Kriminologie WS 2004/05 § 5 ‚Postmoderne` Kriminalitätstheorien Pt
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Kriminologie WS 2004/05 § 5 ‚Postmoderne` Kriminalitätstheorien Pt
Wiss. Mit. Peer Stolle Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht, Kriminologie Jur. Fakultät, TU Dresden, www.strafrecht-online.org Kriminologie WS 2004/05 § 5 ‚Postmoderne’ Kriminalitätstheorien Pt. II - Neuer Biologismus – III. Neuer Biologismus Ansätze, die in (sozial)biologischen Faktoren die Ursache für Gewalt und Kriminalität sehen. 1. Chromosomenanomalie These: Männer mit einer Chromosomanomalie können „kriminelle Anlage“ haben (1) XYY – das „Mörderchromosom“ • etwa bei jedem 1000sten männlichen Neugeborenen • soll zu erhöhter Aggressivität und somit zur Prädisposition für kriminelles Verhalten führen (2) XXY – Klinefeldersyndrom • etwa bei jedem 700sten männlichen Neugeborenen • Kontaktschwierigkeiten und psychische Störungen führen zu Sexualstraftaten Bewertung: • sehr kleine Untersuchungsgruppen • Auftreten der Anomalie zu gering, um Straftaten erklären zu können. • teilweise keine signifikanten Forschungsergebnisse • Problem der Sozialfaktoren bei psychischen oder physischen Störungen vernachlässigt. 2. Serotonin als Ursache für urbane Gewalt (Goodwin u.a.) These: Personen mit einem niedrigen Gehalt des Neurotransmitters Serotonin neigen eher zu impulsiver Gewalt, denn Personen mit einem hohen Gehalt an Serotonin. Entsprechende Studien wurden an Soldaten, die psychiatrisch beobachtet wurden, aber auch an Kindern durchgeführt. Weitere Studien haben ergeben, dass Affen, die einen hohen Serotonin-Gehalt aufweisen, in der Hierarchie höher gestellt waren als Affen mit einem niedrigeren Gehalt. Æ „natürliche Auslese?“ Bewertung: Direkte Verbindung zwischen Serotonin-Gehalt, Gewalt und sozialer Stellung nicht zwingend. Weitere Untersuchungen haben auch ergeben, dass Serotonin-Gehalt während des sozialen Aufstiegs bei Affen steigt und ein höheres Selbstwertgefühl erzeugt. Entsprechende Personen sind durchsetzungsfähiger, selbstsicherer und neigen weniger zu impulsiven Reaktionen; Eigenschaften, die den sozialen Aufstieg erleichtern. Serotonin ist damit keine natürliche Voraussetzung für sozialen Aufstieg (Festlegung quasi per Geburt), sondern eher eine natürliche Ausrüstung für einen hohen Platz in der Hierarchie, wenn die sozialen Voraussetzungen für den sozialen Aufstieg vorliegen. Æ Werden die umgebenden sozialen Umstände als persönlich negativ bewertet, steigt dazu die Risikobereitschaft zur Devianz (bspw. ergab die künstliche Reduzierung der Intelligenzrate (durch Angabe falscher Resultate aus einem Intelligenztest) die erhöhte Wahrscheinlichkeit zum Betrug im Kartenspiel) 1 3. Sozialhilfe als Kriminalitätsrisiko (Charles Murray, 1984) These: Die „explosionsartig gestiegenen“ Sozialhilfesätze in den USA Anfang der siebziger Jahre führten bei innerstädtischen, meist schwarzen, Armen zu der Entscheidung, lieber Sozialhilfe zu beziehen, denn arbeiten zu gehen. Die Anreize des Sozialhilfesystems führten zu einer Desorganisation der Familie, einem Anstieg unehelicher Kinder und zu einer stattlichen Anzahl abhängiger Arbeitsfähiger. Der gleichzeitige Abbau von Sanktionen im Rahmen der Liberalisierung beförderte eine moralische Degenerierung und zu einer Zunahme der innerstädtischen Gewalt im speziellen und der Kriminalität im allgemeinen. Bewertung: Kriminalpolitische Schlussfolgerung: Vollständige Abschaffung des Sozialhilfesystems als Mittel gegen die Armut und Neuimplementierung und Verschärfung von Sanktionen gegen die Kriminalität Æ Not als Instrument gegen Armut und Kriminalität. Galt als wissenschaftliche Begründung für den Rückbau des Sozialhilfesystems in den USA und GB. Armut und Kriminalität werden bei Murray individualisiert – jegliche Form von sozialen Faktoren geleugnet. Methodisch und inhaltlich oft widerlegt. 4. Crime and Human Nature (Wilson/Herrnstein, 1985) These: Für die Genese von Gewalt und Kriminalität sind zwar auch soziokulturelle und ökonomische Faktoren relevant, allerdings spielen psychologische und biologische Faktoren eine größere Rolle. 5. IQ als Indikator für Devianz – The Bell Curve (Herrnstein/Murray, 1994) (als Weiterentwicklung von Crime and Human Nature) These: Die soziale Struktur in Amerika wird umfassend von jenen messbaren kognitiven Fähigkeiten (IQ) bestimmt, die auch kriminelles Verhalten begründen bzw. begünstigen. Diese kognitiven Fähigkeiten sind weitgehend erblich. Und sie sind innerhalb der Gesellschaft entlang von ethnischen Grenzen ungleich verteilt (Weiße haben einen höheren IQ als Schwarze). Der IQ bestimmt – mehr als der sozioökonomische Hintergrund – ob eine Person unter Armut oder Arbeitslosigkeit leide, uneheliche Kinder bekomme, und kriminell werde. Bewertung: Schlussfolgerung: Bildungs- und Sozialinvestitionen in die (schwarze) Unterschicht lohnen sich nicht, da sie „unfähig sind, diese Investition zurück zu zahlen“. These von der ‚natürlichen Auslese’ Æ Wissenschaftlicher Rassismus. Methode: Methodisch unhaltbar: Aufgrund der verwandten Methoden, aber auch, weil die eigene Empirie die angegebenen Ergebnisse und die gezogenen Schlussfolgerungen nicht hergeben. Beispiele: • IQ-Test nur bedingt geeignet, alle Formen von Intelligenz zu messen. • Murray/Herrnstein selbst kommen zu einer schwachen Varianz zwischen gemessenen IQ und Leistung in Bildung und Studium. • Die Annahme der Erblichkeit von IQ beruht auf methodisch fragwürdigen Zwillingsstudien, in der die Umweltfaktoren vollständig vernachlässigt wurden. • Festgestellte Erblichkeit innerhalb einer Gruppe bedeutet nicht, dass die Differenz zwischen den Gruppen erblich bedingt ist. • Umweltbedingungen können Differenzen wieder aufheben. 2 6. Bewertung des Neuen Biologismus • • • • • • Hat teilweise hohen kriminalpolitischen und populärwissenschaftlichen Einfluss. Bspw. wurde Losing Ground vom konservativen Think Tank Manhattan Institute finanziert und im Rahmen einer großangelegten Werbekampagne popularisiert. Diente als wissenschaftliche Grundlage für die weitgehende Abschaffung der Sozialhilfe in den USA unter Reagan. Die Schlussfolgerung von The Bell Curve diente als Begründung für die Aufgabe des Gleichheitsideals. Soziale Unterschiede wie Devianzphänomene werden als gegeben angesehen Æ erblich und biologisch bedingt. Staatliche Interventionen (bspw. resozialisierend) sind damit nutzlos, ja überflüssig. Statt dessen „Unschädlichmachung“ dieser gefährlichen Personen oder gefährlichen Klassen. Lit.: Murray, Charles, Losing Ground. American Social Policy 1950-1980, 1984. Wilson/Herrnstein, Crime and Human Nature, 1985. Herrnstein/Murray, The Bell Curve. Intelligence and Class Structure in American Life, 1994. Mednick/Moffitt/Stack (Hg.), The Causes of Crime. New biological Approaches, 1987. Zur Kritik: Gebhardt/Heinz/Knöbl, KrimJ 1996, S. 83 ff. Katz, The Undeserving Poor. From the War on Poverty to the War on Welfare, News York 1989 Ellwood, Poor Support. Poverty in the American Family, New York 1988. Greenstein, Losing Faith in Losing Ground, in: The New Republic, 25th March 1985, S. 12-17. 3