„Das Bücherfeld in Russland ist leicht einbetoniert“

Transcription

„Das Bücherfeld in Russland ist leicht einbetoniert“
 „Das Bücherfeld in Russland ist leicht einbetoniert“ Interview mit Michail Kotomin, dem Chefredakteur des Verlags Ad Marginem, an die Internet‐Zeitung Gazeta.ru — 10.05.12 19:59 — ТЕXT: Akeksej Krischewskij FOTO: Foto aus dem persönlichen Archiv von Michail Kotomin Michail Kotomin, der Cheflektor des Verlags Ad Marginem, erzählte „Gazeta.ru“, warum russische Leser keine Bestseller großer Verlage lesen wollen, wie eine Website helfen kann, gegen Monopole zu kämpfen und was die Allianz der unabhängigen Verleger in der gegebenen Situation tun kann. Die Russländer kaufen immer weniger gedruckte Bücher. Davon zeugt der Bericht von Rospetschat, der Föderalen Agentur für Presse und Massenkommunikation, der dem Buchmarkt in Russland gewidmet war. Im vergangenen Jahr verringerte sich die Gesamtauflage um 6,3% im Vergleich zu 2010, wobei die Anzahl der Publikationen geringfügig anstieg. Die Gesamtauflage der letzten drei Jahre nahm um fast 20% ab. Dabei wuchs der E‐Book‐Markt in Russland 2011 im Vergleich zu 2010 um das Zweifache an und machte 134 Mio Rubel aus. Dieser Bereich des Buchhandels wuchs im Laufe der letzten drei Jahre im Durchschnitt um 120% jährlich. Die wichtigsten Verkäufer von E‐Books in Russland sind die Unternehmen „Litres“ (54%) und „Ajmobilko“ (20%). Dabei bleibt „Litres“ der größte Halter von Autorenrechten zur Verbreitung russischsprachiger Bücher im russischen Internet, wogegen 40% des E‐Book‐Verkaufs von „Ajmobilko“ durch den exklusiven Content gesichert werden, aggregiert von „Litres“. „Gazeta.ru“ bat Michail Kotomin, Chefredakteur 1 des Verlags Ad Marginem und einer der Leiter der Allianz der unabhängigen Verlage, die Situation zu kommentieren. — Michail, der Bericht von Rospetschat zeigt auf, das der inländische Markt für gedruckte Bücher nun nicht das erste Jahr hintereinander fällt, bei einem gleichzeitigen Verkaufsanstieg der E‐Books. Inwieweit entsprechen die Daten Ihrer Meinung nach der Wirklichkeit? — Der russische Buchmarkt ist monopolisiert und so gut wie ruiniert, deshalb verfolgen wir nun schon einige Jahre diese traurige Statistik. In Skandinavien zum Beispiel, steigt der Verkauf gedruckter Bücher nun schon ein halbes Jahr lang an. In den USA führte der Verkaufsanstieg von E‐Books und elektronischen Medien zu einer Zunahme lesender Amerikaner. Nur bei uns geht die apokalyptische Beschwörung weiter: Der Verkauf fällt, die Menschen lesen keine Bücher, die Piraten wüten. Aber in Wirklichkeit ist diese Situation das Ergebnis der Lobbysierung zweier Monopolisten. —und das ist der ganze Grund? — Nein. Die Situation bei uns ist wirklich schrecklich: sehr wenig Buchläden, absolut keine Konkurrenz, das Zusammenspiel von Distributoren und Verlagen, woraus folgt, dass nur eine Art von Autoren und Titeln herausgegeben wird. Anstatt das man die Infrastruktur der Buchläden und Verlage entwickeln würde, versucht man uns davon zu überzeugen, dass die Menschen in die Geschäfte, die es gibt, gehen und kaufen sollen, was uns der Monopolist verkauft. Dabei sind in Wladiwostok beispielsweise noch zwei Buchläden übrig. — Aber hier sollten doch die elektronischen Buchausgaben helfen, deren Zahl zunimmt ‐ zumindest wenn man die Kennziffern von „Ajmobilko“ und „Litres“ nimmt. — In Wirklichkeit erwartet uns auf dem Gebiet der elektronischen Publikationen ein Durchbruch. Der große Operator „Ozon“, der mit E‐Books handelt, wird sich bald aus der Arbeit mit Aggregatoren wie „Ajmobilko“ und „Litres“ verabschieden und ein System, ähnlich wie das von Amazon.com, erstellen: Die E‐Books werden direkt auf der Website verkauft, nicht getrennt von den Gedruckten. Auf der Website werden sie aber nicht von den Autoren selbst vorgestellt, sondern von ihren Verlagen, was deshalb bedeutet, dass kleine unabhängige Verlage wie Ad Marginem Zutritt zum Markt bekommen und dabei die monopolistischen Distributer umgehen können. „Ozon“ besitzt nun die größte Datenbank an Buchtiteln, eine benutzerfreundliche Suchmaschine und hat mit Hilfe seines Buchversandhandels viel dazu beigetragen, dass die Literatur die Provinz erreicht hat. Sie haben ein Wachstum an gedruckten Büchern bis zu 36% im Jahr ‐ vergleichen Sie das mit dem, was im Bericht steht. 2 Das bedeutet, dass der Bericht durchaus richtige Zahlen liefert, es aber wichtig ist zu verstehen, dass sie die Frucht der russischen monopolistischen Wirtschaft ist. Und wenn jemand aus der Regierung etwas tun möchte, muss er das berücksichtigen. — Bekommt Ad Marginem den Rückgang zu spüren? — Ja, in den letzten vier Jahren leben wir unter den Bedingungen eines Atomwinters: Unsere Bücher verkaufen sich nur in Moskau und in St. Petersburg, nun erreichen wir nur mit Hilfe von „Ozon“ auch die Provinz. Wir haben sehr lange und unter großen Schwierigkeiten einen Überlebensmodus gesucht. Ich bin sogar froh über diesen Bericht: Es wurde klar, dass die Monopolisten sich selbst in Schwierigkeiten gebracht haben und es ist ein Signal nach oben, dass es an der Zeit ist, die Sache zu klären. — Stören Sie die Piraten? — Die Piraten sind sogar sehr nützlich, weil sie die letzten wahren Leser sind und die Literatur wirklich spüren. Man sollte nicht gegen sie kämpfen, sondern an ihnen lernen und mit ihnen zusammen arbeiten. — Was ist Ihrer Meinung nach der Grund dafür, dass der Antimonopoldienst nicht darauf reagiert, dass der Buchmarkt monopolistisch beherrscht wird? — Nun, mir scheint es, dass die Selektivität bei der Anwendung des Antikartellrechts in Beziehung zu bestimmten Strukturarten ein ungeschriebenes Gesetz in vielen Wirtschaftsbereichen ist, egal ob es sich um die Gasföderung oder das Bauwesen handelt. Der Buchmarkt birgt im Vergleich dazu keine so großen Geldmittel, vielleicht hat man ihn deshalb noch nicht bemerkt. Dabei arbeiten die Verlage selbst oft so, wie man früher auf den Kleidungsmärkten gearbeitet hat. Die Schriftsteller werden zu Sprintlergeschwindigkeiten geführt ‐ Schauen Sie doch mal, mit welcher Geschwindigkeit Wiktor Pelewin oder Sachar Prilepin zu schreiben begannen. Die Zerschmetterung, die die Machtstrukturen in einem der Verlage durchführen, zeugt von absolut wilden Vorgängen ‐ fast schon Koffer voll Schwarzgeld… Grüße aus den 90‐
ern. — Gibt es bei uns schon die Voraussetzungen dafür, dass als Ergebnis direkter Arbeit mit den Verlagen eine solche Ausrichtung der Kennzahlen wie in Skandinavien oder eine Steigerung des Leseranteils wie in Amerika erreicht wird? — Nun, „Ozon“ allein ist für das ganze Land wenig… Ja, möglich, dass wenn es zu einem offenen Wettbewerbsnetz der Distributoren kommt, in dem die den Verlagen gehörenden Verbreiter andere Verlage nicht am Marktzugang hindern werden. Alle hier heulen, dass die Menschen hier nicht lesen würden ‐ nun, man gibt ihnen keine Titelvielfalt, deshalb lesen sie nicht. Die Menschen lesen, sie wollen nur nicht das lesen, was man ihn sie hineinschiebt. 3 Während der „fetten“ Zeiten hat keiner der Monopolisten etwas investiert oder seine Geschäftsinfrastruktur aufgebaut: Die Bücherläden großer Netze sind oft einfach nur ein Schuppen und arbeiten am Abschöpfen der Bestseller. Wettbewerbsfähigkeit der Distributoren, ein offener Marktzugang, gleiche Bedingungen für alle ‐ dann entsteht eine starke Konkurrenz: Jemand hat interessantere Autoren, jemand bessere Ausgaben, jemand mehr neue Autoren. Der Verlag AST gibt jetzt, zum Beispiel, ein neues Buch von Marquez heraus. Das ist ein guter Schriftsteller, aber ihn haben schon unsere Eltern gelesen, deshalb wäre es vielleicht nicht schlecht, etwas Neues herauszubringen? Im Ganzen ist unser Bücherfeld leicht einbetoniert. — Welches Werkzeug zur Lösung dieser Probleme sehen Sie? — Es gibt eine Menge. Erstens, die staatliche Unterstützung: eine verminderte Steuerbelastung, Programme zur Finanzierung wissenschaftlicher Literatur (sie gibt es in jedem beliebigen Land der Welt). Man könnte unabhängigen Buchläden billig Verkaufsfläche zur Verfügung stellen. Man könnte Steuerferien einführen. Man könnte auch, zum Beispiel, die vorhandenen staatlichen Distributionssysteme wie die Post „Potschta Russij“ oder die Bahngesellschaft RSCHD benutzen. Zudem sollte antimonopolistischer Druck ausgeübt werden. Das ist das, worüber wir auf den Arbeitstreffen der Allianz unabhängiger Verleger sprechen. Dazu kommt noch eine der wichtigsten Ressourcen, die horizontale Zusammenarbeit. Es gibt ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie unabhängige Verlage vorgehen: Einige von ihnen haben sich zusammengeschlossen und fingen an, selbstständig eine Zeitschrift für Bibliotheken herauszugeben, mit den Buchumschlägen und Annotationen. — Und staatliche Unterstützung beantragen? Es gibt doch solch einen Weg. — Staatliche Unterstützung in unserem Bereich, ja in unserem Land, zu bekommen, ist so gut wie unmöglich, da unser Staat jeden Beginn wie ein Geschäftsprojekt betrachtet: Um eine Million zu bekommen, muss man selbst eine Million investieren. Dabei zieht man es vor, Geld zurückzugeben: Du sollst ein Festival durchführen, ein Internetportal oder eine Messe organisieren, eine Menge Papier ausfüllen und dann gibt man dir die Hälfte des Geldes zurück. — Das bedeutet, dass man vom Staat im Prinzip nichts erhalten kann? — Wieso das denn . Nun fahren eine große Gruppe unabhängiger Verleger nach New York auf die Messe Book Expo und eben diese Gruppe wird von Rospetschat bezahlt. Früher haben sie dorthin Schriftsteller in der Gestalt von Hochzeitsgenerälen gebracht. — Sie haben vor ungefähr einem halben Jahr die Allianz unabhängiger Verleger gegründet ‐ ist es ihnen gelungen, etwas vom Erdachten umzusetzen? 4 — Nun, ich werde nicht übertreiben, bis jetzt haben wir noch nichts Revolutionäres gemacht. Es ist uns bis jetzt gelungen, einige Lager und den Transport zu vereinigen, eine einheitliche Datenbank der Buchläden erstellt, die bereit sind unabhängige Verleger zu verkaufen. Wir arbeiten am Zusammenwirken mit Bibliotheken, nun fahren wir auf das Bibliotheksforum in Perm. Während der Nacht der Museen haben wir eine Messe der Allianz im Polytechnischem Museum durchgeführt. Übersetzung aus dem Russischen: Astrid Greipel 5 

Documents pareils