Wenn blonde Engel fliegen könnten

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Wenn blonde Engel fliegen könnten
Wenn blonde Engel fliegen könnten
Anja Mettler
Kurzgeschichte
1
Dieser Brunnen. Jedes Mal, wenn Walter Graf im Hauptbahnhof Zürich an diesem Brunnen
vorbeiläuft, muss er einen Moment inne halten. Wieso weiss er nicht, aber irgendetwas faszinierte ihn an dem Wasser, welches von der Decke zu Boden fällt.
Von den Leuten, die sich um die Mittagszeit an ihm vorbeidrängen, lässt er sich kaum noch
stören. Früher konnte er es nicht nachvollziehen, weshalb die Leute so rücksichtslos durch die
Gegend rannten. Unterdessen akzeptiert er diese Tatsache zumindest halbherzig mit der Begründung, dass die jungen Leute dieses Opfer bringen, um eine möglichst erfolgreiche Zukunft
zu etablieren.
Das riesige Zürcher Wappen, welches auf das Wasser projiziert wird, störte ihn jedoch. Er
liebte Zürich; sein ganzes Leben hatte er in dieser Stadt zugebracht. Zürich, das war für ihn der
Inbegriff von Heimat, aber für ihn zerstörte das Wappen das schöne Bild des Brunnens. Weisses
Licht wäre in Ordnung, das würde den Brunnen dezent hervorheben, aber mit dem zweifarbigen
Zürcher Wappen konnte er sich nicht anfreunden.
Noch einen Moment wollte er das Plätschern geniessen, bevor er seine Reise zu Leder Mädler
fortsetzte. Eine neue Schreibmappe, ein Wunsch, den er sich schon lange erfüllen wollte. Nicht,
dass er eine bräuchte, aber trotz seiner Pensionierung vor einigen Jahren pflegte er weiterhin
seine Vorliebe für hochwertiges Schreibtischequipment. Seufzend warf er dem Brunnen einen
letzten Blick zu und drehte sich in Richtung Ausgang Bahnhofstrasse.
Da, dieser kleine Augenblick. Nur die Millisekunde, in der er sich gedreht hat. Da war ihr langes, weiches blondes Haar, ihre zierliche, filigrane Figur. Das konnte nicht möglich sein. Seit
über fünfzig Jahren war sie nicht mehr hier, er hatte es selber mitansehen müssen, wie sie in die
Tiefe stürzte und auf dem Boden aufschlug. Ein Frösteln überkam ihn, als er die schrecklichen
Bilder vor seinen Augen sah. Hektisch drehte er sich um, suchte die junge Frau. Dort, sie lief
in Richtung Bahngleise. Wenn er nur genug schnell läuft, kann er sie noch einholen. Walter
zwängte sich zwischen den Leuten hindurch, murmelte Entschuldigungen vor sich hin. Gerade
noch sah er, wie sie die Rolltreppe hinunterging und folgte ihr. Unweit der Rolltreppe blieb sie
stehen.
Er war ganz ausser Atem, und musste sich festhalten, um wieder ein wenig zur Ruhe zu kommen und seine Gedanken zu ordnen. Was hatte er sich nur gedacht? Selbst wenn sie nicht tot
wäre, was sie aber definitiv war, wäre ihr langes blondes Haar nun grau. Bestimmt wären ihre
Haare aber trotzdem noch wunderschön. Er schloss die Augen und versuchte sich zu beruhigen.
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„Entschuldigen Sie“, hörte Walter eine feminine Stimme, „ist alles in Ordnung?“
Er öffnete die Augen und drehte sich um. Da stand sie vor ihm, die Frau mit den weichen
blonden Haaren. Doch das Gesicht war nicht dasselbe, wie denn auch. Es war nicht weniger
hübsch, aber es war nicht das Gesicht seiner Elisa. Da überrollte ihn die Enttäuschung. Er
wusste nicht, was er erwartet hatte, aber er konnte es nicht verhindern, dass ihm eine kleine
Träne über die Wange rollte.
„Oh, kommen Sie, gehen wir ein wenig an die frische Luft“, schlug die junge Frau mit besorgtem Blick vor.
Er liess sich nach oben begleiten und setzte sich dann auf ein Zeichen der Frau auf eine Bank
an der Bahnhofstrasse.
„Es tut mir leid“, begann er zu stottern, „es ist nur…“
Die Frau legte ihm beschwichtigend ihre Hand auf seine Schulter. „Kein Problem, es ist alles
in Ordnung. Was ist denn passiert?“, wollte sie wissen.
„N-Nichts, ich möchte Sie nicht aufhalten, Sie haben bestimmt etwas Wichtigeres zu tun als
sich um einen alten Mann zu kümmern. Aber vielen Dank für Ihre Hilfe“, sagte er mit einem
gequältem Lächeln.
Die Frau zuckte mit der Schulter und meinte: „Eigentlich nicht, und es ist so ein schöner Tag,
da tut es gut, ein wenig an der frischen Luft zu sein.“
„Das ist aber sehr freundlich von Ihnen.“ Sie lächelte ihn an. „Was war denn nun mit Ihnen
los?“
Walter seufzte: „Ich möchte Ihnen keine Angst machen, aber es war so…“
Er erzählte ihr vom blonden Haar, das er gesehen hatte, welches genau so aussah wie das seiner
einstigen Freundin Elisa. Heute wäre sie vermutlich seine Frau und Mutter von vielen Kindern,
welche nun wiederum viele Kinder hätten. Genau so hatten sie es sich damals ausgemalt. Sie
würden in einem Haus mit Garten leben, Elisa würde die Blumenbeete pflegen, er den Rasen
mähen, während ihre Enkelkinder mit dem Hund spielten. Damals waren sie jung und unbeschwert, kein Problem konnte ihre Zuversicht trüben.
Die junge Frau hatte ein wehmütiges Lächeln auf dem Gesicht. „Das klingt wunderbar. Wissen
Sie, im Grunde besteht dieser Wunsch auch heute noch in den Köpfen der Menschen. Aber
heutzutage ist immer so viel los und man ist ständig beschäftigt, da kommt man kaum dazu,
sich seine Zukunft auszumalen. Aber erzählen Sie weiter, was ist passiert, weshalb sind sie
heute nicht mit Elisa verheiratet?“
Walter schaute traurig zu Boden.
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„Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, Sie müssen es mir nicht erzählen, wenn Sie nicht möchten“, erwiderte sie schnell, als sie die glänzenden Augen des Mannes bemerkte.
„Nein, nein, das ist schon in Ordnung. Es ist nur so, dass ich diese Geschichte nicht vielen
Menschen erzählt habe.“
Walter holte tief Luft, schaute zwischen den Häusern hindurch in die Ferne und begann von
dem Ereignis zu erzählen, welches sein Leben für immer veränderte:
„Vor über fünfzig Jahren, mit etwa 23 Jahren, waren wir bereits seit mehreren Jahren ein glückliches Paar. Wir wollten heiraten und Kinder kriegen, das Einverständnis unserer Eltern hatten
wir schon lange und eigentlich war alles bereits geplant. Eines Tages machten wir einen Ausflug in die Berge, um noch die letzten Herbsttage zu geniessen. Es war ein wunderschöner Tag,
die Blätter der Heidelbeersträucher hatten sich bereits verfärbt und die Sonne liess alles in einem goldenen Licht erstrahlen.
Wir wanderten über eine Hochebene und entdeckten dann einen Aussichtspunkt mit einem
Turm. Elisa wollte unbedingt hinaufsteigen, obwohl die Holzkonstruktion ziemlich wackelig
aussah. Ich legte ihr nahe es bleiben zu lassen, von hier unten habe man einen ebenso schönen
Ausblick. Aber dickköpfig wie sie war, hörte sie nicht auf mich. So kletterte sie die Leiter
hinauf. Sie lachte mir spitzbübisch zu und winkte von hoch oben zu mir hinab.“
Walter hielt einen Moment inne und schluckte. Niemals würden diese Bilder aus seinem Kopf
verschwinden.
Er fuhr weiter: „Sie trat an das Ende der Plattform und lehnte sich ans Geländer. Ich wollte ihr
gerade noch zurufen, sie soll vorsichtig sein, doch dann passierte es. Das Holz knackste und im
nächsten Moment sah ich Elisas wunderschönes blondes Haar im Wind flattern. Sie sah aus wie
ein Engel, ihr flatterndes Haar, die kristallblauen Augen. Doch ihr erschrockenes, fassungsloses
Gesicht zerstörte den bezaubernden Anblick. Sie fiel. Keinen einzigen Schrei gab sie von sich,
sie fiel lautlos in die Tiefe. Ich aber schrie. Alle Vögel flatterten flugs dem Himmel empor.
Einen Aufprall hörte ich nicht.
Ich rannte zum Rande des Abgrunds, doch ich konnte sie nirgends sehen. Es war tief, sehr tief,
bestimmt zehn Meter und alles mit Tannen überdeckt. Aber ich konnte meine Elisa nicht einfach dort unten lassen. Ich musste sie finden. Ich musste zu meiner Elisa. Es war schwierig,
aber ich fand einen Weg hinunter, verknackste mir dabei den Fuss, aber es war mir alles egal.
Alles was zählte war Elisa. Ich irrte im Wald herum, verzweifelt und wütend. Jeden einzelnen
Baum schrie ich an und verdammte Gott und die Welt.
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Die Dämmerung brach herein aber ans Aufgeben dachte ich keine Sekunde. Ich war mir sicher,
dass sie noch am Leben war, irgendwo da draussen. Sie musste am Leben sein.
Dann sah ich sie. Ihr blondes Haar war nun rot von ihrem Blut. Ihre schlanken Beine passten
nicht zum Rest des Körpers, sie lag komisch verrenkt auf dem Waldboden. Ich eilte zu ihr,
schrie sie an, schüttelte sie, schlug ihr ins Gesicht. Ich schrie sie an, doch sie bewegte sich nicht
mehr. Sie konnte mich nicht alleine lassen. Nicht jetzt. Alles, was in meinem Leben wirklich
zählte, war sie.‘‘
Die Tränen liefen Walter übers Gesicht und auch die Augen der jungen Frau glänzten verräterisch.
„Ich weiss nicht, wie lange ich sie anschrie. Irgendwann musste ich das Bewusstsein verloren
haben oder eingeschlafen sein, denn als ich wieder zu mir kam, ging gerade die Sonne über den
Bergen auf. Die ersten Sonnenstrahlen durchfluteten den Wald. Auch in ihrer unnatürlichen
Position, mit dem fahlen Gesicht und dem blutgetränkten Haar war Elisa die schönste Frau, die
ich je gesehen hatte.“
„Das, das ist schrecklich. Es, es tut mir so leid.“ Die junge Frau blickte bekümmert zu Boden.
„Wissen Sie“, murmelte er, „ich wollte Elisa an diesem Tag einen Heiratsantrag machen. Ich
hatte den Ring schon lange ausgewählt, aber ich fand nie den passenden Augenblick um vor ihr
niederzuknien und sie um ihre Hand anzuhalten. Und als ich es wollte, war es zu spät.“
Sie ergriff seine Hand und drückte sie sanft. Keine Worte hätten die Botschaft, welche diese
Geste ausdrückte, besser überbringen können. Walter lächelte wehmütig und wischte mit der
Hand über sein Gesicht.
„Lange war ich jeden Tag an ihrem Grab. Ich habe mit ihr gesprochen. Ich habe ihr von meiner
Arbeit erzählt, was mich beschäftigte, eigentlich alles, was an dem Tag passiert ist.“
„Und heute?“, wollte sie wissen.
„Ich war schon sehr lange nicht mehr dort. Ich weiss nicht weshalb, aber irgendwann habe ich
einfach damit aufgehört. Wer wohl in dieser Zeit zu ihrem Grab geschaut hat?“, fragte er sich
selbst.
„Wissen Sie was?“, fragte die junge Frau, „Was halten Sie davon, wenn wir ihrem Grab einen
Besuch abstatten?“
Walter schaute sie erstaunt an. „Hmm, ich weiss nicht. Ich möchte Ihnen wirklich nicht Ihre
wertvolle Zeit stehlen.“
„Aber das tun Sie doch nicht. Kommen Sie, Ihre Frau vermisst Sie bestimmt.“
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Walter und die junge Frau stiegen ins Tram und wenig später kamen sie am Friedhof an. Sie
schritten gemeinsam durch das eiserne Tor und zwischen hohen Bäumen hindurch. Walter lief
zielstrebig in Richtung des Grabes seiner verstorbenen Freundin. Abrupt blieb er stehen, da war
es. Offenbar hatte sich nun, da Walter das Grab nicht mehr pflegte, jemand anders darum gekümmert. Ein Rosenstrauch mit roten Rosen, welche soeben zu verwelken begannen, Margeriten, ihre Lieblingsblumen und Vergissmeinnicht. In der Mitte, von Steinen umrandet, stand ein
Bild von ihr. Auch wenn es nur eine schwarzweisse Kopie war, sah er ihr glänzendes blondes
Haar, ihre rosa Wangen und die kristallblauen Augen.
Die junge Frau kniete vor dem Grab nieder und betrachtete den Grabstein. ‚Zahme Vögel träumen von der Freiheit, wilde Vögel fliegen‘, stand dort.
„Das ist ein sehr schöner Spruch, finde ich“, sagte die Frau.
Der Mann lächelte. „Ich denke, es gibt keinen passenderen Spruch für sie. Freiheit, das war für
Elisa das Wichtigste. Sie machte immer, was sie wollte. Und zur Art, wie sie von uns gegangen
ist, passt es auch irgendwie. Wie ein Vogel flog sie, ein Vogel mit dem Gesicht eines Engels.“
„Haben Sie ihn ausgewählt?“
„Ja. Wissen Sie, mir war es egal, was ihre Angehörigen mit dem Grab machten. Welcher Grabstein, welche Dekoration, das interessierte mich nicht. Das einzige was ich wollte, war dieser
Spruch.“
Lange schauten sie schweigend auf Elisas Grab.
Die junge Frau ergriff dann das Wort: „Erzählen Sie mir, wie Sie sich kennengelernt haben.“
„Wie wir uns kennengelernt haben? Das ist schon lange her, aber in Ordnung, lassen Sie mich
kurz überlegen.“
Die junge Frau schaute ihn gespannt an.
„Sie ging in die heutige Kantonsschule Hohe Promenade, welche damals aber die Höhere Töchterschule des Kantons Zürichs war. Ich arbeitete zu dieser Zeit bei meinem Vater als Schreiner.
Wir hatten den Auftrag, etwas in dieser Schule zu reparieren. Gleich schon am ersten Tag war
sie mir aufgefallen. Sie hatte ihre blonden Haare zu zwei Zöpfen geflochten. Ständig war sie
von anderen Mädchen umgeben, sie war ziemlich beliebt. Ich behauptete immer vor meinen
Freunden, dass diese Mädchen hofften, dass Elisas Schönheit auf sie abfärben würde, wenn sie
sich nur genug einschmeichelten“, räumte Walter spitzbübisch ein, „aber das war es wohl nicht,
oder nicht nur, denn auch ihr Charakter war wundervoll, wie ich später erfahren durfte.“
Dann fuhr er weiter: „Also beobachtete ich sie einfach aus der Ferne und schwärmte meinen
Freunden vor, wie wunderschön und anmutig sie sei. So ging das während Wochen weiter.
Eines Abends, es war schon dunkel und ich wollte gerade nach Hause gehen, hörte ich eine
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sanfte Stimme leise singen. Ich folgte der Stimme, und dann entdeckte ich sie: Sie sass, mit
dem Rücken zu mir, auf einer Treppe und sang leise vor sich hin. Wie ein Engel sah sie aus, ihr
helles Haar reflektierte den Mondschein und der Wind trug ihre Stimme weit hinaus. Langsam
näherte ich mich ihr. Dies war meine Chance. Meine Hände zitterten wie Espenlaub, also
steckte ich sie in die Hosentaschen. Ich setzte mich einfach neben sie. Sie zuckte zusammen,
hörte abrupt auf zu singen und schaute mich erschrocken an.
„Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte ich lächelnd.
„Wer bist du? Und was machst du hier?“, wollte sie wissen.
„Ich arbeite hier und wollte gerade nach Hause gehen, aber da hörte ich eine wunderschöne
Stimme, die mich verzauberte. Dann bin ich dieser gefolgt und nun bin ich hier“, gestand er.
„Und was machst du hier draussen ganz alleine in der Kälte?“
Sie zuckte mit den Schultern: „Ich hatte keine Lust nach Hause zu gehen, also bin ich hier
geblieben. Weil mir langweilig war, begann ich zu singen. Tut mir leid, falls ich dich gestört
habe.“
„Oh nein, im Gegenteil, du singst wie ein Engel!“, wehrte ich schnell ab.
Sie sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und warf ein: „Ach ja, wie singen denn Engel? Ich habe noch nie welche gehört…“ Sie konnte ihr gespielt ernstes Gesicht nicht länger
aufrechterhalten und begann schelmisch zu grinsen.
Ich musste lachen und sie lachte mit mir.
So unterhielten wir uns stundenlang über Gott und die Welt.“
Die junge Frau lächelte und offenbarte: „Das ist ja so romantisch!“
Walter blickte lächelnd in den Himmel und erklärte: „Das war einer der schönsten Abende
meines Lebens. Wir sassen einfach nur da und unterhielten uns während Stunden.“
Nach einer Pause fragte er sie: „Glauben Sie, sie ist dort oben und hört uns zu?“
„Ich weiss nicht, aber eine schöne Vorstellung wäre es“, lautete ihre zurückhaltende Antwort.
„Glauben Sie an Gott?“, wollte der alte Mann wissen.
„Nein, ich kann mich nicht dazu überwinden, an etwas zu glauben, wofür es keine Beweise
gibt.“
„Ich glaube, dass genau dies der Grund ist, weshalb die Menschen so geworden sind, wie sie
heute sind“, begann er zu philosophieren. „Man glaubt nicht mehr an unbewiesene Dinge, es
muss immer alles begründet werden. Das verändert auch das Verhältnis zwischen den Menschen, wie sie sich behandeln.“
„Ich denke, ich werde dies beurteilen, wenn ich auch mal alt bin und genug Zeit und viel Lebenserfahrung gesammelt habe“, meinte sie bescheiden. „Aber vermutlich haben Sie Recht.“
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„Das ist ein weiterer Wert, welcher der Menschheit im Laufe der Zeit abhandengekommen ist.
Die Leute von heute nehmen sich nicht mehr die Zeit, um über solche Dinge nachzudenken.
Halten Sie mich bitte nicht für einen alten, verbitterten Mann, der früher alles besser fand, aber
wenn Sie mal alt sind, verstehen Sie vielleicht, was ich meine.“
„Ich werde es mir merken“, erwiderte die junge Frau, welche nicht so viel vom Philosophieren
hielt und lieber mehr von der Geschichte des Mannes erfahren hätte.
„Erzählen Sie mir von ihrem ersten Kuss“, forderte sie ihn auf.
Walter musste bei der Erinnerung an diesen Moment lachen. „Den Botanischen Garten am
Schanzengraben, den kennen Sie bestimmt, nicht wahr?“, fragte er.
„Ja natürlich, da gehe ich gerne hin, um etwas zu lesen.“
„Nun ja, wir kannten uns nun schon etwa drei Monate und trafen uns oft. Jedes Mal musste
einer von uns einen Treffpunkt auswählen. Als ich wieder einmal an der Reihe war, wählte ich
den Alten Botanischen Garten. Eigentlich war ich immer sehr pünktlich und zuverlässig. Doch
an diesem Tag habe ich auf dem Weg zum Botanischen Garten ein paar Freunde angetroffen.
Wir unterhielten uns eine Weile und ich vergass die Zeit.
Als ich bemerkte, dass ich schon zwanzig Minuten zu spät war, rannte ich so schnell ich nur
konnte zu unserem Treffpunkt. Sie sass auf einer Bank. Als sie mich entdeckte, sprang sie wütend auf mich zu. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Süss sah sie aus, die Rolle des
wütenden Mädchens passte einfach überhaupt nicht zu meinem Engel. Sie schrie mich an, sowas müsse sie sich doch nicht gefallen lassen. Und ich solle sofort aufhören so blöd zu grinsen.
Sie holte mit ihrer Hand drohend zu einem Schlag aus. Ich nahm ihre beiden Hände in meine
und küsste sie. Die Vögel rund herum zwitscherten und eine leichte Brise wehte. Es war wie
im Film. Zwar erwiderte sie meinen Kuss, doch meine Ohrfeige, welche ich irgendwie ja auch
verdient hatte, bekam ich trotzdem noch. Von da an konnte ich sie meine Freundin nennen.“
„Das klingt wie eine perfekte Story für einen Liebesfilm“, sagte die junge Frau schwärmerisch.
„Ihre Geschichte ist allgemein sehr bewegend, sie sollten ein Buch darüber schreiben. Ich wette
Sie könnten damit eine Menge Geld verdienen, und wer weiss, vielleicht würden Sie sogar
berühmt werden.“
„Ach, wissen Sie, in Ihrem Alter dreht sich vielleicht alles noch um Geld und Status, aber glauben Sie mir, irgendwann ist es nur noch wichtig, glücklich zu sein.“
Die junge Frau schaute ihn an und fragte: „Das glaube ich Ihnen gerne, aber Sie fragen sich
doch sicher manchmal, ob Sie alles, was Sie in ihrem Leben früher einmal erreichen wollten,
auch erreicht haben. Und Sie hatten doch bestimmt mal den Wunsch, berühmt zu werden.“
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„Ich weiss auf was Sie hinaus wollen, und ich fühle mich sehr geschmeichelt, aber das ist nicht,
was ich möchte. Ich und Schreiben, das passt nicht besonders gut zusammen. Ich war immer
eher der mathematische Typ.“
„Wie Sie meinen, ich würde das Buch auf jeden Fall lesen“, meinte sie hartnäckig.
Sie schauten dem Einbruch der Dämmerung zu und genossen die Stille des Friedhofs.
Schliesslich brach die junge Frau das Schweigen: „Ich möchte mich bei Ihnen bedanken. Ich
weiss nicht, wann ich zuletzt einen Tag so geniessen konnte wie heute. Aber nun sollte ich
langsam nach Hause gehen.“
Walter lächelte sie an. „Ich habe ebenfalls zu danken, dafür dass Sie einem alten Mann Gesellschaft geleistet und ihm zugehört haben. Darf ich Ihnen noch einen Rat mit auf Ihren Weg
geben?“
„Ja, natürlich, gerne“, erwiderte sie.
„Geniessen Sie Ihr Leben so lange Sie können, und wagen Sie es Risiken einzugehen, denn Sie
wissen nie, wann es zu spät ist.“
Ein letztes Lächeln warf die junge Frau Walter zu, drehte sich um und verschwand zwischen
den Bäumen.
Noch lange blieb er am Grab seiner verstorbenen Freundin und schwelgte in Erinnerungen.
Schliesslich verliess auch er den Friedhof und machte sich auf den Heimweg.
Wenig später stand er wieder vor dem Brunnen im Hauptbahnhof. Wie jedes Mal, wenn er hier
vorbeikam, blieb er stehen. Doch diesmal nicht wegen der Faszination, welche das Wasser auf
ihn ausübte, auch nicht weil er sich über das Zürcher Wappen aufregen wollte. Nein, diesmal
blieb er stehen, weil heute hier einer seiner schönsten Tage seit Elisas Tod seinen Anfang genommen hatte.
Hiermit bestätige ich, diese Geschichte selbst verfasst zu haben
Knonau, 6.11.2014
Anja Mettler
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