichtig für die ethnologische Forschung zur kulturellen Unterfütterung
von Ethnizität und Nationalismus, vor allem dann, wenn man nicht der Erwartung anhängt, daß
sie immer und überall zutrifft.
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Teil IX: Migration, Diaspora und
Transnationalismus
Internationale Migration
Im letzten Teil habe ich Ihnen geschildert, wie mit Ethnizität und Nationalismus zwei auf
Abgrenzung beruhende soziale Phänomene im Zeitalter der Globalisierung ihre Bedeutung
behalten. Für die Vorstellung einer schicksalsverbundenen Gemeinschaft bestehen mit den
modernen Massenmedien bessere Bedingungen denn je, und ebendiese Massenmedien
verbessern auch die Chancen, erfolgreiche Vorbilder in Form von anderen, ihre Ziele
erreichenden ethnischen und nationalen Bewegungen zu finden. Die Prominenz ethnischer und
nationaler Bewegungen ist damit kein Widerspruch zur vermeintlich alle Grenzen einreißenden
Globalisierung, sondern sie muß vielmehr als von ihr gefördert und sogar mitverursacht
angesehen werden.
Den ethnischen und nationalen Grenzen stehen aber überall Herausforderungen in Form
dessen gegenüber, was Appadurai ethnoscapes nennt. Die Menschen halten sich nicht an die
Grenzen, sondern überschreiten sie in ständig wachsender Zahl. Zum Teil sind diese
Grenzüberschreitungen zeitweiliger Art, etwa im Tourismus, bei Geschäftsreisen oder
Arbeitseinsätzen im Ausland. Zum Teil sind sie aber auch dauerhafter oder sogar endgültig, und
dann sprechen wir – wenn Landesgrenzen im Spiel sind – von internationaler Migration. Diese
ist zwar nicht die häufigste Form der Migration, denn Binnenmigranten und darunter besonders
Land-Stadt-Migranten sind in den letzten beiden Jahrhunderten weltweit um ein Vielfaches
zahlreicher gewesen. Aber die internationale Migration hat im Verhältnis zu ihrem Umfang die
tiefgreifendsten kulturellen Folgen.
In einer weltweiten Langzeitperspektive gesehen ist der Mensch Migrant oder doch zumindest
Nomade, denn wir alle sind ja afrikanischer Abstammung, und dauerhafte Seßhaftigkeit wurde
erst mit dem Ackerbau möglich bzw. nötig. Migrationen Einzelner oder ganzer Gruppen haben
aber auch die darauf folgende Menschheitsgeschichte bis zum heutigen Zeitpunkt geprägt;
denken Sie etwa an die Völkerwanderungen der Antike. Interkontinentale Migration setzt in
größerem Umfang mit dem kolonialen Zeitalter ein, in dem Europäer freiwillig und Afrikaner
unter Zwang erst nach Nord- und Südamerika, dann auch in andere Kontinente auswanderten. Im
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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19. Jh. waren es statt der Sklaven die indischen und chinesischen Kontraktarbeiter, die zu
Millionen in alle Welt emigrierten, und die europäische Auswanderung in die USA und in andere
außereuropäische Kolonien setzte sich ebenfalls in zweistelligen Millionenzahlen fort. Seit dem
Zweiten Weltkrieg haben sich die verschiedenen Migrationsströme noch einmal erweitert. Die
beliebtesten Ziele sind Nordamerika, die jetzt nicht mehr Menschen exportierende, sondern
importierende Europäische Union und Australien; daneben sind seit der Entdeckung der
Erdölvorkommen die Golfstaaten vor allem für asiatische Migranten ein wichtiges Ziel.
Wie kaum betont werden muß, ist internationale Migration längst nicht immer freiwillig,
sondern oft von Armut und Gewalt motiviert. Sie ist auch längst nicht immer offiziell: Jeder
größere westeuropäische Staat – von den USA ganz zu schweigen – beherbergt mehrere
Millionen von ▶▸sans papiers, d. h. illegalen Migranten, und regelmäßig lesen wir in der Zeitung
von neuen, häufig sehr riskanten und entsprechend verzweifelten Versuchen, Grenzzäune,
Meerengen und die von den Botschaften und Konsulaten errichteten bürokratischen Barrieren zu
überwinden, und den Bemühungen der Grenzschützer, dies zu unterbinden. ▶▸Da eine baldige
Angleichung der globalen Lebensbedingungen nicht zu erwarten ist, wird sich der
Migrationsdrang in naher Zukunft kaum ändern. Im Gegenteil werden die von jetzt an rasant
schrumpfenden Industriestaaten wie z. B. Deutschland auf Dauer wohl kaum umhin können, die
Immigration aktiv zu fördern.
Etwa 120 bis 150 Millionen Menschen, also 2 bis 2,5 Prozent der Weltbevölkerung, leben
heute außerhalb der Grenzen des Staates, in dem sie geboren sind (http://www.berlininstitut.org/pages/buehne/buehne_migr_muenz_internationalemigration.html). Das hört sich
nicht sehr viel an, doch bedenkt man, daß auch die Lebensumstände der Kinder und Enkel häufig
durch den Migrationshintergrund mitgeprägt werden, ist eine sehr viel größere Zahl betroffen.
Manche Staaten definieren sich über die Immigration, andere wie etwa der deutsche tun sich bis
hin zum eigenen Schaden schwer mit ihr, doch so gut wie kein Staat macht sie völlig unmöglich.
Im Umgang mit den Migranten haben die Nationalstaaten lange Zeit zwei hauptsächlichen
Strategien – oder besser vielleicht: zwei hauptsächlichen Fiktionen – angehangen. Zum einen ist
dies die Fiktion vom Gastarbeiter, der nach geleistetem Beitrag zum Bruttosozialprodukt nach
einigen Jahren wieder in sein Heimatland zurückkehrt. Die arabischen Golfstaaten etwa
praktizieren dies durch Begrenzung der Aufenthaltsdauern rigoros, doch bei uns ist mittlerweile
sehr deutlich geworden, daß die meisten Gastarbeiter dauerhaft bleiben. Zum anderen herrschte
lange Zeit die Fiktion vom melting pot, also der vor allem in Einwanderungsgesellschaften wie
den USA verbreiteten Annahme, daß die Migranten im Laufe der Zeit von selbst ihre
mitgebrachten ethnischen und nationalen Loyalitäten ablegen und sich als Bürger des neuen
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Nationalstaats identifizieren. Dies ist ja auch in der aktuellen Immigrationsdebatte bei uns die
konservative Wunschvorstellung. Bewahrheitet hat sie sich allerdings schon in den USA nur zum
Teil, wie die ethnisch segregierten Wohnviertel in vielen Städten oder die weiterhin geringe Zahl
der interethnischen Heiraten zeigen. Migranten bleiben oft generationenlang als besondere
Gruppen sichtbar, sei es aus eigenem Antrieb oder durch eine Sonderbehandlung seitens der
Alteingesessenen. Sie und die Deterritorialisierung, die sie verkörpern, sind damit die
deutlichste Herausforderung für ein ethnisch-nationales, also territorialisiertes Weltbild, in dem
intern homogene und extern klar abgegrenzte Gruppen ebenso klar abgegrenzte Territorien
bewohnen.
Ich werde Ihnen im weiteren den ethnologischen Forschungsstand und einzelne Fallstudien zu
den Themen Migration, Diaspora und Transnationalismus vorstellen. Da dies im Rahmen des
Globalisierungsthemas geschieht, werde ich mich dabei hauptsächlich auf die so geschaffenen
Verbindungen konzentrieren. Diese kann man beim Thema Migration auch ausklammern, etwa
indem man sich allein auf die Interaktion zwischen Migranten und Aufnahmegesellschaft
konzentriert
und
die
weiterhin
bestehenden
Beziehungen
der
Migranten
zur
Herkunftsgesellschaft außer Acht läßt. Die große Zahl solcher Studien werde ich nicht behandeln,
sondern stattdessen aufzeigen, wie Migranten als wichtige Vorreiter der Globalisierung die
Welten bzw. unterschiedliche Orte der einen Welt verbinden. Die Theoretisierung ist hier noch
nicht so weit fortgeschritten wie bei Nationalismus und Ethnizität, so daß ethnographische
Fallstudien im Vordergrund stehen werden.
Migration im Dorfleben Bangladeshs
Ein ethnographisches Fallbeispiel, das die besagten Verbindungen mustergültig offenlegt,
▶▸liefert die britische Ethnologin Katy Gardner von der University of Sussex mit ihren
Forschungen in Talukpur, einem Dorf in Bangladesh (Gardner 1993, 1995). (Gardner ist
übrigens auch als Romanautorin erfolgreich.)
Geschichte
▶▸Talukpur liegt in der Region ▶▸Sylhet im Nordosten des Landes, die eine Hochburg der
Emigration ist: Von den etwa 200.000 britischen Bangladeshis kommen mehr als 95 Prozent
hierher. Ein Grund dafür scheint zu sein, daß in dieser Region durch entsprechende koloniale
Verfügungen die Kleinbauern jeder ihr eigenes Landstück hatten. Dies hat den Sylhetis eine
besondere Arbeitsethik, ein ausgeprägtes Konkurrenzbewußtsein untereinander und eine
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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entschiedene Abneigung gegen die Arbeit auf fremden Land hinterlassen, womit Landarmen und
-losen sowie den Aufstiegswilligen wegen der geringen Größe der Landstücke nur die
Möglichkeit der Emigration blieb.
Schon im 19. Jh. heuerten die ersten sylhetischen Migranten auf britischen Schiffen an, nach
dem Zweiten Weltkrieg waren sie vornehmlich Industriearbeiter, und mit Nachlassen des
Bedarfs verlegten sie sich ab etwa 1970 auf Restaurants und Imbisse. Noch in den 1960er und
70er Jahren galten die Migrationen als temporär. Doch immer mehr der Migranten haben, vor
allem nachdem um 1970 die Bestimmungen strikter wurden und eine Entscheidung erzwangen,
ihre Familien nachgeholt und sich dauerhaft in Großbritannien niedergelassen. Dort gelten sie
zwar als unter den diversen Südasiaten eher arme Gruppe, doch hält Gardner dies für ein
Übergangsphänomen, da sie auch die jüngste Gruppe sind und wahrscheinlich noch aufholen
werden. Den Migranten aus Talukpur geht es außerdem besser als dem Durchschnitt der
Migranten aus Bangladesh, und ohnehin gilt daheim jeder, der es geschafft hat, ein ▶▸Londoni, d.
h. ein Migrant in Großbritannien, zu werden, als gemachter Mann. Entsprechend groß ist der
Drang, ebenfalls zu migrieren. Seit den 1970ern geschieht dies vornehmlich in die Golfstaaten
statt in das inzwischen verschlossene Großbritannien, zum Teil mit offizieller Arbeitserlaubnis,
zum Teil aber auch illegal und dann unter der Gefahr, von betrügerischen Schleppern um seine
Ersparnisse gebracht zu werden. In den 1990ern kamen dann Malaysia und Nordamerika als
neue Ziele hinzu.
Soziale Formen und Folgen
Die Migranten stammen nicht aus den ärmsten, aber auch nicht aus den wohlhabendsten
Familien Talukpurs, und vielen ist mit dem in der Fremde erarbeiteten Reichtum ein sozialer
Aufstieg gelungen. Die Migration bietet praktisch die einzige Möglichkeit dafür, und
entsprechend haben von 70 Haushalten nur 26 keine Migranten in ihren Reihen. Talukpur ist
dementsprechend ein vergleichsweise reiches Dorf, zwar zum Zeitpunkt der Feldforschung
immer noch ohne Strom und fließendes Wasser, aber mit vielen der begehrten Häuser aus Stein
und mit Landpreisen, die mittlerweile beim Drei- bis Vierfachen der in der Umgebung üblichen
Raten liegen und somit von der Kapitalkraft der Käufer zeugen.
Migration ist weniger eine Strategie der Individuen als ganzer Haushalte, die hauptsächlich
darüber entscheiden, wer wohin geht und wer daheim bleibt. Fast immer ist z. B. einer der Söhne
bzw. Brüder dafür zuständig, zurückzubleiben und die Felder für die anderen, abwesenden zu
bestellen. Auch die entfernteren Verwandtschaftsbeziehungen spielen eine wichtige Rolle, häufig
in Form von Patronage, bei der ein reicherer, oft selbst bereits erfolgreich migrierter Mann einem
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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ärmeren und jüngeren Verwandten Starthilfe gibt. Die selbst nicht oder nur als nachziehende
Ehepartner migrierenden Frauen stehen der Migration ambivalent gegenüber: Einerseits erzwingt
sie eine Monate oder gar Jahre währende Trennung von Ehemännern und Söhnen, andererseits
vergrößert sie die Autonomie der Frauen und über den Wohlstand auch allgemein die
Möglichkeiten des Haushaltes. Gardner zeigt allerdings durch die Detailpräsentation mehrerer
Haushalte, daß sich die sozialen Folgen kaum verallgemeinern lassen, da die Strategien der
einzelnen Haushalte sehr flexibel und entsprechend unterschiedlich sind. Und eine
flexibilisierende Wirkung haben sie auch auf die Sozialstruktur des Dorfes, denn dort werden die
früher recht starren Statusunterschiede zwischen den einzelnen Lineages durch den der
Migration entstammenden Reichtum überdeckt, und gerade die finanziell Erfolgreichen suchen
immer häufiger auch Heiratsallianzen mit Partnern aus anderen Dörfern.
Desh und bidesh
Die Migration nimmt einen zentralen Platz im Bewußtsein der Dorfgesellschaft ein. Die
kursierenden Bilder von London bzw. Großbritannien, dem Ausland (bidesh), sind
außerordentlich positiv: Alles ist dort schön und sauber, jeder ist reich und glücklich, und
niemand streitet sich. ▶▸„Bidesh is constructed as the source of all advancement, a life-force,
which if people could gain access to it, would transform their lives” (Gardner 1995: 273).
Britische Konsumgüter sind begehrt und gelten grundsätzlich als überlegen, so sehr man sich z.
B. bei Stoffen darüber streiten kann, ob sie es tatsächlich sind. Soziale Probleme und familiäre
Zerrüttung in der britischen Gesellschaft werden zwar durchaus wahrgenommen, doch der
Reichtum bleibt das hervorstechende Merkmal, und ein Leben in Großbritannien ohne viel
Berührung mit der britischen Mehrheitsgesellschaft ist ja auch durchaus möglich. Die
Idealisierung des bidesh erfolgt vor allem im Kontrast mit dem desh, also dem Land, je nach
Kontext das Land des eigenen Hofs, Talukpurs, Sylhets oder Bangladeshs. Diese Heimat ist von
politischer Unsicherheit, Wirtschaftsproblemen und Flutkatastrophen geprägt und läßt große
soziale Aufstiege nicht zu. Selbst die Reichsten wiederholen Gardner gegenüber immer wieder
das Pauschalurteil – „our country is poor”.
Bei aller Beschränkung durch das desh bestehen jedoch zwischen Person und desh enge und
durchaus positiv gesehene Beziehungen. Durch den Konsum des Wassers, der Anbauprodukte
und der Fische des desh wird man nach lokaler Vorstellung selbst ein Teil von diesem, und so
sind Lebensmittel aus der Heimat die wichtigsten Mitbringsel für die Migranten. Große
Anstrengungen werden außerdem unternommen, um sich im desh, und zwar bevorzugt auf dem
eigenen Grundstück, bestatten zu lassen. Die im desh bestatteten Toten laden das Land mit ihrer
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Kraft (▶▸sakti) auf. Dies betrifft nicht nur die eigenen Ahnen, sondern auch die muslimischen
Heiligen, die sogenannten ▶▸pir, die in dieser auch als Pilgerziel bekannten Region immer schon
besonders zahlreich waren. Auch die Lebenden haben Einfluß auf das desh, denn je frommer
seine Bewohner sind, desto fruchtbarer wird der Boden. Moralischer Verfall raubt diesem Boden
allerdings in jüngerer Zeit immer mehr von seiner Kraft, und materieller Wohlstand kann so
nicht mehr wie früher über das Land des desh, sondern nur noch über das bidesh erworben
werden.
Die Globalisierung des lokalen Islam
Die Migration wirkt sich auch in einer weiteren Hinsicht aus, nämlich auf die Religion. Die
Region Sylhet ist ein altes Zentrum des Sufismus, also des mystischen Islams, der statt der
Ausrichtung an den heiligen Texten den inneren Weg des Gläubigen zu Gott betont. Die bereits
erwähnten pir, also die Heiligen, sind Männer mit besonderem Charisma. An sie kann man sich
in Lebenskrisen wenden und ihre Fürbitte bei Gott erreichen, doch ist auch eine dauerhafte
Anhängerschaft möglich, bei der der pir der persönliche spirituelle Lehrer wird. Nicht wenige pir
praktizieren außerdem Meditations- und Ekstasetechniken, manche unter dem Einsatz von
Drogen wie Haschisch, wenn dies allerdings auch umstritten ist. Die Gräber der pir sind beliebte
Pilgerorte und geben der Region eine religiöse Topographie, die für ihre Bewohner sehr
wesentlich ist.
Diese ganzen volksreligiösen Ausformungen des Islam kommen jedoch immer mehr unter
Druck, teils wegen der globalisierungsbedingten Ausbreitung orthodoxerer Koranschulen, teils
aber auch wegen des direkten religiösen Einflusses der Migration in die Golfstaaten. Die
Arbeitsbedingungen dort sind viel stärker reglementiert als früher in Großbritannien, und
vielfach ist der Aufenthalt ohnehin illegal und durch die Angst vor Entdeckung und Deportation
geprägt. Doch die Nähe zu den heiligen Stätten des Islam hat eine spirituelle Qualität, die
Großbritannien fehlt, und Koranausgaben, arabische Gewänder und Fotos berühmter Moscheen
sind bei der Heimkehr beliebte Mitbringsel. Unter dem Einfluß der Nahostmigration beginnt sich
allmählich ein puristischerer Islam durchzusetzen, der sich stärker auf die heiligen Texte und auf
die rituelle Ausrichtung auf Mekka und Medina statt auf lokale Heiligengräber konzentriert. Dies
reformiert zum Teil auch die Position des pir, die jetzt immer häufiger durch den Typus des
Schriftgelehrten statt den des charismatischen Mystikers gefüllt wird. Allerdings bestehen die
mystischen Richtungen in reduzierter Form fort, und die pir als solche verlieren keineswegs an
Bedeutung. Im Gegenteil werden mehr Anstrengungen als früher unternommen, pir in den
eigenen Ahnenreihen zu entdecken und so an Status zu gewinnen. So erfolgt zwar einerseits ein
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Anschluß an internationale Standards, andererseits ergibt sich aber durch die Parallelität
mehrerer Traditionen eine Pluralisierung des Islam.
Mit einem einfachen Zentrum-Peripherie-Modell ist die Situation trotz aller Begeisterung für
Großbritannien nicht erfaßt, und „non-Western forms of globalization” (Gardner 1995: 275) sind
stattdessen ebenfalls einflußreich. Sylhet begibt sich außerdem nicht nur in Außenabhängigkeit,
auch weil die Leute weiterhin vielfach in Land investieren und es auch tatsächlich bebauen.
Zwar geht die Schere zwischen Reich und Arm weiter auf, aber auch den Ärmeren geht es
absolut gesehen besser, da die Reallöhne steigen und viele auch der Daheimbleibenden
finanzielle Unterstützung von migrierten Verwandten erhalten. Die in anderen Migrationsstudien
festgestellte Stagnation oder gar Degeneration des lokalen Lebens vermag Gardner demnach
nicht zu erkennen. Die weitere Entwicklung wird ihr zufolge sicherlich das bidesh durch den
Nachzug der Familienmitglieder, den Bau von Moscheen und die Entwicklung anderer ethnischreligiöser Infrastruktur für die Emgirierten immer stärker in ein neues desh transformieren. Für
die Ausgestaltung des alten desh bleiben aber trotz aller Geld- und Warenflüsse von außen
weiterhin die lokalen Konzepte leitend.
Tiefgreifende Wirkungen der Migration sind auch für viele andere Weltgegenden belegt, wo
zum Teil ebenfalls so gut wie jeder Haushalt Migranten unter seinen Mitgliedern hat. Besonders
intensiv beobachtet worden ist dies in Mexiko, wo la migra ebenfalls als Königsweg zu
Wohlstand und sozialem Aufstieg gilt. In Julia Paulis Feldforschungsdorf Pueblo Nuevo in
Zentralmexiko (mündliche Mitteilung) z. B. gibt es ebenfalls kaum Haushalte, die keine
Migranten in ihren Reihen haben, und in manchen Altersgruppen befinden sich mehr Männer
und auch Frauen in den USA als im Dorf. Der mit den jenseits der Grenze zehnfach höheren
Löhnen erwirtschaftete Wohlstand wird allerdings anders als in Talukpur bislang weniger in
produktive Ressourcen als in Konsum- und Statusgüter investiert, allen voran moderne Häuser,
die für jedermann sichtbar den eigenen Erfolg demonstrieren. Daß sich die grundsätzliche
Abhängigkeitsstruktur wandeln wird, ist damit für die nahe Zukunft nicht zu erwarten.
Diaspora
Bislang habe ich die Verhältnisse am Heimatort behandelt, doch sind natürlich auch die am
Migrationsort zu berücksichtigen. Und für diese hat in den letzten Jahren der Begriff „Diaspora”
in der Ethnologie und in anderen Sozial- und Geisteswissenschaften große Verbreitung gefunden
▶▸(Kokot 2002, Tedlock 1996). Diaspora ist ein altgriechisches Wort und leitet sich von
„aussäen, zerstreuen” ab (Kokot 2002: 97). Geprägt wurde es für die Situation der Juden, die
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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nach dem 70 n. Chr. fehlgeschlagenen Aufstand gegen die Fremdherrschaft der Römer und dem
Fall des Tempels in Jerusalem in alle Welt migrierten und dort räumlich weit zerstreute
Gemeinden bildeten, die aber den Kontakt miteinander durchaus hielten. Auch auf andere aus
politisch-religiösen Gründen versprengte und vertriebene Gruppen wie die Armenier oder die
französischen Hugenotten ist der Begriff angewandt worden, wie auch auf die schwarze
Diaspora der aus ihrer Heimat verschleppten afrikanischen Sklaven und ihrer Nachfahren. Ich
selbst kenne „Diaspora” zudem aus dem Religionsunterricht, und zwar als Bezeichnung für die
Situation der Katholiken in den Gebieten, wo sie wie etwa in Nord- oder Ostdeutschland in der
Minderheit sind. Mittlerweile hat der Begriff sich im wissenschaftlichen Diskurs aber vom
religiösen Kontext gelöst und wird breiter verwendet. Barbara Tedlock definiert ihn wie folgt
(Tedlock 1996: 341):
▶▸„Diasporas include those communities, migrant populations, ethnicities, or nations that,
although separated from their home terrains (either forcibly or voluntarily) and scattered among
other communities, imaginatively preserve and regenerate a set of distinctive cultural or ethnic
identities. Members of diasporic communities often feel that they are not fully accepted by their
host societies and regard their place of origin as their ideal home, to which they will someday
return when conditions improve. As a result, they directly or vicariously maintain solidarity with
their homeland and create a collective memory, or myth, about their historical achievements in
that place.”
Konstitutiv sind also erstens ein Minderheitendasein und zweitens der Bezug auf einen
gemeinsamen Ursprungs- und/oder Heimatort, der entfernt vom jetzigen Aufenthaltsort liegt und
an dem, so kann man Tedlock ergänzen, die Minderheit noch eine Mehrheit war. Die Juden etwa
hatten zwar schon Diasporaerfahrungen in Ägypten und in Babylon hinter sich, aber im Palästina
des Jahres 70 n. Chr. waren sie keine religiöse Minderheit. So breit verstanden, fällt sehr viel
unter Diaspora, neben den bereits gegebenen Beispielen auch Exilanten und Flüchtlinge sowie
Gastarbeiter, sans papiers und expatriates aller Art, also eigentlich so gut wie jeder, der in der
Fremde lebt.
Daß dies sehr unterschiedliche soziale Situationen einschließt, muß kaum betont werden. Die
Minderheitensituation legt z. B. eine Position der Machtlosigkeit nah, und dies trifft auf die
Migranten aus Talukpur in Großbritannien auch durchaus zu, aber nicht auf die von Robinson
beschriebenen ausländischen Manager der Nickelmine in Soroako. Und genausowenig
unterprivilegiert sind z. B. die Japaner in Düsseldorf, wo 7000 von ihnen mit einer entwickelten
Infrastruktur aus japanischen Läden, Restaurants, Hotels, Freizeitclubs, einer eigenen Industrieund Handelskammer, einer Schule und einem buddhistischen Tempel leben.
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Auch die Beziehung zum Heimat- bzw. Ursprungsland fällt sehr unterschiedlich aus. In der
japanischen Diasporagemeinde in Düsseldorf sind eigentlich nur die Institutionen dauerhaft; die
Angestellten in den japanischen Firmenniederlassungen dagegen wechseln beständig und kehren
nach drei oder fünf Jahren in die Heimat zurück. Die Tatsache, daß man in dieser Zeit aus dem
Spiel der Netzwerke in der Mutterfirma ausgeklammert war, ist meistens noch das größte
Wiedereingliederungsproblem. Für andere Diasporas ist der Weg in die Heimat jedoch durch
Krieg, Diktaturen, ethnische Säuberungen, Wirtschaftskrisen o. ä. versperrt. Auch ist der
Rückkehrwille unterschiedlich ausgeprägt. Mitunter ist das Ursprungsland nur noch ein rein
historischer Bezugspunkt: Die Juden in der vorzionistischen Phase, also vor dem Aufkommen
der Idee, in Palästina wieder einen jüdischen Staat zu gründen, liefern dafür ein Beispiel. Doch
auch wo eine Rückkehr nicht mehr beabsichtigt ist, schließt dies eine emotionale Anteilnahme
und Einflußnahmen aller Art nicht aus. Oft ist das Verhältnis zur Heimat äußerst ambivalent, wie
James Clifford hervorhebt (1994: 305). Dem offiziellen Rückkehrwillen kann die
uneingestandene Bevorzugung des Diasporalebens entgegenstehen, oder die Heimat enttäuscht
die idealisierenden Erwartungen, wenn sie denn tatsächlich aufgesucht wird. Für diese
Ambivalenz des Diasporadaseins werde ich Ihnen im folgenden ein ethnographisches
Fallbeispiel geben.
Die Diaspora der philippinischen Haushaltshilfen in
Hongkong
Zur 6,4 Millionen Menschen zählenden Bevölkerung der Weltstadt Hongkong gehörten in den
1990er Jahren auch 130.000 philippinische Haushaltshilfen, die größte nicht-chinesische
Minderheit der Stadt. Fast alle sind Frauen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren, und drei Viertel
von ihnen sind ledig. Ihre Präsenz ist dem Wirtschaftsboom in der Stadt geschuldet, denn die
Industrie und die ab den 1980er Jahren in den Vordergrund drängende Dienstleistungsbranche
hatten mit Arbeitskräftemangel zu kämpfen. So lag es nahe, auch die bisherigen Hausfrauen zu
Angestellten zu machen, doch deren Part zuhause mußte nun anderweitig erledigt werden. Heute
beschäftigen etwa 10 Prozent aller Haushalte bezahlte, mit im Haushalt wohnende Hilfen, und in
den oberen Einkommensgruppen tut dies sogar die Mehrheit. Die Filipinas erhalten in einer von
beiden Regierungen klar geregelten Weise über spezialisierte Vermittlungsagenturen Arbeitsvisa
als „overseas contract workers” (OCW). Diese gelten immer nur für zwei Jahre, sind aber
verlängerbar. Der durchschnittliche Aufenthalt liegt zwar bei unter vier Jahren, manche Frauen
sind aber auch schon seit mehr als einem Jahrzehnt da. Das Gehalt ist festgelegt und lag 1994 bei
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monatlich 480 US-Dollar, bei freier Kost und Logis. Für den durchschnittlichen
Arbeitgeberhaushalt ist dies kaum mehr als ein Zehntel des Einkommens, für die Frauen selbst
aber ein Vermögen, zehnmal mehr als der Verdienst von Haushaltshilfen auf den Philippinen
und sogar dortige Ärzte und Rechtsanwälte übertreffend.
Entsprechend und auch aufgrund der Tatsache, daß viele Einwohner Englisch können, ist die
Migration auf den Philippinen sehr verbreitet, wie Claudia Liebelt von der Universität HalleWittenberg hier in einem Vortrag vor zwei Jahren berichtet hat. Nicht weniger als 8 Millionen
Filipinos und Filipinas leben im Ausland, das entspricht einem Zehntel der Bevölkerung, und
Liebelt führte Verwandtschaftsnetzwerke vor, die sich auf drei oder mehr Zielstaaten
ausgebreitet haben, mit Haushaltshilfen in Israel, Matrosen in den USA und Krankenschwestern
in Großbritannien, die mit dem Telefon, in Chatrooms und per Skype miteinander Kontakt halten.
Der philippinische Staat sieht dies keineswegs als problematisch an, im Gegenteil bezeichnete
Ex-Präsidentin Corazon Aquino die Filipinas im Ausland einmal als „Heldinnen der Nation”,
denn ihre Rücksendungen leisten einen wesentlichen Beitrag zur philippinischen Wirtschaft.
Moralische Gefahren
Die amerikanische Ethnologin Nicole Constable von der University of Pittsburgh hat sich
basierend auf Feldforschung in den 1990er Jahren in einer Monographie und einigen Artikeln
mit dieser speziellen Diasporasituation auseinandergesetzt ▶▸(Constable 1997a, 1997b, 1999).
Einer der Artikel (Constable 1997b) befaßt sich mit der Ambivalenz der Hongkonger
Mehrheitsgesellschaft gegenüber den Filipinas. Daß die Haushaltshilfen einen unverzichtbaren
Beitrag zum Wirtschaftswunder der Stadt leisten, ist offenkundig, doch gedankt wird ihnen dies
im öffentlichen Diskurs nur selten. Zum einen liegt dies daran, daß viele der Filipinas die
Klassenverhältnisse in Frage stellen. Denn sie entstammen trotz ihres untergeordneten Status in
Hongkong oftmals der Mittelschicht, und zwei Drittel besitzen eine über den sekundären
Schulabschluß hinausgehende formale Bildung. Damit sind sie ihren Arbeitgebern oft ebenbürtig,
wenn nicht sogar überlegen.
Gewichtiger ist allerdings die Tatsache, daß die philippinischen Haushaltshilfen immer
wieder als Bedrohung der moralischen Ordnung dargestellt werden. Als Ausländerinnen werden
sie in den intimen Bereich des eigenen Heims aufgenommen und treten dort in eine potentielle
Konkurrenz zu den Ehefrauen, die früher selbst erledigte Aufgaben an sie abgeben. Daß sich
daraus eine ungebührliche Nähe zu den Kindern oder zum Ehemann ergibt, so daß die
Haushaltshilfe schließlich Ersatzmutter oder Geliebte wird, ist eine verbreitete Sorge. Diese
Ängste übertragen sich auch auf die Bewertung des Verhaltens der Haushaltshilfen im
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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öffentlichen Raum. ▶▸Dort sammeln sie sich an Sonn- und Feiertagen, wenn sie frei haben, zu
Tausenden auf bestimmten Straßen und Plätzen des Geschäftsviertels, offensichtlich fröhlich und
freundlich, vielfach schick zurechtgemacht, Alkohol trinkend, sich gegenseitig frisierend usw.
All dies findet hauptsächlich deshalb im öffentlichen Raum statt, weil keine anderen Orte für die
Zusammenkunft der Diaspora zur Verfügung stehen. Doch dieses Verhalten ist der chinesischen
Mehrheit suspekt und trägt zu dem verbreiteten Vorurteil bei, die Filipinas hätten lose Sitten und
seien nur auf Hongkonger Ehemänner aus, die ihnen aus der Armut ihrer Herkunftsorte
heraushelfen.
Tatsächlich plant aber die große Mehrheit der Frauen die Rückkehr auf die Philippinen, und
ein Viertel ist ja ohnehin bereits verheiratet oder hat sogar Kinder. Außerdem werden ihrem
Potential als Verführerinnen durch Verhaltensmaßregeln aller Art enge Grenzen gesetzt: Das
Tragen von zu knapper Kleidung, Schmuck und Parfüm während der Arbeit ist ihnen meist
ausdrücklich verboten. Stattdessen sind Jeans, T-Shirt und Tennisschuhe die standesgemäße
Bekleidung, und manche Arbeitgeberin geht als erstes mit der neuen Haushaltshilfe zum Friseur,
um ihr einen Kurzhaarschnitt zu verpassen. Auch an freien Tagen müssen sie abends schon um
acht oder neun wieder zuhause sein, auswärtige Übernachtungen sind nicht gestattet, und
Alkohol und Zigaretten sind ebenfalls tabu. Gerechtfertigt wird dies nicht selten mit der
vermeintlichen Ahnungslosigkeit der Hausmädchen, die vor den Gefahren der Großstadt
geschützt werden müssen. Faktisch ist die Gefahr von sexuellen Übergriffen durch die
Arbeitgeber größer, doch diese werden gewöhnlich dem provokativen Verhalten der
Haushaltshilfen zugeschrieben, und ihnen bleibt dann oft nur, von sich aus den Vertrag zu
kündigen. Interessanterweise übernehmen die Filipinas nicht selten selbst Teile des moralisch
besorgten Diskurses, mokieren sich über aufreizende Kleidung und grenzen sich von
Prostituierten ab, oft um zu verhindern, daß sie alle durch das Verhalten weniger in Mißkredit
geraten.
Constable sieht die öffentliche Sorge um die Sexualmoral der Haushaltshilfen nicht in
irgendwelchen realen Verhaltenstendenzen der Filipinas begründet: ▶▸„The sexuality of Filipina
domestic workers in Hong Kong is not an issue because they are highly sexed or lacking in selfcontrol but because they are foreign-Asian others with an ambiguous class identity, highly
visible, and intimately linked with changes occurring at the very core of Chinese households”
(Constable 1997b: 553). Letztendlich sind die Haushaltshilfen für die Ehefrauen leichter zu
kontrollieren als ihre Ehemänner, ihre Kinder und die Verhältnisse an ihren Arbeitsplätzen, und
so scheint sich so viel Aufmerksamkeit auf sie zu konzentrieren.
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Ambivalente Heimat
In einem zweiten Artikel (Constable 1999) behandelt Constable das Verhältnis der
Haushaltshilfen zu ihrer Heimat. Dieser Begriff ist für viele Hongkonger ja zwiespältig, denn
von einer britischen Kolonie ist die Stadt 1997 zu einer „Special Administrative Region” (SAR)
der Volksrepublik China geworden. Bekanntlich sind Hongkong für 50 Jahre die bisherigen
wirtschaftlichen und sonstigen Freiheiten garantiert, aber eine wirkliche politische Kontrolle
über ihre Stadt üben die Bürger genauso wenig aus wie vorher unter den Briten. Für manche ist
dies wie eine Art Exil in der eigenen Heimat, und eine Chinesin beneidet im Gespräch mit
Constable die Haushaltshilfen regelrecht: „[A]t least they have a home to go back to” (Constable
1999: 205), sagt sie ihr.
Dies ist allerdings bei näherem Hinsehen weniger klar, als man denken sollte, trotz der ja
immer nur zeitlich begrenzt und unter Auflagen erteilten Arbeitsvisa, deren Verlängerung
niemals garantiert ist. Constable analysiert die persönliche Situation von fünf der Frauen, die sie
besonders gut kennt, und hier gibt es breite Variation sowohl im Verhältnis zu Hongkong als
auch in dem zur philippinischen Heimat. Besonders hin- und hergerissen ist eine bereits über
vierzigjährige Frau, die sie ▶▸Acosta nennt und die 1993 bereits im fünfzehnten Jahr in
Hongkong arbeitet. Acosta ist verheiratet und hat zwei Kinder im Teenageralter; ihre Familie
lebt in den Philippinen. Die Trennung von ihrer Familie rechtfertigt sie wie auch andere
Haushaltshilfen mit dem vielen Geld, was sie dieser nach Hause schicken kann. Dies ist übrigens
auch für unverheiratete Frauen ein legitimer Grund zur Arbeitsmigration, denn die eigenen
Heiratschancen zugunsten des Wohlergehens der Eltern, Geschwister und Verwandten
hintanzustellen, gilt als ehrenwert. Acosta versichert Constable, daß der jetzige Vertrag ihr
letzter ist, denn ihre eigene Tochter schmiedet schon Pläne, selbst als Haushaltshilfe nach
Hongkong zu kommen, und dies ist das letzte, was sie (Acosta) sich für deren Zukunft erträumt
hat. Denn „I came here so she wouldn’t have to” (Constable 1999: 211), wie sie Constable sagt.
Vier Jahre später ist Acosta aber noch immer in Hongkong.
Für Constable ist offenkundig, daß Acosta trotz aller erklärten Rückkehrabsichten das Leben
in Hongkong genießt. Hier ist sie ihr eigener Herr, zumal sie es geschafft hat, nur der Form nach
in einem Haushalt angestellt zu sein. Tatsächlich verbringt sie dort nur einen Teil ihrer
Arbeitszeit, teilt sich mit anderen Filipinas eine eigene Wohnung und hat eine größere Zahl von
Teilzeitjobs, alles zwar gegen die Vorschriften, aber bislang unentdeckt und sehr zu ihrer
eigenen Zufriedenheit. Ihr professionelles Selbstbild drückt sie auch in ihrer Kleidung aus, wo
sie großen Wert auf Distanz zu der geschlechtslosen Jeans/T-Shirt/Tennisschuhe-Uniform legt,
die sie sogleich als Haushaltshilfe zu erkennen geben und bei ihrem job hopping auch die Gefahr
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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der Entdeckung vergrößern würde.
In die Philippinen bricht sie immer mit großer Vorfreude auf, aber bleibt sie länger als eine
Woche oder zehn Tage, fühlt sie sich ruhelos und gereizt. Dann wird sie unsicher, ob sie für
ihren Ehemann noch sexuell attraktiv ist, gleichzeitig irritiert sie jedoch, daß dieser immer so
genau wissen möchte, wo sie gerade hingeht. Sie beginnen dann, sich zu streiten, und das Leben
zu Hause bietet auch ansonsten nur wenig Attraktionen. Die Erleichterung, wieder nach
Hongkong zu kommen, ist ihr laut Constable deutlich anzumerken.
Andere Filipinas sagen Constable, daß Acosta einfach Angst vor der Rückkehr auf die
Philippinen hat und diese darum immer weiter herauszögert. Doch ist dies laut Constable nicht
die ganze Wahrheit, zumal Acosta es an Loyalität gegenüber ihrer Familie nicht fehlen und keine
Zweifel daran aufkommen läßt, daß sie zumindest irgendwann einmal zurückgehen wird.
Vielmehr ist bei ihr wie auch bei fast allen anderen Haushaltshilfen die eigene Anhänglichkeit
gegenüber Hongkong ein Tabuthema. Die Frauen reden nur äußerst widerstrebend darüber und
erinnern sich auch gegenseitig immer wieder daran, daß sie hier nur zum Geldverdienen sind,
überdies mit so profanen Dingen wie Kochen, Putzen und Waschen, und daß die Rückkehr das
große Ziel bleibt. Ambivalenz und Verwirrung darüber, wo denn nun tatsächlich das eigene
Zuhause liegt, scheinen keineswegs selten zu sein, doch wird dies von anderen Filipinas auf
persönliche Probleme der betreffenden Frauen mit untreuen Ehepartnern, feindseligen Kindern o.
ä. zurückgeführt. Daß das Leben in der Diaspora trotz aller Einschränkungen aufregender und
attraktiver ist als das Zuhause, wird hingegen nur ganz selten offen ausgesprochen; die Diaspora
muß also Diaspora bleiben.
Transnationalismus
Trotz aller Ambivalenz ist für die Filipinas klar, wo sie ihre Heimat und ihre historischen
Ursprünge verorten. Aber es gibt mittlerweile auch eine wachsende Zahl von Migranten, für die
zwei Orte gleichermaßen Heimat sind. Dieses Phänomen wird gerne als Transnationalismus
bezeichnet, und es zieht in der gegenwärtigen Ethnologie wachsende Aufmerksamkeit auf sich,
so daß kaum eine größere Fachkonferenz auf seine Behandlung verzichtet.
Transnationalismus (transnationalism) und vor allem das Adjektiv „transnational” heißt im
Wortsinn „die Nation übersteigend”, und häufig wird es mehr oder weniger synonym zu
„international” verwendet. Mitunter wird eine feine Unterscheidung vorgenommen, bei der
„international” das bezeichnet, was sich zwischen Nationen abspielt, z. B. bilaterale Verträge,
während „transnational” all jene Dinge und Vorgänge sind, die sich oberhalb der nationalen
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Einheiten entfalten, wie z. B. die Vereinten Nationen. ▶▸Mehr oder minder im Sinne von „die
Nation übersteigend” wird das Wort Transnationalismus mitunter auch in der Ethnologie
aufgefaßt (z. B. Inda 1996). Weitgehender Standard im Fach ist aber mittlerweile ein anderes
Verständnis, das in dem folgenden Zitat zum Ausdruck kommt. Es stammt von den drei
amerikanischen Ethnologinnen, die interessanterweise fast immer als Team schreibend am
meisten zu seiner Verbreitung beigetragen haben, nämlich Linda Basch, Nina Glick-Schiller, und
Cristina Szanton Blanc:
▶▸„We define ‚transnationalism’ as the processes by which immigrants forge and sustain
multi-stranded social relations that link together their societies of origin and settlement. We call
these processes transnationalism to emphasize that many immigrants today build social fields
that cross geographic, cultural, and political borders. … An essential element of transnationalism
is the multiplicity of involvements that transmigrants sustain in both home and host societies”
(Basch, Glick Schiller und Szanton Blanc 1993: 7).
Transnationalismus impliziert also doppelte Loyalitäten und Orientierungen, und viele
Nationalstaaten wie auch viele Nationalisten tun sich schwer, damit umzugehen. Schon die
Einführung einer sehr eingeschränkten doppelten Staatsbürgerschaftsregelung hat die deutsche
Politik ja bekanntlich über die Maßen gefordert. Doch reagieren längst nicht alle Nationalstaaten
genauso. Ich werde mit einem ausführlichen Fallbeispiel für gelebten Transnationalismus
beginnen und mich dann später der Frage zuwenden, ob denn Transnationalismus tatsächlich
eine Abkehr vom nationalen Denken bedeutet.
Karibisch-US-amerikanischer Transnationalismus
Ich bleibe bei dem erwähnten Buch von Basch, Glick-Schiller und Szanton Blanc. Von den drei
Autorinnen hat sich Linda Basch vornehmlich mit New Yorker Migranten beschäftigt, die aus
den beiden einander benachbarten karibischen Inselstaaten St. Vincent (eigentlich St. Vincent
und die Grenadinen) und Grenada stammen. ▶▸Diese gehören zu den sogenannten Inseln unter
dem Winde, die sich in einem Bogen von Puerto Rico zur venezolanischen Küste hinziehen, und
liegen nördlich von Trinidad und Tobago. Beide sind Zwergstaaten mit gerade einmal jeweils
100.000 Einwohnern auf jeweils einer Haupt- und vielen kleineren Inseln. Beide haben eine
vorwiegende schwarze, zum Teil auch indischstämmige Bevölkerung, die sich ihrer
Vergangenheit als kolonialen Plantageninseln verdankt. Grenada wurde 1983 weltbekannt, als
Ronald Reagan die Insel besetzen und ein linkes, per Staatsstreich an die Macht gekommenes
Regime stürzen ließ. Von dieser kurzzeitigen Prominenz abgesehen handelt es sich um im
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Weltsystem nur marginale Staaten, die mit Landwirtschaft, einem wachsenden Tourismus und
Entwicklungshilfe eher schlecht als recht über die Runden kommen. Es ist daher kein Wunder,
daß viele Insulaner migrieren, entweder auf andere karibische Inseln oder in anglophone Länder,
hauptsächlich die USA und Großbritannien.
Basch schildert als erstes eine 1984 stattfindende politische Versammlung im New Yorker
Stadtteil Brooklyn. Hauptredner ist ein ehemaliger kolonialer Verwaltungschef von Grenada, der
als Kandidat der Grenada National Party die anstehenden, von den Amerikanern angesetzten
Wahlen gewinnen möchte. Die Versammlung ist von einem New Yorker Grenadianer, einem
führenden Mitglied der lokalen Gemeinde und alten Freund des Kandidaten, organisiert worden
und findet in einem Saal statt, der einem anderen New Yorker Grenadianer gehört. Etwa 600
grenadianische Migranten aller Altersgruppen und sozialen Schichten hören dem Kandidaten zu
und befragen ihn hinterher zu den politischen Entwicklungen auf der Insel, etwa zum
zukünftigen Verhältnis zur (damals noch existierenden) Sowjetunion, Kuba und den USA, aber
auch zu Themen wie der wirtschaftlichen Lage und der von den Immobilieneigentümern im
Publikum befürchteten Enteignung von Land. Zum Abschluß werden Spenden gesammelt, und
die Versammelten werden aufgefordert, zum nächsten Karneval nach Grenada zu kommen und
so ihre Unterstützung für das Land zu zeigen.
Basch et al. zufolge manifestieren sich hier eine ganze Reihe von Verbindungen, die die
grenadianischen Migranten mit ihrer Heimat unterhalten. Von den damals 90.000 Einwohnern
der Insel, so wird auf der Versammlung gesagt, sind nur 32.000 Erwachsene; dagegen leben
60.000 Erwachsene grenadianischer Herkunft in Nordamerika. Vielfach haben sie Land, Häuser
und Unternehmen auf der Heimatinsel; vielfach leben ihre Kinder dort, betreut von
zurückgebliebenen Verwandten. Doch genauso sind viele der Zuhörer in New York zuhause, wo
sie zum Teil schon seit Jahrzehnten leben, Immobilien besitzen und sich am sozialen Leben
intensiv beteiligen. Nicht wenige – der Organisator der Versammlung eingeschlossen – besitzen
außerdem die US-amerikanische Staatsbürgerschaft, und auch der Kandidat selbst war lange
Jahre im Ausland gewesen. Keinen der Beteiligten scheint dies aber an der Überzeugung zu
hindern, daß sie alle weiterhin Bürger des grenadianischen Nationalstaats sind und sich daher
guten Gewissens versammeln und um die Zukunft des Landes Gedanken machen dürfen.
Historische Ursprünge
Die Emigration von den zuletzt durch die Briten kolonial ausgebeuteten Inseln hat eine lange
Geschichte und begann bereits nach der Abschaffung der Sklaverei 1838. Auf den anderen
karibischen Inseln sowie in Mittelamerika und den USA verrichteten die Vincentianer und
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Grenadianer überwiegend körperliche Arbeiten, zum Teil aber auch bürokratische Aufgaben.
Schon zwischen 1888 und 1911 war mehr als ein Viertel der Bewohner von St. Vincent schon
einmal emigriert. Den wirtschaftlichen Perspektiven auf den Inseln war die Abwesenheit der
Arbeitskräfte nicht zuträglich, so daß schließlich sogar die britische Kolonialverwaltung die
Emigration ermutigte und organisierte. Schon allein da die Arbeitsbedingungen und die soziale
Sicherung in den Zielländern häufig zu wünschen übrig ließ und Einbrüche in den jeweiligen
Produktionszweigen Massenentlassungen nach sich zogen, machte es für die Migranten Sinn, das
angesparte Geld zurückzuschicken, die verwandtschaftlichen und anderen sozialen Netzwerke in
der Heimat zu pflegen und dort Häuser und Land zu erwerben, um für den Tag der Rückkehr
gewappnet zu sein.
In die USA migrierten die West Indians, d. h. die Bewohner St. Vincents, Grenadas und der
damaligen britischen Kolonien in der Karibik und Britisch-Guayanas, erstmals zwischen 1900
und 1930 in größerem Stil. Da sie meist besser ausgebildet waren als die schwarzen USAmerikaner, waren sie in der verhältnismäßig kleinen schwarzen Mittelschicht der Freiberufler
und Unternehmer zwar überrepräsentiert, aber innerhalb der großen und damals stark
wachsenden schwarzen Bevölkerung der Städte im Norden noch kaum als eigenständige Kraft
sichtbar. Wie diese schwarze Mehrheitsbevölkerung erfuhren auch die West Indians die ganze
Härte der Rassendiskriminierung, so daß nur wenige von ihnen die US-Staatsbürgerschaft
suchten und sie vielmehr ganz auf die schlußendliche Rückkehr auf ihre Heimatinseln
ausgerichtet blieben.
Aufkommen und Formen
Ab den 1960er Jahren gab es einen neuen Migrationsschub, bedingt auch durch politische
Unsicherheiten auf beiden Inseln sowie die weiterhin begrenzten Möglichkeiten der
wirtschaftlichen Entwicklung und nicht zuletzt auch der Schulausbildung. Nun änderten sich die
Vorzeichen, denn die West Indians, von denen mittlerweile allein in New York eine
Viertelmillion lebt, machten sich nun stärker sichtbar. Bestimmte Stadtviertel, besonders in
Brooklyn, sind von ihnen dominiert, und Reggae, Calypso, Steel Band Music und karibische
Küche treten bei vielen öffentlichen Gelegenheiten in den Vordergrund. Doch hat dies die
Bindungen in die Heimat nicht abreißen lassen, so daß ein beträchtlicher Anteil der Vincentianer
und Grenadianer Transmigranten (transmigrants) sind, das Wort von Basch und ihren KoAutorinnen für Migranten mit transnationaler Orientierung.
Doch darüber hinaus und ungeachtet aller sentimentalen Anhänglichkeiten ist der
Transnationalismus laut Basch auch durch die in den USA fortbestehenden Klassen- und
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Rassenschranken motiviert, die eine wirklich gleichberechtigte Teilhabe nicht erlauben. Dies
bekommen vor allem die erfolgreicheren Migranten zu spüren, deren sozialer Aufstieg
irgendwann auf für sie frustrierende Grenzen stößt. Daher bestand die Mehrheit der von Basch
und ihrem Team 1982-85 befragten Grenadianer und Vincentianer aus Transmigranten.
Mindestens die Hälfte besaß Immobilien auf den Heimatinseln, schickte regelmäßig Geld und
Güter zurück und hatte in den letzten fünf Jahren Heimatbesuche gemacht. Viele hatten zudem in
landwirtschaftliche Projekte, Transportunternehmen, Läden, Hotels u. ä. investiert, und nicht
wenige engagierten sich in der Politik des Heimatlandes, bis hin zu Wahlkampfreisen dorthin.
Häufig sind es die Familien, die sich transnational ausbreiten. Basch schildert den Fall einer
jungen Vincentianerin namens Mavis, die 1970 mit 23 Jahren mit einem Studentenvisum und der
Anschubfinanzierung einer Tante in die USA kommt und sich mit einer Reihe von Jobs illegal
über Wasser hält, während sie ihre Ausbildung vervollständigt. Der ersehnten green card – der
dauerhafte Aufenthaltserlaubnis – kommt sie dadurch aber nicht näher, so daß sie sich
schließlich zu einer Beschäftigung als Vollzeithausmädchen durchringt. Tatsächlich erhält sie so
1981 die Aufenthaltserlaubnis. Mit ihren Rücküberweisungen trägt sie in der gesamten Zeit
erheblich zum Bau des Familienhauses in St. Vincent bei. Ihre drei Brüder – alle
Automechaniker und daher ohne Einwanderungschancen in die USA – emigrierten zur gleichen
Zeit nach Trinidad, wo es ebenfalls Verwandte und in der damals aufblühenden Ölindustrie
reichlich Arbeit gab. Von dort können sie allerdings mangels gesicherten Aufenthaltsstatus nicht
mehr nach Hause fahren, ohne ihre Rückkehrmöglichkeiten zu gefährden, was vor allem für
einen von ihnen, der Ehefrau und drei Kinder in St. Vincent hat, sehr schmerzlich ist.
Diese Ehefrau, die zunächst noch in St. Vincent als Sekretärin arbeitet, emigriert schließlich
ihrerseits zu Mavis nach New York, ebenfalls mit dem Vorhaben, als Haushaltshilfe die green
card zu bekommen und dann ihren Ehemann und die drei Kinder nachzuholen. Einstweilen
bleiben diese bei ihrer Schwiegermutter, also Mavis’ Mutter, für die sich Mavis im Rahmen des
Familiennachzugs ebenfalls um eine green card bemüht. Die Familie verteilt sich also auf drei
Länder, unterstützt sich gegenseitig finanziell, versorgt die Kinder der Abwesenden und hält mit
Briefen und Telefonaten den Kontakt miteinander aufrecht, mit dem Ziel, irgendwann einmal mit
ausreichenden Ressourcen wieder in St. Vincent vereinigt zu sein. Oder wie Basch es formuliert:
▶▸„The family is the matrix from which a complexely layered transnational social life is
constructed and elaborated” (Basch, Glick Schiller und Szanton Blanc 1993: 79).
Zur Unterstützung dieser und ähnlicher transnationaler Familienstrategien hat sich in den
USA eine Infrastruktur entwickelt, die ihrerseits zu einem guten Teil in den Händen von
Migranten liegt. Die New Yorker Migranten kaufen vor Heimfahrten die auf den Inseln
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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benötigten Waren ein, und umgekehrt gibt es eine wachsende Zahl von Läden und Restaurants
mit Gütern aus der Heimat. Import-Export-Firmen besorgen die nötigen Transporte. Calypsound andere Musiker treten kaum seltener in New York als auf den Inseln auf, und eigene
Zeitungen und Zeitschriften versorgen die West Indians mit Nachrichten aus ihrer Heimat. Viele
Transmigranten bewegen sich in so großer Häufigkeit zwischen New York und der Karibik hin
und her, daß Basch mitunter gar nicht mehr weiß, wo sie sie zuletzt getroffen hat.
Transnationale Organisationen und Identität
Der Transnationalismus der Vincentianer und Grenadianer ergibt sich nicht nur aus
individuellem Handeln, sondern hat seit etwa Mitte der 1970er Jahre auch eine institutionelle
Basis. Gerade in New York haben sich in großer Zahl freiwillige Vereinigungen aller Art
gegründet, etwa Freizeitclubs, Sportvereine, Frauengruppen, Berufsverbände u. ä., und diese
bemühen sich – anders als man es früher von Migrantenvereinigungen dachte – nicht nur um die
Erleichterung der Eingliederung in die Zielgesellschaft, sondern ebenso auch um die
Aufrechterhaltung der Beziehungen zur Heimat und um aktive Gestaltung derselben.
Schon in der ersten Immigrationsphase Anfang des 20. Jhs. beteiligten sich Vincentianer und
Grenadianer an sozialen und politischen Aktivitäten aller Art. Allerdings sahen sie sich selbst –
und andere sahen sie – als bloßen Teil der schwarzen Bevölkerungsgruppe, und von einem
eigentlichen Transnationalismus und auch von einem Einfluß dieses Transnationalismus auf die
politischen Aktivitäten konnte zu dieser Zeit noch keine Rede sein. Explizit transnationale
Organisationen traten erst ab den 1960er Jahren auf den Plan. Zusehends wurden die
Heimatinseln nun nicht mehr nur Rückzugsgebiet und Rückkehrziel, sondern auch eine Arena
für das aktive eigene Engagement schon vor einer Rückkehr. Und sie wurden auch zu einer
Quelle der positiven Identifizierung, gerade nach der in Grenada 1974 und in St. Vincent 1979
erreichten Unabhängigkeit. Schon vorher war es vielen der West Indians darum zu tun, sich von
den gewöhnlichen Afroamerikanern abzugrenzen, die ihnen hinsichtlich der Ausbildung und des
wirtschaftlichen Erfolges oft unterlegen waren. Doch ging dies nur mit dem Bezug auf die
koloniale Heimat, z. B. durch selbstveranstaltete Feste zur britischen Königskrönung, was
natürlich eine ambivalente, da den Kolonialismus in gewisser Weise anerkennende Strategie ist..
Insofern ist der heutige Status der eigenen Herkunftsinseln als unabhängige Nationen
vorteilhafter und hat auch eine größere Aufmerksamkeit für die eigene Kultur bewirkt. Eine
Stufe über der vincentianischen und grenadianischen Identität hat sich aber auch eine West
Indian-Identität etabliert und spielt in der New Yorker Stadtpolitik als eigene Wählergruppe und
als Basis für alle möglichen Organisationen eine wachsende Rolle.
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
Die
Regierungen
der
Heimatinseln
begegnen
der
Migrationsfreude
183
und
dem
Transnationalismus ihrer Staatsvölker mit großer Flexibilität. Wie Basch und ihre KoAutorinnen es ausdrücken: ▶▸„At issue in both St. Vincent and Grenada were the loyalty and
allegiance of the transmigrants, their political access in the United States, … their economic
support and remittances, and their political influence with relatives and friends back at home –
not their return” (Basch, Glick Schiller und Szanton Blanc 1993: 126-127). Beide Staaten boten
allen Migranten nach der Unabhängigkeit die Staatsbürgerschaft an, ganz gleich, welche
Staatsbürgerschaften sonst erworben worden waren und sogar dann, wenn sie als US-Bürger in
der amerikanischen Armee gedient hatten. Dies schloß das volle Wahlrecht ein, allerdings unter
der Auflage, für die Registrierung eine gewisse Zeit auf der Insel zu verbringen. Beide Staaten
ernannten Emigranten mit amerikanischer Staatsbürgerschaft zu ihren Botschaftern in den USA;
kurioserweise bedurfte dies daher der Zustimmung der amerikanischen Behörden, die diese aber
nicht verweigerten. Und der Organisator der eingangs beschriebenen Wahlkampfveranstaltung
wurde nach dem Wahlsieg des unterstützten Kandidaten St. Vincents Botschafter bei der UN,
obwohl er die Insel, die er vertreten sollte, seit über vierzig Jahren nicht mehr betreten hatte.
Sogar der Karneval sowohl auf St. Vincent als auch auf Grenada wurde vom traditionellen
Termin in die Sommerferien verschoben, so daß ihn die Transmigranten und ihre Kinder leichter
besuchen können.
Basch stellt bei ihren Interviews auf den Heimatinseln fest, daß vielfach Neid auf die
Emigranten existiert und diesen die Fähigkeit abgesprochen wird, die Verhältnisse auf den Inseln
richtig einzuschätzen. Umgekehrt finden manche der New Yorker Transmigranten, daß die
beständig um ihre Aufmerksamkeit buhlenden Politiker von den Inseln wesentlich mehr Wert
auf ihre finanzielle Unterstützung legen als auf ihre guten Ratschläge. Trotzdem ergibt sich so
eine Konstruktion von der Nation als einem Staatsvolk, nicht als einem Territorium, und den
Angehörigen des Staatsvolkes wird die Möglichkeit zur Beteiligung gegeben, ohne daß
irgendjemand Rückkehrpflichten formuliert.
Für mich ist klar, daß sich hier Strukturen verfestigt haben, die den Transnationalismus zu
einer dauerhaften Erscheinungsform machen. Solange die beteiligten Nationalstaaten ihre Politik
nicht grundsätzlich ändern – und gerade St. Vincent und Grenada dürften schon angesichts ihrer
Staatsfinanzen daran kein Interesse haben –, werden auch weiterhin viele der West Indians in
gleich zwei Nationalstaaten ihr Zuhause sehen und sich in deren Belange einmischen, ohne daß
dies als Loyalitätskonflikt begriffen wird. Vielmehr ist hier an getrennten geographischen Orten
ein verbundener sozialer Raum entstanden, bei dem die hin- und herfließenden Ströme von Geld,
Waren, Menschen und Informationen die gar nicht so geringe räumliche Distanz zu überbrücken
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
184
vermögen.
Transnationalismus und Nationalstaaten
Die beiden Ko-Autorinnen des Buches, Glick-Schiller und Szanton Blanc, bringen weitere Fälle
von transnationalen Migrantengemeinden in den USA ein, Glick-Schiller den der Haitianer und
Szanton Blanc den der Filipinos und Filipinas. Die Formen gleichen sich, und auch hier spielen
selbstgegründete Organisationen eine große Rolle, und die Umarmung durch politische Kräfte
im Mutterland ist nicht weniger herzlich. Deutlich wird hier, daß gesichertere Aufenthaltsrechte
durch green cards oder Staatsbürgerschaften eine wichtige Voraussetzung bilden. Erst bei einer
solchen permissiven, am ehesten noch in klassischen Einwanderungsländern wie den USA oder
Australien zu findenden Haltung erhalten Migranten wirkliches politisches Gewicht. Gleichzeitig
darf die Umarmung aber auch nicht zu groß werden: In Trinidad etwa, wohin ebenfalls viele
Vincentianer und Grenadianer migrieren, werden sie einfach von der afroamerikanischen
Bevölkerungsschicht aufgesogen und in deren soziale und politische Organisationen integriert.
Der ethnisch-kulturelle Abstand scheint hier zu gering, und der US-amerikanische Rassismus als
Motivator für die eigene Abgrenzung gegenüber den „gewöhnlichen” Afroamerikanern fehlt.
Eine weitere Voraussetzung für Transnationalismus ist eine ähnlich permissive Politik der
Herkunftsländer. Die bisher genannten Ausgangsstaaten sind alle entweder klein und/oder
wirtschaftlich schwach, zumindest im Vergleich zu den euroamerikanischen Industrieländern.
Dies kann für sie die Motivation sein, die durch Transmigranten zu erwartenden finanziellen
Rücksendungen und sonstigen Vorteile, wie etwa den Erwerb auch in der Heimat nutzbarer
Kenntnisse und Fertigkeiten, über ihre eigenen nationalen Geltungsansprüche und Eifersüchte zu
stellen.
Wenn jedoch all diese günstigen Bedingungen zutreffen, ist dann der Transnationalismus in
der Lage, den Nationalstaat aufzuweichen oder gleich ganz aufzulösen, und sind Transmigranten
die Vorreiter eines kommenden postnationalen Zeitalters? ▶▸Die dänische Ethnologin Karen Fog
Olwig von der Universität Kopenhagen deutet dies für einen weiteren karibischen Zwergstaat an,
nämlich das seit seit 1983 unabhängige St. Kitts und Nevis mit seinen gerade einmal 50.000
Einwohnern, wo sie auf der Insel Nevis Feldforschung gemacht hat (Olwig 1993). Hier ist die
Emigrationsrate unter allen ehemaligen Commonwealth-Staaten am höchsten, und es entspinnen
sich ähnlich transnationale Verhältnisse wie bei den Fällen St. Vincents und Grenadas. Olwig
sieht hier die Migrationserfahrung als geradezu konstitutiv für die nationale Identität an und
spricht von einem deterritorialisierten Nationalstaat:
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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▶▸„ … Nevisians have been involved in the construction of a sense of nation which is being
associated with the geographical entity of Nevis. This form of identity is not rooted in the new
nation-state of St. Kitts-Nevis … It is closely related to the global community, the most
significant framework of the form of life of Nevisians, and it is within the transnational discourse
of this community that the national is becoming an important folk model … The fact that the
Nevisian community is constituted as a deterritorialized one, both historically and today,
signifies an important departure from the territorially based idea of the nation-state” (Olwig
1993: 374).
Die transnationale Nation in Eritrea
▶▸Victoria Bernal von der University of California in Irvine schildert allerdings einen etwas
anders gelagerten Fall (Bernal 2004, 2005). Das ostafrikanische Land Eritrea ist erst seit einem
Referendum im Jahr 1993 unabhängig. Vorher stand es bis 1941 unter italienischer
Kolonialherrschaft, war dann britisches Protektorat und ging 1952 auf Betreiben der UN eine
Föderation mit Äthiopien ein. Der große Nachbar annektierte Eritrea aber entgegen der
Abmachungen 1962 als Provinz, woran sich in bis 1991 dauernder blutiger Bürgerkrieg anschloß.
1998 brach erneut ein Krieg über den Grenzverlauf aus, der wiederum Tod und Vertreibung
brachte und 2000 mit einem seither von der UN überwachten Waffenstillstand endete. Globale
Faktoren wie die europäischen Kolonialmächte, die Frontstellung des Kalten Krieges und der
internationalen Waffenhandel spielten bei alledem eine große Rolle.
Laut UNICEF-Schätzungen ist einer von drei Eritreern, d. h. über eine Million Menschen,
während der Kriegsjahre aus dem Land geflüchtet. Das größte Kontingent ging in den
benachbarten Sudan, wo die Lebensbedingungen am schwierigsten sind, vielen anderen Eritreern
gelang aber auch die Aufnahme in den Golfstaaten oder die Erlangung von Asyl oder auch die
illegale Einreise nach Europa oder Nordamerika. Die zweitgrößte Eritreergemeinde findet sich in
den USA und wird auf 50.000 bis 75.000 Menschen geschätzt. Wie sonst häufig auch sind es
nicht die ärmsten der Armen, denen die Flucht gelungen ist, sondern eher Angehörige der
Mittelschicht. Auf ihre Karriere in den USA, die oftmals über einfache Beschäftigungen nicht
hinausführt, hat ihre zum Teil gute Schulbildung aber nur wenig Einfluß. Deutlich ist
Transnationalismus hier nicht wie im karibischen Fall eine bereitwillig gesuchte Chance,
sondern aus einer vor allem in der Anfangszeit von Trennung und Entfremdung geprägten
Diasporasituation entstanden..
Die Auslandseritreer spielten für den Befreiungskrieg nicht nur durch die von ihnen
gesammelten Spenden, sondern auch durch ihre Medien- und Public-Relations-Aktivitäten eine
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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große Rolle. Der Krieg schweißte sie außerdem zusammen, ließ die internen ethnischen und
religiösen Unterschiede in den Hintergrund rücken und stärkte die emotionale Bindung an die
Heimat. Dies gilt laut Bernal nicht minder auch für diejenigen Eritreer, die gar keine
Rückkehrabsichten mehr hegen und sich auch nicht um zurückgebliebene Verwandte sorgen
müssen. Internet-Foren machen ebenfalls deutlich, daß Eritrea den Fokus ihrer Diskussion bildet,
nicht die Verhältnisse in den Migrationsländern. Und Geld wurde während der Kriege auch
keineswegs für humanitäre Zwecke gesammelt, sondern zur Finanzierung des bewaffneten
Kampfes in der Heimat.
Der eritreische Staat hat sich der transnationalen Diaspora gegenüber erkenntlich gezeigt,
indem er von Anfang an ein sehr inklusives ius sanguinis praktiziert hat: Jedes Kind einer
Eritreerin oder eines Eritreers ist selbst eine/r, ganz gleich, wo es geboren wurde und seitdem
gelebt hat. Exilanten waren an der verfassungsgebenden Versammlung beteiligt, konnten bereits
beim Unabhängigkeitsreferendum mitstimmen und wurden in der Folge für wichtige
Regierungsämter rekrutiert.
Bernal fragt sich, warum die Nation auch unter diesen transnationalen Bedingungen ihre
Attraktivität behält, und ihre Antwort lautet wie folgt: ▶▸„Nationhood is valued by Eritreans, not
because a nation constitutes a community unto itself but, on the contrary, precisely because the
nation is a key actor in the global arena” (Bernal 2004: 14). Benedict Andersons
Nationalismustheorie konzentriert sich laut Bernal auf die interne Imagination der Gemeinschaft,
aber im Fall Eritreas war es gerade die globale Bühne, die den Kontext für die Imagination
lieferte und in einem Zeitalter der eigentlich sakrosankten nationalen Grenzen von der
Legimitität des neuen eritreischen Staates überzeugt werden mußte. Sie schlußfolgert:
▶▸„Globalization and transnationalism have not replaced nationalism but have opened up new
spaces in which nationalisms can be expressed, contested, and transformed” (Bernal 2004: 20).
Dies gilt nach meiner Einschätzung bei näherer Betrachtung auch für St. Vincent und
Grenada. Hier sind ebenfalls auch diejenigen, die gar nicht mehr zurückkehren wollen, auf den
Nationalstaat stolz.. Die nationale Imagination findet in einem transnationalen sozialen Feld und
in einem globalen Kontext anderer Nationalstaaten statt, die sowohl als Gegenüber der
Abgrenzung in einem Barth’schen Sinne als auch als konkrete, in die Geschicke der neuen
Nationalstaaten
eingreifende
Akteure
auftreten.
Eine
dauerhafte
Abwesenheit
der
Transmigranten vom Herkunftsstaat ist zwar kein Zugehörigkeitshindernis mehr. Aber nach wie
vor ist die nationale Zugehörigkeit keine Angelegenheit der freien individuellen Wahl, sondern
setzt zumindest die Abstammung von irgendjemand, der tatsächlich einmal in den Grenzen des
nationalen Territoriums gelebt hat, voraus. Im Zusammenhang mit Transnationalismus einen
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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völlig neuen Nationalismus oder gar das Ende des Nationalstaates zu verkünden, erscheint mir
daher verfrüht.
Das Verhältnis von Diaspora und Transnationalismus
Diaspora
und
Transnationalismus
sind
nicht
dasselbe,
wie
▶▸Waltraud
Kokot,
Ethnologieprofessorin an der Universität Hamburg und ehemalige Kölner Kollegin, in einer
Standortbestimmung betont (Kokot 2002). Dabei greift sie auf die ethnographischen Arbeiten
zweier ihrer Doktorandinnen, nämlich von Astrid Wonneberger zur irischen Diaspora in den
USA und von Susanne Schwalgin zur armenischen Diaspora in Griechenland, zurück. Kokot
stellt einen Trend in der akademischen Debatte zu Diaspora und Transnationalismus fest, diese
Phänomene mit einer gewissen Erdferne zu behandeln, wenn nicht sogar regelrecht zu feiern,
nämlich als Überwindung enger lokaler oder nationaler Bezüge und als Manifestationen des
Multikulturalismus und der Hybridität. Nicht wenige dieser Beiträge entstammen den Cultural
Studies; nicht selten beschreiben die Autoren ihren eigenen Identitätsstrukturen; ebenfalls nicht
selten aber fehlen empirische Belege aus gründlicher ethnographischer Feldforschung.
Kokot konstatiert demgegenüber, daß das Leben in vielen Diasporagemeinschaften längst
nicht nur auf das Herkunfts- bzw. Heimatland ausgerichtet ist. Die nach dem türkischen Genozid
an den Armeniern 1915 sehr stark gewachsenen armenischen Gemeinden in den großen
griechischen Städten z. B. sind zwar eine klassische Händlerdiaspora, in der die meisten
Mitglieder in diesem Wirtschaftsbereich tätig bleiben. Die wirtschaftlichen Strategien und
sozialen Beziehungen sind aber überwiegend lokal geprägt. Eine transnationale Komponente
bringen vor allem die unterschiedlichen Loyalitäten zu armenischen Parteien hinein. Manche
ihrer Führer vertreten ein Ideal der „reinen” armenischen Identität und Kultur, die eine
eindeutige territoriale Zugehörigkeit verlangt. Und gerade diese politischen Führer oder auch die
religiösen Amtsträger leben tatsächlich transnational, in institutionellen Netzwerken, die sie
sowohl in der Diaspora als auch in Armenien verankern. Für die gewöhnlichen Mitglieder der
Diasporagemeinschaft gilt dies aber in weit geringerem Maße, und während in der ersten und
zweiten Generation noch transnationale Netzwerkbeziehungen zu Verwandten und Freunden
existieren, verlieren diese in der dritten Generation stark an Bedeutung.
Ähnliches gilt auch für irische Migranten in den USA. Hierbei handelt es sich um eine relativ
neue Diaspora, denn lange Zeit waren die Irish Americans der klassische Fall einer assimilierten
Gruppe, die ihr Diasporadasein also erst entdecken mußte. Auch hier beteiligen sich einige
Personen sehr stark, und gerade junge Iren aus dem Mutterland nutzen die Möglichkeit, die
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ihnen
die
US-amerikanischen
Diasporakontakte
bieten,
so
daß
man
für
188
sie
von
Transnationalismus sprechen kann. Für viele irischstämmige US-Amerikaner dagegen ist das
Thema bloß marginal und – so kann man wohl ergänzen – weitgehend auf die Umzüge am St.
Patrick’s Day und auf die Überrepräsentierung in manchen Berufen wie etwa Polizei und
Feuerwehr beschränkt.
Kokot plädiert daher für eine klare Trennung der beiden Begriffe. Diasporagemeinschaften
können in ihrem Alltag ausgesprochen lokal ausgerichtet sein, und längst nicht jedes unter ihren
Mitgliedern entscheidet sich tatsächlich für einen transnationalen Lebensstil. Wie diese
Entscheidung ausfällt, hängt außerdem auch von der sozialen Position ab: Das, was Eliten in
punkto Transnationalität vorleben, muß keineswegs der Realität aller Akteure entsprechen.
Multilokale Feldforschung
Zum Schluß möchte ich noch auf die methodischen Konsequenzen der ethnologischen
Beschäftigung mit Migration, Diaspora und Transnationalismus eingehen. Das Hauptschlagwort
hat hier ▶▸George Marcus von der Rice University mit der „multi-sited ethnography”, also der
multilokalen Ethnographie, geprägt (Marcus 1995). In seinem Überblicksartikel von 1995
bezeichnet er die Konzentration auf einen einzigen Feldforschungsort als die nach wie vor
dominante ethnographische Herangehensweise an die kulturellen Folgen der Globalisierung.
Aber ▶▸„the other, much less common mode of ethnographic research self-consciously
embedded in a world system … moves out from the single sites and local situations … to
examine the circulation of cultural meanings, objects, and identities in diffuse time-space”
(Marcus 1995: 96). Wie er weiter über diese Herangehensweise sagt, ▶▸„it is the cultural
formation, produced in several different locales, rather than the condition of a particular set of
subjects that is the object of study” (Marcus 1995: 99). Diese Vorgaben und das Stichwort
„multi-sited ethnography” sind bereitwillig aufgegriffen worden, vor allem in der
Transnationalismusforschung, wobei gerade diese allerdings gar keine so große Rolle im Aufsatz
spielt.
Multilokale Feldforschung spielte in den behandelten ethnographischen Untersuchungen eine
wichtige Rolle. Baschs Forschungsteam führte Interviews in New York, aber genauso auch in St.
Vincent und Grenada. Bernal besuchte Eritrea drei Mal und bewegt sich, nachdem sie bereits in
den 1970er Jahren eritreische Immigranten in Europa kennengelernt hat, seit zwanzig Jahren am
Rande der eritreischen Diaspora in der Region Chicago. Sie hat Eritreer in Kanada, Deutschland,
England, Italien, dem Sudan, Tansania und Äthiopien besucht und weitere, die in Saudi-Arabien,
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Schweden und den Niederlanden leben, bei deren Besuchen in den USA oder Eritrea gesprochen.
Und sie hat die transnationale, vollkommen ortsentbundene Diskussion auf den eritreischen
Websites verfolgt (Bernal 2004: 6). Meine Kollegin Ulrike Wesch hat ebenfalls zunächst unter
den Acholi in Uganda geforscht, setzt dies gegenwärtig aber in London fort, wo es eine große
Acholi-Diaspora mit deutlich transnationalen Zügen gibt.
Solche Forschungsstrategien brechen die klassische Methode der Fokussierung auf einen
einzigen, in all seiner Tiefe ergründeten Ort auf. Es ist vielmehr das soziale Netzwerk, das nun
ins Zentrum rückt. Letztendlich ändert sich damit weniger, als man vielleicht denken sollte, denn
bei weniger mobilen Zeitgenossen fällt das soziale Netzwerk ja mit dem Ort zusammen, so daß
man als Feldforscher eigentlich immer Netzwerke untersucht hat. Waltraud Kokot formuliert es
folgendermaßen: „Längere Aufenthalte an einem Ort sind nach wie vor eine entscheidende
Voraussetzung für das Verstehen kulturspezifischer Vorstellungen und Praktiken. Die besondere
Bedeutung von Lokalität für Identitätsprozesse in der Diaspora erschließt sich jedoch erst durch
eine Feldforschungspraxis, die zwar nicht im wörtlichen Sinne ‚mobil’ ist, aber mehr als einen
Ort einbezieht” (Kokot 2002: 106). Daran, die Bewegungen der Informanten nachzuvollziehen,
wird man sich in der ethnographischen Forschung somit sicherlich gewöhnen müssen.
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Teil X: Die Globalisierung der Religion
Einleitung
In der heutigen Sitzung möchte ich mich einem kulturellen Teilbereich zuwenden, der zwar
schon verschiedentlich zur Sprache gekommen ist, aber durchaus eine eigenständige Behandlung
verdient, nämlich der Religion. Würde man eine „radikal diffusionistische” Sicht der Dinge im
Hannerz’schen Sinne teilen, so könnte man vermuten, daß die Globalisierung die Religion
zurückdrängt. Denn so wie westliche Produkte und Konzepte in dieser Sichtweise alles andere
beiseite schieben, so könnte auch für den westlichen Säkularismus gelten, daß er Überzeugungen,
die sich auf das Übernatürliche beziehen, an Bedeutung verlieren läßt und/oder in den Raum des
Privaten abdrängt. Das läßt sich jedoch nicht bestätigen. Vielmehr findet genauso wie eine
Globalisierung der Konsumgüter, des Fernsehens oder des Konzepts von der Nation auch eine
Globalisierung der Religion statt.
Dies hat mehrere Gründe. Erstens nehmen die Menschen ihre Religionen mit: Migranten, ob
transnational oder nicht, sowie Diasporabewohner praktizieren häufig die Glaubensformen ihrer
Herkunftskultur weiter, und so finden wir in den Weltstädten Kirchen aller möglichen
christlichen Denominationen, Moscheen, Synagogen, hinduistische oder buddhistische Tempel,
Candomblé-Kulträume sowie Orte für die Ausübung vieler anderer Religionen sowie die
entsprechenden Priester, Heiler, Schamanen und anderen Praktiker. Zweitens reisen Religionen
aber durchaus auch unabhängig, und dies ist eine der ältesten und folgenreichsten Formen der
Globalisierung überhaupt. Schon lange bevor die ersten portugiesischen Schiffe auf
Entdeckungsfahrt gingen, hatten sich Christentum, Islam und Buddhismus in Gegenden
ausgebreitet, die viele Tausend Kilometer von ihren Ursprungsorten entfernt liegen, und dies nur
selten durch Massenmigrationen oder Eroberungen mit Zwangsbekehrungen. Im Fall des
Christentums geschah dies unter einem gemeinsamen organisatorischen Dach und auch bei
anderen Religionen mit einer geteilten religiösen Geographie. Diese besteht bis heute und sorgt
dafür, daß Rom, Santiago de Compostela, Jerusalem, Mekka und Medina oder Varanasi/Benares
zentrale Orte ihres jeweils eigenen globalen Systems sind und Millionen dazu bringen, sie als
Pilger zu besuchen und sich dabei als Teil einer religiösen imagined community im Sinne
Andersons zu erfahren.
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Drittens fällt mit Religionen das, was Appadurai Indigenisierung und Hannerz Kreolisierung
nennt, besonders leicht. Schon lange vor Einführung dieser Schlagwörter und auch lange vor der
Erfindung der Ethnologie ist im 16. Jh. von Erasmus von Rotterdam das Wort „Synkretismus”
geprägt worden. Für ihn war dies die Aufnahme fremdreligiöser Elemente in das Christentum,
Ethnologen bezeichnen so aber die Verschmelzung verschiedener Religionen, ganz gleich ob
christlich oder nicht (Schmidt 1999). Und viertens schließlich gilt auch für die „religioscapes”,
die in Appadurais Liste der „-scapes” fehlen, zusehends die disjuncture/Entkopplung von den
anderen „-scapes” und den durch sie begründeten Kräfteverhältnissen. Daher breitet sich nicht
mehr wie noch während der kolonialzeitlichen Mission hauptsächlich die Religion des Zentrums
des Weltsystems, d. h. das Christentum, in die Peripherie aus, sondern außereuropäische
Religionen sind in vormals christlichen Gesellschaften auf dem Vormarsch, zum Teil wiederum
in synkretistischer Verschmelzung verschiedener spiritueller Quellen wie etwa unter New-AgeAnhängern.
Ich bin bei diesem breiten Thema nicht in der Lage, ihnen eine einfache Zusammenfassung zu
geben.
Stattdessen
präsentiere
ich
ihnen
einige
ethnographische
Fallbeispiele
des
Zusammenwirkens von Religion und Globalisierung. Ich habe bewußt solche ausgesucht, die
auch mit anderen Aspekten der Globalisierung, wie etwa Konsumgütern, Medien und dem
Konzept der Nation, in Zusammenhang stehen, so daß sich also Querbezüge mit dem bereits
Gehörten ergeben werden.
Cargo-Kulte in Melanesien
Zur populären Vorstellung vom Westen, der in der Globalisierung die kulturelle Weltherrschaft
übernimmt, paßt wohl am besten ein Phänomen, das in keinem Lehrbuch der Ethnologie fehlt,
nämlich die Cargo-Kulte Melanesiens, d. h. Papua-Neuguineas und der angrenzenden Inseln.
Einige Hundert Fälle sind in der ethnographischen Literatur beschrieben worden. Der
prototypische Cargo-Kult entspinnt sich in einer kolonialen Situation und verarbeitet die
Beobachtung, daß die reichen und technologisch überlegenen Kolonialherren ohne
offensichtliches eigenes Zutun immer wieder begehrenswerte Konsumgüter geliefert bekommen,
die sie aber mit den Melanesiern nicht zu teilen gewillt sind. Ein einheimischer Cargo-Prophet
erhält nun die Nachricht, daß die eigenen Ahnen, die Amerikaner oder andere Außenseiter das
Kommen einer großen Fracht (cargo) von westlichen Konsumgütern und/oder von Geld in
Aussicht gestellt haben. Dieses cargo wird mit dem Schiff oder dem Flugzeug eintreffen und ist
für die Einheimischen gedacht, manchmal wird sogar ein konkretes Datum vorhergesagt.
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Mitunter wird sogar behauptet, daß die Lieferung bereits erfolgt, aber nicht ihre Adressaten
erreicht, da die Kolonialherren sich das cargo unrechtmäßigerweise selbst aneignen. Doch wenn
die einheimische Gesellschaft soziale Harmonie herstellt und Konflikte, Hexerei u. ä. überwindet,
wird die Fracht schließlich zu ihren Adressaten finden. Mitunter wird zusätzlich die
Revitalisierung bestimmter traditioneller Praktiken gefordert, wie etwa von Tänzen oder dem
Kava-Trinken, mitunter steht aber im Gegenteil gerade die Aufgabe traditioneller Praktiken und
die Übernahme westlicher Kultur im Vordergrund, etwa durch den Bau von Landebahnen,
Docks oder Lagerhäusern für das cargo oder durch militärisches Exerzieren im westlichen Stil.
Besonders dann, wenn sie mit der Ablehnung von cash-crop-Produktion und Lohnarbeit in
der kolonialen Wirtschaft oder sogar mit offener Feindseligkeit gegenüber den Weißen
verbunden waren, erregten die Cargo-Rituale die Besorgnis der Kolonialverwaltungen und der
diversen christlichen Missionare. Anfangs wurden die Kulte daher bekämpft, gewöhnlich durch
Inhaftierung ihrer Anführer, ab den späten 1950er Jahren setzte sich aber als Leitlinie durch, die
Anführer für die eigenen Zwecke einzuspannen. Manche Cargo-Kulte überdauern bis heute,
mitunter in politische Parteien transformiert, und weiterhin ist das Verhältnis zu den
Regierungen der nun unabhängigen Staaten meist nicht ganz frei von Spannungen.
„Vailala Madness”
▶▸Ein sehr frühes Fallbeispiel bietet die sogenannte „Vailala Madness”, die 1919 unter den
westlichen Elema der Gulf Division des australischen Mandatsgebietes – bis kurz zuvor noch
deutsche Kolonie – ausbrach (Cochrane 1970: 1-63, Worsley 1957: 75-92). Im Gegensatz zum
damals noch weitgehend unbekannten Inland waren diese Küstenbewohner bereits länger vom
kolonialen System erfaßt worden, und katholische und protestantische Missionare hatten erste
Bekehrungserfolge. Die traditionelle Kultur und auch die Position der Big Men, die sich vor
allem durch Führungskraft im Krieg qualifizierten, geriet durch diese Entwicklungen und die
Pazifizierung zunehmend unter Druck, denn die Europäer erwiesen sich in allen Belangen –
Wirtschaft, Militär, Medizin etc. – als überlegen. Was zu wünschen übrig ließ, war allerdings
ihre Bereitschaft, mit den Elema die reziproken Tauschbeziehungen einzugehen, die in der
traditionellen Gesellschaft eine zentrale Rolle spielten. Hinzu kam, daß die Elema 1918 zum
kommerziellen Anbau von Reis und Kokosnüssen gezwungen wurden und jetzt Steuern zahlen
mußten.
1919 begannen einige der Elema zu verkünden, daß ihnen die Geister ihrer Ahnen erschienen
seien und die Güter der Weißen als rechtmäßiges Eigentum der Elema bezeichnet hatten, das
diese bald auch erhalten würden, da die Vertreibung der Kolonialherren bevorstand. Außerdem
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würde ein Schiff mit den Geistern der Ahnen an Bord kommen, beladen mit Tabak, Stoffen,
Messern, Äxten, Nahrungsmitteln und anderem cargo. Mitunter wurde angenommen, daß die
Ahnen selbst eine weiße Hautfarbe hatten. Die Propheten wurden in der damaligen Verkehrsund heutigen Amtssprache, dem ▶▸Tok Pisin, als „head-he-go-round men” bezeichnet, da sie ihre
Prophezeiungen in einem Trancezustand machten. Der Kult errichtete seine eigene Hierarchie
von Big Men, die zum Teil auch aktiv missionierten und sich dorfübergreifend organisierten. Sie
pflegten in eigens errichteten, nur ihnen zugänglichen Gebäuden den Kontakt mit den Toten. Sie
verkündeten außerdem eine in Teilen puritanische Lebensweise, die Sauberkeit betonte und
Diebstahl, Ehebruch und Ungehorsam streng verfolgte. Besonders die Bestattungsrituale wurden
aufwendig gefeiert, da ja die Totengeister eine zentrale Rolle bei der Beschaffung des cargo
hatten. Westliche Kulturelemente wurden außerdem eingearbeitet: So hießen die nur den Big
Men zugänglichen Gebäude auch „office”, Fahnenmasten wurden errichtet, die dem Kontakt zu
den Totengeistern dienten, und es wurden Exerzierübungen durchgeführt und Tänze durch
Trillerpfeifensignale gestoppt und wieder aufgenommen. Die Anweisungen der Ahnen wurden
zum Teil in einer unverständlichen Sprache verkündet, die als djaman bezeichnet wurde,
interessanterweise die Sprache der gerade vertriebenen deutschen Kolonialherren des
nordöstlichen Teils von Neuguinea, die ja Kriegsgegner der neuen Herrscher gewesen waren.
Zudem wurden Tische in westlichem Stil gedeckt und mit Blumen dekoriert, an denen dann die
in westlichem Stil gekleideten Honoratioren des Kultes Platz nahmen und bewegungslos
verharrten, statt sich – wie von den Kolonialherren gewünscht – produktiv zu betätigen.
Die „Vailala Madness” breitete sich in den 1920er Jahren aus, auch auf andere Ethnien, und
da die Anführer zum Teil zur Verweigerung der Lohnarbeit aufriefen, sahen sich
Kolonialverwaltung und Missionen zu ihrer Bekämpfung veranlaßt, was durch Inhaftierung der
Anführer, Strafzahlungen u. ä. erfolgte. Erst 1931 erlosch die Bewegung, nicht ohne allerdings in
den folgenden Jahren einen legendären Status zu genießen, demzufolge viele der damals
gemachten Prophezeiungen tatsächlich eingetroffen waren und es sich also um eine Zeit der
Wunder gehandelt hatte.
Die Dekonstruktion des „Cargo-Kultes”
„Vailala Madness” war interessanterweise nicht nur eine der ersten Cargo-Kulte nach heutiger
Definition, sondern wurde auch als Sammelbezeichnung für ähnliche Bewegungen verwendet,
also als der terminologische Vorläufer des heutigen „cargo cult”. Von „cargo” ist in den
Berichten über die Elema und anderen solcher Bewegungen zwar durchaus die Rede, „cargo
cult” taucht aber erst 1945 in der Presse auf, allerdings zu einem Zeitpunkt, wo er sich in der
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kolonialen Alltagssprache bereits etabliert hatte (Hermann 1992: 68-69, Lindstrom 1993: 15-40).
Die Ethnologie griff ihn alsbald auf und lieferte ab den 1950er Jahren reichhaltige
ethnographische Beschreibungen einzelner Cargo-Kulte. ▶▸Laut Lindstrom (Lindstrom 1996)
stellt ein Strang der Literatur die Verbindungen der Kulte zu anderen ▶▸millenaristischen
Bewegungen weltweit heraus. („Millenaristisch” bezieht sich auf das Millenium, das kommende
Tausendjährige Reich Gottes, und wird allgemein zur Bezeichnung religiöser Bewegungen
benutzt, die eine solche Erwartung beinhalten.) Cargo-Kulte entstehen demnach wie diese in
Reaktion auf schnellen Kulturwandel und koloniale Unterjochung und geben ihren Anhängern
Erklärungen und Handlungsmöglichkeiten für die eigene unbefriedigende Lebenssituation. Ein
anderer Strang der Literatur betont die Verbindungen zum melanesischen kulturellen
Hintergrund, in dem schon immer der Austausch von wertvollen Gütern eine große Rolle
gespielt hatte – denken sie etwa an den von Malinowski beschriebenen Kula-Ringtausch der
Trobriander (Malinowski 1922). Und auch im Fallbeispiel der „Vailala Madness” wird ja längst
nicht alles erneuert; die alten Big Men etwa werden vielmehr durch neue, religiös ausgewiesene
Big Men ersetzt, nicht etwa durch eine tatsächlich egalitäre Sozialordnung.
Seit den 1980er Jahren aber wird die ethnologische Skepsis gegenüber dem Konzept immer
größer. Zusehends ist herausgearbeitet worden, daß das Etikett „Cargo-Kult” mit geringer
Sensibilität für die Details auf eine große Zahl von religiösen Bewegungen aufgeklebt worden ist,
die teilweise nur sehr am Rande auf den Erwerb westlicher Güter zielen und sich stattdessen
politische oder ethnische Ziele setzen. „Cargo cult” bzw. auf ▶▸Tok Pisin kago kalt wird auch
zusehends in Melanesien selbst als eine stigmatisierende Bezeichnung aufgefaßt. ▶▸In einem
Artikel berichtet die Göttinger Ethnologin Elfriede Hermann dies für die Bewohner von ▶▸SorYabilol in der papua-neuguineanischen Provinz Madang (Hermann 1992). Das Dorf ist der
Geburtsort von ▶▸Yali, dem Begründer der Yali-Bewegung, eines zum ethnographischen
Klassiker avancierten Cargo-Kultes ▶▸ (Lawrence 1964). Yali selbst arbeitete im kolonialen
Dienst, erst als boy, d. h. als Diener, später als Polizist und im Zweiten Weltkrieg als Soldat auf
Seiten der Australier, und betätigte sich dann als Cargo-Prophet, mit solchem Erfolg, daß ihn die
Kolonialverwaltung vor Gericht brachte und zu fünf Jahren Haft verurteilte. Nach seiner
Freilassung 1955 wurde er erneut zur Leitfigur einer religiösen Bewegung und blieb dies bis zu
seinem Tod 1975.
Die Sor spalten Yalis Wirken in zwei historische Phasen, die vor seiner Haftstrafe und die
danach. Die erstere reduzieren sie sehr stark auf seine auch im Sinne der Kolonialverwaltung und
des heutigen papua-neuguineanischen Staates konstruktiven Lehren, etwa seine Aufforderung,
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sich in der kolonialen Wirtschaft zu betätigen, die formale Schulbildung zu suchen, bewaffnete
Konflikte und Hexerei zu unterlassen und respektable und hygienische Häuser und Toiletten zu
errichten. Nach der Haftstrafe war Yali jedoch in der Erinnerung der Sor ein gebrochener Mann,
und die nun zunehmend bizarren Züge seiner Lehren schreiben sie dem Einfluß von außerhalb
gekommener Anhänger zu. Ein kago kalt, darauf bestehen sie jedoch nachdrücklich und im
Widerspruch zum Lawrence-Buch, daß sie in seiner Tok Pisin-Übersetzung gelesen haben, ist
die Yali-Bewegung niemals gewesen, und schon gar nicht unter den Sor. Denn keiner von ihnen
ist naiv genug zu glauben, daß einem bloßes Dasitzen und Warten Reichtümer bringen kann,
sagen sie.
Hermann zufolge zeigt dies, daß die Sor einen emischen Begriff kago kalt zugrundelegen, der
dem ethnologischen gar nicht entspricht, denn in den meisten in der Fachliteratur beschriebenen
Fällen muß von den Kultanhängern durchaus etwas getan werden, um an das cargo zu kommen.
Für sie manifestiert sich hier, daß „cargo cult” eben kein ausschließlich ethnologisches Wort,
sondern außerhalb der Wissenschaft geprägt und von Anfang an in abwertender Absicht
verwendet worden ist. Und diese abwertende Sichtweise, die sich bis heute unter der Elite des
neuen Nationalstaats hält, teilen die Sor und wünschen darum nicht, mit kago kalt in Verbindung
gebracht zu werden. Ob eine wissenschaftliche Verwendung des Begriffs „cargo cult” vor
diesem Hintergrund noch sinnvoll ist, ist sicherlich eine gute Frage, die gegenwärtig intensiv
diskutiert wird.
Der Kult der Mami Wata in Westafrika
Westliche Konsumgüter spielen auch in meinem zweiten Fallbeispiel eine gewichtige Rolle, und
wiederum handelt es sich um eine Verarbeitung der globalen Bezüge, die die Kolonialisierung
geschaffen hat. Es handelt sich um den Kult der Wassergöttin Mami Wata – eine Pidgin-Version
von „mammy water”, also „Mutter Wasser” –, der in ganz Westafrika verbreitet und mittlerweile
auch in Zentral- und Südafrika und auch in diversen Migrations-Zielländern auf dem Vormarsch
ist. ▶▸Die ethnographischen Details entnehme ich einer Monographie von Tobias Wendl,
Ethnologe an der Universität Bayreuth und Leiter des dortigen Iwalewa-Hauses (Wendl 1991).
Ihm zufolge ist Mami Wata heute in mindestens 18 afrikanischen Ländern zwischen Senegal und
Tansania bekannt, ein Verbreitungsgebiet, das „in der schwarzafrikanischen Religions- und
Kulturgeschichte ohne Beispiel” ist (Wendl 1991: 10).
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Merkmale der Mami Wata
Mami Wata ist eine ambivalente Figur. ▶▸Sie wird als schöne, meist weiße Frau mit langem,
nicht seltem blonden Haar imaginiert, oft mit einem Fischschwanz ausgestattet, ganz wie eine
Sirene oder Nixe, da sie im Meer lebt. Sie vereint dabei Aspekte alter Wasser- und
Schlangengeister mit den Zügen einer modernen Europäerin, denn auch die Europäer kamen
übers Meer und werden daher in vielen afrikanischen Mythen als im Meer lebend beschrieben.
Mami Wata kann ihre Anhänger mit in ihre Unterwasserwelt nehmen, dort mit Reichtümern
beschenken, ihnen übernatürliche Fähigkeiten verleihen und sogar ihre Geliebte werden, der man
ein eigenes Bett einrichtet, aber sie ist auch kapriziös, schnell beleidigt und dann in der Lage,
schlimmstes Unheil anzurichten. Manchmal besteht ein regelrechter Teufelspakt, etwa wenn wie
z. B. bei den Ibibio in Nigeria die Überzeugung herrscht, daß diejenigen, die sich mit Mami
Wata einlassen, Reichtum, Macht und Schönheit gewinnen, aber keine Kinder mehr bekommen
können.
Mitunter kursieren nur Erzählungen über Mami Wata, oder sie ist eine Maskenfigur, aber wo
innerhalb des Verbreitungsgebietes der Mami-Wata-Vorstellungen ihr gewidmete Kulte mit
eigenen Priestern existieren, verläuft die Rekrutierung häufig wie eine klassische
Schamanenkrankheit: Die zukünftigen Adepten erkranken plötzlich physisch und/oder psychisch,
und niemand außer einem Mami-Wata-Priester, der sie die richtigen Formen der Verehrung lehrt,
kann ihnen helfen. Da Mami Wata ein moderner Geist ist, ist ihre Hilfe häufig bei modernen
Problemen wie z. B. Schul- und Universitätsprüfungen, Jobsuche oder Autokauf wirksam und
kann über diese Priester erlangt werden.
Die Gallionsfiguren an europäischen Schiffen, die andere Autoren als Quelle für das Bild der
Mami Wata ausgemacht haben, verwirft Wendl, denn sie stellten tatsächlich nur äußerst selten
Nixen oder Sirenen dar. Einflußreicher war aber das Plakat einer Schlangenbeschwörerin, die in
einer der berüchtigten „Völkerschauen” der Familie Hagenbeck auftrat; dieses Plakat hat die
Darstellungen
in
vielen
westafrikanischen
Ländern
beeinflußt.
Die
Schlangen,
die
weitgeöffneten Augen, die fliegenden Haare, die laut Wendl den Eindruck einer
Unterwasserszene aufkommen lassen, und vor allem die Tatsache, daß keine Beine zu sehen sind
und der Fischschwanz damit nicht ausgeschlossen ist, fügten sich in die bereits kursierenden
Vorstellungen. Und dank der europäischen Herkunft des Plakats wurde die Dargestellte auch als
Europäerin gedeutet, ein ironisches Faktum, denn eine Europäerin hätte in den Völkerschauen
keinen Platz gehabt. Stattdessen stammte das Modell des Plakats, von dem außerdem noch eine
▶▸Fotografie existiert, vermutlich aus Samoa.
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Mami Wata bei den Ewe und Mina
Wendl hat eine 12monatige Feldforschung bei den Ewe und Mina, zwei kulturell eng
verwandten Gruppen im Grenzgebiet von Togo und Ghana, durchgeführt, in deren Zentrum der
dortige Mami-Wata-Kult stand. In den einheimischen Vorstellungen existiert eine Vielzahl von
Geistern, von denen manche zu Clans oder anderen sozialen Einheiten gehören und durch deren
Angehörige verehrt werden, manche wie eben auch Mami Wata aber auch an Individuen
gebunden sind. Unter diesen Geistern sind Naturmächte, Tiergeister, potentiell bedrohliche Tote
und Angehörige fremder Kulturen oder Subkulturen. Jeder der Geister hat ein unverwechselbares
eigenes Profil, eine „Referenzkultur”, wie Wendl es nennt, und muß entsprechend dieser seiner
Vorlieben und Abneigungen behandelt werden, wenn man eine gedeihliche Beziehung mit ihm
pflegen möchte.
Mami Wata kommt hier in vielen Spezialformen vor, die als miteinander in einer
Verwandtschaftsbeziehung stehend aufgefaßt werden, etwa als ▶▸Mami Apuke, die dem Vorbild
einer Parfümflasche von Dralle entspringt, oder als Mami Densu, die auf ein gedrucktes
indisches Götterbild, das vermutlich Shiva darstellt, zurückgeht. Überhaupt werden christliche
Heilige und Engel sowie hinduistische Götter in den Mami-Wata-Kult integriert, wo sie einfach
nur einen neuen Clannamen erhalten, so daß es auch ▶▸Mami Gabriel, Mami Jesuvi oder Mami
Vishnu gibt und diese entsprechend, d. h. etwa mit Rosenkränzen und Bibeln auf den Altären
oder mit Sitar-Musik verehrt werden. Manche dieser Spezialformen gelten auch hier wiederum
als die Geliebten der Priesterinnen bzw. Priester.
Die freie Entscheidung für einen dieser Geister ist die Ausnahme; vielmehr sind es hier
wiederum Krankheitsepisoden physischer oder psychischer Art, die den Ausgangspunkt bilden.
Wenn der Kranke in Erfahrung gebracht hat, welcher Geist ihn ruft, und sich dann in dessen
Kultgemeinschaft initiieren läßt, erholt er sich. Später bildet dann der Aufstieg zur/m PriesterIn,
die im Trancezustand im Auftrag seiner/ihrer Klienten als VermittlerIn gegenüber dem eigenen
Geist
tätig
wird,
eine
Möglichkeit
zur
Intensivierung
der
Beziehung.
Kleinere
Kultgemeinschaften haben nur einen Priester und eine Handvoll initiierte Anhänger, große
können dagegen Hunderte von initiierten Anhängern haben und mit ihren Kult- und
Konsultationsräumen mehrere Gehöfte füllen.
In den Kulthäusern der Mami Wata werden Altäre errichtet, die meist die Form eines Tisches
haben, oft mit mehreren Stufen. Auf die Altäre wird all das gestellt, von dem man annimmt, daß
es Mami Wata mit ihrem europäischen Geschmack gefällt, etwa europäische Nahrungsmittel,
Geschirr und Besteck, christliche bzw. je nach Spezialform auch hinduistische Kultgegenstände,
Kinderspielzeug, Muscheln und andere Dinge aus dem Meer, vor allem aber auch Schmuck,
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Parfüms, Cremes, Bürsten, Spiegel, Kämme, Lippenstift und andere Toilettenartikel aller Art.
Wendl vermutet, daß die den schwarzen Dienstmädchen ja nicht verborgen gebliebenen
Frisiertische der kolonialzeitlichen Europäerinnen hier einen Einfluß hatten. Und er zieht eine
auf den ersten Blick überraschende Analogie, denn es „liegt … nahe, die Mami Wata-Altäre als
eine Art Gegenstück zu unseren völkerkundlichen Museen zu betrachten. Wie unsere Museen, so
sind auch die Altäre ein Sammelsurium von kuriosen Artefakten aus einer anderen Welt, über
deren Innenleben man nur wenig weiß” (Wendl 1991: 219).
Besessenheitskulte sind – und da bilden Fälle wie die vorhin beschriebene „Vailala Madness”
keine Ausnahme – vielfach als Protestinstrument marginaler und statusniederer Personen
gesehen worden, und Wendl fragt sich abschließend, ob dies auch auf den Mami Wata-Kult
zutrifft. Er verneint dies, denn Mami Wata selbst mag als peripherer Geist gelten, ihre Anhänger
unter den Ewe und Mina sind jedoch verglichen mit dem Bevölkerungsdurchschnitt gebildeter
und auch älter, was allein für sich schon Status bringt. Gerade die gute Schulbildung und der
hohe Anteil von Christen bedingt bei vielen von ihnen eine Vertrautheit mit der europäischen
Kultur, von der sie dennoch im Alltag ausgeschlossen sind und die sie sich daher in der
Verehrung Mami Watas aneignen.
Eine Überwältigung durch die europäische Kultur, wie andere Ethnologen sie für die
Verehrung von Fremdgeistern konstatiert haben, liegt allerdings nicht vor, denn der Mami-WataKult hat sich erst seit der Unabhängigkeit in großem Stil ausgebreitet. Eher sieht Wendl in ihm
„eine Art individualistischer Kritik an der eigenen postkolonialen Nationalkultur” (Wendl 1991:
310). Die letztere distanzierte sich ja durch die Betonung indigener Elemente von den
europäischen Werten. Und dies erzeugt laut Wendl in einer Gesellschaft, die durch die Vielzahl
der Geister ja auch die individuelle Wahlfreiheit durchaus ermöglicht, in begrenztem Umfang
eine Gegenreaktion, in diesem Fall in Form der Verehrung für einen Geist, der eine weiße,
europäische Frau darstellt. Und damit erklärt sich auch die große Verbreitung des Kultes, denn
die koloniale Begegnung mit den Europäern, so Wendl, ist ein transafrikanisches Phänomen.
Apokalyptisches Christentum in Papua-Neuguinea
Wendls Interpretation des Mami-Wata-Kultes als Absage an den eigenen Nationalstaat kommt
am Schluß seines Buches etwas unvermittelt und hätte etwas Abstützung, z. B. durch
entsprechende Äußerungen der Mami-Wata-Anhänger zu diesem Punkt, durchaus vertragen
können. Aber sie zeigt, daß Religion und Nation durchaus miteinander in Beziehung stehen. In
meinen drei noch folgenden ethnographischen Fallbeispielen wird dies ebenfalls deutlich.
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Jeweils eins davon widme ich den beiden Religionen, die gegenwärtig am augenfälligsten
Akteure der Globalisierung sind, nämlich dem Christentum und dem Islam.
Die apokalyptischen Erzählungen der Urapmin
Zunächst zum Christentum, und zwar in einer Gruppe, die von der Globalisierung kaum stärker
abgeschnitten sein könnte, ▶▸nämlich bei den Urapmin in der westlichen Sepik-Provinz PapuaNeuguineas, wie sie in einem Artikel von Joel Robbins von der University of California in San
Diego beschrieben sind (Robbins 1998). Diese Gruppe von etwa 375 Personen lebt drei Tage
Fußmarsch von einer größeren Mine und einen knappen Tag vom Ort der Distriktbehörde
entfernt, was für neuguineanische Verhältnisse noch durchaus nah ist, verfügt aber nicht über die
Landebahn für Kleinflugzeuge, die sonst in Neuguinea häufig den Anschluß an die Außenwelt
sicherstellt. Der Lebensunterhalt wird weiterhin fast vollständig durch Subsistenz-Gartenbau
erwirtschaftet. Der Staat unterhält eine kleine Krankenstation und eine Grundschule, also mehr
Einrichtungen als in anderen, ähnlich abgelegenen Gebieten des bekanntlich ja sehr zerklüfteten
Landes. Aber verglichen mit den Nachbarn der Urapmin, die durch ihre größere Nähe zum
Distrikthauptort Zugang zu Gemüsevermarktungskanälen, landwirtschaftlicher Expertise, einem
Krankenhaus und einer weiterführenden Schule haben, ist das trotzdem wenig. Da außerdem
keiner von den Urapmin bislang den Aufstieg in die begehrten staatlichen Beschäftigungen bei
Polizei, Schul- und Gesundheitsdienst geschafft hat, fühlen sie sich vom papuaneuguineanischen Staat vernachlässigt. Regierungsbeamte, so klagen sie, bekommen sie nur
einmal im Jahr zu sehen, wenn diese kommen, um die Steuer einzutreiben.
Die Urapmin sind Baptisten, gehören also einer protestantischen Richtung an, und sie laden
ihre christlichen Überzeugungen mit einer guten Dosis millenaristischer und apokalyptischer
Vorstellungen auf. Das Neue Testament endet ja bekanntlich mit der Offenbarung des Johannes,
auch die Apokalypse genannt, und dort wird beschrieben, wie die Erde unter der Herrschaft des
Antichrist zunächst ein dunkles Zeitalter der Katastrophen durchlebt, bis Jesus Christus
wiederkehrt, siegreich aus der Schlacht von Armageddon hervorgeht und das Tausendjährige –
also ewige – Reich Gottes für die vom Tode auferstandenen Gläubigen errichtet. Im mainstreamKatholizismus
und
–Protestantismus
der
Gegenwart
spielen
solche
apokalyptischen
Vorstellungen eine vergleichsweise geringe Rolle. Doch gibt es seit 2000 Jahren am Rande des
christlichen Spektrums eine eigene Tradition von Gruppen, die das bevorstehende Zeitenende
stärker ins Zentrum rücken oder sogar Anzeichen dafür finden, daß es bereits begonnen hat.
Die Urapmin gehen davon aus, daß der Antichrist, den sie häufig mit dem katholischen Papst
identifizieren, sein böses Werk bereits verübt, in manchen Versionen mithilfe von Computern
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und Maschinen, wo es nur eines Knopfdrucks bedarf, um die blutige Verfolgung der guten
Christen aufzunehmen. In manchen Erzählungen ist es die dreifache Sechs, also die
Schreckenszahl des apokalyptischen Tieres in der Offenbarung, die allen, die sich dem Antichrist
unterwerfen und so von ihm verschont werden, auf die Haut gedruckt wird. Jesus wird jedoch die
Guten unter den Urapmin vor diesem Schicksal bewahren, und andere Erzählungen beschäftigen
sich damit, wer genau dies sein wird und wie man durch christliche Lebensführung zu diesen
Glücklichen gehören kann. Jedem Urapmin ist dies alles bekannt, und auf die Weltsicht der
Gruppe hat es einen prägenden Einfluß.
Die apokalyptischen Vorstellungen haben ihren Ursprung nicht bei den Urapmin, sondern in
den Schriften englischer und amerikanischer Millenaristen, die sich teilweise enormer
Verbreitung erfreuen; das 1970 von dem Amerikaner Hal Lindsey veröffentlichte Buch The Late
Great Planet Earth etwa soll in den 1980er Jahren das meistverkaufte Buch in den USA gewesen
sein. In diesen Schriften gelten die Ausbreitung der Geldautomaten und des Bar Codes auf
Produkten sowie das wirtschaftliche Zusammenwachsen der Europäischen Union oder auch der
(erste) Golfkrieg als Vorboten der alles an sich reißenden Weltregierung des Antichristen.
Interessant ist nun, daß die Urapmin – und neben ihnen auch andere Bewohner PapuaNeuguineas (Eves 2003) – diese Vorstellungen aufgreifen, selbst vom wan wol gavaman und
von der nu wol oda reden, die bald die Kontrolle über die Welt übernehmen werden, und
Nachrichten wie die, daß in der nahen Minenstadt die Gehälter jetzt von einem Geldautomaten
ausgezahlt werden, entsprechend deuten. Denn Geldautomaten, Computer, die dreifache Sechs
oder der Papst existieren für die Urapmin nur in diesen Erzählungen; in ihrem normalen Alltag
haben sie keinerlei Bedeutung.
Die christliche Überwindung der Nation
Robbins zufolge ordnen sich die Urapmin mit diesen apokalyptischen, ihren christlichen
Glauben stark bestimmenden Erzählungen selbst ein, und zwar bezüglich der Größen Nation,
Rasse und globalem Christentum. Der Nationalstaat vernachlässigt sie nach eigener Auffassung,
und man könnte vermuten, daß er für ihr Weltbild eine vernachlässigbare Größe ist. Das trifft
jedoch interessanterweise nicht zu. Vielmehr entwickeln die Urapmin etwas, was Robbins
„negative nationalism” nennt. So enttäuscht sie von ihrer Nation sind, so selbstverständlich fest
steht für sie dennoch, daß die moderne Welt eine der Nationen und ihre eigene eben nicht
Australia oder Amelika, sondern Papua Niugini ist. Sie finden dafür auch biblische Vorbilder,
denn die Apostelbriefe richten sich an einzelne, benannte Gemeinschaften wie etwa die
Korinther oder die Galater, die die Urapmin als klar voneinander abgegrenzte Nationen auffassen.
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Und im Römerbrief des Paulus wird der Staat als legitime Institution verteidigt, eine
Bibelpassage, die für die Urapmin nach der Offenbarung des Johannes die wichtigste ist. Aber
die Selbsteinordnung als Papua-Neuguineaner bedeutet keineswegs, daß sie damit auch zufrieden
sind: ▶▸„Instead, the Urapmin see their national identity as Papua New Guineans as a source of
much what they dislike and wish to reject in themselves” (Robbins 1998: 110).
Solchen negativen Nationalismus hat die einschlägige Forschung bislang nicht genügend zur
Kenntnis genommen, argumentiert Robbins; stattdessen wird davon ausgegangen, daß die Nation
ein Objekt der Liebe und des Stolzes ist bzw. sich nur als solches konstituieren kann. Doch auch
andere Formen der kollektiven Identität, etwa über Rasse, Geschlecht, sexuelle Orientierung –
Alter oder Berufsgruppe könnte man hier sicherlich noch hinzufügen –, bedeuten ja keinesfalls,
daß man automatisch eine ungebrochen positive Einstellung dazu hat, z. B. sichtbar asiatisch,
Frau oder homosexuell zu sein. Eine nationale Selbsteinordnung, die man zwar für sich selbst
annimmt, die einem aber trotzdem keine Freude macht, darf also – so Robbins für mich
überzeugender Einwand – nicht von vorneherein ausgeschlossen werden.
Daß die Urapmin mit ihrer papua-neuguineanischen Identität so unzufrieden sind, liegt
hauptsächlich daran, daß sie auch mit ihrer rassischen Selbsteinordnung zusammenfällt. PapuaNeuguinea wird demnach nicht politisches Versagen zum Verhängnis, sondern die Tatsache, daß
es eine schwarze Nation ist, die somit unausweichlich unterhalb der weißen Nationen rangieren
muß. Rassismus dieser Art hat, wie Robbins sagt, in der Forschung zu Papua-Neuguinea bislang
wenig Aufmerksamkeit erhalten, ist aber trotzdem sehr verbreitet. Die Urapmin sind, wie ihm
Hunderte von geradezu verstörend gleichartigen Bemerkungen zeigten, fest davon überzeugt,
daß ihre schwarze Hautfarbe sie dazu verurteilt, den Weißen in so gut wie jeder Hinsicht – sei es
Wissen, Disziplin, Großzügigkeit, Schönheit der Haut und des Haares, Gesundheit der Kinder
etc. – unterlegen zu sein. Die rassische und die nationale Dimension überlagern sich, so daß
diese eigenen Mängel als die aller Bewohner Papua-Neuguineas angesehen werden.
Wiederaufflackernde Stammesfehden im Hochland, das Treiben von Jugendgangs in den Städten
und Korruption in der Regierung sind damit so zu erklären, nicht etwa durch Defizite des
wirtschaftlichen oder politischen Systems.
Die Religion dagegen erlaubt es den Urapmin, den Gefängnissen ihrer Nation und ihrer Rasse
zu entkommen, denn sie verbindet sie mit einer, wie Robbins sagt, transnationalen Gemeinschaft
von Gläubigen, was z. B. im sonntagmorgendlichen Gottesdienst besonders stark empfunden
wird. Überdies ist dies eine weiße Religion, denn sie breitete sich zuerst unter Weißen aus und
wurde auch von Weißen nach Papua-Neuguinea gebracht, die auch heute noch die christlichen
Missionen leiten. Zudem sind die Urapmin davon überzeugt, daß auch Jesus selbst weiß war,
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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weniger weil das irgendwo so geschrieben steht, sondern weil er nicht aus Papua-Neuguinea
stammt und in Bethlehem geboren wurde, also an einem als weiß eingeordneten Ort.
Doch ist das Christentum nicht nur eine weiße Religion, sondern auch eine, die alle ihre
Gläubigen – auch die schwarzen – miteinander verbindet und ihnen in gleichem Maße die Liebe
Jesu Christi verspricht. Die Verbindungen äußern sich auch faktisch, in Form von abgegriffenen
religiösen Traktaten oder Fotokopien derselben, die die Urapmin erreichen. Hier erfahren sie die
im Titel des Artikels erwähnten wol nius („world news”), d. h. die apokalyptischen Enthüllungen
über die Vorgänge in der weiten Welt, und wenn ein solches Traktat etwa in einem Karton mit
Fischdosen auftaucht, ist dies für die Urapmin-Gläubigen die Segenstat eines christlichen
Freundes in der fernen Welt, der sie auf die apokalyptischen Vorgänge aufmerksam machen will.
Das Christentum bietet den Urapmin also eine Perspektive der Überwindung ihrer eigenen
nationalen und rassischen Identität durch die Aufnahme in eine globale Gemeinschaft. Robbins
fordert abschließend dazu auf, diesen Aspekt der Identitätskonstruktion durch globale Bezüge
stärker einzubeziehen. Denn wie die Urapmin demonstrieren, muß die eigene Positionierung in
der äußersten Peripherie des Weltsystems keinesfalls heißen, daß die Nation und sie
überwindende, transnationale Kräfte wie in diesem Fall die Religion für die Selbsteinordnung
keine Bedeutung haben.
Islam in Frankreich
Hinüber nun ins Zentrum des Weltsystems und zu einer weiteren Weltreligion, anhand eines
Fallbeispiels, das wiederum die Frage stellt, wie sich Religion und Nation im Verhältnis
zueinander verorten. ▶▸John Bowen, Professor an der Washington University in St. Louis und
übrigens auch Autor eines recht brauchbaren Lehrbuchs der Religionsethnologie (Bowen 1998),
ist dem per Feldforschung in Paris nachgegangen (Bowen 2004). Wie wir es ja auch aus
Deutschland kennen, wird in Frankreich das Verhältnis zwischen Staat und Religion gegenwärtig
besonders stark mit Bezug auf den Islam diskutiert, hier wie dort dadurch bedingt, daß dieser
mittlerweile die drittgrößte Religion mit Millionen von meist immigrierten Anhängern ist.
„Islam de France” statt „en France”
Französische Regierungsvertreter und muslimische Intellektuelle erheben in dieser Debatte die
Forderung nach einer neuen, national angepaßten Form des Islam, also einem „Islam de France”
statt nur einem „Islam en France”. Worin genau dieser bestehen soll, ist strittig: Für manche
Muslime und viele Nicht-Muslime ist es ein eher innerlicher Islam der Frömmigkeit, der das
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islamische Recht aufgibt und auf Rituale wie Gebete und Opfer weniger Wert legt; für viele
andere Muslime ist es das Bemühen, den Islam in einem europäischen Kontext neu zu
durchdenken, jedoch ohne auf die grundlegenden Prinzipien und rituellen Praktiken zu
verzichten; für viele französische Nicht-Muslime ist es die kulturelle Anpassung an die
französische Gesellschaft, etwa durch Designer-Kopftücher statt der herkömmlichen islamischen,
durch die Aufgabe der islamischen Nahrungstabus oder durch den regelmäßigen sozialen
Umgang mit den französischen Nicht-Muslimen, und für den französischen Staat ist es ein Islam
mit französischen Institutionen und in Frankreich ausgebildeten, d. h. vom Staat kontrollierbaren
Imamen. Dies widerspricht jedoch für viele Muslime den universalistischen Forderungen des
Islam, der keine Nationen, sondern nur die globale umma, d. h. die Gemeinschaft der Gläubigen,
anerkennt und es zudem von diesen Gläubigen verlangt, die Zugehörigkeit durch Kleidung und
Ernährung auch zu demonstrieren. Soll dies nun an Europa angepaßt werden, etwa durch die
Erlaubnis von (den im Islam eigentlich verbotenen) Ratenkäufen oder von zivilen Heirats- und
Scheidungszeremonien, eben weil die Muslime hier anders als etwa in Saudi-Arabien eine
Minderheit sind? Oder sollte sogar die gesamte islamische Rechtstradition überdacht und
aufgrund der allgemeinen göttlichen Prinzipien, also der shari’a, neu formuliert werden? Um
diese Fragen dreht sich laut Bowen die theologisch-politische Diskussion in den muslimischen
Immigrantenkreisen.
Der Hintergrund ist eine mit Deutschland vergleichbare Immigrationssituation, in der
hauptsächlich männliche, gering qualifizierte Arbeiter angeworben wurden, unter der Prämisse,
daß sie eines Tages in ihre Heimat zurückkehren und also nur Gastarbeiter sein würden, um
deren Integration man sich daher keine Gedanken machen brauchte. Und genauso wie in
Deutschland blieben die Gastarbeiter und holten ihre Familien nach bzw. gründete welche in
Frankreich, was nicht wenigen Franzosen nicht gefällt – denken sie an Le Pen und seine
Parteifreunde von der Front National, aber auch an Chiracs diverse Bemerkungen zur
Natürlichkeit von ausländerfeindlichen Ressentiments. Stärker allerdings als in Deutschland
haben die Kinder der hauptsächlich aus dem Maghreb stammenden Immigranten, die
sogenannten beurs, eine eigene, neue ethnische Identität entwickelt, und im Unterschied zu
Deutschland haben auch die meisten von ihnen die französische Staatsbürgerschaft, was es nicht
ganz so leicht macht, ihre Bedürfnisse zu ignorieren.
Die Strategie des französischen Staates
Anders auch als in Deutschland ist die Trennung von Staat und Kirche eine aus der
Französischen Revolution erwachsene Prinzipienfrage. Verfassung und Gesetz verbieten die
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Unterstützung von Religionen durch den Staat und den Gebrauch religiöser Symbole durch
Staatsbedienstete, ein Prinzip, das als ▶▸laïcité bekannt ist. Von vielen Lehrern wird dies auch
als generelle Schranke gegen das Eindringen der Religion ins Klassenzimmer aufgefaßt, und so
sind sie und die Rektoren auch immer wieder gegen kopftuchtragende Schülerinnen aktiv
geworden und haben z. B. mit Streiks gedroht. Und auch Präsident Sarkozy hat sich noch als
Innenminister z. B. vor muslimischen Führern für französisch ausgebildete Imame starkgemacht
und bestand auf der Verpflichtung für französische Bürger, sich für ihren Personalausweis ohne
Kopfbedeckung fotografieren zu lassen.
Die Regierung verfolgt allerdings eine gespaltene Strategie, denn sie greift durchaus auch auf
die Kooperation der Herkunftsstaaten der Muslime zurück. Traditionsgemäß hält sie sich
nämlich aus religiösen Fragen nicht völlig heraus, sondern versucht vielmehr, für jede Religion
eine Art privilegierten Ansprechpartner zu etablieren, Organisationen also wie z. B. der
Zentralrat der Juden in Deutschland. Und trotz aller Bekenntnisse zu Islam de France akzeptiert
die französische Regierung faktisch, daß die wichtigsten muslimischen Moscheen und
Organisationen in Frankreich durch ausländische Regierungen, vor allem die marokkanische,
tunesische, saudi-arabische und türkische, finanziert und ihre Führer durch diese Regierungen
auch mehr oder weniger kontrolliert werden. Vor der Einsetzung des angestrebten
Vertretungsgremiums für alle Muslime in Frankreich, des ▶▸Conseil Français du Culte
Musulman (CFCM), brüstete sich der damalige Innenminister Sarkozy denn auch entsprechend
damit, die einschlägigen Staaten bereist und ihre Unterstützung für das Projekt eingeholt zu
haben.
Globaler Islam und die Grenzen des „Islam de France”
Viele Muslime ziehen jedoch hier nicht mit, denn paradoxerweise entdecken sie gerade in einer
Diasporasituation die globale Dimension ihrer Religion. Im Gegensatz zum Ursprungsland, wo
der Islam eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit und stark von lokalen Besonderheiten
geprägt war, begegnen sie nun, wo sie eine Minderheit bilden, Gläubigen mit ganz anderen
lokalen Traditionen, so daß – wie es bereits Gardner für Bangladesh berichtete – ein
transnationaler Hochislam an Einfluß gewinnt. Dies gilt etwa für junge Frauen, die sich in
Frankreich für das Kopftuch entscheiden. Nur selten tragen sie es dann genauso wie z. B. in
Nordafrika, sondern wählen stattdessen die im universalen islamischen Sinne korrekte Weise, bei
der das Haar vollständig bedeckt ist.
Ähnlich ist es auch bei einer Art Messe der Muslime in Frankreich, die von einer relativ
konservativen, von Marokko aus finanzierten Organisation veranstaltet wird. In drei alten
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Flugzeughangaren werden Bücher, CDs, Videos, religiöse Artikel und Kleidung verkauft,
Organisationen aller Art stellen sich vor, Videos zu den gegenwärtigen Konflikten, an denen
Muslime beteiligt sind – Palästina, Tschetschenien, Irak – werden gezeigt, und das uns schon
bekannte Mecca Cola wie auch „Muslim Up”, eine Variante zum globalen, nur in Deutschland
aus mir nicht bekannten Gründen nie besonders populär gewordenen „Seven Up”, werden
ausgeschenkt, und es ist auch viel Arabisch zu hören, also die prestigeträchtige Sprache des
Korans. Sarkozy nutzte dieses Forum 2003 für seine oben erwähnte, mit Pfiffen quittierte Rede,
bei der er in Frankreich ausgebildete Imame forderte. Doch werden ansonsten muslimische
Redner aus Ägypten, Saudi-Arabien und anderen arabischen Ländern eingeladen, und diese sind
für die meisten der von Bowen befragten Besucher, von denen etwa 90 Prozent aus dem
Maghreb stammen, die Hauptattraktion. Bowen zufolge hat dies die folgende Wirkung (Bowen
2004: 50):
▶▸„The fact that these authorities come from North Africa and the Arabian Peninsula adds
legitimacy to the proceedings for younger Muslims. At the assemblies, the selection of speakers,
the ubiquity of Arabic, and the experience of being surrounded by signs of Islam—books,
videotapes, objects of daily use—all create an image of Islam as a global religion, and perhaps
also create a sense of a diaspora.”
Ähnliches spielt sich auch in einem weiteren von Bowen beschriebenen Fall ab: ▶▸Larbi
Kechat, der in Algerien geborene Rektor einer Pariser Moschee, ist einer der prominentesten
Befürworter einer Anpassung der islamischen Prinzipien (▶▸maqâsid) an die jeweiligen
spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen, also dem, was sich manche unter einem „Islam de
France” vorstellen. Seine Moschee ist die erste, die neben arabischen auch französische
Predigten anbietet. Zudem veranstaltet er recht bekannt gewordene, ebenfalls arabischfranzösische Podiumsdiskussionen zu religiösen oder sozialen Themen, zu denen auch immer
mindestens ein Nicht-Muslim als Diskutant eingeladen wird; einmal auch Bowen selbst.
Gleichzeitig hält Kerbat jedoch die Verbindung mit den islamischen Ausbildungszentren in der
arabischen Welt aufrecht und lädt zu jeder der Diskussionsrunden auch von dort einen Gast ein.
Diese islamischen Gelehrten haben oft wenig Geduld mit Anpassungsversuchen an die
französische Gesellschaft. Bowen berichtet eine spezielle Begebenheit, wo der Gastredner
Kechat, der es für zulässig erklärt, daß Muslime in Frankreich Darlehen aufnehmen, direkt
widerspricht und unterstreicht, daß es keine zwei Islame, sondern nur einen geben kann. Kechat
steckt hier Bowen zufolge in einem Dilemma, denn die Legimität der islamischen Gelehrten aus
den arabischen Ländern gilt als unbestritten größer als die seine. ▶▸„In bringing the authority of
the ‚Muslim world’ to France, Kechat in effect presents ‚Islam’ as external to ‚France’, even as
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he, through his activities as much as in his views, holds just the contrary position” (Bowen 2004:
52).
Bowen formuliert dies nicht so klar, aber es ist ein islamisches Weltsystem mit einem eigenen
Zentrum, das sich hier formiert und dessen Existenz den Gläubigen in der Diasporasituation um
so bewußter zu werden scheint. Dies geschieht nicht nur durch die Begegnung mit den
Andersgläubigen, sondern gerade auch durch die bewußte Auseinandersetzung mit Muslimen
aus anderen Ländern bei Ereignissen wie der Messe oder den Podiumsdiskussionen. Trotz der
Rede vom Islam de France erhält das unbestrittene Zentrum des globalen Islam, nämlich die
arabischen Länder mit ihren religiösen Organisationen, Bruderschaften und Gelehrten, damit
neue Autorität.
Eine Meeresgöttin als Brücke zwischen China und Taiwan
Auch das letzte Fallbeispiel betrifft die Verbindung zwischen Religion und Nation und bringt als
zusätzliche Größe auch die Massenmedien in sehr prominenter Rolle hinein. Außerdem landen
wir wieder bei einer mit dem Meer verbundenen übernatürlichen Gestalt, so wie Mami Wata. In
einem Artikel beschreibt die chinesische, an der University of California in Santa Barbara
arbeitende Ethnologin Mayfair Mei-hui Yang neuere Entwicklungen im Kult der Göttin Mazu,
der die beiden feindlichen Brüder, die Volksrepublik China und Taiwan, wieder zu verbinden
beginnt (Yang 2004).
Bekanntlich wurde Taiwan ja nach der Machtergreifung durch Mao und die Kommunisten
zum Rückzugsgebiet für den vorherigen Machthaber, General ▶▸Chiang Kai-Chek und seine
Anhänger, und in der Folgezeit betrachteten sich beide Staaten als rechtmäßige Vertreter des
gesamten Chinas. Die Volksrepublik sieht in Taiwan bis heute eine bloße Provinz, und
umgekehrt setzte in Taiwan das letzte in China gewählte Parlament unbeirrt seine Arbeit fort, so
als ob es weiterhin ganz China regieren würde. Dies führte zu grotesken Entwicklungen, denn
die Abgeordneten behielten mangels weiterer Wahlen in ihren chinesischen Wahlkreisen einfach
ihre Sitze. In den 1980er Jahren waren viele von ihnen so alt und gebrechlich, daß sie den
Sitzungen kaum mehr folgen konnten, und wer starb, wurde durch die bei den letzten Wahlen
unterlegenen Kandidaten ersetzt. Taiwan definierte sich schließlich unter dem Druck der
jüngeren Generation, der das Verständnis für diese Rückwärtsgewandtheit fehlte, doch noch zu
einem faktisch eigenständigen Staat um. Doch immer dann, wenn dieser Anspruch zu offensiv
formuliert wird, setzen volksrepublikanische Drohungen ein. Bis heute hat Taiwan eine offizielle
Unabhängigkeitserklärung vermieden, und die meisten Staaten – darunter auch Deutschland und
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sogar die große Schutzmacht USA – vermeiden mit Rücksicht auf die Volksrepublik die
offizielle Anerkennung und unterhalten nur inoffizielle Vertretungen. Längst schon bestehen
allerdings intensive Wirtschaftsbeziehungen zwischen Taiwan und China, so daß wir eine wie
immer geartete Wiedervereinigung, vielleicht nach dem Hongkonger Vorbild, sicherlich noch
erleben werden.
Die Göttin Mazu
Die populärste Gottheit in Taiwan, die von etwa 70 bis 80 Prozent der Taiwanesen verehrt wird,
ist die Meeresgöttin ▶▸Mazu. Wie vieles in Taiwan stammt sie vom Festland und hat ihr rituelles
Zentrum auf der Insel Meizhou in der Küstenprovinz Fujian. Nun, wo der Reiseverkehr mit der
Volksrepublik immer stärker erleichtert wird, sind es vor allem taiwanesische Frauen aus der
unteren Mittelschicht und vom Lande, die Pilgerfahrten zum Tempel der Mazu auf Meizhou
unternehmen. Eine im Jahr 2000 geplante direkte Überfahrt von Taiwan aus kam nicht zustande,
und so war wiederum der umständliche Umweg über Hongkong nötig, doch auch so wurde die
Reise zum Medienereignis, an der neun Fernsehteams und mehrere Zeitungen teilnahmen.
Zusammen mit mehreren Statuen der Mazu nahmen etwa 2000 Pilger an der Reise teil. Yang war
ebenfalls dabei und analysiert die gemachten Beobachtungen und weitere Ergebnisse von
kürzeren Feldforschungen in Taiwan.
Für beide Staaten war die Pilgerfahrt eine politisch heikle Angelegenheit. Der sie
organisierende ▶▸Zhenlan-Tempel in der taiwanesischen Stadt Dajia unterstützte eigentlich die
Partei des Präsidenten Chen, der größere Unabhängigkeit von der Volksrepublik anstrebte, aber
stärkte mit der Reise den religiösen Bezug auf das Festland. Die Volksrepublik hingegen
befürwortet zwar offiziell solche Reisen, da sie die nationale Einheit aller Chinesen
unterstreichen, legt jedoch keinerlei Wert auf das Vordringen volksreligiöser Elemente in seiner
Bevökerung und überwachte daher jeden Schritt der taiwanesischen Pilger.
Die Pilgerfahrt 2000 verlief ohne größere Pannen und brachte vor allem auf Seiten der
Medien einige interessante Neuerungen. Mehrere Satelliten- und Kabelsender waren beteiligt,
und Yang schildert die Schwierigkeiten, die diese haben, für die eigentlich bereits genehmigten
Live-Übertragungen
von
den
volksrepublikanischen
Sendern
einen
Wagen
für
die
Kommunikation mit den Satelliten zu bekommen. Weitere Probleme gibt es mit den
chinesischen Behörden, die eine Live-Übertragung der Hauptrituale aus Angst vor politischen
Äußerungen zunächst nicht genehmigen wollen; schließlich findet man einen Kompromiß. All
dies stellt ein Novum in der medialen Zusammenarbeit da, dem besonders die beteiligten
taiwanesischen Sender große Bedeutung beimessen, denn sie sehen ihren zukünftigen Markt auf
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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dem Festland. Yang sieht hier eine merkwürdige Partnerschaft zwischen Religion und
Massenmedien, die darin zusammenarbeiten, eine ehemals undurchdringliche Grenze aufzulösen.
Hintergründe des Mazu-Kultes
Der Kult der Mazu widersetzt sich aber einem einfachen pan-chinesischen Nationalismus, denn
er steht auch im Zentrum einer allgemeineren Indigenisierung (▶▸bentuhua), die gegenwärtig in
Taiwan stattfindet. Die Taiwanesen erinnern sich ihrer besonderen Wurzeln, insbesondere der
▶▸Hakka und der Min, zweier chinesischer Ethnien bzw. Sub-Ethnien, die sich weiterhin in
Fujian auf dem Festland finden, aber auch schon vom 16. bis 19. Jh. und damit vor der politisch
bedingten Fluchtwelle nach der kommunistischen Machtübernahme die Insel besiedelten. Die
Schutzgottheit dieser frühen Siedler bei ihrer Überfahrt über die taifungeplagte Taiwan-Straße
war Mazu. Die Göttin schafft also – wie Yang zwar nicht so klar herausarbeitet, aber meiner
Ansicht nach auf der Hand liegt – transnationale Verbindungen und hebt trotzdem regionale, also
subnationale Identitäten hervor.
Mazus grenzüberschreitende Rolle hat Tradition. Wie alle chinesischen Gottheiten war sie
ursprünglich ein Mensch, geboren im Jahr 960 in der Provinz Fujian. Sie lebte vorbildlich, rettete
ertrinkende Matrosen, starb 987 unverheiratet und stieg dann in den Himmel auf. Anfänglich die
lokale Göttin armer Fischer, erfuhr ihr Kult kaiserliche Patronage, so daß schließlich Tausende
von Mazu-Tempeln an der ganzen chinesischen Küste errichtet wurden und sie per Emigration
ihrer Anhänger auch nach Taiwan, Japan und Südostasien gelangte. Zusätzlich zu ihrer
Schutzfunktion für die Seefahrer befördert sie die weibliche Fruchtbarkeit und hilft bei
persönlichen und familiären Problemen. Mit wachsendem allgemeinen Wohlstand und
sinkendem politischen Einfluß der vom Festland geflohenen Regierungspartei ▶▸Guomindang ist
der Kult der Mazu seit den 1980er Jahren in Taiwan immer populärer geworden. Die
volksrepublikanischen Haupttempel der Mazu wurden in der Kulturrevolution zerstört, doch
seither zum Teil mit lokalen Spenden, hauptsächlich aber mit taiwanesischen Geldern
wiederaufgebaut, und die chinesische Führung sieht ihre Rolle als Touristenmagnet und Symbol
für die nationale Einheit mit Wohlgefallen.
Der Bezug auf die festländischen Tempel und die Organisation von Pilgerreisen dahin ist für
die taiwanesischen Mazu-Tempel auch eine Prestige- und Konkurrenzangelegenheit. Dem
bereits erwähnten Zhenlan-Tempel ist es durch die zum 1000jährigen Todestag der irdischen
Mazu veranstaltete erste Reise 1987 und die geschickte mediale Vermarktung der weiteren
Pilgerreisen, zu denen die Fernsehteams eingeladen wurden und auf die mit teurer Werbung
hingewiesen wurde, gelungen, zum einflußreichsten Mazu-Tempel in Taiwan aufzusteigen.
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Die Tempel der Göttin Mazu stehen zueinander in einer verwandtschaftlich gesehenen
Beziehung, denn um einen neuen zu errichten, war es erforderlich, Weihrauchasche von einem
alten, dann als Muttertempel betrachteten Tempel zu erhalten. Yang zitiert die Analyse des
Kollegen Steven Sangren, derzufolge die wenigen weiblichen Göttinnen des chinesischen
Pantheons hier analog zu den chinesischen Ehefrauen zu sehen sind, die in dieser traditionell
virilokalen Gesellschaft ebenfalls zu reisen hatten und damit Verbindungen zwischen ihren alten
und neuen Wohnorten schufen. Yang zufolge könnte es sich aber auch um ein unterdrücktes
matrilineares Element handeln, denn Mazu bedeutet wörtlich „mütterlicher Ahne”. Die Tempel
selbst beschneiden allerdings dieses Potential, da sie meist nicht bereit sind, ihre eigene
Abstammung von anderen Tempeln über mehr als zwei oder drei (Tempel-)Generationen hinaus
anzuerkennen und jenseits dessen einen direkten Bezug zum Ausgangspunkt Meizhou in China
behaupten.
Yang zufolge ist das subversive religiöse Potential des Kultes in der Volksrepublik bislang
noch begrenzt; sie beobachtet bei der einheimischen Bevölkerung Verständnislosigkeit für das,
was die taiwanesischen Pilger aufs Festland treibt. Doch verbinden sich hier trotzdem populäre
Religion und Massenmedien in einem Versuch, einen grenzüberschreitenden Raum zu schaffen,
der gleichzeitig aber regional definiert und nicht auf die jeweiligen nationalen Zentren
ausgerichtet ist: ▶▸„Mazu worship is a polytheistic regional cult that counters the mainland’s
monological, secular, and centralized national imaginary. … In her female affinal role, Mazu
bridges and transcends two masculine spaces, ritually constructing local spaces of identity
around village or town temples and a transnational space of identity across coastal China and
Taiwan. Her cult creates alternative ritual centers (Meizhou, Dajia, Beigang) to national capitals,
shrines to national heroes, and commercial hubs” (Yang 2004: 231).
Fazit
In der Tabelle habe ich einige der globalisierungsbezogenen Merkmale der fünf Fallbeispiele
zusammengestellt. Es ist ein eher illustrativ gemeinter Vergleich, denn die Auswahl der Fälle hat
keine besondere theoretische Begründung. Klar wird hierbei, daß es in allen fünf Fällen
Zentrum-Peripherie-Beziehungen gibt und daß die Aktivitäten in der Peripherie im Vordergrund
der ethnologischen Betrachtung stehen. Dies gilt auch für Yangs Analyse des Mazu-Kultes, denn
sie macht sich mit taiwanesischen Anhängern auf die Reise zu den zentralen Kultstätten in China.
(Hier kann man allerdings einschränken, daß das soziale Zentrum des Mazu-Kultes heute
sicherlich eher in Taiwan liegt, wo er nicht unterdrückt worden ist.) Das Zentrum wird in den
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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meisten Fällen jedoch nicht ungebrochen positiv bewertet: Das cargo ist zwar begehrt, doch auf
die es widerrechtlich zurückhaltenden Kolonialherren könnte man verzichten. Mami Watas
europäische Attribute sind positiv, aber sie selbst ist launisch und kann sehr gefährlich werden.
Den Urapmin gilt alles Weiße und Europäische als überlegen, aber der Antichrist und der Papst
sind ebenfalls in Europa aktiv. Und ambivalent sind für die taiwanesischen Pilger auch die
Mazu-Stätten auf dem Festland, weniger an sich als wegen des politischen Systems, das sie
kontrolliert. Nur im Fall der französischen Muslime werden dem Zentrum offenbar keine
negativen Gefühle entgegengebracht.
Religion veranlaßt in vieren der Fälle dazu, die Stellung der eigenen Nation zu reflektieren. In
Westafrika und bei den Urapmin bekommt der Nationalstaat davon wenig mit, aber sowohl im
Fall der französischen Muslime als auch der Mazu-Anhänger reagieren die Nationalstaaten
darauf, durchaus mit in sich widersprüchlichen Strategien: Die Volksrepublik China versucht die
taiwanesischen Mazu-Pilger für ihre Wunschvorstellung vom wiedervereinten Vaterland zu
umarmen, aber aus Angst vor politischem Aufruhr und volksreligiöser Unterwanderung ist dies
eine sehr kontrollierende Umarmung. Der französische Staat propagiert einen „Islam de France”,
bedient
sich
aber
bei
der
Benennung
von
islamischen
Repräsentanten
der
Vertreterorganisationen, die von den jeweiligen Herkunftsstaaten unterstützt und auch
kontrolliert werden. Ein völlig unproblematisches Verhältnis zwischen Nation und globalisierter
Religion liegt hier in keinem Fall vor.
Globale Verbindungen bedeuten nicht unbedingt umfangreiche religiöse Reisetätigkeit. Im
Fall des französischen Islam reisen hauptsächlich die Islamgelehrten aus den arabischen Ländern,
und dies bestätigt Kokots Beobachtung, daß Transnationalismus oft ein Elitephänomen ist. Nur
im Fall der Mazu-Anhänger kommt es zu organisierten Reisen einer größeren Zahl gewöhnlicher
Gläubiger. Was allerdings in allen Fällen reist – und hier erfährt Appadurais Überzeugung von
der Wichtigkeit der mediascapes Unterstützung –, sind mediale Repräsentationen. So spärlich
und zufällig sie im Fall des Mami-Wata-Kultes (Plakate) und auch der Urapmin (apokalyptische
Pamphlete) fließen, haben sie dennoch als Quelle der Kulturkonstruktion eine zentrale Rolle
gespielt. Und sowohl beim französischen Islam als auch bei der organisierten Pilgerreise nach
Meizhou scheint der mediale Verkehr den tatsächlichen Reiseverkehr der Personen an Umfang
zu übertreffen – ohne den letzteren könnte er wohl nicht stattfinden, wirkt aber wie eine Art
Megaphon.
Soweit die mir auffallenden Vergleichsaspekte. Eine eingehendere Betrachtung des Themas
Globalisierung der Religionen würde sicherlich auch eine stärkere Einbeziehung der
transnationalen Organisationsformen von Religion erfordern, als ich es hier geleistet habe. Nicht
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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nur die alten „Weltreligionen”, ihre Teilorganisationen wie etwa die katholischen Orden und ihre
Absprengsel wie etwa die wachsende Zahl der Pfingstkirchen sind transnational organisiert,
sondern auch alle möglichen kleineren Religionen sowohl älterer als auch neuerer Prägung.
Hierzu gibt es eine wachsende Zahl von ethnologischen Studien, aber sicherlich auch noch sehr
viele weiße Flecken der ethnographischen Landkarte, die zu füllen sich lohnen wird.
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Teil XI: Die Globalisierung der Indigenen
Einleitung
Im Kapitel zu Migration, Diaspora und Transnationalismus spielten Menschen eine Rolle, deren
Leben von Bewegungen über häufig recht große Räume geprägt ist, nicht immer unbedingt ihren
eigenen, aber doch zumindest denen ihrer Eltern oder Großeltern. Gar nicht so wenige Menschen
bleiben allerdings auch im Zeitalter der Globalisierung dort, wo sie sind, und manche Gruppen
von Menschen gelten gerade deshalb als etwas Besonderes, weil sie – wie man glaubt – schon
immer dort gewesen sind, wo sie sind. Um solche Gruppen soll es im folgenden gehen, nämlich
um Indigene, also um das, was der Normalbürger oft als „Ureinwohner” bezeichnet und was
auch als „Vierte Welt” – im Gegensatz zur „Dritten Welt” der Mehrheitsgesellschaften in den
ärmeren außereuropäischen Ländern – oder als „First Peoples” bezeichnet wird.
„Indigener” ist natürlich ein relativer Begriff. Außerhalb Ostafrikas – oder wo immer die
Wiege der Menschheit stand – ist Homo sapiens ja überall ein Immigrant. Aber es existieren
natürlich Gruppen, die die Nachfahren der ersten historisch oder auch archäologisch
nachgewiesenen Bewohner eines bestimmten Gebietes sind bzw. zu sein beanspruchen. Vor
allem dann, wenn andere immigrierte Gruppen sie in historischer Zeit verdrängt haben oder sie
heute innerhalb der Nationalstaaten an den gesellschaftlichen Rand drängen, werden sie häufig
als Indigene bezeichnet. Dazu zählen etwa die nord- und südamerikanischen Indianer, die
Aborigines, die Maori oder die Ainu in Japan als Minderheiten, die von einer in historischer Zeit
oder erst in den letzten Jahrhunderten immigrierten Mehrheit dominiert werden. Schwieriger
wird es in Afrika: Dort besteht die Tendenz, Jäger und Sammler wie die San oder die Mbuti als
Indigene zu betrachten und nicht die anbautreibenden Gruppen, die direkt neben ihnen wohnen.
Die letzteren sind auch tatsächlich oft später in die betreffenden Gebiete eingewandert.
Allerdings liegt dies schon viele Jahrhunderte zurück, und aus Sicht der weißen
Kolonialbevölkerung im subsaharischen Afrika waren alle schwarzen Afrikaner Indigene. Die
Grundlage für die Klassifizierung nur der Jäger und Sammler als Indigene ist damit deren
weniger die Migrationsgeschichte als ihre als urtümlicher eingestufte Wirtschaftsweise.
Ähnliches läßt sich für die Volksrepublik China sagen. Dort haben die Han-Chinesen, also die
Mehrheitsethnie, sicher keine weniger lange Geschichte als z. B. die vielen ethnischen
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Minderheiten im Südosten des Landes, doch werden trotzdem eher die letzteren – wiederum
wegen größerer wahrgenommener „Primitivität” – als Indigene eingeordnet (wenn die Existenz
von Indigenen nicht überhaupt bestritten wird).
Indigener ist also kein der wissenschaftlichen Durchdringung in allen Aspekten
standhaltender Begriff, aber eine soziale Realität. In vielen Staaten existieren ethnische
Minderheiten, denen eine längere Präsenz und/oder eine größere Traditionalität zugeschrieben
wird als der heute dominanten Mehrheit und die aus diesem Grunde auch einen anderen Status
haben als Minderheiten, die durch rezente Immigration entstanden sind. Was genau dieser Status
ist und was er den Indigenen bringt, unterscheidet sich von Fall zu Fall sehr stark; die
Spannweite reicht von gar nichts außer Schwierigkeiten und Diskriminierung bis hin zu
anerkannten Landansprüchen, religiösen Sonderrechten und einem Nimbus als Hüter spiritueller
Weisheit, Freund der Natur und Garant kosmischer Harmonie. Und wie genau der Einzelfall
aussieht, wird heute stärker denn je von der Globalisierung beeinflußt, auf Arten und Weisen, die
ich im folgenden schildern möchte. Es handelt sich hierbei um einen der interessantesten
Aspekte der Globalisierung, der zudem auch Ethnologen sehr stark als Akteure einbezieht, ob
diese das nun anstreben oder nicht.
North Sentinel Island – der globalisierungsfernste Ort der
Erde?
Längst nicht alle Indigenen lassen sich allerdings bereitwillig durch die Globalisierung erfassen.
▶▸Im Mai 2008 gab es Pressemeldungen über die Existenz einer nicht kontaktierten
Indianergruppe im Grenzgebiet zwischen Brasilien und Peru. Die Fotos zeigen Häuser und
Brandrodungsfelder
in
einer
Waldlichtung
und
Indianer
mit
roter
und
schwarzer
Körperbemalung, die ihre Bögen auf das Flugzeug über ihnen richteten. Der Beamte der
Indianer-Behörde FUNAI (Fundação Nacional do Índio), der die Fotos veröffentlichte, erklärte,
daß der Lebensraum dieser bislang bewußt in Ruhe gelassenen Gruppe durch illegalen
Holzeinschlag vor allem auf peruanischer Seite bedroht ist und die Regenwald-Indianer nun
vermehrt von dort nach Brasilien vordringen, was Konflikte erzeugt. ▶▸Das Überfliegen und die
Aufnahme der Bilder rechtfertigte er mit dem Zweck, die Existenz solcher unkontaktierter
Indianer nachzuweisen, da vor allem Perus Präsident Alan García diese wiederholt in Zweifel
gezogen hat. Einen knappen Monat später folgten Pressemeldungen, denen zufolge die Gruppe
schon lange bekannt war, und manche Artikel sprachen gar von einer Fälschung, doch hat
niemand je behauptet, daß die Gruppe ein zu allen Zeiten isoliertes „Steinzeitvolk” gewesen ist.
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Der Wikipedia-Artikel über „uncontacted peoples” führt gleich mehrere Dutzend kleinere
Indianer-Gruppen in Amazonien auf, von deren Existenz man weiß, die aber wie die von der
FUNAI gezeigte Gruppe dem Kontakt mit Nicht-Indianern oder überhaupt mit anderen
Menschen aus dem Weg gehen und zum Teil feindselig auf Annäherungsversuche reagieren.
Dies ist heute nur noch in undurchdringlichen Waldgebieten möglich, und man kann die
Existenz solcher unkontaktierter Gruppen außerhalb Amazoniens und Papua-Neuguineas wohl
weitgehend ausschließen. „Unkontaktiert” bedeutet allerdings auch in Amazonien und PapuaNeuguinea nicht, daß diese Gruppen keinen Kontakt zu anderen Indigenen-Gruppen haben oder
hatten, und manche von ihnen hatten früher auch Austausch mit der Mehrheitsbevölkerung,
haben sich aber wieder zurückgezogen. Wir dürfen davon ausgehen, daß sie alle von der
Existenz anderer Gruppen und von der nicht-indigener Menschen wissen, und es ist
unwahrscheinlich, daß sie nicht bereits das eine oder andere erhandelte oder gefundene westliche
Industriegut ihr eigen nennen. ▶▸Als 1934-35 die von australischen Kolonialoffizieren
angeführte Strickland-Purari Patrol das dicht besiedelte Hochland von Papua-Neuguinea für die
westliche Welt entdeckte, traf sie tatsächlich noch auf Menschen, die davon überzeugt waren,
daß die Welt an der nächsten Hügelkette endet (Schieffelin und Crittenden 1991). Dies ist heute
nicht mehr möglich, und dieser Aspekt der Globalisierung dürfte irreversibel sein.
▶▸Der Anwärter auf den Titel der globalisierungsfernsten Gruppe auf Erden findet sich
allerdings nicht in entlegenen Waldgebieten, sondern auf North Sentinel Island, einer 72
Quadratkilometer großen, von dichter tropischer Vegetation bedeckten Insel. Diese gehört zur
südlich des Golfs von Bengalen gelegenen Inselgruppe der Andamanen, die vormals britische
Kolonie war, aber seit 1947 indisches Territorium ist. Die Andamanen wurden über die
Jahrhunderte lange eher spärlich als Flottenstützpunkt und später als Strafkolonie genutzt, und so
hielten sich auf einzelnen Inseln Gruppen von Indigenen mit wenig Außenkontakten. Diese
gehören zu den sogenannten ▶▸Negritos, d. h. einer Reihe von Jäger-Sammler-Gruppen in
Südostasien, zu denen auch die ▶▸Semang in Malaysia oder die Agta auf den Philippinen zählen.
Die meisten von ihnen haben eine sehr dunkle Hautfarbe, krause Haare und eine kleine Statur,
was zu abstrusen rassekundlichen und oft auch nicht viel besseren kulturellen Theorien über ihre
Herkunft und ihre Migrationen Anlaß gegeben hat. Gewöhnlich werden sie dabei als die ersten
Asiaten bezeichnet, aber ihre tatsächliche genetische und kulturelle Verwandtschaft miteinander
und mit anderen ist noch kaum geklärt.
Noch 1908 gab es 13 verschiedene ethnische Gruppen auf den Andamanen, und über eine von
ihnen schrieb ▶▸Radcliffe-Brown seinen Klassiker The Andaman Islanders (Radcliffe-Brown
1922). Doch existieren als Folge von Verdrängung und Abholzung durch Immigranten, direkter
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physischer Gewalt, eingeschleppten Krankheiten, Alkoholabhängigkeit und anderen Problemen
heute nur noch vier indigene Gruppen. Zwei von ihnen zählen nur noch wenige Personen und
isolieren sich nicht mehr. Einer weiteren, den ▶▸Jarawa auf der Westseite von South Andaman
Island und Middle Andaman Island, ist dies lange gelungen, doch in das Reservatsgebiet dieser
Jäger und Sammler wurde eine Straße gebaut, die zwar mittlerweile offiziell geschlossen ist, aber
über die immigrierte Siedler, Wilderer und neugierige Touristen trotzdem in ihr Gebiet
eindringen. Lange Zeit reagierten die Jarawa mit Gewalt, und es gab mehrmals Tote, aber seit
1998 haben einige Jarawa von sich aus friedlichen Kontakt zu den umliegenden Siedlungen
aufgenommen. Als Folge kam es zu zwei Masernepidemien 1999 und 2006, bei denen viele von
ihnen starben. Ausländische NGOs wie Survival International engagieren sich für den Schutz der
Jarawa, und die indische Regierung bekennt sich ebenfalls dazu, doch wird sich vor Ort nicht
immer an die zentralen Maßgaben gehalten.
Besser sind die Voraussetzungen für eine Fortsetzung der Selbstisolation auf North Sentinel
Island. Denn auf dieser Insel, die 25 Kilometer von den Hauptinseln entfernt liegt und von einem
nur in den wenigen windstillen Monaten des Jahres passierbaren Korallenriff umgeben ist, gibt
es bislang keine Besiedlung durch Immigranten, und die indische Regierung verbietet
mittlerweile jegliche Kontaktaufnahme. Und somit lebt hier eine auf zwischen 50 und 400
Personen geschätzte Gruppe von Menschen, von deren Existenz es zwar seit 1771 historische
Zeugnisse gibt, die aber bis heute nur äußerst flüchtigen und meist unfriedlichen Umgang mit der
Außenwelt gehabt hat. Sie werden als ▶▸Sentinelesen bezeichnet, obwohl man wie über viele
andere Aspekte ihrer Kultur auch über ihre Selbstbezeichnung nichts weiß (www.andaman.org,
Goodheart 2000, Mukerjee 2003, Venkateswar 2004).
▶▸Die Existenz anderer Menschen muß den Sentinelesen spätestens seit 1867 bekannt sein,
als sie eine auf der Insel gelandete Gruppe von mehr als 100 Schiffbrüchigen angriffen, aber
zurückgeschlagen wurden. 1880, 1883, 1926 und 1967 landeten größere bewaffnete Trupps auf
der Insel, die die Pfade und Lager der Sentinelesen erkundeten, diverse ihrer Besitzstücke
mitnahmen und Geschenke zurückließen. Bei den meisten dieser Besuche blieben die
Sentinelesen unsichtbar, doch 1880 wurden erst eine Frau mit vier Kindern und dann ein älteres
Paar mit einem Kind aufgegriffen und schließlich das Paar und vier der Kinder mit in die
Inselhauptstadt Port Blair genommen. Dort erkrankten und starben die Erwachsenen schnell, und
die Kinder wurden schließlich mit Geschenken versehen wieder auf der Insel ausgesetzt.
Beutestücke von diesem Besuch befinden sich im Besitz des Britischen Museums.
Auf die Landung 1967 erfolgten unter der Koordination des indischen Ethnologen T. N.
Pandit und mitunter auch zur Unterhaltung hochgestellter Gäste regelmäßige, allerdings
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zurückhaltendere Kontaktbemühungen. Gewöhnlich wurden dabei Geschenke wie Schweine,
Eimer oder Puppen am Strand zurückgelassen und dann aus sicherem Abstand – jenseits der
etwa hundert Meter, auf denen die Sentinelesen mit ihren Jagdbögen treffen – vom Wasser aus
versucht, mit den sich dann zeigenden Indigenen zu kommunizieren. Bei YouTube gibt es ein
Video (http://de.youtube.com/watch?v=OaPYwlXOTzQ), das ganz offenbar den Besuch von
1991 zeigt, bei dem die Sentinelesen erstmals ohne Waffen erschienen. Man sieht ein oder zwei
Dutzend ganz gegen alle Negrito-Erwartungen ziemlich große und muskulöse, bis auf eine Art
Gürtel und etwas Körperschmuck nackte Erwachsene und Kinder beiderlei Geschlechts. Diese
halten sich zunächst mißtrauisch auf Abstand, sammeln aber dann sehr vergnügt die ihnen
zugeworfenen Kokosnüsse aus dem Wasser, da diese ihnen von den vorherigen Besuchen und
als Strandgut bereits vertraut sind. Den exotisierenden Blick auf die „Wilden” dokumentieren die
Videos natürlich ebenfalls.
Eine dauerhafte Annäherung ergab sich über diese Besuche nicht, und trotz teilweise
monatlicher Wiederholung haben die Sentinelesen immer wieder Besucher mit ihren Bögen
bedroht, beschossen und verletzt, so daß die Kontaktversuche Mitte der 1990er Jahre – zeitgleich
mit den ersten freiwilligen Kontaktaufnahmen von Seiten der Jarawa – eingestellt wurden. Den
Tsunami 2004 überlebte zumindest eine beträchtliche Zahl von Sentinelesen, denn ein zu
Erkundungszwecken geschickter Hubschrauber fand größere Gruppen vor und wurde von
mehreren Männern ▶▸mit Pfeilen beschossen. 2006 landeten zwei indische Fischer auf der Insel;
womöglich waren sie betrunken. Sie wurden von den Sentinelesen erschossen, und ihre Leichen
blieben ungeborgen am Strand liegen. Die nach indischem Recht nun eigentlich gebotene, aber
bislang nicht aufgenommene Strafverfolgung ist ein Dilemma: Ganz abgesehen von den
Schwierigkeiten eines Prozesses ohne gemeinsame Sprache und Übersetzer würde sie die
Sentinelesen tödlicher Ansteckungsgefahr aussetzen.
Die Sentinelesen leben von Jagen, Sammeln und dem auf ▶▸Auslegerbooten innerhalb des
Lagunenbereichs bis zum Korallenriff betriebenen Fischfang; Hinweise auf Anbau gibt es nicht.
Zu ihrer materiellen Kultur gehören neben den erwähnten Bögen auch Fischernetze und Körbe.
Alle Indizien passen zum typischen Jäger-Sammler-Muster der Sozialorganisation, d. h. dem
Leben in egalitären Bands, die aus wenigen Dutzend Personen bestehen. Die Globalisierung geht
allerdings trotz aller Isolation nicht völlig an ihnen vorbei. Sie selbst sind vor Jahrhunderten oder
Jahrtausenden auf die Insel migriert, obwohl daran wohl kaum mehr als mythische Erinnerungen
existieren dürften. Auch sind sie kein „Steinzeitvolk”, und zwar nicht nur, weil sie in der
gleichen Gegenwart leben wie wir. Denn bereits 1867 waren ihre Pfeile mit aus Strandgut
gefertigten Metallspitzen versehen, und auf dem Korallenriff gestrandete Schiffe und die
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Geschenke der Besucher haben hier Nachschub geliefert, den sie mit Geschick bearbeiten.
Einige der als Geschenk hinterlassenen Gegenstände wie z. B. Eimer und Aluminumschüsseln
benutzen die Sentinelesen anscheinend, doch die Kokosnüsse konsumierten sie zwar erfreut,
pflanzen sie aber nicht an. Sichtkontakt zu den Polizei-, Fischer- und Touristenbooten im nahen
Meer besteht immer wieder und erinnert die Sentinelesen regelmäßig an die Existenz einer
Außenwelt. Welche Vorstellungen sie sich von dieser machen und wie sie sich das erratische
Vordringen der Auswärtigen in ihren Lebensbereich erklären, weiß allerdings niemand; auch
nicht, ob die Erfahrungen der vier verschleppten Kinder von vor mehr als hundert Jahren dabei
eine Rolle spielen.
Manchen ist die Selbstisolation der Sentinelesen ein Dorn im Auge. So äußerte etwa der für
Indiens Indigene zuständige Vorsitzende der National Commission for Scheduled Castes and
Scheduled Tribes 2000, daß „[no] citizen of India can be allowed to live in the wilderness or as
savages after more than fifty years of country’s independence” (Mukerjee 2003: 223).
Tatsächlich aber werden die Sentinelesen gegenwärtig ihrem deutlich demonstrierten Wunsch
entsprechend in Ruhe gelassen, und da alles andere sie in Lebensgefahr bringen würde und die
globalisierte Welt in Form von Survival International und anderen NGOs auch ein Auge auf
ihren Schutz hat, könnte dieser Zustand durchaus anhalten.
Die Amazonas-Indianer und die Umweltschützer
Die Selbstisolation der Sentinelesen ist allerdings eine extreme Ausnahme, und im Leben der
weitaus meisten Indigenen macht sich die Globalisierung sehr viel stärker bemerkbar oder wird
sogar als wichtige Möglichkeit verstanden. Ich möchte ihnen im folgenden das Fallbeispiel der
Amazonas-Indianer vorstellen, da einige von ihnen weltweite Verbindungen sehr bewußt nutzen
und sich hier eine besonders folgenreiche, überdies gut beschriebene Allianz zwischen indigenen
Gruppen und westlichen Umweltschützern ergeben hat. Dieses Bündnis hat zu dramatischen
Verbesserungen der Lage vieler Amazonas-Indianer geführt, aber auch zu einer ganzen Reihe
von Problemen und Dilemmata. Ich stützte mich hier auf drei Artikel, die von Beth Conklin von
der Vanderbilt University verfaßt wurden, einer davon gemeinsam mit Laura Graham von der
University of Iowa (Conklin 1997, 2002, Conklin und Graham 1995).
Die Entstehung der Indianer-Öko-Allianz
Die Allianz zwischen Umweltschützern und Amazonas-Indianern geht auf die 1980er Jahre
zurück, als in den westlichen Industrieländern der Raubbau an der Natur und globale Probleme
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wie die Klimaerwärmung immer mehr ins öffentliche Bewußtsein rückten. In diesem
Zusammenhang erhielt auch die Zerstörung der tropischen Regenwälder als grüner Lunge des
Globus wachsende Aufmerksamkeit. Wie andernorts auch ging die Abholzung des größten
Waldgebiets dieser Art, des amazonischen Regenwalds, zu einem guten Teil auf das Konto
staatlicher Entwicklungsprojekte wie Straßen, Staudämme oder der Erschließung von Gold und
anderen
Bodenschätzen.
Nicht
zuletzt
weil
westliche
Investoren,
Kredit-
und
Entwicklungshilfegeber hier ihren Beitrag leisteten, wuchs die Kritik daran, und alternative
Formulierungen wie das Zauberwort vom sustainable development, also der nachhaltigen
Entwicklung, begannen sich durchzusetzen. Und für das Ziel, den Regenwald auf verträgliche
Weise zu nutzen, fand sich auch ein Vorbild, nämlich das der indigenen Gruppen, die dort leben.
Es gibt nur etwa 200.000 brasilianische Indianer, was für die lateinamerikanischen Staaten
den geringsten Bevölkerungsanteil von Indigenen bedeutet. Der Großteil von ihnen bewohnt das
Amazonasbecken, und nicht wenige sind erst in jüngeren Jahrzehnten in Kontakt mit der
brasilianischen mainstream-Gesellschaft gekommen, teils erst nach der Erschließung durch
Straßen und andere Infrastruktur. Dieser Kontakt verlief selten gedeihlich: Landraub,
ökonomische Ausbeutung, die Einschleppung von Krankheiten, Gewalt bis hin zu Morden und
ganz allgemein die rassistische Verachtung der primitiven Indianer durch die MehrheitsBrasilianer gehörten vielmehr zum Alltag. Schutz fanden die Indigenen – wenn überhaupt – nur
bei Institutionen wie der katholischen Kirche und der staatlichen Indianerbehörde FUNAI, die
allerdings
ihre
eigenen
Ziele
mit
ihnen
verfolgten,
und
in
patronageartigen
Abhängigkeitsverhältnissen, z. B. als Kautschukzapfer, die in einer Art Schuldknechtschaft die
ihnen von gewöhnlichen Brasilianern vorgeschossenen Konsumgüter abarbeiteten.
In der Endphase der Militärdiktatur begann sich dies Anfang der 1980er Jahre zu ändern, als
sich in Brasilien NGOs, also Nichtregierungsorganisationen bildeten, die für die Menschenrechte
der Indianer eintraten. Sie unterstützten indigene Führer wie den ▶▸Xavante-Indianer ▶▸Mario
Juruna, der die Korruption der Militärregierung offen anprangerte und KassettenrecorderMitschnitte benutzte, um gegenüber der Presse die Verletzung gemachter Versprechen zu
belegen. Trotz seiner innerbrasilianischen Erfolge und seiner Wahl 1982 in den Kongreß wurde
er international allerdings noch kaum bekannt. Mitte der 1980er Jahre änderten sich allerdings
die Vorzeichen, denn nun entdeckten internationale Umwelt-NGOs die Amazonas-Indianer und
sahen diese als geborene Umweltschützer und Hüter des Dschungels, mit einer nachhaltigen
Waldnutzung und voll von tiefer Weisheit über die ökologischen Geheimnisse ihres Habitats.
Einige Indianer-Gruppen stiegen zu regelrechten Medienstars auf. Dies gilt besonders für die
▶▸Kayapó, eine den Xavante benachbarte Gruppe ebenfalls im Flußgebiet des Río ▶▸Xingu, die
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sich Mitte der 1980er Jahre gegen illegale Goldschürferei sowie ein geplantes Endlager für
Atommüll und ein Staudammprojekt zu wehren begannen. Einige ihrer Führer, die besonders
geschickt darin waren, auf den Diskurs westlicher Umweltschützer einzugehen, reisten direkt zu
den internationalen Organisationen, etwa zur Weltbank oder zur UN, und organisierten 1989
eine große Protestaktion in der Stadt ▶▸Altamira, zu der unter breiter Medienbeachtung Hunderte
NGO-Vertreter und Öko-Aktivisten aus der ganzen Welt anreisten. Rockstar Sting besuchte die
Kayapó, ließ sich mit traditioneller Körperbemalung versehen und ging mit ihnen auf Tournee,
und Body-Shop-Gründerin Anita Roddick initiierte Fairtrade-Projekte mit ihnen. Besonders
▶▸Paulo Payakan, einer der Führer, wurde zum international gefragten Medienstar und
Vortragsreisenden, der auf den Titelseiten amerikanischer Illustrierten als „Der Mann, der die
Welt retten könnte” vorgestellt wurde. Wie ein westlicher Politiker und Umweltaktivist es
gegenüber einem anderen Wissenschaftler formulierte: ▶▸ „We needed someone to represent the
human side. … Paiakan had a genuine appearance, and of course the regalia made good media.
He really seemed to represent the forest” (Conklin und Graham 1995: 701). Dies alles hat für die
Kayapó lohnende Folgen gehabt, denn die geplanten Projekte wurden gegen den Druck der
internationalen Öffentlichkeit undurchführbar, und die Kayapó haben mittlerweile die
Landrechte für ein Gebiet von der Größe Schottlands zugesprochen bekommen.
Zum Schrecken der Öko-Aktivisten, aber auch zur Genugtuung von Teilen der brasilianischen
Öffentlichkeit und der Presse, die die Einmischung der westlichen Umweltschützer immer schon
als neoimperialistische Zumutung empfanden, betätigen sich aber nun keineswegs alle KayapóGemeinschaften als Hüter des ökologischen Welterbes. Manche vergeben vielmehr
Tropenholzkonzessionen und Schürfrechte und legen sich sogar mit Regierungsinstitutionen an,
die sie daran hindern wollen. Entsprechend scharf sind die Vorwürfe vor allem aus Brasilien
selbst, wo es eine große Zahl von Kräften gibt, die den Regenwald liebend gerne nach ihren
eigenen Vorstellungen nutzen würde und die Kayapó der Heuchelei zeiht.
Probleme der Allianz
Conklin und Graham zufolge leidet die Indianer-Öko-Allianz vor allem an drei Problemen.
Erstens wird in ihnen das Indianertum auf eine Weise dargestellt, die den tatsächlichen indigenen
Lebensrealitäten nicht entspricht. Um Sting in den Regenwald zu bringen oder in westliche
Illustrierte zu gelangen, müssen die Indianer westlichen Stereotypen entsprechen. In diesem Fall
bedeutet es das des ▶▸ „ecologically noble savage”, d. h. des „ökologisch elden Wilden”, also
eine in den 1980er Jahren aufgekommen Spielart des ja schon älteren Motivs des edlen, vom
korrumpierenden Einfluß der Zivilisation unberührten Wilden, der sich als ein Topos der
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Kulturkritik von Jean-Jacques Rousseu bis zu Karl May durch die westliche Geistesgeschichte
zieht ▶▸(siehe z. B. Kohl 1981). Die Kayapó beziehen ihren Appeal aus der westlichen
Vorstellung, daß sie das Wohlergehen der natürlichen Umwelt über alles andere stellen. Für die
brasilianischen Indianerführer sind tatsächlich die Selbstbestimmung ihrer Gemeinschaften und
deren freie Verfügungsgewalt über die natürlichen Ressourcen immer wichtiger gewesen. Nur
scheint das strategische Eingehen auf die Erwartungshaltungen ihrer Bündnispartner durch eine
entsprechende Selbststilisierung, eigentlich ein normaler Akt in der Politik, hier ein besonderer
Affront zu sein, denn es widerspricht eben dem Bild vom edlen Wilden, der zu so etwas wie
cleverem Opportunismus gar nicht fähig ist.
Ein zweites Problem ist die Tatsache, daß die Kommunikation zwischen den indianischen
Gemeinschaften und den globalen Sympathisanten schon allein aufgrund der großen
Entfernungen und oft begrenzten sprachlichen Kompetenz von einer sehr kleinen Anzahl von
Vermittlern abhängt, meist indianischen Führungspersönlichkeiten. Diese haben dadurch heikle
Positionen, nicht nur gegenüber ihren ausgesprochen egalitären, gegenüber persönlicher
Geltungssucht sehr empfindlichen Gemeinschaften, sondern auch gegenüber der Außenwelt, in
der alles Fehlverhalten gleich auf ihre gesamte Gemeinschaft generalisiert wird. Im Fall von
▶▸Paulo Payakan zeigte sich dies besonders eklatant: Am Anfang des Klimagipfels in Rio de
Janeiro 1992, auf dem er eine Hauptattraktion auf dem alternativen Gipfeltreffen der indigenen
Gruppen sein sollte, wurde er von einer Brasilianerin der Vergewaltigung bezichtigt. Das Timing
ist verdächtig, und die offensichtlich von seinen Gegnern lancierten Vorwürfe konnten vor
Gericht auch nicht erhärtet werden, aber dennoch distanzierten sich in der Folgezeit viele NGOs
von ihm, und mit Vortragsreisen und Titelseiten war es nun erst einmal vorbei. Brasilianische
Medien nahmen Payakans Fall zudem zum Anlaß, auf die Kayapó im allgemeinen loszuschlagen
und die Diskrepanzen zwischen ihrer Idealisierung durch die Umweltbewegung und ihrem
tatsächlichen Handeln auszuschlachten.
Drittens schließlich kommt das, was auf der globalen Bühne als positive politische
Entwicklung gilt, national nicht immer ebenso gut an. Breite Teile der brasilianischen
Öffentlichkeit verdächtigen die Umweltschützer, die Indianer nur vorzuschieben, um selbst
Kontrolle über den Regenwald zu erlangen. Die Indianer sind also im besten Fall naiv, im
schlimmsten Fall aber unpatriotisch und leisten dem westlichen Öko-Imperialismus Vorschub,
und ob die so bedingten Antipathien die unbestreitbaren Erfolge nicht auf lange Sicht gefährden,
bleibt abzuwarten. Dies ist die Folge eines Grundwiderspruchs des neuen indianischen
Einflusses, den Conklin und Graham folgendermaßen ausdrücken: ▶▸ „In Amazonian identity
politics, Indians’ power – to the extent that they have any – derives not from traditional forms of
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economic power or patronage, but from Westerners’ ideas about Indians” (Conklin und Graham
1995: 701).
Nacktheit und Authentizität
Die Überzeugungskraft der Indigenen beruht wesentlich auf ihrer Traditionalität und
Authentizität, und kaum etwas anders repräsentiert diese so augenfällig wie ihre Körperbilder
(body images), wie Conklin es ausdrückt, oder wie man auch sagen kann: ihre Bekleidung bzw.
deren Fehlen (Conklin 1997). ▶▸Bei ihren internationalen Auftritten erscheinen die Kayapó und
andere brasilianische Indianer mit Kopfschmuck, nackten und bemalten Oberkörpern,
Perlenketten und Federn, anders als in früheren Jahren, wo alle Amazonas-Indianer größten Wert
darauf legten, sich so unauffällig wie möglich an die allgemeinen brasilianischen Kleidungssitten
anzupassen. Einigen Beobachtern gilt diese Rückkehr zu traditionellen Körperbildern als
Ausdruck eines neuen Stolzes und politischen Selbstbewußtseins.
Conklin stellt diese Bedeutung nicht in Abrede, zeigt aber auf, daß sich die traditionellen
Kleidungssitten keineswegs nur an indianischen Maßstäben ausrichten, sondern ganz wesentlich
auch an westlichen Erwartungen. Gegenüber zu Besuch kommenden NGO-Vertretern und
Journalisten, mit denen oft nur minimale sprachliche Verständigungsmöglichkeiten bestehen,
sind visuelle Statements dieser Art besonders effektiv. Halbnackte Regenwald-Indianer wirken
einfach authentischer, und Conklin berichtet eine Vielzahl von sozialen Interaktionen – auch z. B.
zwischen verschiedenen Indianergruppen, die auf eine politische Demonstration gehen –, in
denen die einen Akteure die anderen dazu auffordern, die Kleider abzulegen und ihre Körper auf
traditionelle Weise zu schmücken, weil dies so viel wirksamer sei. Gerade die Kayapó verstehen
sich auf den Einsatz dieser visuellen Stimuli, denn sie haben schon früh damit begonnen, Video
für ihre Zwecke einzusetzen, mit der anfänglichen Hilfe des amerikanischen Ethnologen Terence
Turner. Fotos von ihren Kameraleuten in traditioneller Kleidung, aber mit einem Camcorder in
der Hand, sind mittlerweile regelrecht zu einem visuellen Klischee geronnen.
Die Art der neuen Halbnacktheit ist selektiv: Fast alles kann schnell wieder entfernt werden,
und die Menge der aufgetragenen Farbe ist begrenzt. Das traditionelle Schönheitsideal des
glatten, glänzenden Körpers, dem mit Einölen, der Auszupfung der Augenbrauen und der
Teilrasur der Kopfhaut nachgeholfen wurde, wird nicht sehr betont, und auch der frühere Akzent
auf stark riechende Körperfarben fehlt. Auch werden zwar Federn benutzt, aber kaum Affen- und
Jaguarzähne, denn dies würde demonstrieren, daß die Indianer im Westen beliebte Wildtiere
jagen. Die Anpassung an westliche Sensibilitäten ist offenkundig, und Conklin spricht von „neoindigenous body decorations” (Conklin 1997: 723).
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Ironisch ist bei alledem, daß der Körperschmuck von allen Beobachtern als Zeichen der
Kontinuität indianischer Lebensweisen gesehen wird. Denn einerseits zeigt Conklins Analyse,
daß er so traditionell gar nicht ist, und zum anderen ist es für indianische Gruppen wie die von
ihr selbst untersuchten ▶▸Wari’ gerade eine Überlebensstrategie gewesen, sich so unauffällig wie
möglich zu kleiden, denn dies garantierte die Kontinuität ihrer Lebensweise in anderen
Bereichen. Doch mittlerweile entdecken die Wari’ ebenfalls die Wirksamkeit der Nacktheit und
setzen sie nach anfänglichem Widerstreben auch selbst ein, wenn ihnen dies zweckmäßig
erscheint.
Inwieweit all diese dekorative Nacktheit nicht letztendlich Stereotypen vom Primitiven
bestätigt, ist für Conklin eine gute Frage, und klar ist, daß sie sich an einem fremden Blick
ausrichtet. Sie drängt auch die weniger nackten und visuell nicht so reizvollen Indianer aus dem
Blickfeld. Deutlich wird dies am Kontrast der Amazonas-Indianer mit den Anden-Indianern,
deren weit geringere Medienprominenz Conklin auch darauf zurückführt, daß diese eben
bekleidet herumlaufen, zudem oft in gewöhnlichem westlichen Stil. Und auch die nichtindianischen Bewohner des Regenwaldes, von denen es eine beträchtliche Anzahl gibt und die
oft ein nicht weniger umfassendes Wissen über die Ökologie des Waldes besitzen als die
Indigenen, haben keine Aussichten, für ihre Sorgen ähnlich viel internationales Gehör zu finden
wie die nackten Kayapó.
Der Trend zum Schamanen
Die 1990er Jahre haben noch eine neue Wendung gebracht, nämlich den Trend zum Schamanen
(Conklin 2002). Zunehmend präsentieren sich die öffentlichen Führungsfiguren der
brasilianischen Indianer als Schamanen, auch in den immer wichtiger werdenden panindianischen Bündnissen. Eigentlich sind Schamanen in Amazonien gar keine politischen
Figuren, und in vielen Gruppen schließt die Assoziation von Schamanismus mit Hexerei eine
Führungsrolle in der Gemeinschaft im Gegenteil sogar aus. Doch haben die ersten
Enttäuschungen mit Indianern, die ihre neugewonnenen Landrechte dazu nutzten, die
Holzeinschlagskonzessionen selbst zu vergeben, den Akzent der internationalen Beachtung
stärker von ihrem tatsächlichen ökologischen Verhalten auf ihr ökologisches Wissen verschoben.
Und dieses Wissen wird bei Schamanen vermutet. Da auch nicht alle Führer der ersten Phase
gleichermaßen vorbildlich agierten, gibt es einen weiteren Grund, von sich selbst nun als
Schamane und nicht mehr als ▶▸cacique, chefe oder mit anderen Bezeichnungen für Häuptling
zu reden. Und schließlich erhält der Schamane seine spezielle Position durch sein esoterisches
Wissen, nicht durch die Bestätigung der anderen Gemeinschaftsmitglieder, was es ihm erleichtert,
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auch unabhängig von diesen zu agieren und z. B. auf lange Auslandsreisen zu gehen.
Es ist allerdings ein „verallgemeinerter Schamanismus”, wie Conklin sagt, der hier vielfach
zu beobachten ist. Der amazonische Schamanismus ist geprägt von der Beziehung zu
Tiergeistern und von Bildern des Jagens, Kriegführens und Tötens. Überdies besteht oft eine
enge Verbindung zur Hexerei, so daß es sich also keineswegs um Protagonisten der sozialen
Harmonie handelt. Nicht so allerdings im „neo-indigenen” Schamanismus, um Conklins eigene
Formulierung von den Körperbildern (s. o.) auf die Schamanen zu übertragen: Hier ist es das
Wissen um Heilpflanzen, was in den Vordergrund gestellt wird. Dieses ist zwar in manchen
Indianergruppen tatsächlich das Spezialgebiet der Schamanen, in anderen aber durchaus auch
nicht, und dort sind es häufig eher Frauen statt männlicher Schamanen, die einschlägige
Kenntnisse haben.
Conklins Analysen weisen also auf bewußte Kulturgestaltung hin, immer mit dem Ziel, den
eigenen Status als Indigene auch für Außenseiter überzeugend zu demonstrieren. Dies zur
Kenntnis zu nehmen, ist wichtig, nicht zuletzt, weil es zeigt, wie mächtig westliche oder
zumindest ursprünglich aus dem Westen stammende Konzepte, Bilder und Stereotypen bleiben,
so daß oft die gekonnte Anpassung an sie mehr Erfolg für die eigenen Ziele verspricht als ein
kultureller Purismus. Daß dies für die Indigenen auch Kosten bedeutet, ist offenkundig, doch
sollte man hierüber nicht zu sehr klagen und die aneinander vorbeizielenden Projektionen beider
Seiten – der indigenen wie der ökologisch bewegten westlichen – nicht nur als Problem ansehen.
Denn daran, daß viele der brasilianischen Indigenen mit der Hilfe der neuen Bündnispartner
größere Handlungsautonomie errungen haben, ist nicht zu rütteln, und die Alternative wäre
vielleicht ein mit weniger strategischem Bewußtsein geformtes kulturelles Selbstbild, aber eine
davon abgesehen sehr viel unangenehmere und dem Fortbestand indianischer Eigenständigkeit
abträglichere Lebenssituation.
Transnationale Indigenen-Politik
Ein letzter Aspekt des modernen Indigenentums, den ich noch ansprechen möchte, sind die
transnationalen Verbindungen zwischen den Indigenen, die immer stärker geknüpft werden. Die
Himba in Namibia wurden während ihres Widerstands gegen ein Staudammprojekt der
Regierung, das Teile ihres Weidelandes überflutet hätte, von Indigenen aus anderen Kontinenten
unterstützt, und skandinavische Sami, Aborigines und Cree-Indianer kamen persönlich vorbei.
Man
kann
sich
vorstellen,
daß
die
Entwicklung
Kommunikationsmöglichkeiten solche Schulterschlüsse sehr erleichtert.
der
elektronischen
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▶▸Jeden Sommer trifft sich im UNO-Hauptgebäude in Genf die Working Group on
Indigenous Populations (UNWGIP oder WGIP) zu einer Konferenz mit Hunderten von
Teilnehmern, nicht wenige von ihnen in traditioneller Bekleidung, und dies schon seit 1982. Sie
steht sowohl den Vertretern interessierter Indigener als auch denen interessierter Staaten offen.
2000 kam das ▶▸United Nations Permanent Forum on Indigenous Issues (UNPFII oder PFII)
hinzu, das seit 2003 jährlich in New York tagt. Diese beiden Institutionen bilden die breitesten
und hochrangigsten Foren für den globalen Indigenitätsdiskurs und für die Begegnung von
Indigenen aus aller Herren Länder. ▶▸Im folgenden gebe ich wieder, was die Berliner Ethnologin
Ute Siebert und Andrea Muehlebach, eine an der University of Chicago tätige Ethnologin, bei
den Genfer Konferenzen der WGIP beobachtet haben (Muehlebach 2001, Siebert 1997).
Siebert zufolge setzen sich auch im Umgang der indigenen Vertreter miteinander die
konventionellen Hierarchien des Weltsystems durch. Die Working Group wurde von Indigenen
aus den Siedlerstaaten der Ersten Welt ins Leben gerufen, also nordamerikanischen Indianern,
Aborigines und Maori, und diese dominieren zumal angesichts ihrer Englischkenntnisse bis
heute die Diskussion, besitzen gute Kenntnisse der UN-Bürokratie und der juristischen
Feinheiten und stellen auch die Elite der besonders Konferenz- und Förderantragserfahrenen. Die
spanisch- und portugiesischsprachigen Teilnehmer, also die lateinamerikanischen Indianer, sind
zwar genauso lange dabei, neigen aber vor allem aus sprachlichen Gründen eher dazu, sich
abzukapseln, und die Indigenenvertreter aus der ehemaligen Sowjetunion, Afrika und Teilen
Asiens sind meist Neulinge und bleiben eher passiv.
Mitte der 1990er Jahre wurde vor allem die Notwendigkeit einer einheitlichen Definition von
Indigenität kontrovers diskutiert. Dies hatte seinen Grund, denn unter den Teilnehmern waren
südafrikanische Buren, die sich selbst ebenfalls als Indigene sehen, da sie von den nachfolgenden
Engländern und Holländern unterworfen wurden, eine erst in Afrika aus dem Niederländischen
entstandene Sprache sprechen und dort schon seit Jahrhunderten leben. Die anderen Teilnehmer
teilten diese Auffassung verständlicherweise nicht und sahen die Buren vielmehr als Teil des
ehemaligen Apartheidregimes, das die wahren – nämlich die schwarzen – Indigenen
unterdrückte, und so kam es jedesmal, wenn einer der Buren das Wort ergriff, zum kollektiven
Walkout Hunderter von Teilnehmern.
Auch die ebenfalls anwesenden Vertreter einer Reihe von asiatischen Staaten, darunter Indien,
Bangladesh, Burma und China, stehen dem Indigenenbegriff kritisch gegenüber. Vorgeblich sind
sie nur zum Zuhören da und um anderen Indigenen behilflich zu sein, wie es der Vertreter
Bangladeshs Siebert gegenüber formuliert, denn in seinem Land – so sagt er – ist jedermann
indigen und schon seit Jahrtausenden ansässig, so daß der Begriff dort keinen Sinn macht.
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Ethnische Minderheiten gebe es zwar in Bangladesh, doch seien dies genauso oder genauso
wenig Indigene wie die bengalische Mehrheitsethnie, und das Auftreten dieser Indigenen bei der
UNWGIP verwundere ihn. Klar ist hier also, daß Staaten, die mit potentiellen oder tatsächlichen
ethnischen Sezessionbewegungen zu kämpfen haben – wie eben die genannten Länder – wenig
Interesse daran haben, diesen auch noch die spezielle Legitimation der Indigenität zu verleihen,
und den Begriff aus diesem Grund auf die von europäischen Migranten kolonisierten Länder
beschränkt sehen möchten.
Muehlebach bestätigt, daß anfangs die Indigenen aus den anglophonen Siedlerstaaten die
Diskussion dominierten, sich aber mittlerweile auch asiatische und afrikanische Indigene
verstärkt beteiligen. Dessen ungeachtet ist der Diskurs der Indigenenvertreter bemerkenswert
einheitlich, indem er für die eigenen Kulturen eine besonders enge Verbindung mit dem Land,
der natürlichen Umwelt und den Vorfahren reklamiert. Nach einem anfänglich eher moralischen
Verständnis dieses Nexus treten seit den 1990ern der Erhalt der Biodiversität und das praktische
Potential indigenen Wissens in den Vordergrund. Geteilt bleibt dieser Diskurs aber trotzdem.
Dies verdankt sich Muehlebach zufolge der Tatsache, daß viele Indigenenvertreter mit nur
halbfertigen Beiträgen zu den UN-Konferenzen kommen und man sie diese dort mit anderen
Indigenen und den Mitarbeitern von Unterstützungs-NGOs durchsprechen und von freiwillig
helfenden Ethnologiestudenten übersetzen lassen sieht. Zugespitzt formuliert sind diese
Konferenzen also neben allen anderen ihrer wichtigen Funktionen auch der Produktionsort von
globalen Indigenitäts-Standards, ausgerichtet auf ein internationales Publikum, und damit spielt
sich hier ähnliches ab wie in der Allianz zwischen den amazonischen Indianern und den sie
unterstützenden westlichen Umweltschützern.
Fazit
Die Globalisierung erfaßt also nicht alle Indigenen, und in Amazonien, Papua-Neuguinea und
auf North Sentinel Island gibt es weiterhin Gruppen von in allen Fällen höchstens dreistelligen
Personenzahlen, die zwar von der Existenz einer Außenwelt wissen und manchmal auch indirekt
von ihr Güter beziehen, sich ihr gegenüber aber als bemerkenswert widerständig erweisen und
keinen Wert auf direkte Außenkontakte legen. Wo die Einbindung in das globale System jedoch
besteht – und es sind oft die Indigenen, die selbst am wenigsten Einfluß darauf haben –, bringt
die Globalisierung den Indigenen heute nicht mehr immer nur die Unterdrückung und
Diskriminierung durch Kolonialherren oder nationale Mehrheitsgesellschaften, sondern auch
neue Handlungsperspektiven. Und in diesen spielt ein zusehends global vereinheitlichtes Bild
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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vom Indigenen eine wesentliche Rolle. Man kann beklagen, daß es aufgrund westlicher
Vorstellungen und Klischees geprägt wurde und die Ausrichtung auf den westlichen Blick auch
heute bestimmend bleibt. Es ist allerdings auch deutlich, daß die Indigenen der Welt mehr als je
zuvor an der Gestaltung dieses Bildes mitwirken und daß dabei pan-indigene Netzwerkkontakte
und transnationale Foren eine zunehmende Rolle spielen. Die Lage ist also gespalten: Auf der
einen Seite stehen die von der Ausbeutung natürlicher Ressourcen wie Erdöl und Tropenholz
vorangetriebene Zerstörung der Lebensräume von indigenen Gruppen, die durch die
Globalisierung der Weltwirtschaft beschleunigt wird. Auf der anderen Seite stehen die sozialen
Möglichkeiten der globalen Kommunikation, die den auf sie eingehenden Indigenen die
Unterstützung der Weltöffentlichkeit und von Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen für
ihre Anliegen bringen können. Was hier die Oberhand gewinnt, wird sich von Fall zu Fall stark
unterscheiden,
und
einmal
mehr
fordert
damit
zusammengetragene Wissen zur Differenzierung auf.
das
von
der
Ethnologie
bislang
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Teil XII: Weltkultur, Kreolisierung und
globale Orte
Ein einfaches Fazit zur gesamten Vorlesung habe ich nicht zu bieten, ich weiß auch nicht, ob es
bei einem Thema wie Globalisierung eines geben kann. Ich möchte allerdings nach den ganzen
Einzelthemen der letzten Kapitel doch noch einmal den Blick aufs Allgemeine wenden. Zunächst
behandle ich die Frage, ob denn nun Hannerz’ Begriff der Kreolisierung wirklich so treffend ist,
wie es seine große Popularität suggeriert, oder ob andere Konzepte sich besser dazu eignen, die
kulturellen Formen und Folgen der Globalisierung zu verstehen. Dann möchte ich die
Erforschung globaler Orte anhand einiger Fallbeispiele behandeln.
Konzepte zur globalen Kulturentwicklung
Frachtcontainer und ISO-Normen
Frachtcontainer sind vielleicht die einzelne Innovation der materiellen Kultur, die die neoliberale
Globalisierung seit den 1970er Jahren am meisten gefördert hat. Wichtiger als der Schutz vor
Beschädigung und Diebstahl, den der Stahlbehälter gewährt, ist dabei die Tatsache, daß er als
Ganzes zwischen Schiff, Güterzug und Lastwagen hin- und hergeladen werden kann. Container
gibt es erst seit fünfzig Jahren, aber vor allem der Vietnamkrieg brachte laut ▶▸Levinsons Studie
(Levinson 2006) einen Verbreitungsschub, und heute sind weltweit über 20 Millionen von ihnen
im Umlauf, mit denen mehr als 70 Prozent des globalen Stückgutverkehrs abgewickelt werden.
Wo die Be- und Entladung eines Frachtschiffs früher Heerscharen von Hafenarbeitern über Tage
beschäftigte, brauchen ein paar Kranführer jetzt nur noch wenige Stunden. Das größte
Containerschiff ist fast 400 Meter lang und kann mehr als 15.000 Container aufnehmen, die
unter Deck noch einmal genau so hoch aufeinandergestapelt werden wie darüber. Der Tiefgang
dieser Schiffe hat die Geographie der Frachthäfen sehr verändert – wer von den alten Häfen hier
nicht mithalten konnte, ist verdrängt worden, während unter den Frachthäfen mit dem
gegenwärtig höchsten Frachtaufkommen einige sind, die es vor 20 Jahren noch gar nicht
gegeben hat. Die Containertechnik hat nicht nur den Welthandel, sondern auch die
Weltmarktproduktion revolutioniert. Denn wo die Transportkosten auf Centbeträge schrumpfen
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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– eine Flasche Wein von Australien nach Hamburg zu verschiffen kostet weniger als der LKWWeitertransport nach Süddeutschland –, ist es möglich, einzelne Produktionsschritte räumlich so
weit zu verteilen wie nie zuvor. “Without the container, there would be no globalization”, urteilt
der Rezensent von Levinsons Buch im Economist. Man wird sich bereits anstrengen müssen, auf
dieser Erde noch Haushalte zu finden, die nichts besitzen, was einmal in einem Frachtcontainer
gewesen ist.
Daß es so weit kommen konnte, erforderte allerdings mehr als die Erfindung einer stählernen
Box. Wichtig ist zusätzlich – wie auf dem Foto deutlich zu sehen –, daß die Container der Welt
einheitliche Maße haben. Fast alle sind 8 feet breit, 8,5 feet oder – als sogenannter high cube– 9,5
feet hoch und entweder 20 oder 40 feet lang (d. h. etwa 2,5 x 2,5 bzw. 3 x 6 bzw. 12 Meter).
Zumindest die Breite ist also immer gleich. Wie sehr die Standardisierung der Außenmaße,
Eckbeschläge und Türvorrichtungen den Welthandel erleichtert, kann man sich unschwer
vorstellen,
und
Schiffe,
LKWs,
Züge,
Verladekräne,
Straßenverkehrsordnungen
und
Bauvorschriften in aller Welt haben sich darauf eingestellt.
Diese Einigung ist der ▶▸„Internationalen Organisation für Normung” (International
Organization for Standardization) in Genf zu verdanken, die die sogenannten ISO-Normen
produziert. Von diesen gibt es mittlerweile mehr als 15.000, und täglich kommen im
Durchschnitt zwei hinzu. Die Kurzbezeichnung „ISO” für die Organisation selbst dokumentiert
bereits das Bemühen um Vereinheitlichung, denn sie ist keine Abkürzung – eine solche würde in
den verschiedenen Sprachen ja unterschiedlich sein –, sondern das von dem altgriechischen Wort
für „gleich”, isos, abgeleitete Morphem in Wörtern wie „Isomorphie”, „Isometrie” oder
„Isotherme”. ISO ist keine Regierungs- oder UN-Organisation; Mitglieder sind vielmehr die
nationalen Normeninstitutionen von inzwischen 157 Staaten, im deutschen Fall das Deutsche
Institut für Normung (DIN). Das letztere ist von der Bundesregierung zwar vertraglich anerkannt
und
insofern
staatlich
legitimiert,
aber
jede
interessierte
Firma,
Behörde
oder
Verbraucherorganisation kann Mitglied werden. Und jedes dieser nationalen Mitglieder kann
wiederum bei ISO einen Antrag auf die globale Normierung eines bestimmten Gegenstandes
oder Prozesses einreichen, seien es nun Schraubgewinde oder Verfahren zur Qualitätssicherung.
Dann wird eine Arbeitsgruppe gebildet, und finden sich genügend interessierte Kräfte für die
Weiterverfolgung und gefällt das Ergebnis der Beratungen allen Mitgliedsinstitutionen, wird es
schließlich als weltweite Norm publiziert. Als Ergebnis passen Kreditkarten, CDs oder die
Zapfvorrichtungen an den Tanksäulen, wohin wir auch reisen.
Es gibt weltweit befolgte Normen, die sich auch ohne ISO entwickelt haben, und umgekehrt
verabschiedete ISO-Normen, die allgemein ignoriert werden, wie etwa die zur Schreibung von
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Postadressen. Nicht wenige ISO-Normprojekte erreichen keinen Abschluß; das Dezimalzeichen
z. B. – Punkt oder Komma? – wird trotz Vereinheitlichungsbemühungen weiterhin uneinheitlich
geschrieben. Auch bei den Frachtcontainern herrschte anfangs ein Wildwuchs der Formate, der
aufgrund nationaler Partikularinteressen nicht auf eine einheitliche Version reduziert werden
konnte. ISO segnete schließlich drei Größensysteme ab, neben den heute vorherrschenden
Containermaßen auch eine auf dem metrischen System beruhende und eine von den damaligen
Ostblockländern favorisierte Version. Die Marktnachfrage fällte hier die Entscheidung, und die
letzteren beiden Größensysteme verschwanden binnen weniger Jahre. Doch so sehr viele der
ISO-Normen wegen ihrer millionenschweren Konsequenzen umkämpft sind und so intensiv
Unternehmen und Lobbyorganisation sich hier einmischen, so wenig wünschen sich fast alle
Beteiligten die Abwesenheit von Normen. Und daher kommen, obwohl die Entscheidungen bei
ISO im Konsens fallen müssen, weltweite Einigungen trotzdem zustande.
Weltkultur
Die ISO-Normen fallen unter das, was die Soziologen ▶▸Frank Lechner und John Boli als “world
culture” bezeichnen (Lechner und Boli 2005). Hierzu gehören ihnen zufolge globale Standards
im Transport- und Kommunikationswesen und bei den Staats-, Unternehmens- und Marktformen,
das von der Wissenschaft produzierte und in den Schulen der Welt vermittelte Faktenwissen
sowie Werte und Normen, vor allem diejenigen der europäischen Aufklärung wie Demokratie
oder Menschenrechte. Olympische Spiele oder UN-Gipfel sind die Rituale dieser Weltkultur,
aber ihre Pioniere sind laut Lechner und Boli vor allem die mittlerweile mehr als 25.000
internationalen Nichtregierungsorganisationen (▶▸INGOs). Darunter sind sehr bekannte wie die
FIFA, das Rote Kreuz oder die Sozialistische Internationale, aber auch so unauffällige wie eben
ISO oder das ▶▸International Cable Protection Committee, das für die unterseeischen
Glasfaserkabel – also das Rückgrat der elektronischen Weltkommunikation – zuständig ist. Die
von diesen Organisationen geschaffene Weltkultur hat in den Gesellschaften weltweit immer
größeren Einfluß.
Das Konzept der Weltkultur widerspricht der vorherrschenden ethnologischen Sichtweise der
Globalisierung. Hannerz betont ja mit „Kreolisierung” und Appadurai mit „Indigenisierung”, daß
importierte Kulturgüter lokalen Bedürfnissen angepaßt werden und dabei neue Formen und
Bedeutungen erhalten. So wird das Weihnachtsfest auf Trinidad zum Anlaß, die Wohnung zu
renovieren, der Futon steigt bei uns von einer gewöhnlichen japanischen Schlafunterlage zu
einem Distinktionsmerkmal gehobenen Lebensstils auf, und venezianische Glasperlen werden
für Sanburu-Frauen zu Symbolen der Fülle und der Fruchtbarkeit und für amerikanische New-
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Age-Anhängerinnen zu Reliquien eines im Untergang befindlichen authentischen Lebensstils.
Ethnologen betonen die Allgegenwart solcher Phänomene und ihre Widerständigkeit gegen eine
globale kulturelle Vereinheitlichung immer wieder gerne, auch wenn ohnehin niemand im Fach
entschieden in eine andere Richtung argumentiert. Nicht selten begrüßen sie den Fortbestand der
kulturellen Vielfalt zudem. Marshall Sahlins zufolge ermöglichen es passend eingefügte
Kulturimporte unseren Informanten, mehr sie selbst zu sein: ▶▸„The first commercial impulse of
the people is not to become just like us but more like themselves. They turn foreign goods to the
service of domestic ideas, to the objectification of their own relations and notions of the good
life” (Sahlins 1993: 17). Und ▶▸Ulf Hannerz führt in einem Kapitel seines GlobalisierungsBuchs (Hannerz 1996) „[s]even advantages of cultural difference” auf, während ein
entsprechendes Kapitel über die Vorteile kultureller Übereinstimmungen fehlt. Schon aus
professionellen Interessen scheinen die Sympathien der Ethnologen genau in die Gegenrichtung
der ISO-Bemühungen zu gehen.
Aber stimmt die Interpretation der Globalisierung als Hervorbringer immer neuer kultureller
Vielfalt? Ich persönlich halte sie für übertrieben. Globalisierungsbedingte Kulturimporte
erweitern zweifellos das an den verschiedenen Orten und in den verschiedenen Gemeinschaften
zur Verfügung stehende Repertoire der kulturellen Formen – es ist einfach mehr Kultur da, aus
der man seine persönliche Version auswählen kann. Außerdem erweitert Globalisierung den
Kreis der als Quellen oder auch als Publikum solcher Kulturelemente wahrgenommenen
Personen, Institutionen und Orte, also die Bezugspunkte für kulturelle Ausdrucksformen. Selbst
die Urapmin machen sich Gedanken über den Papst oder über den Golfkrieg, so weit entfernt
diese von ihrem Alltag auch sind. Und wo die kulturellen Repertoires und die Referenzpunkte
sich vervielfältigen, sinkt die kulturelle Einheitlichkeit, da die Individuen und Gruppen mehr
Möglichkeiten haben, unterschiedliche Auswahlen zu treffen. Gleichzeitig steigt die
Wahrscheinlichkeit, daß an verschiedenen Orten und in verschiedenen Gemeinschaften die
gleichen Kulturelemente auftauchen. Was dabei vor allem aufgebrochen wird, ist die Kongruenz
von Ort, Gemeinschaft und Kultur – deutliche kulturelle Inseln mit großem kulturellen Abstand
nach außen hin werden immer seltener.
Diese wachsende Unübersichtlichkeit der kulturellen Verteilungen kann man je nach
Sichtweise als Heterogenisierung der Kultur verstehen. Doch halte ich es für wahrscheinlich, daß
der Gesamtvorrat an Kulturelementen in der Welt abnimmt. Hannerz schließt dies aus, weil er
meint, daß sich unsere Möglichkeiten zur Speicherung und Archivierung alter Kultur so
verbessert haben, daß das ▶▸„haphazard forgetting of old culture” (Hannerz 1996: 24) seltener
wird. Aber wenn Steinäxte nur noch im Museum stehen oder nur noch aus symbolischen
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Gründen gebraucht werden, bedeutet es eben doch, daß sich die effektiveren Alternativen –
Stahläxte oder gleich Kettensägen – global durchsetzen. Die Verfügbarkeit industriell
produzierter und weltweit exportierter Massengüter reduziert die Zahl der Sonderlösungen, die
früher aus den lokal verfügbaren Ressourcen entwickelt werden mußten. Zwar wird ständig neue
Kultur produziert, und schon allein der moderne Massen- und Markenkonsum bringt
unaufhörlich neue Detailvariationen hervor. Aber auch wenn es Zehntausende T-Shirt- und
Hemdenschnitte und -designs geben mag, erscheint mir das heutige Spektrum der auf dieser Erde
getragenenen Kleidung trotzdem enger als die Vielfalt der Formen und Materialien, die z. B. im
Jahr 1500 existiert hat. Längst nicht immer ist dies eine Frage der Effektivität: Das Prestige
westlicher Modernität und Handelsbedingungen, die die multinationalen Konzerne bevorteilen,
sind sicher ebenso wichtig.
Aber nicht nur in den von Lechner und Boli als „Weltkultur” apostrophierten Bereichen,
sondern auch in der materiellen Kultur von Kleidung, Behausungen, Möbeln, Alltagsgeräten
vom Besteck bis zum PC, Nahrungsmitteln oder Fahrzeugen, in Technik, Wirtschaft,
Staatsführung und Medizin oder bei den Sprachen gibt es deutliche Anzeichen dafür, daß die
kulturelle Spannweite durch Globalisierung schrumpft. Dieselbe Globalisierung sorgt zwar wie
gerade ausgeführt für undeutlichere Verteilungen innerhalb der verengten Spannweite und für
mehr Bewußtheit für die eigene kulturelle Ausstattung, so daß für den Kulturforscher genug zu
tun bleibt. Doch eine Ethnologie, die Globalisierung einseitig als Quelle der kulturellen
Diversifizierung darstellt, mag zwar als Reaktion auf den populären „radical diffusionism” im
Hannerz’schen Sinne erklärlich sein, ist aber trotzdem für die genannten Kulturbereiche nicht
sehr realistisch.
In Kulturbereichen, die nicht so sehr von praktischen Erwägungen oder von dem, was der
Markt hergibt, diktiert sind – so wie etwa Sozialorganisation oder Religion – gibt es weniger
Anzeichen für globale Vereinheitlichungstendenzen. Ganz von der Hand zu weisen sind sie aber
auch hier nicht. Neuere Arbeiten ▶▸(Hirsch und Wardlow 2006) dokumentieren z. B. einen
weltweiten Trend hin zur companionate marriage, in der der Ehepartner nicht nur Versorger,
Haushälter, Kindererzieher oder Angehöriger einer verbündeten Lineage ist, sondern Geliebe/r,
Freund und emotionale Stütze. Ein Zusammenhang mit der Anziehungskraft der telenovelas und
anderer soap operas ist hier sicher vorhanden. Andere globale soziale Trends – z. B. hin zur
Kleinfamilie oder weg von komplexen Verwandtschaftssystemen – sind ebenfalls prinzipiell
vorstellbar, doch fehlen hierzu bislang systematische Untersuchungen, die darauf mehr machen
würden als bloße Spekulation.
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Kreolisierung
Weltkultur, also die Idee von einer global verbreiteten Kulturschicht oder mehreren solcher
Schichten, halte ich daher für ein durchaus bedenkenswertes Konzept. Und Kreolisierung ist
weniger unproblematisch, als es zunächst erscheinen mag. ▶▸In den letzten Jahren sind einige
neue Beiträge erschienen, die den Begriff kritisch diskutieren und auf seine Ablösung vom
karibischen Kontext und die Ignorierung der ideologisch-nationalistischen Dimension, die dort
bestand, hinweisen (Munasinghe 2006, Palmié 2006). ▶▸Hannerz als Hauptverbreiter hat hierauf
meines Erachtens berechtigterweise entgegnet, daß er sich weniger auf das bezogen hat, was
„Kreole” oder „kreolisch” in der Karibik bedeutet, sondern eher auf den allgemeinen
linguistischen Fachterminus, so wie ja auch “Kaste” in einer vom indischen Raum abstrahierten
allgemeinen Bedeutung verwendet wird (Hannerz 2006).
Aber das linguistische Konzept trifft meiner Meinung das eigentlich Angezielte gar nicht
richtig. Denn Kreolsprachen entstehen nach klassischer Definition dann, wenn ein in der
kolonialen Kontaktsituation entstandenes Pidgin zur Muttersprache wird, wie z. B. auf Jamaika
oder Haiti. Damit ist das einstmals Fremde zu eigen gemacht und die Verschmelzung komplett,
denn die eigene Muttersprache als etwas Externes anzusehen, wird sicherlich unmöglich sein.
Ähnlich stark integrierte Kulturimporte kommen ganz sicher vor. Kaum jemand denkt z. B. bei
Kartoffelpüree oder Reibekuchen daran, daß die darin verarbeitete Feldfrucht erst vor wenigen
Jahrhunderten aus Südamerika gekommen ist. Schon bei Bier und Whiskey in Japan liegt die
Sache jedoch anders. Sie sind zwar, wie bereits im Kapitel über die Globalisierung des
Warenkonsums geschildert, mittlerweile ein ganz normaler Alltagsbestandteil. Aber in der
einschlägigen Werbung treten Harrison Ford oder andere westliche Stars auf, in der SakeWerbung dagegen immer nur Japaner. Bier und Whiskey bleiben also im allgemeinen
Bewußtsein Kulturimporte, und gerade die Tatsache, daß sie etwas Westliches sind, macht einen
Teil ihrer Anziehungskraft aus. Ähnlich sehe ich es bei der deutsch-italienischen Kaffeekultur.
Cappuccino oder Latte macchiato sind für uns ebenfalls nichts Besonderes mehr, aber weiterhin
ist es für die meisten ihrer Genießer nicht unwichtig, daß sie aus Italien stammen, und ein
Espresso wird sich besser verkaufen, wenn der Markenname Lavazza und nicht etwa
Schmidtbauer oder Kasparek ist.
Die Attraktivität des importierten Kulturelements liegt in diesen Fällen gerade darin
begründet, daß es seinen Abstand wahrt; man könnte von einem Stück Gastkultur sprechen. Und
wachsende Vertrautheit mit der Gastkultur kann auch zu größerem Purismus führen: Aus Reis
gebrautes Bier – also ein deutliches Kreolisierungsprodukt – gibt es in Japan zwar durchaus, aber
die Kleinbrauereien produzieren wie bereits erwähnt mittlerweile kerushi taipu und andere lokale
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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deutsche Sorten für einen Liebhabermarkt, werden also originaler. Und der italienisch gebraute
Kaffee hierzulande ist auch im Laufe der Zeit authentischer geworden, Cappuccino mit Sahne
statt Milchschaum z. B. bekommt man mittlerweile nur noch selten serviert. Der Grad der
Kulturintegration ist hier ein anderer als bei der deutschen Kartoffel, und all diese
Kulturadaptionen als Kreolisierung zu bezeichnen, kann gewichtige Unterschiede verdecken.
Stattdessen sollte differenziert werden: Erfolgt eine komplette Integration des Kulturimports
(wie bei der Kartoffel), oder bleibt der Kulturimport als solcher sichtbar (wie beim Bier in
Japan)? Wird der Kulturimport verändert oder nicht? Wird die Veränderung bemerkt oder nicht?
(Futons werden hierzulande mit Dingen wie Roßhaar oder Latex gefüllt, während sie in Japan
immer nur aus Baumwolle bestehen, doch scheint dies kaum jemand zu wissen.) Wird die
Veränderung sogar bewußt herausgestellt, wie etwa vielfach bei Weltmusik? Und geschieht die
Herausstellung der Veränderung in affirmativer oder in kritischer Absicht? (Bei Mecca Cola ist
das letztere der Fall.) All diese Fragen lassen sich außerdem noch einmal separat für die
wahrnehmbare Form der Kulturimporte und die ihnen zugeschriebenen Bedeutungen betrachten,
wobei beides nicht gekoppelt sein muß. Es gibt also sehr vielfältige Formen der Kreolisierung,
Indigenisierung, Glokalisierung oder wie immer man es nennen möchte, und es wird sich lohnen,
sie systematischer zu unterscheiden.
Global systems of common difference und die Vervielfältigung der Zentren
Oft sind es ohnehin weniger bestimmte Kulturbestandteile als vielmehr die Achsen der
Kulturdifferenzierung, die sich global vereinheitlichen. Im Kapitel über Nationalismus habe ich
Orvar Löfgrens Überlegungen vorgestellt, wonach das Konzept der Nation als eine einheitliche
Grundstruktur zu sehen ist, zu der solche Dinge wie Nationalflaggen, Nationalhelden oder
Nationalgerichte gehören. Diese Grammatik, wie Löfgren es ausdrückt, ist aber mit einem
spezifischen Lexikon zu füllen, d. h. im Fall Italiens mit grün-weiß-rot, Garibaldi und Pasta und
Pizza, von denen jeder Bestandteil unverwechselbar zu sein hat. Was jedoch nicht existiert, sind
Alternativen zu der Grammatik, also z. B. ein Nationaltattoo statt einer Nationalflagge oder ein
Nationalsprichwort statt eines Nationalgerichts. ▶▸Der amerikanische Ethnologe Richard Wilk
(Wilk 1995) hat hier von „global systems of common difference” gesprochen (eigentlich ein
Oxmyoron): Kultur bleibt heterogen, aber innerhalb geteilter Grundstrukturen, die jeweils mit
Unterschiedlichem gefüllt werden. Genauso wie eine allgemeine Leerstruktur der Nation gibt es
auch eine des Indigenen oder eine der Fernseh-Seifenoper, und was sich unterscheidet, sind die
konkreten Füllungen dieser geteiltenLeerstruktur, also die besonderen Formen der ägyptischen
TV-Serie im Gegensatz zur brasilianischen oder die besondere Formen der Naturnähe und der
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Spiritualität bei den Hopi im Gegensatz zu den Maori. Solche Kanalisierung der Differenz wird
zusehends wichtiger, und die bereits erwähnte Zunahme der globalen Bezugspunkte sorgt für
Vorbilder und Gegenbilder, an die man sich anlehnen oder von denen man sich absetzen kann.
Ob das nun Homogenisierung oder Heterogenisierung von Kultur ist, ist eine Frage der
Sichtweise; am ehesten kann man wohl von einer Kanalisierung der Heterogenität sprechen.
Die Räume, in denen all dies stattfindet, sind zwar einerseits geschrumpft, indem es die
Transport- und Kommunikationstechnologien erleichtern, ferne Orte zu erreichen. Fast alles, was
ich ihnen in dieser Vorlesung vorgestellt habe, deutet aber darauf hin, daß es weiterhin
heterogene Räume sind, mit eindeutigen Zentren der globalen Aktivitäten und Imaginationen
und anderen Orten, die ihnen gegenüber peripher sind, so daß ich zumindest diesen Ansatz der
Dependenz- und Weltsystemtheorien nicht aufgeben würde. Für die aktuelle Kulturentwicklung
charakteristisch erscheint mir aber die Vervielfältigung der Zentren. Die gängigen global cities
wie New York oder London sind in dieser Vorlesung mehrmals vorgekommen. Ausdrücklich
oder implizit ging es aber auch um andere Zentren, wie etwa Washington (der Sitz der IFIs),
Toronto (der Sitz von Inco, der Bergwerksgesellschaft, die die Mine in Soroako betreibt), Mekka
(als Inspirationsquelle für Mecca Cola und als spirituelle Attraktion für die in die Golfstaaten
migrierenden Männer aus Talukpur), Kairo (als Standort der Al-Azhar-Universität, der
wichtigsten Ausbildungsstätte des Islam, und Legitimator für die von dort stammenden
Islamgelehrten in Frankreich), Rom (als Sitz des Antichristen – zumindest in der Sicht der
Urapmin), Genf (als Treffpunkt der Working Group on Indigenous Peoples) oder Meizhou (als
Ort des Mazu-Haupttempels) haben eine Rolle gespielt. Und die wachsende Zahl
weltumspannender Organisationen, Bewegungen, Moden und anderer Aktivitäten sorgen dafür,
daß auch viele andere Orte für bestimmte von ihnen zentral sind und weltweit ausstrahlen. Diese
globalen Zentren liegen zwar häufig, aber längst nicht immer in den reichen Ländern – an
Kingston in Jamaika (für den Reggae), ▶▸Auroville in Indien (für die Anhänger
gesellschaftlicher Utopien und Hippies der Welt) oder ▶▸Qom im Iran (der heiligen Stadt der
Schiiten) hängt ebenfalls jeweils ein kleines Weltsystem. Die Vervielfältigung der Bezugspunkte,
von denen ich sprach, ist also durchaus auch topographisch zu verstehen, und die wachsende
Zahl der für irgendetwas als globale Zentren fungierenden Orte trägt ebenfalls zur Erweiterung
der lokal jeweils vorhandenen kulturellen Repertoires da.
Globale Orte und Institutionen
Eine Ethnologie der Globalisierung muß sich meines Erachtens nicht nur auf solche Fragen
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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beziehen und diesen sicherlich auch systematischer nachgehen, als ich es getan habe. Eine
weitere Aufgabe ist es zu klären, was an globalen Orten und in globalen Institutionen vor sich
geht. Zum Teil liegen diesen in den gerade beschriebenen, zahlreicher gewordenen Zentren des
globalen Kultursystems. Es gibt jedoch durchaus auch Orte, die selbst keine Zentren sind, aber
an denen sich Menschen und Menschengruppen mit unterschiedlichen Zentrumsorientierungen
zusammenfinden und die deshalb eine besondere, globale Qualität haben. Mit drei globalen
Orten bzw. Institutionen – in allen Fällen ist beides beteiligt – möchte ich mich in der Folge
beschäftigen.
Ich beginne bei der globalen Organisation mit dem umfassendsten Vertretungsanspruch,
nämlich den Vereinten Nationen. 1945 gegründet, ist die UN aus dem bereits 1920 gegründeten
Völkerbund (der League of Nations) hervorgangen und heute eine der einflußreichsten globalen
Organisationen. Dem Ziel, eine Art Weltregierung zu bilden, der sich die Nationalstaaten fügen,
sind die UN und ihre vielen Neben- und Sonderorganisationen sicherlich weiterhin fern, aber in
eine große Zahl politischer und wirtschaftlicher Vorgänge der Gegenwart sind sie trotzdem
involviert. Gleichzeitig werden diese Gremien aber nicht von der Weltbevölkerung gewählt,
sondern von den Mitgliedsstaaten gebildet; im Fall der Vereinten Nationen nicht weniger als 192
an der Zahl. Und aus dem Gegensatz zwischen universalem Anspruch und nationalen
Partikularinteressen erwachsen viele der Funktionsprobleme, die die UN heute hat, wie einen
schon die tägliche Zeitungslektüre lehrt.
Die verschiedenen UN-Organisationen sind bereits das Objekt einiger ethnologischer Studien
geworden, z. B. die bereits in der letzten Woche vorgestellten Arbeiten zur Working Group on
Indigenous Peoples, die dem UN-Menschenrechtsrat zugeordnet ist. Ich werde mit einer Studie
zu den UN-Friedensmissionen fortfahren und ihnen dann einen kurzen Einblick in meine eigenen
ersten Erkundungen zum Welterbe der UNESCO geben.
Die Stützpunkte der UN-Friedenstruppen in Israel
▶▸Zwei israelische Ethnologen, Eyal Ben-Ari und Efrat Elron von der Hebrew University in
Jerusalem, haben eine Studie über die Friedenstruppen der UN, die an den diversen
Brennpunkten in und um Israel stationiert sind, durchgeführt (Ben-Ari und Elron 2001), worauf
besonders Ben-Ari als Erforscher des israelischen Militärs gut vorbereitet war ▶▸(Ben-Ari 1998).
Über drei Jahre hinweg haben sie mehr als 70 zumeist bereitwillig gewährte Interviews mit den
Soldaten verschiedener Truppenkontingente geführt, hauptsächlich mit Offizieren, da diese die
meisten Begegnungen mit Angehörigen anderer Nationen haben und für die Fragestellung der
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Studie daher am interessantesten waren. Bei der Auswahl achteten Ben-Ari und Elron auf
größtmögliche Varianz bezüglich Nationalität, Dienstgrad und Arbeitsaufgaben der Soldaten. Zu
den Interviews kamen Beobachtungen und die Auswertung von Dokumenten. Sicherlich würde
man mit einer längeren Feldforschung tiefer dringen können, aber Institutionen wie Armeen sind
wenig gewillt, sich in die Karten schauen zu lassen, so daß die Alternative wohl nur der
vollständige Verzicht auf eine Untersuchung gewesen wäre.
All die weltweit verteilten UN-Friedensmissionen tragen einen eigenen Namen mit eigener
Abkürzung, im Untersuchungsfall gehörten die Soldaten zu ▶▸UNTSO, einer Truppe, die bereits
seit 1948 auf den Golan-Höhen und im Suez-Kanal die Waffenstillstände zwischen Israel und
seinen Nachbarn überwacht, UNDOF, einer weiteren Truppe, die den Waffenstillstand speziell
zwischen Israel und Syrien überwacht, und UNIFIL, einer dritten Truppe, die das Grenzgebiet
zwischen Israel und Libanon kontrolliert. UNDOF hat Soldaten aus Australien, Japan, Kanada,
Polen und der Slowakei, UNIFIL Soldaten aus Fiji, Finnland, Ghana, Indien, Irland und Nepal,
und UNTSO setzt sich aus den Mitgliedern nicht weniger als 24 nationaler Armeen zusammen.
Dies entspricht UN-Prinzipien, nach denen sich die Friedenstruppen immer multinational
zusammensetzen sollen, nach Möglichkeit zudem aus unterschiedlichen Weltgegenden. Die
Hauptquartiere sind ebenfalls bei all den drei untersuchten Truppen multinational, so daß also
die Angehörigen unterschiedlichster Nationen in großem Stil miteinander kooperieren müssen.
Neben der allgemeinen Frage, zu welchen Prozessen es in einer so multinationalen Arena kommt,
interessierte Ben-Ari und Elron im speziellen, ob sich unter diesen Bedingungen eine Art
transnationaler Kosmopolitismus herausbildet oder ob die nationalen Grenzen ihre Bedeutung
behalten.
Doppelte Hierarchien
In symbolischer Hinsicht werden die Herkunftsnationen transzendiert, denn UN-Friedenstruppen
tragen zwar die gewöhnlichen Uniformen der sie entsendenden Staaten, aber dazu die
namensgebenden blaue Helme oder Barette mit dem UN-Symbol, und ihre Kommandeure
stammen nicht selten aus anderen Staaten als dem eigenen. Doch existiert eine inoffizielle
Doppelhierarchie: Wie in allen Armeen dieser Welt gibt es auch unter den Blauhelmen eine
Rang- und Kommandoordnung, aber daneben treffen sich die Kommandeure der nationalen
Kontingente ebenfalls regelmäßig zu ihren eigenen Besprechungen, auch wenn diese
Kommandeure in der Blauhelm-Hierarchie gar keine besondere Position haben. Dies macht
deutlich, daß für die einzelnen Soldaten die nationalen Entsendearmeen, die sie für den
Blauhelm-Einsatz abordnen und in die sie nach dessen Ende zurückkehren werden, weiterhin der
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wichtigste Bezugsrahmen sind. In diesen spielen sich nämlich ihre persönlichen Karrieren ab,
und ein zu engagiertes Blauhelm-Bewußtsein kann diesen eher abträglich sein, wenn z. B. ein zu
langer Einsatz die Aufstiegschancen in der Heimat gefährdet. Auch bei dienstlichen
Verfehlungen – die im Blauhelm-Dienst bekanntlich ja schon vorgekommen sind, etwa
Vergewaltigungen oder die Nutzung von Kinderprostitution – greifen die nationalen Hierarchien:
Die Vorgesetzten des Täters in der Blauhelm-Hierarchie dürfen nur berichten; die
disziplinarischen Maßnahmen bleiben Ländersache und obliegen der entsendenden Armee.
Auch haben die nationalen Kommandeure ihre eigenen nationalstaatlichen Vorgaben, z. B.
bezüglich dessen, was sie im Rahmen des Blauhelmeinsatzes tun dürfen und was nicht. Und so
sehr die Befehlshaber der Blauhelm-Truppen es sich auch anders wünschen, behalten diese
nationalen Vorgaben schon aus politischen Gründen – z. B. dem, daß Todesopfer bei UNMissionen der eigenen nationalen Wählerschaft nur sehr schwer zu verkaufen sind – den
Vorrang. Die häufigen Besuche von Militärs und Politikern aus der Heimat sorgen zusätzlich
dafür, daß dies nicht in Vergessenheit gerät. Wie es ein australischer Kommandeur den beiden
Forschern gegenüber für den speziellen Fall Somalia, wo es tatsächlich Todesopfer unter den
Blauhelmen gegeben hat, beschreibt: ▶▸„You start this other chain of command: Am I allowed to
do this if my troops are in danger? Am I a commander from Sydney or am I a commander of the
United Nations?” (Ben-Ari und Elron 2001: 282). Aus dem Nebeneinander – und manchmal
eben auch dem Gegeneinander – von UN-Kommandostruktur, Heimatarmeen und dem an der
jeweiligen Blauhelm-Truppe beteiligten spezifischen Nationen-Cocktail ergibt sich ein Großteil
der existierenden Spannungen und Reibungen.
Militärische Gemeinsamkeiten
Dessen ungeachtet entwickelt sich aber während des Einsatzes auch eine gemeinsame BlauhelmIdentität, wie Elron und Ben-Ari eine große Zahl ihrer Interviewpartner bestätigen. Und diese
bezieht sich ganz wesentlich aus dem geteilten militärischen Hintergrund. Wie es ein
Neuseeländer beschreibt: ▶▸„… the basic military principles are always the same; the need for
discipline, the need for organization, the need for an appreciation for proper action” (Ben-Ari
und Elron 2001: 283). Dies liegt zum einen daran, daß die militärischen Formen global
diffundiert sind; laut den Autoren ist die preußische Armee das den Armeen der Welt
gemeinsame Vorbild gewesen. Zum anderen gibt es aber auch in der Gegenwart einen intensiven
Austausch zwischen den Armeen verschiedener Länder, etwa durch den gegenseitigen Besuch
von Militärakademien oder durch die Lektüre derselben Fachzeitschriften. Der in diesem
Kontext wesentliche „Andere” – im Barth’schen Sinne – wird stattdessen durch das zivile
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Personal der Blauhelm-Missionen und die UN-Spitze in New York verkörpert. Über deren
Unverständnis für die militärischen Bedürfnisse klagen die interviewten Soldaten immer wieder,
und Ben-Ari und Elron sehen hier eine ironische Fortsetzung der in den nationalen Armeen der
Welt verbreiteten Vorbehalte gegenüber den Zivilisten.
Die Blauhelme können also trotz ihrer disparaten Herkunft binnen weniger Wochen
erstaunlich effektiv zusammenarbeiten, zum einen durch Rückgriff auf eine große Zahl von
formalen Prozeduren wie der Anfertigung von Berichten und anderen Dokumenten,
Lagebesprechungen aller Art oder standardisierten Vorgehensweisen, zum anderen aber auch
aufgrund
geteilter
Symbole.
Darunter
sind
eine
Identifizierungsplakette,
die
jeder
Blauhelmsoldat trägt, und auch die allgemeine Verbreitung des Wissens über die Geschichte der
jeweiligen Mission. Gedenkzeremonien für gefallene Soldaten, interne Zeitungen und
Newsletters sowie die Begrüßungs- und Verabschiedungszeremonien für die ausgewechselten
Einheiten erfüllen dieselbe Funktion. Ein gewisser Blauhelm-Corpsgeist kommt also durchaus
auf. ▶▸In einem anderen Artikel (Ghosh 1994) hat der indische Romancier, Journalist und
promovierte Ethnologe Amitav Ghosh auf ein weiteres einigendes Element hingewiesen,
nämlich den Abstand zur die Einsatzorte umgebenden Zivilbevölkerung, der in allen Fällen weit
größer ist als der der Soldaten untereinander. Elron und Ben-Ari sprechen nicht davon, doch
wird dieser Umstand in Israel nicht weniger wichtig sein.
Die Produktion nationaler Differenz
Ben-Ari und Elron zufolge verwenden viele der interviewten Soldaten Begriffe wie „cultural
exchange” oder „multi-culturalism”, wenn sie über den Einsatz reden. Die Begegnung mit
Soldaten aus anderen Nationen und die Auseinandersetzung mit ihrer Sicht der Dinge ist – neben
der Langeweile – eines der prägenden Merkmale des Einsatzes, und gewöhnlich wird dies
positiv bewertet. Hier scheint sich also auf den ersten Blick eine kosmopolitische Welthaltung
anzudeuten.
Kultur wird jedoch hierbei mit großer Konstanz als Nationalkultur aufgefaßt, und letztendlich
trägt die multinationale Situation dazu bei, daß sich die Nationen als kulturelle Einheiten
überhaupt erst bilden. So ist es üblich, daß die nationalen Kontingente reihum die anderen zu
Festen, offenen Abenden oder zum jeweiligen Nationalfeiertag einladen, eine das
Gemeinschaftsgefühl sicher stärkende Praxis. Doch führt dies zur Demonstration der eigenen
Nationalität, etwa durch das Servieren landestypischer, dann auch bewußt als nationale
Errungenschaften präsentierter Speisen – die Polen servieren Pirogi, die Schweden
Fleischbällchen, die Japaner Sushi – oder durch das Aufhängen von Postern – norwegische
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Fjorde, niederländische Tulpenfelder, der japanische Berg Fuji –, die in einer Art
Selbststereotypisierung das Landestypische herausstellen sollen. „During such events, nationality
is used as a building block for something beyond any particular contingent but at the very same
time is accentuated. In other words, members of the different contingents interact as peculiar
entities, as national-cultural beings” (Ben-Ari und Elron 2001: 290).
Was dabei präsentiert wird, ist eine homogene Nationalkultur: Nicht das französische oder
das britische, sondern ein vereinigtes Kanada wird vorgezeigt, und auch etwa die Differenzen
zwischen den Sikhs und den anderen, hinduistischen oder muslimischen Angehörigen der
indischen Armee werden nicht vertieft. Auch im Reden der Soldaten über ihre Erfahrungen
während des multinationalen Dienstes ist die implizite Vorstellung, daß jede der beteiligten
Einheiten eine eigene, klar definierte Nationalkultur hat, die zum Verständnis des jeweiligen
Individuums wesentlich ist, sehr verbreitet. Der wichtigste Unterschied zwischen den einzelnen
Soldaten ist also ihre Nationalkultur, und unwissentlich reproduziert so das Miteinander der
Blauhelme aus verschiedenen Nationen auch die Grundbedingung der UN, die eben ein Verbund
von in ihrer Souveränität ausdrücklich anerkannten Nationalstaaten ist.
Der offiziellen Zielsetzung der UN zufolge sind diese Nationalstaaten alle gleich, und in der
UN-Generalversammlung hat jeder der Mitgliedsstaaten eine Stimme. Bereits im Sicherheitsrat
ist dies aber bekanntlich anders, denn dort sind die fünf alten Atommächte ständige Mitglieder
mit Vetorecht, alle anderen aber nicht. Da die finanziellen Beiträge zur UN an das
Bruttosozialprodukt geknüpft sind, tragen die einzelnen Staaten auch sehr unterschiedlich zum
UN-Budget bei, die USA im Jahr 2006 gleich 22 %, Japan 19 %, Deutschland, Frankreich und
Großbritannien jeweils zwischen 6 und 9 %, aber alle anderen Mitgliedsstaaten unter 5 % und
die Hälfte von ihnen ohnehin nur den nicht mehr unterschreitungsfähigen Mindestbeitrag von
0,001 %, also ein bloßes Hundertausendstel des Gesamtbudgets. Und diese Realitäten politischer
und wirtschaftlicher Ungleichheit prägen auch die Blauhelm-Einsätze.
Die sehr unterschiedliche militärische Kompetenz der einzelnen nationalen Kontingente etwa,
so schreiben sie, wird immer wieder thematisiert, selten sehr offensiv – hier scheint die egalitäre
UN-Rhetorik als Bremse zu wirken –, aber doch in einer Vielzahl von Randbemerkungen. Auch
werden die Kontingente unterschiedlich bezahlt. Von der UN erhalten sie alle gleich viel, doch
nicht von ihren Heimatländern, die ihnen entweder – wie z. B. die Volksrepublik China – gar
nichts zahlen, da der UN-Sold bereits das Zehnfache des gewöhnlichen Soldes beträgt, oder eben
die in Industrieländern üblichen Löhne. Dies ist den Soldaten bewußt und Gegenstand
beständiger Diskussionen, und dies hemmt auch das Gemeinschaftsleben, wenn etwa die
Soldaten aus den ärmeren Ländern sich z. B. gemeinsame Kneipengänge nicht leisten können
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oder wollen oder es nötig ist, ihre Zeche stillschweigend mitzubezahlen.
Und dieses Bewußtsein für den trotz der egalitären Rhetorik sehr unterschiedlichen Rang der
einzelnen Nationen in der globalen Hackordnung schlägt sich auch in anderen Aspekten nieder.
Prestigeträchtige Leitungspositionen gehen eher an die reichen, viel zum UN-Budget
beitragenden Nationen, doch wird zumindest auf eine gewisse Parität geachtet, indem auch
Soldaten aus „Ländern des Südens”, „unterentwickelten Ländern” oder „Dritte-Welt-Ländern”
auf solche Posten berufen werden. Dies erhärtet aber laut Ben-Ari und Elron die Wahrnehmung
der Welt in diesen Kategorien und auch entsprechende Stereotypen, die z. B. die Armeen der
reichen Länder prinzipiell als die besser organisierten ansieht.
Eine stärker kosmopolitische Orientierung, so lautet Ben-Aris und Elrons Schlußfolgerung,
läßt sich also in den untersuchten Blauhelm-Missionen nicht feststellen; eher drängt die
multinationale Situation die Soldaten dazu, sich als nationale Wesen mit einer nationalen Kultur
wahrzunehmen und darzustellen. Und darüber thronen Bilder einer dichotomen Weltordnung,
mit dem „Norden”, der „Ersten Welt” oder den „entwickelten Ländern” auf der einen und den
anderen Ländern auf der anderen Seite. Dies ist allerdings in der Struktur der UN angelegt: ▶▸
„The aim of the UN in general, and the peacekeeping forces in particular, is to achieve transnationalism through multi-nationalism” (Ben-Ari und Elron 2001: 298). Damit sind die
Vereinten Nationen keineswegs Feinde des Nationalismus, und ▶▸„… having many flags around
one table is qualitatively different than substituting the many flags with one new flag or having
no flags at all” (Ben-Ari und Elron 2001: 298). Die geistige Abwesenheit der Nationalflaggen ist
allerdings – wie die beiden Autoren in leider nur einem einzigen Satz andeuten – beim
Zivilpersonal der UN-Missionen verbreiteter und sicherlich auch in den Leitungsebenen
multinationaler Konzerne, unter Auslandskorrespondenten oder unter anderen Spezialisten der
globalen Beziehungen, die nicht in einem nationalen Auftrag tätig sind.
Das UNESCO-Welterbe
Die Dialektik zwischen Welt und Nationalstaat ist auch bei meinem zweiten Fallbeispiel wichtig.
Gerade ist in Quebec in Kanada die Sitzung des Welterbekomitees zu Ende gegangen, und 27
neue Welterbestätten sind ernannt worden. ▶▸Damit ist ihre Zahl jetzt auf 878 gestiegen, die sich
auf 145 Länder verteilen; Saudi-Arabien, Vanuatu, Papua-Neuguinea und San Marino sind
erstmals bedacht worden. ▶▸Dem Welterbe liegt das “Internationale Übereinkommen zum
Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt” zugrunde, das 1972 von der UNESCO, d. h. der
UN-Sonderorganisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur, verabschiedet wurde.
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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(„Sonderorganisation” bedeutet, daß die UNESCO rechtlich selbständig ist, wenn es auch eine
Reihe von Verträgen gibt, die die UN und die UNESCO miteinander verbindet.) Wohl kaum
jemand hat damals vorausgesehen, in was für eine bekannte, prestigeträchtige und lukrative
globale Marke sich das UNESCO-Welterbe entwickeln würde. Ethnologisch ist dies nicht nur
deshalb interessant, weil mit einem Schlüsselbegriff unseres Fachs operiert wird – mehr als drei
Viertel der ernannten Stätten sind Weltkulturerbe, während das Weltnaturerbe entgegen der
anfänglichen Absicht in der Minderheit ist. Es stellt sich zudem angesichts des schon erwähnten
“invention of tradition”-Ansatzes von Hobsbawm und Ranger auch die Frage, welchen Zwecken
das Welterbe dient, ob auch hier eine Neuerfindung der Vergangenheit stattfindet und wessen
kollektive Interessen dabei bedient werden.
Welterbe und Eurozentrismus
Das Projekt Welterbe geht auf einige von der UNESCO koordinierte Rettungsaktionen für
Kulturstätten wie ▶▸Abu Simbel in Ägypten, Borobudur auf Java oder Venedig zurück, die das
Bewußtsein reifen ließen, daß für den Erhalt dieser Orte nicht nur die jeweiligen Nationalstaaten,
sondern die ganze Welt Verantwortung trägt, aber auch ein Recht darauf hat. Dem wurde
schließlich durch die Verabschiedung der Konvention Rechnung getragen. 1978 nahm das ▶▸
„Komitee für das Erbe der Welt“ als oberstes Entscheidungsorgan die ersten Ernennungen vor.
In ihm sitzt je ein Delegierter aus 21 Staaten, die von der ▶▸Generalversammlung aller
Unterzeichnerstaaten gewählt werden. Unterstützt wird das jährlich nur eine Woche tagende
Komitee von einem ständigen Sekretariat, dem ▶▸„World Heritage Centre“ in Paris. Die
Unterzeichnerstaaten sind gehalten, eine vorläufige Liste mit potentiellen Welterbestätten zu
führen, von denen sie jedes Jahr bis zu zwei vorschlagen dürfen. Die Vorschläge müssen
ausführlich begründet werden, und es folgen eingehende Prüfungen mit Ortsbegehungen durch
vom Welterbekomitee beauftragte Experten. Je nach Art der Stätte kommen diese Experten vom
▶▸Internationalen Rat für Kulturdenkmäler (ICOMOS) oder von der ▶▸Weltnaturschutzunion
(IUCN). Auf ihre Empfehlung hin entscheidet das Komitee, und 2008 wurden etwa zwei Drittel
der Kandidaten auch angenommen.
Ist eine Welterbestätte ernannt, muß der jeweilige Nationalstaat für ihren Erhalt sorgen,
regelmäßig über ihren Zustand berichten und Kontrollmissionen empfangen sowie das WelterbeLogo anbringen. Verletzt der Nationalstaat diese seine Pflichten, kann es zu einem Eintrag auf
die ▶▸„Liste des gefährdeten Welterbes” oder einfach „Rote Liste“ und schließlich auch zur
Streichung kommen. Letzteres ist bisher erst einmal passiert, das Dresdener Elbtal könnte aber
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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nächstes Jahr folgen. Andere Sanktionsmöglichkeiten hat die UNESCO nicht, und ihre
Finanzmittel sind ebenfalls begrenzt, aber der drohende Prestige- und Einnahmenverlust bringt
viele der Nationalstaaten trotzdem zur Räson, wie ja auch hier in Köln bei den HochhausBauvorhaben auf der Deutzer Seite, die die Dominanz des Doms gefährdert hätten. Die
Nationalstaaten gehen also eine Selbstverpflichtung ein und treten freiwillig ein Stück
Souveränität an die UNESCO ab, die gewisse Bedingungen diktieren kann. Trotzdem ist die
Welterbe-Ernennung sehr begehrt und umkämpft, und von ausgiebiger Lobbyarbeit sowohl
innerhalb der nominierenden Staaten als auch gegenüber der UNESCO ist die Rede. Auch haben
alle Appelle keine freiwillige Zurückhaltung bei den Nominierungen bewirkt, so daß
mittlerweile Obergrenzen für die Anzahl der pro Jahr behandelten Kandidaten gelten.
Das erschwert es allerdings, die entstandene Schieflage zu korrigieren. ▶▸Denn fast die Hälfte
der Welterbestätten befinden sich in Europa, das im Verhältnis zur Bevölkerungszahl zehnmal so
gut vertreten ist wie Asien. Andere Regionen wie z. B. Afrika fallen noch mehr ab, während vor
allem die westeuropäischen Staaten außerordentlich gut bedacht sind. Ist das so wichtig, werden
Sie sich fragen, Bangladesh oder Nigeria haben doch sicher andere Sorgen als ihre eigene
Unterrepräsentierung beim Welterbe. Die Welterbe-Institutionen treibt jedoch nichts anderes so
sehr um, denn was auf dem Spiel steht, so die immer wieder geäußerte Sorge, ist die
„credibility“ des Welterbes. Die Zahl der bereits ernannten Stätten des nominierenden Staates ist
allerdings kein Kriterium für die Zurückweisung eines neuen Antrags; dieser muß vielmehr
sachbezogen entschieden werden. Und so bleibt es beim vielbeklagten Eurozentrismus der Liste
und der Überrepräsentierung von Kirchen, Palästen und Altstädten.
Das so bedingte schlechte Gewissen des Welterbes besteht schon seit den 1980er Jahren und
hat immer neue Gegenmaßnahmen veranlaßt. ▶▸So wurde 1994 die seither leitende „Global
Strategy“ verabschiedet, die als zu vertiefende Bereiche – ausdrücklich „in their broad
anthropological context“ verstanden – uns wohlvertraute Stichwörter wie Nomadismus,
Subsistenzweisen oder soziale Interaktion liefert. Seither sind mit dem Alltagsleben verbundene
Denkmalkategorien
tatsächlich
gestärkt
worden
oder
neu
hinzugekommen,
etwa
Vernakulararchitektur, Industrieanlagen, Bergwerksregionen und technologische Denkmäler,
historische Eisenbahnstrecken, Wege, Routen und Kanäle, Architektur des 20. Jahrhunderts oder
Meilensteine der Stadtplanung. Zusätzlich wurde eine neue Großkategorie eingeführt, nämlich
die der Kulturlandschaft (cultural landscape), die Kultur- und Naturerbe verbinder und bei der
die menschliche Nutzung der Landschaft eine wesentliche Komponente ist.
Außerdem hat das Welterbe-Komitee den Kulturrelativismus ausgerufen, letztendlich
ausgelöst durch den Antrag Japans auf Ernennung des ▶▸Hôryûji-Tempels bei Nara. Die dort
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stehenden ältesten Holzbauten der Welt sind im Laufe ihrer Geschichte mehrmals komplett
auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt worden, wobei viel schadhaftes Material
ersetzt wurde. Europäische Denkmalexperten stellten daher ihre Kontinuität in Frage, konnten
sich aber auf einer Konferenz in Nara 1994 nicht durchsetzen. Daher kann jetzt nicht mehr nur
Form, Design und Material die Authentizität einer Welterbestätte belegen, sondern die
Gebrauchsweise, die Umgebung oder die emotional-spirituelle Atmosphäre. All dies soll
außerdem innerhalb des jeweiligen kulturellen Kontextes bewertet werden, nicht durch Anlegung
universal einheitlicher Maßstäbe, die es hier – wie es heißt – gar nicht geben kann.
An der westlichen Vorherrschaft hat dies wenig geändert, da die europäischen Länder auch
die neuen Denkmalskategorien dominieren und immer noch 9 der insgesamt 27 im Jahr 2008
ernannten Stätten stellen. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist nun mit dem 2003 von der
UNESCO verabschiedeten ▶▸„Internationale Übereinkommen zum Schutz des immateriellen
Kulturerbes“ eine parallele Struktur für das immaterielle Erbe geschaffen worden, die bis in die
Details dem organisatorischen Vorbild des materiellen Welterbes nachempfunden ist. Was hier
ernannt werden kann, ist noch offener formuliert als beim materiellen Welterbe, das ja ebenfalls
keine universalen Standards vorsetzen möchte. ▶▸Ein Vorgängerprogramm, die 2001 bis 2005
von der UNESCO ernannten „Meisterwerke des oralen und immateriellen Erbes der Menschheit“,
war sehr folkloristisch angehaucht: „Kleine“ Traditionen der performativen und expressiven
Kultur wie z. B. litauisches Kreuzschnitzen, sizilianisches Puppentheater oder Querhorn-Musik
von der Elfenbeinküste waren vertreten, nicht aber die urbane „Hochkultur“ der Metropolen.
Dem Ziel der Bekämpfung des Eurozentrismus kam das Meisterwerke-Programm allerdings
tatsächlich näher, denn Europa war weniger üppig repräsentiert als beim materiellen Welterbe..
Der Wandel des Welterbes
Wie sieht es beim Welterbe mit Zentrum und Peripherie und mit der Frage der weltweiten
Kulturvereinheitlichung aus? Die westliche Dominanz legt ja nahe, daß sich auch hier
konventionelle globale Hackordnungen dominieren. Das ist aber bei näherem Hinsehen nicht
ganz so. Denn der Dauereinsatz gegen den eigenen Eurozentrismus hat zu tatsächlichem Wandel
geführt, und die Inspirationen dafür kamen nicht aus den Zentren des Weltsystems. So war für
die Einführung der Kategorie der „Kulturlandschaft“ das Vorbild des australischen
Denkmalschutzes wichtig, wo in der ▶▸Burra Charter von 1979 der spirituelle Wert der
Nationalparks für ihre traditionellen Aborigine-Bewohner als Teil des Erhaltungsziels anerkannt
wurde. Und nicht nur die Entgrenzung der Authentizitätskriterien wurde durch den Antrag
Japans für den Hôryûji-Tempel ausgelöst, auch das Programm für das immaterielle Erbe nimmt
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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Anregungen des japanischen Denkmalschutzes auf, wo selbiges schon seit kurz nach dem
Kriegsende vom Staat ernannt und geschützt wird.
Der Charakter der ernannten Stätten hat sich durch den in der Global Strategy geforderten
stärkeren Alltagsfokus außerdem gegenüber den Anfangsjahren verändert. Ganz allgemein ist
das Interesse an Welterbestätten gestiegen, die paradoxerweise weniger durch Unwandelbarkeit
auffallen, sondern eine Geschichte des Wandels erzählen, etwa des technologischen Fortschritts
– wenn mit der ▶▸Radiostation Varberg in Schweden ein Pionier der transatlantischen
Kommunikation ernannt wird – oder des politischen Triumphs – wenn ▶▸Robben Island vor der
Küste von Kapstadt, also Nelson Mandelas langjähriges Gefängnis, auf die Liste kommt. Der
solchermaßen gefeierte Wandel kann auch einer der Kreolisierung sein: ▶▸2005 wurde der
Heilige Hain der Yoruba-Göttin Osun in der nigerianischen Stadt Osogbo zum Welterbe ernannt.
Begründet wurde dies nicht nur mit der traditionellen religiösen Bedeutung des Ortes, die seit der
Kolonialzeit sehr gelitten hat, und seiner besonderen Lage in einem übriggebliebenen Stück
Primärwald. Ausdrücklich erwähnt wurde vielmehr auch das künstlerische Revival mit
neuartigen Götterbildern und Schreinen, das die Österreicherin Suzanne Wenger und
einheimische Künstler dort unter dem Etikett "New Sacred Art" angestoßen haben. Gerade
kreative Verschmelzungsprozesse in einer postkolonialen Situation wurden hier also gewürdigt
und für welterbefähig befunden.
Der so bedingte Wandel des Denkmalsbegriffs erfolgt also nicht nur aufgrund westlicher
Vorgaben, und er hat Rückwirkungen auf alle – auch die westlichen – Nationalstaaten. Diese
können jetzt z. B. nicht mehr umhin, sich ebenfalls für Kulturlandschaften oder für
Alltagsdenkmäler zu interessieren, wo es mit dem Welterbe die gewissermaßen ranghöchste aller
Denkmalskategorien vorexerziert. Ohnehin ist den Welterbe-Programmen die Dynamik bereits
eingebaut. Statt über regelmäßige programmatische Sitzungen entsteht die Welterbe-Politik
nämlich eher in der Auseinandersetzung mit neuen Anträgen. Und wenn hier z. B. einer der
Vertragsstaaten eine Eisenbahnlinie vorschlägt, bringt dies das Welterbekomitee erst dazu, diese
neue Denkmalskategorie eingehender zu betrachten, Experten zu befragen, Fachkonferenzen zu
veranstalten und schließlich neue Standards vorzulegen und Präzedenzfälle der Ernennung zu
schaffen, die den Kontext für die nächsten Kandidaten verändern.
Daher scheint mir die künftige inhaltliche Entwicklung der beiden Welterbe-Programme
kaum vorhersagbar. Jetzt schon klar ist allerdings, daß es sich hier ebenfalls um eines von
Richard Wilks „global systems of common difference“ handelt. Denn ein wesentliches Moment
in den Welterbe-Anträgen ist der Vergleich: Um den erforderlichen „outstanding universal
value“ nachzuweisen, muß der Kandidat hier in den Kontext anderer bereits ernannter und noch
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nicht ernannter Welterbe-Stätten eingeordnet werden, also eben z. B. klargemacht werden,
wodurch die vorgeschlagene gotische Kathedrale sich unter den vielen anderen gotischen
Kathedralen heraushebt. Eine eindeutige globale Homogenisierung findet außerdem auf der
prozeduralen Ebene statt. Denkmalregister, Pufferzonen und Managementpläne muß jeder
vorweisen, der beim Welterbekomitee Erfolg haben will. So einmalig die Stätte selbst natürlich
sein muß – die Art des Umgangs mit ihr hat den gesetzten Standards zu entsprechen.
Trotz allen nationalen Geltungsdrangs in der Antragspolitik ist außerdem das Welterbe auch
eine Arena zur Zähmung des Nationalen. Denn wie wir hierzulande beim Kölner Dom und beim
Dresdener Elbtal gesehen haben, ist einmal ernanntes Welterbe tatsächlich nicht mehr nur die
Sache der jeweiligen Standorte und Nationalstaaten, und selbst wenn die Einwände des
Welterbekomitees sich nicht immer durchsetzen, lösen sie doch zumindest intensive
Diskussionen aus. Der soziale Mechanismus des „invention of tradition“-Ansatzes – Traditionen
und Kulturerbe als Mittel der Selbstabgrenzung und Selbsterhöhung von ethnischen oder
nationalen Kollektiven – kann hier nicht so unkompliziert greifen, denn die imaginierte
Weltgemeinschaft ist keine exklusive Kategorie, da ihr das Gegenüber fehlt, und sie tritt eher in
Konkurrenz zu den etablierten imaginierten Gemeinschaften, die sie einschließt.
Chunking Mansions – der globalisierteste Ort der Erde?
Nun noch zu einem dritten globalen Ort bzw. einer globalen Institution. Im letzten Kapitel habe
ich Ihnen mit North Sentinel Island den womöglich globalisierungsfernsten Ort der Erde
vorgestellt, nun soll der globalisierteste folgen, zumindest wenn man dem amerikanischen, an
der Chinese University of Hong Kong lehrenden Ethnologen Gordon Mathews glaubt (Mathews
o. J.) Dies ist Chungking Mansions, ein reichlich heruntergekommenes Hochhaus aus dem Jahr
1961, das im Herzen des Hongkonger Touristenviertels Tsim Sha Tsui auf einem etwa zwei
Fußballfelder großen Grundstück steht. Wong Kar Wais bekannter Film „Chungking
Express“ spielt größtenteils hier, auch wenn er das Gebäude laut Mathews völlig unrealistisch
darstellt. Auf den 17 Stockwerken befinden sich nicht weniger als 90 guesthouses und 380
Geschäfte und Büros, im Erdgeschoß auch in einer offenen Ladenpassage. Mehr als 4000
Menschen schlafen hier jede Nacht, und vielleicht 10000 kommen jeden Tag hierher. Mathews
selbst übernachtet hier seit 2006 zu Forschungszwecken ein- bis dreimal die Woche, und bei
meinem Besuch im Frühjahr führte er mich freundlicherweise herum, beköstigte mich auf das
Schmackhaftste in einem der indischen Restaurants und stellte mir einige seiner äußerst
freundlichen Informanten aus Indien, Bangladesh, Nigeria und Ghana vor, so daß ich also auch
VORLESUNG „ETHNOLOGIE DER GLOBALISIERUNG” • BRUMANN • DI 12-14 • BI • VÖLKERKUNDE • SS 2008
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einen persönlichen Bezug zum Thema habe.
Bewohner und Gäste
Für Mathews ist Chungking Mansions ein Zentrum der „low-end globalization“, für ihn definiert
als ▶▸„the transnational flow of people and goods involving relatively small amounts of capital
and informal, sometimes semi-legal or illegal transactions, commonly associated within [sic] the
developing world” (Mathews o. J.: 2-3). Dies liegt an den unschlagbar billigen Preisen der
guesthouses im Bereich von nur etwa 10 bis 25 Euro pro Nacht und an den vielen Läden und
Restaurants, die sich an den kleinen Geldbeutel richten. In den 1970er und 80er Jahren
dominierten Rucksacktouristen aus dem Westen, auch weil der Lonely Planet Guide die
Billighotels prominent empfahl. Seit den 1990ern sind Afrikaner im Vormarsch, die mittlerweile
mehr als die Hälfte der Übernachtungsgäste ausmachen. Dazu kommen viele Südasiaten und
Touristen vom chinesischen Festland, die auf ihr Budget achten müssen, aber auch andere
Weltgegenden sind vertreten, so daß Mathews in den Gästelisten auf nicht weniger als 142
Nationen stößt.
Dazu trägt neben den Preisen auch die relativ tolerante Hongkonger Visapolitik bei. Anders
als in vielen anderen reichen Staaten können hier auch die Bürger der meisten ärmeren Länder
am Flughafen ein Visum erwerben, und fast jeder erhält zumindest ein Touristenvisum für 14
Tage, das sich oft durch Aus- und Wiedereinreise verlängern läßt. Weiterhin wichtig ist die Nähe
zu Südchina, das sich bekanntlich ja vor allem für preiswerte Produkte immer mehr zur
Werkstatt der Welt mit Hongkong als Büro entwickelt, und auch die Volksrepublik errichtet nur
wenig Einreisehindernisse. Daher ist die Mehrheit der in Chungking Mansions übernachtenden
Ausländer und vor allem der Afrikaner als Kleinhändler unterwegs. Es lohnt sich für sie, mit
dem Geld von Freunden und Bekannten die Reise nach Hongkong zu finanzieren, in Südchina
begehrte Waren wie echte oder imitierte Markenhandys, andere Elektronikartikel, Kleidung,
gebrauchte Autoteile, Kacheln u. ä. zu erwerben, mit den auf den billigen afrikanischen
Fluglinien erlaubten bis zu 40 Kilogramm Gepäck oder noch zusätzlichem bezahlten Übergepäck
zurückzufliegen oder die eingekauften Güter mit der Post oder per Container zu verschicken,
gegebenenfalls den heimischen Zoll zu bestechen und die Ware dann zu verkaufen. Dieses
Geschäftsmodell birgt mannigfaltige Risiken, und Hongkong ist nicht zuletzt deshalb beliebt,
weil hier die Gefahr, mit größeren Mengen Bargeld beraubt zu werden, gering ist – kleiner
übrigens auch als mittlerweile in der Volksrepublik. Denn der bargeldlose Verkehr würde
Konten bei in Hongkong vertretenen Banken oder Kreditkarten voraussetzen, und diese können
nur die wenigsten der Händler erhalten.
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Kaum einer der Händler hat einen Aufenthaltsstatus, der es erlauben würde, in Chungking
Mansions Immobilien zu erwerben. 70 Prozent der nicht weniger als 920 Eigentümer sind
stattdessen Chinesen, oft Immigranten vom Festland, die sich vor einigen Jahrzehnten nichts
Besseres leisten konnten. (Gerade die Tatsache, daß sie so viele und so schlecht organisiert sind,
schützt Chungking Mansions, denn vergleichbare Gebäude sind schon lange abgerissen und
durch Lukrativeres ersetzt worden.) Nur die wenigsten dieser Eigentümer wohnen und arbeiten
selbst im Gebäude. Stattdessen überlassen sie die Verwaltung ihres Eigentums meist Südasiaten,
gewöhnlich solchen, die aufgrund der britischen Kolonialvergangenheit einen dauerhaften
Aufenthaltsstatus haben. Diese stellen ihrerseits wiederum häufig Landsleute auf Touristenvisen
ein, bemerkenswert oft aus einem bestimmten Stadtteil in Kalkutta. Diese Angestellten zweiter
Ordnung erhalten zwar nur niedrige Löhne, aber können mit dem Hin- und Hertransport
begehrter Waren – Reis aus Indien, Elektronik aus Hongkong und Südchina – hohe Gewinne
erzielen. Nicht wenige überschreiten ihre Aufenthaltsdauer, doch sind sie nur schwer zu fassen,
denn sobald Hongkonger Polizei – als Chinesen selbst inkognito leicht zu erkennen – auftaucht,
starten die Handy-Rundrufe. Eine weitere signifikante Gruppe sind Asylbewerber. Nur wenige
von ihnen werden anerkannt, aber ihre Verfahren ziehen sich in Hongkong oft jahrelang hin. Wie
auch bei uns dürfen sie nicht arbeiten, was bedeutet, daß es nur diejenigen tun, die bei der so
wahrscheinlicher werdenden Zwangsabschiebung nichts zu befürchten haben. Und schließlich
gibt es weiterhin auch Touristen, einerseits aus dem Westen und oft angezogen vom besonderen
Flair des Baus, andererseits aber auch vom chinesischen Festland. Gerade die letzteren wissen
oft wenig vom besonderen Charakter des Gebäudes und sind von seiner Multinationalität
entsprechend überrascht. Die etwa 80 Prostituierten sind in einer vorwiegend männlichen Welt
zu erwarten, und auch einige Drogenhändler gehen hier ihren Geschäften nach. Doch der unter
gewöhnlichen Bewohnern der Stadt verbreitete Eindruck einer großen Lasterhöhle geht laut
Mathews fehl, was eine wachsenden Anzahl junger Hongkong-Chinesen nun auch begreift und
damit beginnt, die Restaurants zu frequentieren und die multinationale Exotik zu genießen.
Geteilte Werte
Trotz seiner zweifelhaften Reputation, stellt Mathews fest, ist Chungking Mansions ein sehr
friedlicher Ort. Zu physischer Gewalt kommt es nur selten, was er angesichts der Zerrissenheit
vieler der Herkunftsländer durch Bürgerkriege u. ä. bemerkenswert findet. Eine multiethnischmultinationale Utopie ergibt sich aber nicht automatisch: Viele Afrikaner bleiben bei ihren
Speisevorlieben und haben wenig Toleranz für das, was ihnen die südasiatischen
Restaurantbetreiber vorsetzen wollen, nicht wenige der Chinesen, mit denen Mathews spricht,
pflegen ihre Rassismen, und bei den Fernsehprogrammen guckt jeder das Angebot aus der
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eigenen Heimat, wenn es denn vorhanden ist. Andererseits berichtet Mathews aber auch von
einem chinesischen guesthouse-Betreiber, für den westafrikanische Muslime wegen ihrer
Freundlichkeit und Ehrlichkeit die Lieblingsgäste sind, die er seinen eigenen, von ihm als
aufdringlich empfundenen Landsleuten vorzieht, so daß tatsächlich eine gewisse globale
Konvergenz erfolgt. Wie Mathews sagt: ▶▸„For at least a few of the entrepreneurs, workers, and
asylum seekers I know, there are no ‚others’ anymore within the global mix of Chungking
Mansions – except, perhaps, for Hong Kong Chinese” (Mathews o. J.: 17-18). Daß das Haus mit
Englisch eine allgemein akzeptierte lingua franca hat, trägt dazu bei.
Die Friedlichkeit und die Abwesenheit ethnisch-nationaler Spannungen hat aber auch noch
einen anderen, sehr handfesten Grund. Denn wenn an einem irgendeinen Ort die politische
Globalisierungskritik keine Stimme hat, dann ist es hier. Nicht nur ist Hongkong als solches mit
seinen extrem niedrigen Steuern und Zöllen und seiner relativ entspannten Haltung gegenüber
den sans papiers, die bei unauffälligem Verhalten weitgehend in Ruhe gelassen worden sind,
eine Hochburg des Neoliberalismus. Die Klientel von Chungking Mansions steht auch selbst
vollständig hinter dem grenzüberschreitenden Kapitalismus und seinen Möglichkeiten, und reich
wird nach Auffassung der meisten derjenige, der sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Hier
schlägt sich sicherlich auch die nieder, daß die wenigsten der Bewohner und Gäste in ihrer
Heimat zu den ganz Armen zählen. Stattdessen handelt es sich bei ihnen meist um die Mitteloder gar Oberschicht aus im Weltsystem allerdings peripheren Ländern, die hier das Fundament
für ihren (weiteren) wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstieg legen können.
Die vorherigen Beispiele – Blauhelmtruppen in Israel und das UNESCO-Welterbe – sind
Arenen der „high-end globalisation“, in denen die UN-Organisationen den Ton angeben und
nationale Regierungen um Macht und Prestige konkurrieren. Hier bestimmt tatsächlich eine
globale Elite mit ausgesuchten Bildungsabschlüssen und hohen Einkommen die Geschehnisse,
selbst wenn dies nicht bis hinunter zum letzten Blauhelm-Gefreiten gilt. Aber auch „low-end
globalisation“ wie in Chungking Mansions findet heute an vielen Orten statt, selbst wenn man
nach ihr sicherlich oft länger suchen muß. Sie dürfte für die Arten und Weisen, wie die Welt
heute imaginiert wird, kaum weniger wichtig sein. Daher gebührt ihr auch entsprechende
ethnologische Aufmerksamkeit, wie auch überhaupt die globalen Orte und Institutionen noch
sehr viel mehr ethnographische Forschung vertragen könnten, als ihnen bislang (z. B. Benedict
1991, Garsten 1994, Knight 1992, Little 1995) zuteil geworden ist.
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Schlußbemerkung
Soweit meine Vorlesung zu den kulturellen Folgen der Globalisierung und zu den zu ihr
aufgestellten Theorien. Man hätte auch noch anderes behandeln können: Zu Themen wie
Entwicklungszusammenarbeit, Tourismus oder Sport und ihren Zusammenhängen mit der
Globalisierung gibt es ebenfalls Literatur, aus der man eigenständige Kapitel entwickeln könnte.
Zu anderen wie etwa dem weltweiten Medizin- und Pharmasystem und dem globalen Verkehr
der Ärzte, Krankenschwestern und Patienten – wie auch dem der traditionellen Heiler und
Schamanen – gibt es noch nicht so viele ethnographische Studien. ▶▸Die in einem jüngeren
Spiegel-Artikel beschriebenen Verhältnisse in einer Bangkoker Klinik mit Medizintouristen aus
allen Mittelschichten der Welt (Buse 2008) würden allerdings eine reizvolle Feldforschung
ermöglichen. Global cities sind in den vergangenen Kapiteln immer wieder aufgetaucht, aber
könnten ebenfalls einen eigenständigen Kapitel-Fokus vertragen, und ▶▸Hannerz hat hier bereits
erste Vorarbeit geleistet (Hannerz 1996: 127-161). Das Kapitel über den Warenkonsum ließe
sich um eine Betrachtung der Globalisierung der ▶▸Werbe- und Marketingstrategien (Mazzarella
2003a, 2003b, Miller 1997, Moeran 1996) und das Kapitel über das Fernsehen um eine
▶▸Behandlung der anderen Massenmedien (Miller und Slater 2000, Spitulnik 1993) erweitern.
Und auch zur Ethnologie selbst, ihrer Globalisierung und ihren Zentrums- und PeripherieStrukturen gibt es mittlerweile ▶▸Literatur (Kuwayama 2004, Ribeiro und Escobar 2006, van
Bremen und Shimizu 1999). Auch existieren häufig wohl eher außerhalb der Ethnologie als
innerhalb sicherlich mehr Verallgemeinerungsversuche z. B. zum globalen Wandel der
Religionen oder der Familienstrukturen, als ich sie ihnen hier vorgestellt habe.
Ich hoffe, sie haben auch so etwas mitgenommen. Zumindest sollte klargeworden sein, daß
die Ethnologie von der Globalisierung nichts zu befürchten hat und es keinen Grund gibt, sie aus
der Betrachtung auszublenden, so wie es manche der Klassiker im Fach getan haben. Bestimmte
kulturelle Formationen, vor allem stark abgegrenzte Inselkulturen im physischen oder sozialen
Sinne, werden trotz Ausnahmen wie North Sentinel Island heutzutage tatsächlich seltener. Doch
die kulturellen Prozesse vereinfachen sich nicht und werden vermutlich auch noch im Jahr 2500
der Deutung durch Ethnologen – oder wer immer ihre Nachfolge antritt – bedürfen.
Globalisierung ist in punkto Kultur natürlich längst nicht alles, und die Menschen leben
weiterhin lokal, allerdings eben selten ohne daß sich die weitere Welt bemerkbar macht. Sollten
Sie das verstanden haben und es in Ihren eigenen zukünftigen Forschungen berücksichtigen,
hätte die Vorlesung ihren Zweck erfüllt. An Literatur zur Vertiefung der vorgestellten Punkte ist
kein Mangel, und es gibt im Bereich der ethnologischen Einführungen zu Globalisierung und
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Globalisierungstheorien auch Konkurrenzprodukte, deren Lektüre sicherlich ebenfalls nicht
schadet ▶▸(Breidenbach und Zukrigl 2000, Hauser-Schäublin und Braukämper 2002, Kreff 2003,
Lewellen 2002).
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