Blasenfunktionsstörungen - Aerzteverlag medinfo AG
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Blasenfunktionsstörungen - Aerzteverlag medinfo AG
FORTBILDUNG Diagnostik und Therapie Blasenfunktionsstörungen Die Aufgabe der Harnblase ist simpel: speichern und entleeren des Urins. Die Kontrolle der Harnblase aber ist ein hochkomplexer Vorgang mit bis heute nicht vollständig geklärtem Zusammenspiel des peripheren und zentralen Nervensystems (1). Die Harnblasenentleerung ist ein aktiver, über Nervenimpulse vom Gehirn gesteuerter Vorgang. Soll die Blase entleert werden, zieht sich der Blasenmuskel zusammen, und der Schliessmuskel der Harnröhre erschlafft. Der Urin kann ungehindert abfliessen. Wie häufig dies geschieht, hängt von Trinkmenge und Fassungsvermögen der Harnblase ab. Das Fassungsvermögen ist individuell verschieden und liegt bei 350 bis 550 ml. In der Regel sollten nicht mehr als acht Toilettengänge pro 24 Stunden erforderlich sein. Verschiedene Krankheitsbilder können zu Blasenfunktionsstörungen führen, die durch Symptome des unteren Harntraktes (lower urinary tract symptoms: LUTS) charakterisiert werden (Abb. 1) (2). Es wird unterschieden zwischen Speichersymptomen (Pollakisurie, Nykturie, Harndrang, Dranginkontinenz, Belastungsinkontinenz, gemischte Inkontinenz), Entleerungssymptomen (schwacher, gespaltener, sprayender, unterbrochener Harnstrahl, initiales Warten, Pressen, terminales Tröpfeln) und post-miktionellen Symptomen (Restharngefühl, Nachträufeln) (3). Blasenfunktionsstörungen nehmen mit dem Alter bei beiden Geschlechtern zu und führen oft zu einer deutlichen Einschränkung der Lebensqualität. Ausgewählte Blasenfunktionsstörungen Prostatavergrösserung: Mit zunehmendem Alter nimmt das Prostatavolumen zu (Abb. 2) und oft kommt es zu Symptomen des unteren Harntraktes. Der Begriff „benigne Prostatahyperplasie“ stellt Zürich PD Dr. med. Thomas M. Kessler Zürich eine histologische Diagnose dar und sollte nur verwendet werden, wenn eine entsprechende Histologie vorliegt (3). Neurogene Blasenfunktionsstörungen: Neurologische Erkrankungen wie z.B. multiple Sklerose, Parkinson-Syndrom, zerebrovaskuläre Erkrankungen, Spina bifida, Hirn-/Rückenmark-Tumore, Eingriffe an Wirbelsäule/Rückenmark, traumatische Rückenmarksverletzung etc. führen oft zu Blasenfunktionsstörungen (4), die nicht nur die Lebensqualität beeinträchtigen, sondern auch den oberen Harntrakt gefährden können (Abb. 3). Harnwegsinfekte: Harnwegsinfekte können sowohl Ursache als auch Folge von Blasenfunktionsstörungen sein, was bei der Diagnostik und Therapie berücksichtigt werden muss. Tumore: Urologische Tumore können sich durch Symptome des unteren Harntraktes manifestieren. Insbesondere gilt es bei Drangbeschwerden und rezidivierenden Harnwegsinfekten, einen Blasentumor und/oder ein „Carcinoma in situ“ nicht zu übersehen. Verschiedene Krankheitsbilder können zu Symptomen des unteren Harntraktes (lower urinary tract symptoms: LUTS) führen Illustration: Alain Blank modifiziert nach (2) ABB. 1 Dr. med. Marc P. Schneider Abb. 2: Restharnbildung bei Prostatavergrösserung _ 2013 _ der informierte arzt 3612 FORTBILDUNG Diagnostik Anamnese: Eine zielgerichtete Anamnese ist unabdingbar. Zusätzlich sollte nach Sexual- und Darmfunktionsstörungen gefragt werden. Die aktuellen Medikamente sind wichtig, da viele gängige Präparate die Blasenfunktion beeinflussen können (z.B. Diuretika, Antidepressiva, Sedativa, Opioide, Alpha-Blocker, Antimuskarinika etc.). Blasenfunktionsstörungen sind meist keine lebensbedrohliche Erkrankung, stellen aber oft eine erhebliche Einschränkung der Lebensqualität dar, so dass es den individuellen Leidensdruck zu erkennen gilt. Blasentagebuch: Ein einfaches, doch äusserst hilfreiches diagnostisches Instrument stellt das Blasentagebuch dar. Während mehreren Tagen dokumentieren die Patienten zu entsprechenden Zeitpunkten Trinkmenge, Miktionsvolumina, eventuell Restharnvolumina, Harndranggefühl, Inkontinenzepisoden und Einlagen und geben damit einen wichtigen Einblick in die Situation im Alltag. Insbesondere lässt sich mittels Blasentagebuch auch eine nächtliche Polyurie erkennen. Klinische Untersuchung: Die klinische Untersuchung erfolgt fokussiert: Genitalien, Abdomen, Nierenlogen und digito-rektale Untersuchung. Bei Verdacht auf neurogene Blasenfunktionsstörung geben sakrale Sensibilität, Analsphinkterruhetonus, Willkürkneifen und Bulbokavernosus-Reflex wichtige diagnostische Hinweise. Urin-Untersuchung: Bei Symptomen des unteren Harntraktes sollte stets eine Urin-Untersuchung (Mittelstrahl-Urin, bei unklarem Befund Einmalkatheter-Urin) durchgeführt werden, da ein Harnwegsinfekt Ursache aber auch Folge einer Blasenfunktionsstörung sein kann. Sonographie: Sonographisch lassen sich relevanter Restharn, Nieren- und Blasenveränderungen, Prostatavergrösserung sowie allfällige gynäkologische oder abdominale Pathologien erkennen. Urethro-Zystoskopie: Urethrastrikturen, Urethra-/Blasensteine, Blasentumore und ein Karzinoma in situ können sich durch Symptome des unteren Harntraktes manifestieren und lassen sich durch Urethro-Zystoskopie mit Blasenspülzytologie diagnostizieren. Urodynamik: Uroflowmetrie (Harnfluss-Messung) kombiniert mit Restharnbestimmung (sonographisch oder Einmalkatheterismus) ist eine einfache Screening-Methode zur Beurteilung einer Blasenfunktionsstörung. Da jedoch Harnflussrate und Restharnbestimmung sowohl von der Detrusorfunktion als auch dem infravesikalen Widerstand abhängig sind, kann nicht zwischen einer Detrusorschwäche, Blasenauslassobstruktion oder einer Kombination aus beiden unterschieden werden. Dazu ist eine invasive urodynamische Untersuchung (Zystometrie zur Beurteilung der Blasenspeicherphase, Druck-Fluss-Messung zur Beurteilung der Blasenentleerungsphase) nötig. Über einen dünnen transurethralen oder suprapubischen Katheter wird körperwarme Flüssigkeit in die Blase infundiert und synchron der Blasen- und AbdominalDruck mittels Computer-System aufgezeichnet. Mit Klebe- oder Nadel-Elektroden kann die Beckenbodenaktivität abgeleitet, mit Beimischung von Kontrastmittel in die Infusions-Flüssigkeit (Video-Urodynamik) die Blasenkonfiguration und ein allfälliger vesiko-uretero-renaler Reflux beurteilt werden (Abb. 3). Therapie Ziel bei der Therapie von Blasenfunktionsstörungen ist es, den oberen Harntrakt zu schützen und eine Verbesserung der Lebensqualität durch Wiederherstellen der Funktion des unteren Harntraktes zu der informierte arzt _ 12 _ 2013 Abb. 3: Typische, den oberen Harntrakt gefährdende neurogene Blase („Mickey-Mouse-Blase“) mit Divertikel, Pseudo-Divertikel, Trabekel und bilateralem vesiko-uretero-renalem Reflux. Durch moderne neurourologische Therapien können solche Veränderungen weitgehend verhindert werden erreichen. Soweit möglich ist stets eine ursächliche Therapie anzustreben. Abhängig von Symptomen und Ursachen der Blasenfunktionsstörung stehen verschiedene therapeutische Möglichkeiten zur Verfügung; von Verhaltens- und Physiotherapien, Medikamenten, katheter-technischen Massnahmen, minimal-invasiven Behandlungsansätzen bis zu grossen chirurgischen Eingriffen. Verhaltens- und Physiotherapie: Anhand des Blasentagebuches lässt sich Trink- und Miktionsverhalten optimieren. Physiotherapie im Sinne eines Beckenboden-Trainings kann bei Belastungsinkontinenz, aber auch bei Dranginkontinenz eine Verbesserung der Situation bringen und sollte entsprechend evaluiert werden. Medikamente: Nach Ausschluss anderweitig zu behandelnden Ursachen wie Blasentumoren, Blasensteinen, Harnwegsinfekten etc. stellen bei Drangbeschwerden die Antimuskarinika die Therapie der Wahl dar. Bei Frauen ist eine lokale Östrogenisierung zu erwägen. Bei der Belastungsinkontinenz kann Duloxetin zu einer Verbesserung der Beschwerden führen. Bei der Blasenentleerungsstörung stellen Alpha-Blocker die Therapie der Wahl dar, bei einem Prostatavolumen > 30–40 mL kombiniert mit einem 5-Alpha-Reduktase-Hemmer. Katheter-technische Massnahmen: Bei anderweitig nicht behandelbarer Blasenentleerungsstörung ist der intermittierende Selbstkatheterismus dem Dauerkatheter vorzuziehen. Minimal-invasive Verfahren: Bei therapie-refraktärer überaktiver Blase kann mit Botulinum-A-Toxin-Injektionen in den Detrusor (Abb. 4) (5) eine relevante Verbesserung der Beschwerden für 8 bis 14 Monate erzielt werden. Durch die sakrale Neuromodulation (Abb. 5) (6) lassen sich eine therapie-refraktäre überaktive Blase, eine nicht mechanisch/ 37 FORTBILDUNG nicht anatomisch bedingte chronische Blasenentleerungsstörung, eine Darmfunktionsstörung sowie eine Kombination dieser Krankheitsbilder erfolgreich behandeln. Eingriffe zur Therapie einer Belastungsinkontinenz: Nach Versagen konservativer Therapien stehen zur Behandlung der Belastungsinkontinenz verschiedene Methoden zur Verfügung: bei der Frau Faszienzügelplastik, retropubische Kolposuspension, suburethrale Schlingen (z.B. tension-free vaginal tape, transobturator tape) sowie bei beiden Geschlechtern die Implantation eines künstlichen Schliessmuskels. Infravesikale Desobstruktion: Bei durch Prostatavergrösserung bedingten Beschwerden ist die klassische Therapie die transurethrale Resektion der Prostata (TUR-P), wobei diese mono- oder bipolar erfolgen kann. Verschiedene Laser-Verfahren stehen als ausgezeichnete therapeutische Alternativen zur Verfügung. Grössere chirurgische Eingriffe: In seltenen Fällen ist bei therapierefraktärer überaktiver Harnblase eine Blasenaugmentation (in der Regel kombiniert mit dem intermittierenden Selbstkatheterismus) oder eine Zystektomie mit kontinenter oder inkontinenter Harn ableitung zu diskutieren. Dr. med. Marc P. Schneider MD-PhD-Student, Institut für Hirnforschung, Universität Zürich Winterthurerstrasse 190, 8057 Zürich Neuro-Urologie, Zentrum für Paraplegie, Universität Zürich Uniklinik Balgrist, Forchstrasse 340, 8008 Zürich [email protected] Abb. 4: In einem ambulanten Setting wird in Lokalanästhesie mit dem starren oder flexiblen Zystoskop über den Arbeitskanal eine feine Nadel eingeführt und an 10-30 Stellen Botulinum-A-Toxin in den Detrusor injiziert (5) PD Dr. med. Thomas M. Kessler Leiter Neuro-Urologie, Zentrum für Paraplegie, Universität Zürich Uniklinik Balgrist, Forchstrasse 340, 8008 Zürich [email protected] Literatur: 1. Fowler CJ, Griffiths D, de Groat WC. The neural control of micturition. Nat Rev Neurosci 2008; 9:453-66. 2. Oelke M, Bachmann A, Descazeaud A, Emberton M, Gravas S, Michel MC, N'Dow J, Nordling J, de la Rosette JJ. EAU guidelines on the management of male lower urinary tract symptoms (LUTS), incl. benign prostatic obstruction (BPO). http://www.uroweb.org/gls/pdf/13_Male_LUTS_LR.pdf 2013. 3. Abrams P, Cardozo L, Fall M, Griffiths D, Rosier P, Ulmsten U, van Kerrebroeck P, Victor A, Wein A. The standardisation of terminology of lower urinary tract func tion: report from the Standardisation Sub-committee of the International Conti nence Society. Neurourol Urodyn 2002; 21:167-78. 4. Pannek J, Blok B, Castro-Diaz D, Del Popolo G, Kramer G, Radziszewski P, Reitz A, Stöhrer M, Wyndaele J-J. EAU guidelines on neurogenic lower urinary tract dysfunction. http://www.uroweb.org/gls/pdf/20_Neurogenic%20LUTD_LR.pdf 2013. Abb. 5: Nach einer mehrwöchigen positiven Testphase wird der einem Herzschrittmacher gleichende Neuromodulator gluteal implantiert und an die im Sakralforamen S3 oder S4 liegende Elektrode konnektiert, so dass eine Neuromodulation ohne Kabel nach aussen erfolgen kann (6) 5. Wöllner J, Kessler TM. Botulinum toxin injections into the detrusor. BJU Int 2011; 108:1528-37. 6. Wöllner J, Hampel C, Kessler TM. Sacral neuromodulation. BJU Int 2012; 110:146-59. Take-Home Message ◆Blasenfunktionsstörungen sind sehr häufig und treten im Rahmen von urologischen, gynäkologischen, neurologischen, metabolischen, ent zündlichen und neoplastischen Erkrankungen auf ◆Blasenfunktionsstörungen sind meist nicht unmittelbar lebensbedroh lich, bedeuten aber oft eine erhebliche Einschränkung der Lebens qualität ◆Blasenfunktionsstörungen sind kein unvermeidbares Schicksal. Es kann auf vielfache Weise geholfen werden. Moderne Abklärungsver fahren erlauben es, entsprechende auf das Individuum zugeschnit tene Therapien erfolgreich einzusetzen der informierte arzt _ 12 _ 2013 39