MAGAZIN - Daniela Noack
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MAGAZIN - Daniela Noack
A MITTWOCH, 29. AUGUST 2012 NUMMER 201 SEITE 19 LESEN SIE HEUTE MAGAZIN Aus der englisch-irischen Küche ist Pfefferminze nicht wegzudenken. Hierzulande traut sich aber nicht jeder an das mentholhaltige Würzkraut heran. Dabei ist der Gebrauch ganz einfach – vorausgesetzt, der Koch beherzigt ein paar Tipps. Seite 21 Ich lebe erst, wenn ich online bin Soziale Netzwerke können süchtig machen – Besonders gefährdet sind jugendliche Mädchen Von DANIELA NOACK • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • David Müller (Name geändert) führte jahrelang ein Doppelleben. Sobald seine Freundin morgens das Haus verließ, um zur Arbeit zu gehen, schaltete der Aachener den Computer ein und begann zu spielen: Echtzeit-, Strategie- oder Knobelspiele, bei denen es auf logisches Denken ankam. Meist saß er den ganzen Tag reglos vor dem Bildschirm und vergaß dabei die Zeit. Abends hängte er rasch noch seine Jacke an einen anderen Platz, um der Freundin den Eindruck zu vermitteln, auch er sei gerade erst nach Hause gekommen. Sobald die Freundin im Bett war, spielte der Maschinenbaustudent weiter bis zum Morgengrauen. Die Lügenkonstrukte wurden immer ausgefeilter, bis er es nicht mehr aushielt und ihr sein Problem beichtete. Sie wollte ihm „helfen“ und entwickelte sich dabei zur Co-Abhängigen. Sie ließ sich von ihm manipulieren, begann sein Verhalten vor anderen zu rechtfertigen und sogar für ihn zu lügen. Auf seinen Wunsch schloss sie den Laptop ein. Er fand den Schlüssel des Schranks und spielte heimlich weiter. Sie schafften einen Safe an, und er knackte das Schloss. Es gab keinen Zweifel mehr: David Müller war ein Computer-Junkie. Schließlich begann er eine Therapie. Sein Hintergedanke: „Wenn du das durchgezogen hast, kannst du weiterspielen.“ Doch die Idee vom kontrollierten Spiel war nur Illusion. Sobald der Computer eingeschaltet war, bewegten sich seine Hände wie ferngesteuert über die Tastatur. Internetabhängigkeit ist für Hans-Jürgen Rumpf, Leiter der Suchtforschungsabteilung der Universität zu Lübeck, alles andere als eine bloße Modeerscheinung. • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • Windeln und Verwahrlosung • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • Onlinesüchtige belügen sich selbst, machen große Pläne und manipulieren die Eltern mit falschen Versprechungen. (Foto: Fotolia/Epibrate Images tuellen Kontakte ersetzt haben. Am meisten suchtgefährdet sind aber weder die Online-Zocker noch die ErotikSüchtigen, sondern Mädchen im Alter zwischen 14 und 16. Das brachte Rumpfs Studie „Prävalenz der Internetabhängigkeit“ (PINTA) an den Tag. Mehr als 77 Prozent der auffälligen Mädchen und Frauen der Altersgruppe 14 bis 24 Jahre nutzen am häufigsten die sozialen Netzwerke wie Facebook oder StudiVZ. Besonders in Gefahr sind Mädchen, die sich auf dem virtuellen Parkett sicherer fühlen als in der realen Welt. In Social Networks können sozial Ängstliche leichter dosieren, wie viel Nähe sie zulassen möchten. Gleichzeitig erhalten sie Bestätigung und Lob. Diese selbstwertsteigernden Aktivitäten suchen sie immer wieder und werden danach süchtig. „Man lechzt nach der Bestätigung und dem Ansehen der virtuellen Welt, die man im realen Leben nicht bekommen hat“, weiß Müller. Fast jeder in der Selbsthilfegruppe für Onlinespielsüchtige SOS-Aachen, die er vor einigen Jahren ins Leben gerufen hat, berichtet von einer problematischen Kindheit. Die Eltern des Studenten trennten sich mehrmals. In der Folge musste er zwölf Umzüge und ständige Schulwechsel verkraften. Andere stammen aus lieblosen Elternhäusern. Hinter mancher Internetsucht verbirgt sich auch eine psychische Erkrankung. Das Problem sei aber nicht nur die Verlagerung be- Er benennt Fälle von Menschen, die vor ihrem Computer verwahrlosen. Die so tief im virtuellen Universum versinken, dass sie die Müllberge nicht mehr wahrnehmen, die sich rund um sie auftürmen, oder die sich Windeln anlegen, um ein wichtiges Spiel nicht unterbrechen zu müssen. Im schlimmsten Fall kann das, wie bei jeder Sucht, mit dem Tode enden – wie bei einem Koreaner, der nach 50 Stunden ununterbrochenem Online-Spiel ohne Essen und Trinken mit Herzversagen zusammen- IST M E IN K IND INTER NETS ÜCH TIG? brach. Vor allem für suchtgefährdende Spiele fordert Erste Anzeichen einer Abhänhängigkeit entwickelt, sollten Eltern Suchtforscher Rumpf deshalb gigkeit können sein: zunächst Informationen einholen und die Anhebung der AltersgrenHilfe in einer Suchtberatungsstelle ze auf 18 Jahre. Das Problem: Augenringe oder ein bleiches suchen. Auch der Austausch mit Im Internet gibt es viele MögGesicht durch Schlafmangel anderen Betroffenen ist sinnvoll und lichkeiten, sein Alter zu verGewichtszu- oder Abnahme hilfreich. Denn unter Umständen bergen. Schulversagen steht ihnen ein langer und schwerer Sinnvoll wären klare ZeitbeVernachlässigung des FreundesKampf bevor. schränkungen für die Compukreises ternutzung. Doch viele JuGespräche kreisen nur noch um gendliche sind manchmal Tag www.sos-aachen.de das Thema Spiele oder Soziale und Nacht online, ohne dass www.internetsucht-hilfe.de Netzwerke die Eltern mitbekommen, dass www.fv-medienabhaengigLügen und aggressives Verhalten sie den Kontakt zur Realität keit.de längst verloren haben und die www.rollenspielsucht.de Hat das Kind bereits eine Abeigene Familie durch ihre vir- • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • stimmter Süchte in ein neues Medium, glaubt Suchtforscher Rumpf, sondern vielmehr die ständige Verfügbarkeit des Internets, welche die Entwicklung bestimmter Abhängigkeiten überhaupt erst ermöglicht. • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • Onlinesucht ist keine Krankheit • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • Christoph Hirte vom Fachverband für Medienabhängigkeit hält die Spieleindustrie „für genauso skrupellos wie die Alkohol- und Zigarettenindustrie. Da geht es um brutal viel Geld.“ Es würden die neuesten Erkenntnisse aus der Hirnforschung genutzt, um die User abhängig zu machen. Der exzessive Umgang mit dem Internet würde zu Unrecht verharmlost. Der 53-jährige Münchner weiß, wovon er spricht. Sein ältester Sohn wollte nur ein Urlaubssemester nehmen. Daraus wurden Jahre. Sein Informatikstudium hat er schließlich abgebrochen. Auch David Müller hat mit 33 sein Studium noch immer nicht abgeschlossen. „Ich habe zwar nicht wie ein Glücksspielsüchtiger Geld verzockt, aber trotzdem viel verloren: mehrere Jahresgehälter und meine Freundin.“ Dass sein Leiden noch nicht als Krankheit anerkannt ist, kann er nicht verstehen. Anders als Glücksspielsüchtige haben die deutschlandweit 560 000 Online-Abhängigen keinen Anspruch auf Behandlung. Allenfalls für Begleit-Erkrankungen wie Depressionen gibt es Hilfe. David Müller musste lügen, um an die erhoffte Therapie zu kommen. Inzwischen sieht auch die Drogenbeauftragte der Bundesregierung Mechthild Dyckmans (FDP) ein: „Wir benötigen schnell Beratungsund Hilfeangebote für die Erkrankten.“ Die Abhängigkeit beginnt schleichend. Erst wenn Eltern einschreiten und versuchen, den Nachwuchs vom Bildschirm loszueisen, merken manche, was los ist. Die Jugendlichen bekommen Wutanfälle. Manche werden handgreiflich oder schlagen ihr Zimmer kurz und klein. Pädagogen, die mehr Medienkompetenz fordern, erkennen nicht, dass vielen Jugendlichen dazu noch die nötige Reife fehlt, kritisiert Hirte. Er ist überzeugt: „Je früher Kinder Computerspiele lernen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie abhängig werden.“ Suchtforscher Rumpf empfiehlt Aufklärungskampagnen, möglichst auch online, mit denen auf die Suchtgefahren aufmerksam gemacht werden soll. Auch die Schulen seien aufgefordert, die Kinder fit zu machen im Umgang mit der virtuellen Welt. Der Lehrer Andreas Fuchs hat positive Er- fahrungen gemacht. In seiner Berliner Grundschule werden schon Erstklässler an die Arbeit mit dem Computer herangeführt. Sie beschäftigen sich mit Recherchemöglichkeiten für Kinder im Netz, aber auch mit den Gefahren des Internets. Sein Resümee: „Kinder, die zeitig einen angemessenen Umgang mit dem neuen Medium lernen, sind weniger gefährdet.“ Er sieht einen großen Unterschied „zwischen Kindern, die Lernplattformen nutzen oder zweckgerichtet mit Bild- oder Textverarbeitungsprogrammen arbeiten, und solchen, die sich selbst überlassen vor einem blinkenden Bildschirm sitzen und vor sich hin daddeln. Die Politiker wissen gar nicht, was in den Familien los ist“, klagt Hirte, der seit Gründung des Vereins „Aktiv gegen Mediensucht“ Hunderte junger Menschen kennengelernt hat, die manchmal Jahrzehnte ihres Lebens verloren haben. Sie belügen sich selbst, machen große Pläne und manipulieren die Eltern mit falschen Versprechungen. In Wirklichkeit schaffen viele von ihnen noch nicht einmal einen Schulabschluss. Hirte zitiert gern den Appell eines betroffenen Jungen, der mahnt: „Spielen macht krank. Fangt gar nicht erst damit an. Andere werden erwachsen. Man selbst entwickelt sich nur zurück.“