Leseprobe Popescu

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Leseprobe Popescu
Adriana Popescu
Roman
Piper München Zürich
Mehr über unsere Autoren und Bücher :
www.piper.de
Originalausgabe
September 2013
© 2013 Piper Verlag GmbH, München
Umschlaggestaltung : Mediabureau Di Stefano, Berlin, unter Verwendung
mehrerer Motive von iStockphoto
Satz : Kösel, Krugzell
Gesetzt aus der Joanna
Papier : Munken Print von Arctic Paper Munkedals AB, Schweden
Druck und Bindung : CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany ISBN 978-3-492-30446-7
Erste
Hilfe
Das Gedränge ist wie immer groß, aber meine Kamera gibt
mir Schutz und das pinkfarbene Bändchen um mein Handgelenk ohnehin. Die meisten kennen mich, grüßen kurz
und posieren für ein Foto – ob es jemals veröffentlicht wird,
entscheide ich. Die verschiedenen Gesichter der Party ziehen an mir vorbei, und jedes einzelne erzählt eine eigene
Geschichte. Das Schönste an meinem Job ist, jede dieser
Ge­schichten mit einem einzigen Bild nachzuerzählen.
Es ist laut, und es riecht nach einer Mischung aus Bier,
Schweiß und Sommerluft. Der laue Abend wird zur vielversprechenden Nacht. Mit anderen Worten: Es ist perfekt. Ein
Open-Air-Event mit einem guten DJ und tanzenden Menschen, die laut zu jubeln beginnen, als sie das gerade einsetzende Stück erkennen. Es ist die Hymne dieser Partygeneration. Paul Kalkbrenner hat mit Sky and Sand ein Lied für genau
diesen Moment geschrieben, das Gefühl von Sommer und
ein bisschen Freiheit. Es ist der perfekte Soundtrack für das
Leben auf der Tanzfläche. Jeder hier liebt das Lied, und so
werde ich Zeugin eines kollektiven Tanzrausches. Jetzt und
hier fühle ich mich mit meiner Mission am wohlsten. Mitten in dieser tanzenden, selbstvergessenen Menge. Hier entstehen die schönsten Fotos, weil niemand posiert, weil alle
in der Trance der Musik sind, sich ihr hingeben, nicht nachdenken und in den nächsten Minuten auch keine Zeit zum
Nachdenken haben werden. Fast möchte man meinen, die
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Menschen um mich herum wollten alle zusammen die im
Refrain besungenen Schlösser im Himmel und im Sand
bauen.
Ich bewege mich langsam durch die Menge, wie durch
ein Meer aus sich bewegenden Körpern, lasse mich von ihm
tragen und erhasche dabei Momente, die ich mit meiner
Kamera für immer festhalte.
Da in der Mitte, irgendwo, als einer von vielen, steht dieser junge Mann, die Augen geschlossen. Während sich alle
um ihn herum mehr oder weniger gleich bewegen, steht er
wie ein Fels in der Brandung da, als wäre er in einer anderen
Welt. Nur das Lächeln auf seinen Lippen verrät, dass auch er
den Beat des Liedes hört und dass es ihn zu berühren scheint.
Ich kann nicht anders, ich muss dieses Foto machen, auch
wenn es sich anfühlt, als würde ich bei etwas stören. Er sieht
so friedlich aus, passt so gar nicht in das laute und bunte
Treiben hier auf der Tanzfläche. Ich betrachte ihn einen kurzen Moment durch den Sucher meiner Ka­­mera – noch
immer steht er da, bewegt sich nur ganz leicht hin und her.
Er wirkt größer als die anderen, trägt ein schlichtes weißes
T-Shirt, keinen Schmuck, keine besonderen Kennzeichen.
Meine Kamera verfügt über einen 400-fachen Zoom, und so
betrachte ich sein Gesicht für einen kurzen Moment. So
ruhig. So markant. Vermutlich irre ich mich, aber da ist
plötzlich ein Gefühl, das ich kenne, an das ich mich aber
nicht mehr genau erinnere. Dann springe ich schnell wieder zurück in die Ausgangsperspektive: die tanzende Menge
im Anschnitt, ihn mittig vor den bunten zuckenden Lichtern. Ich drücke ab. Einmal. Zweimal. Gleich viermal und
mehr. Ich möchte eine Auswahl zu Hause vor dem Bildschirm treffen können. Das wird zumindest die offizielle
Erklärung, falls mich jemand fragt. Die Wahrheit ist eine
andere.
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Und dann passiert es. Ganz ohne Vorwarnung oder An­­
zeichen. Es kommt aus dem Nichts, und es geschieht so
schnell. Selbst wenn ich es hätte kommen sehen, hätte ich es
nicht aufhalten können. Ein Ellenbogen schießt von der
Seite ins Bild, trifft sein Gesicht, und bevor ich den Auslöser
drücken kann, ist alles aus dem Bildausschnitt verschwunden. Ich sehe nur noch tanzende Menschen. Sofort nehme
ich die Kamera runter und sehe mich suchend um, aber
außer mir scheint es niemand bemerkt zu haben. Wieso
auch ? Die Musik übertönt alles, und wer sich einmal dem
Beat verschrieben hat, der nimmt die Umgebung ohnehin
nicht mehr wahr. Wo ist er ? Ich schiebe mich durch die
Menge, halte die Hand schützend vor das Objektiv meiner
Kamera und schaffe es schließlich an den Rand. Hier ist die
Luft etwas frischer, aber die Musik nicht weniger laut. Ich
sehe mich suchend um. Da vorne ist er. An der Bar. Er lehnt
mit dem Rücken an der Theke, hält sich mit einer Hand fest
und presst die andere an sein linkes Auge. Ich sehe Blutflecken auf dem Kragen seines T-Shirts und komme langsam
auf ihn zu, von etwas angezogen, das ich nicht erklären
kann.
Er ist wirklich ziemlich groß, trägt dunkle Jeans und
Turnschuhe. Ein Gürtel versucht die Hose in einer anständigen Haltung zu bewahren, was ihm nicht wirklich gelingt,
und ich erspähe ein Stück weiße Boxershorts, auf die ich
aber nicht achte … auf die ich nicht zu achten versuche.
» Ist alles okay ? «
Ich bleibe neben ihm stehen. Er sieht mich überrascht
aus einem Auge an, hat mich aber wohl nicht verstanden,
denn ich erkenne nur einen fragenden Gesichtsausdruck.
Langsam greife ich nach seiner Hand, an seinen Fingern
klebt etwas Blut. Er sieht mich verwundert an, lässt es aber
geschehen.
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Dort, an der Theke, zwischen dem Lärm, dem Schweiß
und der Musik, berühre ich ihn zum ersten Mal in meinem
Leben. Seine Haut fühlt sich warm und rau an, aber nicht
unangenehm rau, ganz im Gegenteil. Für gewöhnlich ist
das kein besonders einschneidender Moment, aber diesmal
ist es anders. Vollkommen anders. Diesmal ist es, als würden
plötzlich viele kleine Käfer mit schnell schlagenden Flügeln
in meinem Kopf losflattern.
Ich versuche, das Flattern zu überhören und sehe mir das
Ausmaß des Zusammenpralls an: eine kleine Platzwunde
über dem linken Auge, Blut läuft an seiner Schläfe herunter.
» Das solltest du behandeln lassen ! «
Ich schreie es ihm über die Musik hinweg ins Gesicht. Er
wirkt nicht betrunken, dafür sind seine Augen zu klar. Ein
kräftiges Grün strahlt mich etwas verwirrt an. Er nickt, aber
ich glaube nicht, dass er mich verstanden hat. Also versuche
ich es erneut, stelle mich ein wenig auf die Zehenspitzen
und lehne mich näher zu ihm. Dabei streift meine Wange
sein Gesicht, nur für den Bruchteil einer Sekunde. Er riecht
gut, nach Sommer und etwas anderem … Aufregendem.
» Das sieht übel aus. Das solltest du behandeln lassen. «
Er nickt noch einmal. Diesmal hat er mich verstanden.
» Mache ich. Danke. «
Seine Stimme ist tief und warm. Und sie klingt überraschend gefasst, wenn man bedenkt, was ihm gerade passiert
ist. Ich gehe wieder leicht auf Abstand und sehe, dass ein
amüsiertes Lächeln auf seinen Lippen liegt. Auf seinen schönen Lippen. In meinem Kopf versucht eine Frage gegen das
Flügelschlagen der Käfer anzukommen: Was mache ich hier ?
Wahrscheinlich fragt er sich gerade dasselbe.
Ich lasse seine Hand wieder los, drehe mich schnell zur
Theke und bestelle mir ein Wasser, damit es so aussieht, als
wäre ich ganz zufällig hier, um mir etwas gegen den Durst
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zu beschaffen. Wenn ich arbeite, so wie heute, trinke ich
keinen Alkohol. Meine Fotos sind dann einfach besser.
Er versucht unterdessen eher ungeschickt, sich mit dem
Kragen seines leicht verschwitzten Shirts das Blut aus dem
Gesicht zu wischen. So wird das nichts. Ich kenne solche
Platzwunden – als Partyfotografin habe ich sie schon oft
gesehen. Man muss sie behandeln, sonst bleibt eine hässliche Narbe. Zumindest desinfizieren sollte man sie, damit sie
sich nicht sofort entzünden. Also bestelle ich noch zwei
klare Schnäpse und ein frisches Taschentuch. Etwas verwundert über meine Bestellung betrachtet mich der Barkeeper
einen Moment, bevor er mir den Wunsch erfüllt und ich
einen zweiten Versuch starte.
» Hier ! Einer für den Kopf und einer gegen den Schmerz. «
» Was ? «
Ich halte ihm eines der Schnapsgläser vors Gesicht, und
wieder ernte ich nur ratlose Blicke. Ich würde mich ja
gerne besser artikulieren, aber der dröhnende Bass eines
Nico-Pusch-Tracks macht es mir etwas schwer.
» Trink das ! Gegen den Schmerz ! «
» Gegen welchen Schmerz ? «
Ich drücke ihm das eine Schnapsglas einfach in die Hand,
und er sieht mir dabei zu, wie ich das Taschentuch in das
andere Glas tauche. Dann schüttelt er leicht den Kopf, hebt
abwehrend die freie Hand und will mir ausweichen.
» Ich weiß, was ich tue ! Vertraue mir ! «
Es ist gelogen. Ich hatte meinen letzten Erste-Hilfe-Kurs
vor knapp sechs Jahren und müsste meine Kenntnisse über
die stabile Seitenlage dringend mal wieder auffrischen, aber
das spielt jetzt keine Rolle. Hochprozentiger Schnaps des­
infiziert. Das habe ich im Nachtleben gelernt – und in einer
Episode von Grey’s Anatomy, was ich ihm aber nicht sagen
werde.
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Ich gebe ihm keine Zeit nachzudenken, tupfe mit dem
Taschentuch einfach frech direkt über die Wunde und
bekomme als Quittung ein verzerrtes Gesicht meines Patienten.
» Autsch ! «
» Gegen den Schmerz ! «
Ich blicke auf den Schnaps in seiner Hand. Er versteht
endlich, und schon ist das Glas leer.
Ich tupfe etwas vorsichtiger weiter und weiß genau, dass
es höllisch brennen muss. Er schließt die Augen und hält
sich tapfer an der Theke fest. Ich muss mich wieder fast auf
die Zehenspitzen stellen, um an sein Auge zu kommen. Er ist
wirklich groß. Während ich tupfe, betrachte ich ihn etwas
genauer. Die dunkelbraunen Haare trägt er kurz, aber nicht
zu kurz. Einige schweißverklebte Strähnen reichen bis in
die Stirn, wo sie ein lustiges Muster formen. Er hat kräftige
Schultern, und den Rest kann ich unter dem T-Shirt nur
erahnen. Plötzlich gesellen sich zu den flirrenden Käfern im
Kopf flatternde Schmetterlinge in der Magengegend, und
schnell versuche ich, mich wieder auf das Tupfen zu konzentrieren.
» So, fertig ! «
Ich betrachte mein Werk und bin damit zufrieden. Er
nickt, und ich sehe, wie angespannt er ist. Die Kieferknochen treten gefährlich hervor. Sambuca auf offener Platzwunde ist bestimmt nicht die beste Idee, die ich in meinem
Leben hatte, aber für den Moment das Beste, was mir eingefallen ist. Er kneift das linke Auge fest zusammen und sieht
mich aus dem rechten an. Unsere Gesichter sind keine
zwanzig Zentimeter voneinander entfernt.
» Ich weiß nicht, ob ich mich bedanken oder dich verfluchen soll. «
Sein Atem riecht wegen dem Sambuca leicht nach Anis.
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» Gern geschehen, aber das solltest du wirklich nähen
lassen. «
Es klingt sehr fachmännisch, wenn man bedenkt, dass ich
meine Anleitung aus einer Fernsehserie habe. Ich stelle Glas
und Tuch auf die Theke neben uns.
» Bist du Krankenschwester ? «
» So was in der Art. «
Bin ich nicht. Ist glatt gelogen. Ich bin vom ärztlichen
Fachbereich so weit entfernt wie London von Tokio, aber
wenn ich das jetzt zugebe, dann sieht es wie die billige
Anmache einer verrückten Sadistin aus. Das will ich wirklich verhindern.
» Ich weiß gar nicht, wie das passieren konnte. «
Er kneift noch immer das linke Auge zusammen, was
ihm einen spitzbübischen Ausdruck verleiht.
» Zwei Jungs neben dir meinten, sie müssten Pogo zu
Techno tanzen. Der Ellenbogen des Größeren hat dich mit
voller Wucht erwischt. «
» Aha. «
Er lehnt sich ein wenig zurück und sieht mich überrascht an. Woher ich das weiß ? Oh. Ich tippe auf die Kamera.
» Ich arbeite hier, mache Fotos für den Veranstalter und …
habe es zufällig gesehen. «
Er nickt nur. Das ist ja auch Unfug. Ich habe es gesehen,
weil ich meine Blicke nicht von ihm nehmen konnte und es
zufällig genau zu dem Zeitpunkt passiert ist, als ich aus­
giebig sein Gesicht studiert habe. Aber das kann ich ihm ja
schlecht sagen.
» Kommt wohl vor. «
Er zuckt mit den Schultern, als würde es ihm nichts ausmachen. Was mich überrascht. Ich würde versuchen, diese
Typen zu finden, und sie dann zur Rede stellen. Sie sind
sicherlich auf einem der Fotos, die ich von ihm geschos-
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sen habe. Zumindest das Taxi ins Krankenhaus sollten sie
zahlen.
» Layla ! Da bist du ja ! «
Meine beste Freundin Beccie hat manchmal ein unfassbar schlechtes Timing, und diese Erfahrung mache ich
immer und immer wieder. Heute ist keine Ausnahme, und
so setze ich ein möglichst freundliches Lächeln auf, als die
blonde Schönheit mit den erschlagenden weiblichen Argumenten neben mir auftaucht.
» Beccie. Hi ! «
» Ich habe dich in der Menge verloren. Wir sollten weiter ! «
Sie sieht zu meinem Patienten, und ihre Augen weiten
sich kurz.
» Du blutest. «
Sie berührt mit ihrer Hand ganz beiläufig seinen Arm,
und in mir flackert plötzlich etwas auf. Wut ? Ich will nicht,
dass sie ihn anfasst.
» Habe ich schon gemerkt. «
» Das sieht übel aus. «
Er nickt und wirft mir einen kurzen Blick zu.
» Halb so wild. «
» Ich bin übrigens Beccie. «
Ganz ungeniert lässt sie seinen Arm los und schiebt ihre
Hand in seine. Ich würde sie gerne erwürgen. So ist das
schon seit der Schulzeit. Immer wenn Beccie auftaucht,
habe ich mich für das männliche Geschöpf neben mir auf
magische Weise in Luft aufgelöst. Wieso ? Das ist schnell
erklärt: Ich bin klein, habe durchschnittlich braune Haare,
durchschnittlich braune Augen und eine durchschnittlich
gute Figur, also keine Modelmaße oder blondes wallendes
Haar zu strahlenden blauen Augen. Wie Beccie. Ich bin einfach eher durchschnittlich, und wenn sie neben mir steht,
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werde ich zu einer Art Hilfssheriff, der auf dem Esel neben
dem strahlenden Helden der Geschichte als klassischer
Side-Kick mitreiten darf.
» Hallo, Beccie. «
Dann sieht er plötzlich wieder zu mir, streckt mir seine
Hand entgegen, und sofort ist da wieder dieses Schlagen der
Flügelchen in meinem Kopf. Nur lauter als zuvor.
» Und du bist Layla ? Wie in dem Clapton-Song ? «
Ich nicke und bin überrascht. Nicht nur über den richtig
erratenen Grund, warum meine Eltern mich genannt haben,
wie sie mich genannt haben, sondern vor allem darüber,
dass Beccies unverschämter Flirtversuch und die geballte
Ladung weibliche Argumente, die ihr sehr tief geschnittenes T-Shirt gibt, an ihm abzuprallen scheinen. Ich sollte
seine Rippen zählen, um sicherzugehen, dass es sich um ein
menschliches und männliches Wesen handelt.
» Ja, ich bin Layla, wie in dem Clapton-Song. «
Ich nehme seine Hand an.
» Tristan. «
Ich höre ihn durch das Flattern in meinen Ohren und
lächle. Der Name ist mir noch nie außerhalb von Filmen
oder Büchern begegnet. Jetzt bekommt er zum ersten Mal
ein reales Gesicht für mich. Ein markantes und interessantes
Gesicht. Sicherlich nicht perfekt, vor allem nicht mit dem
zusammengekniffenen Auge und dem ganzen Blut, aber ich
finde, es passt. Sehr gut sogar.
Beccie hakt sich bei mir ein und zieht mich ein kleines
Stückchen von ihm weg, was ich geschehen lasse und was
mir zugleich missfällt.
» Wir müssen weiter. Gibt noch mehr Events, bei denen
wir erwartet werden. Mach es gut,Tristan. «
Sie spricht für uns beide, was mir noch mehr missfällt.
Tristan und ich schauen uns einen Moment lang unschlüs-
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sig an, dann werde ich aber auch schon weggezerrt. Beccie
winkt ihm zum Abschied neckisch zu, und damit ver­
schwinden wir in der Menge. Ich sage nichts, versuche keinen Blick zurückzuwerfen, weil es zu auffällig wäre und
ich mir diese Blöße in Beccies Gegenwart nicht geben
möchte.
Am Ausgang gebe ich auf und wage es doch. Nur einen
Blick.
Aber er ist verschwunden.
Mein MacBook ist die einzige Lichtquelle im Wohnzimmer.
Es ist kurz nach vier Uhr in der Früh, und neben mir steht
eine Tasse Kaffee. Nur so überstehe ich den Rest der Nacht.
Ich komme meistens um diese Uhrzeit nach Hause und
kann dann nicht schlafen. Ich bin zu aufgekratzt und will
die frisch geschossenen Bilder am liebsten sofort bear­bei­
ten. Hier und jetzt, nicht erst morgen im Büro. Da es sich
aber wie heute oft um geschätzte vierhundert Fotos handelt, ist das unmöglich. Deshalb schaue ich sie mir zu­­
nächst nur an, treffe eine mentale Vorauswahl und gehe
dann irgendwann im Morgengrauen ins Bett. Auf diese
Weise läuft so ziemlich jeder Sonntagmorgen ab, und heute
ist es nicht anders.
Ich habe die Kopfhörer auf den Ohren und leise läuft
etwas Musik im Hintergrund, während ich die Speicherkarte meiner Kamera auslesen lasse und einen Schluck
trinke.
Irgendwie muss ich langsam wieder zurück auf den Planeten Erde finden. So ein Abend voller Musik, Tanzen,
Getränke, Locationwechsel und Beccie ist eine ziemlich extreme Mischung. Vor allem wenn meine beste Freundin
nichts anderes zu tun hat, als mir von den vier Kerlen vorzuschwärmen, die sie heute hätte abschleppen können. Was
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in der Regel nicht einmal übertrieben ist. Beccie ist wunderbar, aber was Männer angeht, ist sie manchmal wie
einer dieser kleinen Hunde. Sie hüpft und bellt, aber sie
schnappt nicht zu. Dafür fehlt ihr der Mut. Sie sagt, dass sie
mit einem Kerl erst nach Hause geht, wenn sie zwei Dates
mit ihm verbracht hat und ihn dann noch immer nicht
abstoßend findet. Jemandem, den sie in einem Club mal
eben so kennengelernt hat, würde sie niemals in seine Wohnung folgen.
» Wobei ich bei diesem Tristan eine Ausnahme gemacht
hätte. «
Ich wollte und will es noch immer nicht hören, aber in
meinem Kopf spielt sich eine Endlosschleife ihrer Beschreibungen Tristans ab. Dabei hat sie gerade mal zwei Minuten
mit ihm verbracht. Nicht mehr und nicht weniger. In ihrer
Version könnte man meinen, sie wären den halben Abend
und die gesamte Nacht zusammen gewesen. Wieso mich
das so ärgert, weiß ich selber nicht. Gut, natürlich, ich habe
eine Ahnung, versuche sie aber zu ignorieren. Mit mäßigem
Erfolg. Irgendwann, als wir schon auf dem Weg nach Hause
waren, habe ich mir einen patzigen Kommentar nicht mehr
verkneifen können und dann einen irritierten Blick von
Beccie dafür geerntet. Sie hat gemerkt, dass ich aufgewühlt
war, und fand es nicht gut. Sie hatte wohl auch eine Ahnung,
wie das so ist mit besten Freundinnen: Sie kennen einen zu
gut. Schlimmer noch, sie haben meistens recht !
» Erstens: Dieser Kerl ist doch nicht mal dein Typ. Nicht
mal ein bisschen … «
Ich muss ihr leider zustimmen. Tristan ist wirklich nicht
mein Typ, und ich bin nicht stolz darauf, sagen zu müssen,
dass ich sehr wohl einen Typ habe. Schon immer. Das alles
hat schon sehr früh angefangen. Damals, als ich die Kinderserie Flipper zum ersten Mal im TV gesehen habe, war ich
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sofort bis über beide Ohren in Sandy verliebt. Mir war klar,
so muss mein zukünftiger Mann eines Tages aussehen.
Danach folgten Poster des Surfweltmeisters Kelly Slater, der
ebenfalls genau in dieses Beuteschema passt. Und dem bin
ich bis heute treu geblieben. Blond, blaue Augen, sportlich,
glatt rasiert. Dunkelhaarige, mysteriöse Typen mit leuch­
tenden grünen Augen haben mich niemals angesprochen,
und sie werden mich niemals ansprechen. Auch ein Drei­
tagebart und Tätowierungen lassen mich kalt. Ich stehe
nicht auf dieses Bad-Boy-Image von wegen Lederjacke,
Ohrringe und Motorrad. Das ist so, und damit kann ich sehr
gut leben. Außerdem sind Beccie und ich uns deshalb nur
selten in die Quere gekommen, wenn es um Männer ging.
Sie suchte sich die Bad Boys, und ich landete bei Prince
Charming.
» … und zweitens, liebe Layla, hast du ja Oli. «
Ja. Seit fünf Jahren habe ich Oliver, meinen Freund.
Das Pling ! meines MacBooks sagt mir, dass alle Bilder nun auf
der Festplatte sind, und ich öffne den Ordner. Wie immer
will ich mir meine Ausbeute sofort ansehen. Bei manchen
Fotos weiß man schon im Moment der Aufnahme, dass es
ein neues Lieblingsbild wird. Auch heute Abend hatte ich
wieder dieses Gefühl, und bisher hat es mich nie getäuscht.
Ich klicke mich diesmal allerdings etwas hektischer als
sonst durch die Vorschau auf der Suche nach einem ganz
besonderen Bild. Eigentlich suche ich diesmal eine ganz
besondere kleine Bilderserie, von der ich mir viel verspreche. Dabei lasse ich alle anderen Bilder links liegen. Mögen
sie auch noch so gelungen und schön sein, nehme ich sie
doch nicht wahr. Da sehe ich die Bilder, nach denen ich ge­­
sucht habe. Ich weiß nicht, was ich darauf zu finden hoffe,
aber als ich das erste Bild öffne, zittern meine Hände leicht.
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Der Mauszeiger fliegt zum ersten der vier Bilder. Doppelklick, und mit einem Mal nimmt es den ganzen Bildschirm
ein und … mein Herzschlag will kurz aussetzen. Die tanzende Menge ist unscharf, man erkennt die Menschen zwar,
aber der Fokus liegt auf einer einzigen Person. Die Abendsonne steht so, dass sie ihn in weiches, warmes Licht
hüllt. Wieder höre ich die Musik, schmecke die Atmosphäre,
und ich bin froh, dass es mir gelungen ist, genau diesen
Moment einzufangen. Tristan ist dabei das ruhige Zentrum.
Sein T-Shirt ist schlicht, kein wilder Aufdruck, kein Anzeichen für eine bestimmte oder bekannte Marke. Es ist einfach nur weiß. Keine Kette, keinen Schmuck. Ich klicke auf
das nächste Foto, das etwas näher an seinem Gesicht ist. Ich
betrachte die Form seines Kinns, den Hals, die Schultern, die
Form seiner Lippen. Er ist kein klassischer Schönling, er hat
keine perfekten Augenbrauen, die jede Frau auf dieser Welt
vor Eifersucht erblassen lässt, und der leichte Dreitagebart
lässt ihn etwas älter wirken, als er vermutlich ist. Aber er ist
wunderschön, und ich spüre wieder dieses leise Flattern in
mir. Ich klicke auf das dritte Bild, und plötzlich höre ich
seine Stimme. Sie klingt noch immer in meinem Ohr. Auch
sein Geruch ist wieder da, die raue Wärme seiner Haut.
Dann klicke ich das vierte Bild an und weiß sofort: Es ist das
Eine. Die anderen Bilder kann ich löschen. Ich kann es nicht
in Worte fassen, aber beim Anblick dieses Fotos zieht sich
mein Herz zusammen und stößt einen Schwarm Schmet­
terlinge in meinem Bauch aus. Das hier ist das schönste
Foto, das mir seit Langem geglückt ist. Und das Motiv ist
einfach atemberaubend. Ich betrachte das Bild noch eine
kleine Weile, präge mir seine Gesichtszüge ein, erinnere
mich an alles, was dann kam: das Gespräch, mein heldenhafter Einsatz als Florence Nightingale, sein …
» Du bist ja schon zu Hause. «
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Ich fahre erschrocken zusammen, als mir jemand von
hinten einen Kuss auf die Wange drückt. Panisch klappe ich
das MacBook zu und verschütte dabei fast meinen Kaffee.
» So schreckhaft ? Ich habe gar nicht mitbekommen, dass
du schon da bist. «
Es ist Oliver, der in einem T-Shirt und Boxershorts hinter
mir steht und dessen blonde Haare vom Schlaf in eine
wilde, für ihn untypische Unordnung gebracht worden
sind. Mein Oliver, der jetzt mit schlurfenden Schritten um
die Couch herum in die Küche geht. Der Mann, mit dem
ich diese Wohnung, den Tisch und vor allem das Bett teile.
Der Mann, den ich liebe und mit dem ich mir eine Zukunft
aufgebaut habe. Mein Freund. Die Worte fühlen sich auf
einmal un­­gewohnt fremd an.
Er streckt seinen Kopf aus der Küche.
» Haben wir noch Milch ? «
Oli und seine Milch. Er braucht sie jeden Morgen in
­­seinem Kaffee und nachts, wenn er das Gefühl hat, sein
Magen hätte das scharfe indische Essen doch nicht so gut
verar­beitet, wie er immer behauptet. Jeder Versuch ist zum
­Scheitern verurteilt, denn seine Vorliebe für viel zu scharfes
Essen ist seine große Schwäche. Am liebsten würde er alles
in Tabasco, Chili-Öl und Sambal Oelek ertränken. Auch
wenn sein Magen darunter leidet. Da ihm nur noch Milch
hilft, wenn er es mal wieder übertrieben hat, sorge ich für
ge­­wöhnlich dafür, dass ein ordentlicher Vorrat im Haus ist.
» Neben der Spüle. «
Wir sind seit fünf Jahren zusammen und wohnen seit
knapp zwei Jahren zusammen. Wir leben zusammen. Wieso
bin ich jetzt so überrascht, ihn hier zu sehen ? Ich fahre
­meinen Mac herunter, wiederstehe der Versuchung, später
doch noch einmal einen Blick auf den Bildschirm zu werfen.
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Oliver kommt mit einem Glas Milch aus der Küche und
sieht mich aus schlaftrunkenen Augen an.
» Wie lief es so ? «
» Gut. «
» Gute Fotos ? «
» Einige. «
Er nickt, nimmt einen überraschend großen Schluck,
stellt das leere Glas auf den Tisch vor mir und drückt mir
einen Kuss auf die Wange, wobei ich seinen Milchbart spüre.
Oli eben.
» Komm auch bald schlafen, ja ? «
Damit lässt er mich wieder alleine, und ich sehe ihm
nach. Ich denke wieder an Beccie und ihre Standpauke. Ich
hatte wirklich keinen Grund, auf sie wütend – gut, eifersüchtig – zu sein. Tristan ist nicht mein Typ, und vor allem
habe ich Oliver. Sie hat recht, und es erschreckt mich, dass
ich ausgerechnet ihre Worte brauche, um mich daran erinnern zu lassen. Als hätte ich die Beweise dafür nicht überall
um mich herum. Mein Blick fällt auf das leere Milchglas.
Das ist so typisch für ihn. Er lässt Dinge stehen, wo er sie
zuletzt benutzt hat. Das gilt im Übrigen auch für Socken
aller Art, Schuhe, Jacken, Jeans. Es ist eine kleine Macke, an
die ich mich zuerst gewöhnen musste, in die ich mich dann
aber verliebt habe. Sie ist irgendwann zu etwas Vertrautem
geworden, und heute erinnert sie mich daran, dass in dem
Anzug tragenden, verantwortungsvollen und hart arbeitenden Oliver noch immer mein Oli steckt. Der Oli, der noch
keinen Fünfjahresplan hatte, mir dafür aber jeden Sonntagmorgen völlig verkatert ein sagenhaftes Frühstück gemacht
hat – und danach jedes Mal alles in der Küche stehen und
liegen ließ. Vielleicht ist diese Erinnerung der Grund dafür,
warum ich jetzt aufstehe und das Glas mit einem Lächeln
zurück in die Küche stelle. Ja, ich habe einen Typ. Oliver.
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Und das heute war ein schöner, aber kurzer, aufregender
Moment der Schwärmerei. Mehr nicht. Und wie heißt es so
richtig ? Was schön ist, gefällt auch dem lieben Gott.