Marcos Anwälte wollen den EU-Gerichtshof für Menschenrechte
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Marcos Anwälte wollen den EU-Gerichtshof für Menschenrechte
12 ANTALYA / UELZEN 07. November 2007 Marcos Anwälte wollen den EU-Gerichtshof für Menschenrechte anrufen Am 26. Oktober vertagte man sich abermals – neuer Termin: 20. November Antalya - Der erste Anblick des Gefangenen in der Haftsache 2007/200 ist schockierend. Ein ausgemergelter, kreidebleicher Junge, der sich immer wieder verunsichert umblickt. Vier mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten umringen ihn und weichen während der folgenden zweieinhalb Stunden nicht mehr von seiner Seite. Marco trägt eine braune Trainingsjacke an diesem 26. Oktober, dem mittlerweile siebten Prozesstag vor dem Schwurgericht von Antalya. Wer den Sommer mit über 50 Grad im stickig heißen Gefängnis verbracht hat, für den sind die 28 Grad, die jetzt in der Stadt herrschen, schon Herbsttemperaturen. Zum siebten Mal vor der Strafkammer und selten herrschte zuvor so wenig Hoffnung auf eine Freilassung des Schülers wie an diesem Tag. „Dieses Gericht ist wie Beton“, sagt Anwalt Matthias Waldraff, während sich der Vormittag im ersten Stock des Gerichtes zäh wie Kaugummi hinzieht und Marco darauf wartet, dass sein Fall endlich aufgerufen wird. „Die Richter blocken seit sieben Monaten alles ab mit Hinweis auf die Schwere des Tatvorwurfs“, sagt Waldraff. „Irza Gecmek“, Vergewaltigung, steht auf dem Terminzettel vor Saal 1. englischen Mädchens Charlotte, das Marco missbraucht haben soll. „Vielleicht hat er ja beim letzten Mal tatsächlich den Bogen überspannt“, sagt Waldraff. Da war von der Gegenseite aus einer angeblichen Vernehmung Charlottes zitiert worden, die es aber zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gegeben hatte. Aus der vom Gericht angekündigten zehnminütigen Beratung wird schließlich eine Dreiviertelstunde. Kurz nach 13.30 Uhr dann kommen die Eltern und Anwälte wieder aus dem Saal. Der Frust, die Enttäuschung sitzen tief. Wieder vertagt. Auf Ende November. Die Betonwand hat erneut standgehalten. Wieder rollt der blaue Gefangenentransporter, hinter dessen kleinen, vergitterten Fenstern Marco W. sitzen muss, in die Tiefgarage des Justizpalastes von Antalya. Und wieder tritt der 17-Jährige nach einigen Stunden die Rückfahrt an zum Gefängnis von Antalya, einem heruntergekommenen Gebäudekomplex, wo eine Gemeinschaftszelle mit 30 Mitgefangenen auf ihn wartet. Ein Dutzend Mal ist der junge Deutsche diesen Weg nun schon gefahren, hin und zurück, so auch an diesem Freitag. Seit dem 12. April sitzt der Schüler aus Uelzen nun in Untersuchungshaft. Sechs Gerichtstermine hat er bereits hinter sich, ohne dass sein Verfahren auch nur richtig in Gang gekommen wäre. Die Anklage wirft Marco sexuellen Missbrauch einer Minderjährigen vor. Die Hoffnung, diesmal freizukommen, hatte er wohl nicht mehr. Es kam wie erwartet: Das Gericht ordnete eine Fortdauer der U-Haft an. Marco würde wohl viel darum geben, wenn er im Osterurlaub nicht, wie schon achtmal zuvor, mit seinen Eltern nach Side an die Türkische Riviera gereist wäre. Zehn Uhr. Die Nerven bei den Eltern Martina Weiss und Ralf Jahns sind zum Zerreißen gespannt. Erst über eine Stunde später ruft der Gerichtsdiener den nicht öffentlichen Fall Marco schließlich auf. Ein paar Blicke durch die Tür auf den schwer bewachten Jugendlichen, mehr sind nicht erlaubt für die rund ein Dutzend angereisten Journalisten und die deutschen Anwälte der Familie. Nur seine Eltern und die türkischen Anwälte sind im Prozess zugelassen. Eine Stunde später sind sie draußen diesmal aber erstmals nicht mit der schlechten Nachricht, dass die Untersuchungshaft verlängert wurde. „Sie wollen zehn Minuten über unseren Antrag auf Haftverschonung beraten“, verkünden die türkischen Anwälte. Aus dem Funken Hoffnung wird ein kleines Feuerchen. „Das haben sie noch nie gemacht, erstmals setzen sie sich mit unseren Argumenten auseinander“, staunt Waldraff. Offenbar sei es mit der neuen Verteidigungsstrategie doch gelungen, dem richterlichen Beton ein paar Risse beizubringen, macht sich leise Hoffnung breit bei den Prozessbeteiligten. Aus Reihen der Anwälte verlautet, dass es kontrovers zur Sache gegangen sei mit dem Anwalt des Dann hätte er Charlotte M. dort nicht in der Disco des Clubhotels Voyage Sorgun Select kennengelernt, und er wäre in der Nacht vom 10. auf den 11. April nicht ins Zimmer der Britin gegangen. Dann hätte es jene Nacht, deren Verlauf das Gericht nun zu rekonstruieren versucht, in seinem Leben gar nicht gegeben. Marco habe die 13-jährige Charlotte M. „vergewaltigt“, sagt Ömer Aycan, der Anwalt der britischen Familie, und fordert die Höchststrafe: 15 Jahre Haft. Marco dagegen beteuert, es sei nur zu Zärtlichkeiten gekommen, die beide gewollt hätten. Die Initiative dazu sei sogar von Charlotte ausgegangen, die sich ihm gegenüber als 15-Jährige ausgegeben habe. Die nächste Enttäuschung wartet: Marcos Eltern auf dem Weg zum Gericht von Antalya chend. Sie meinen, das Gericht müsse sich einen unmittelbaren Eindruck von der Zeugin machen. Zumal Charlotte in ihren ersten Aussagen im April vor der Polizei in Antalya den Vorgang eher harmlos schilderte. Die Anwälte bestehen auch darauf, Charlotte selbst zu befragen. Verfahren zieht sich bis 2008 Am 20. November soll der Prozess nun fortgesetzt werden. Die Anwälte des Angeklagten gehen mittlerweile davon aus, dass sich das Verfahren bis ins nächste Jahr hinschleppen könnte. Sie wollen nun den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einschalten, um eine Freilassung ihres Mandanten zu erreichen. Und sie wollen noch einmal den Der Kriminologe Christian Pfeiffer bezeichnete den Prozess in Antalya als rechtswidrig, da die Anwälte Charlotte bisher nicht hätten befragen können. „Das ist bisher nicht garantiert, und von daher ist dieses Verfahren rechtswidrig“, sagte der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen. Der Direktor des Zentrums für Türkeistudien, Faruk Sen, wiederholte seine Forderung nach einer Freilassung Marcos. „Es ist schwer erträglich, dass der Junge in dieser Weise Opfer einer offensichtlichen Hinhaltetaktik der Nebenklage sowie der Familie von Charlotte wird.“ Mahnwache in Uelzen 150 Menschen treffen sich am Vorabend der Verhandlung zu einer Mahnwache Vor allem an Charlotte M. liegt es, dass sich das Verfahren gegen Marco immer weiter hinzieht. Denn die einzige Belastungszeugin, von der Marcos Schicksal in diesem Prozess abhängt, ist bisher nicht vor Gericht erschienen. Charlotte befinde sich in psychiatrischer Behandlung und sei nicht reisefähig, erklärt ihre Familie. Zwar liegt dem Gericht seit Freitag das Protokoll einer Vernehmung vor, in der Charlotte M. und ihre Mutter der britischen Polizei die Vorgänge schilderten. Doch die 170 Seiten müssen erst einmal ins Türkische übersetzt werden. Das kann dauern. Marcos Anwälte halten diese Form der Einvernahme überdies für nicht ausrei- Kontakt zu Charlottes Mutter suchen - in der Hoffnung, dass es gelingen kann, der Situation ein Ende zu bereiten. Marcos Bruder Sascha W. (20) beim Fackelumzug In Marcos Heimatstadt Uelzen machten Bekannte und Unterstützer unterdessen mit einer Mahnwache auf die Situation des Jugendlichen aufmerksam. „Schluss mit der Qual eines Unschuldigen“ und „Gerechtigkeit heute“ stand auf einigen der Transparente. „Wir sind erschüttert“, sagte ein Mitglied der Initiative „Freiheit für Marco“, als der Gerichtsentscheid in Uelzen bekannt wurde. Marcos 20 Jahre alter Bruder Sascha reagierte erschüttert auf die Nachricht. Bereits am Donnerstagabend waren für Marco rund 150 Menschen mit Fackeln durch den Ort in der Lüneburger Heide gezogen.