Als PDF herunterladen
Transcription
Als PDF herunterladen
Zitierhinweis Mehr, Christian: Rezension über: Bettina Alavi (Hg.), Historisches Lernen im virtuellen Medium, Heidelberg: Mattes Verlag, 2010, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, 10 (2011), S. 163-166, http://recensio.net/r/bdd460fdaaaeddc556925156ea380d1b First published: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, 10 (2011) copyright Dieser Beitrag kann vom Nutzer zu eigenen nicht-kommerziellen Zwecken heruntergeladen und/oder ausgedruckt werden. Darüber hinaus gehende Nutzungen sind ohne weitere Genehmigung der Rechteinhaber nur im Rahmen der gesetzlichen Schrankenbestimmungen (§§ 44a-63a UrhG) zulässig. Bettina Alavi (Hrsg.): Historisches Lernen im virtuellen Medium. (Schriftenreihe der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, Bd. 54). Heidelberg 2010 (Mattes Verlag), 259 Seiten, € 24,00. In der öffentlichen Wahrnehmung sollen Schulen unter anderem aus zwei Gründen »ans Netz« gehen:1 Erstens sei die Öffnung der Schule für die neuen Medien eine Hinwendung zur Lebenswelt der Kinder; zweitens sei aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungen im digitalen Zeitalter auf die sozialen Folgen der Digitalisierung gerade in der Schule zu reagieren, um einen verantwortungsvollen, reflektierten Umgang mit den neuen Medien sicherzustellen. Kurz gesagt: Es geht um den Erwerb von Medienkompetenz. Um sich in der neuen Medienwelt zurechtzufinden, könnte aus ähnlich guten Gründen der Computer aber auch aus bleiben. »Die pädagogische Aufgabe lautet, antizyklisch das zu retten und bereitzustellen, was auch an traditionellen Fertigkeiten und Fähigkeiten im digitalen Zeitalter benötigt wird.«2 Umso interessanter ist die Formulierung eines weiteren Anspruchs, mit dem sich die neuen Medien empfehlen: nämlich auch den Bildungsprozess im herkömmlichen Sinn zu fördern und daher nicht in einem Widerspruch zu den »traditionellen Fertigkeiten und Fähigkeiten« zu stehen. Dazu gehört auch die Annahme, dass in und mit den virtuellen Medien 1 Vgl. http://www.schulen-ans-netz.de/positionen-und-themen/schulische-bildung. html 2 Peter J. Brenner: Schule in Deutschland. Ein Zwischenzeugnis. Stuttgart 2006, S. 112. das jeweils fachspezifische Lernen der einzelnen Unterrichtsfächer gefördert werden könne. Letzterem widmet sich der Sammelband »Historisches Lernen im virtuellen Medium«. Die Herausgeberin Bettina Alavi stellt dabei einleitend die zentrale Frage, »welche Lernchancen sich in den neuen Medien für das historische Lernen ergeben« (8). Die Publikation fasst Beiträge einer gleichnamigen Tagung zusammen, die 2009 an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg durchgeführt wurde und sich in die Tradition vorausgehender Tagungen zum Themenbereich Geschichtsdidaktik und neue Medien einreiht. Die Verfasser der einzelnen Artikel sind »Medienexperten und/oder Geschichtsdidaktiker/innen, etablierte Wissenschaftler/innen wie Nachwuchskräfte« (8). Die ersten drei Beiträge (Michele Barricelli, Angela Schwarz, Gerhard Henke-Bockschatz) analysieren konkrete Beispiele, wie digitalisierte Zeitzeugeninterviews (Visual History Archive des Shoah Foundation Institute), Computerspiele (u.a. Age of Empires, Empire Earth, Rise of Nations) oder eine Lern-DVD und loten dabei das jeweilige Lernpotential wie die nicht wenigen Tücken der Medien aus. Die bereits in Barricellis Eröffnungsbeitrag angedeutete empirische Basis, die sich in Schüleräußerungen zu den jeweiligen Medien dokumentiert, wird erfreulicherweise im zweiten Teil des Bandes auf ein noch breiteres Fundament gestellt. Damit wird der Band dem selbst gesetzten Anspruch gerecht, auch zu zeigen, wie die neuen Medien »bereits von den Lernenden […] genutzt werden« (8). Im Anschluss an Henke-Bockschatz’ weitreichende Selbstkritik an der von ihm mitgestalte- Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Jg. 10 (2011), S. 163–169 © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2011, ISSN 1610-5982 Buch_ZFGD_2011.indb 163 07.09.11 12:08 164 ten Lern-DVD (»Das 20. Jahrhundert«. Erster Teil. Die Jahre 1914–1949) untersuchen Bettina Alavi und Marcel Schäfer auf der Grundlage von Videoscreening und anschließendem lauten Denken, wie Schülerinnen und Schüler mit »historischer Selbstlernsoftware« (75) umgehen. Als Anschauungsobjekt wählen sie dazu eine Lern-DVD der Reihe, in der auch die DVD von HenkeBockschatz erschienen ist: »Das lange 19. Jahrhundert«, die den dritten Band des Lehrwerks »Geschichte und Geschehen« ergänzt. Die ökonomische und mechanische Bearbeitung der Aufgaben durch die Schüler münde nicht in der »historischen Arbeit mit Text und Bildern« (90). Im Ergebnis hegen Alavi und Schäfer daher »große Zweifel […] bei dem historischen Lernpotential« (90) des von ihnen untersuchten digitalen Aufgabenarrangements. Uwe Dankers und Astrid Schwabes erste »Ergebnisse zur Nutzung des Virtuellen Museums«3 (102) können ebenfalls nicht die Hoffnung begründen, dass mit den neuen Medien mehr oder besser historisch gelernt werde. Sie erstellen Nutzerprofile der Internetseiten, die die Regionalgeschichte Schleswig-Holsteins und Dänemarks didaktisch aufbereiten. Mittels quantitativer Erhebungen und der Relationierung der Dauer der »Besuchszeit«, des »Anreisewegs« der »Besucher«, ob sie bspw. über eine Suchmaschine vermittelt wurden oder direkt zugreifen, sowie der »Besuchstiefe«, ob also mehrere Seiten nacheinander geöffnet wurden, ermitteln sie »fünf Besuchertypen« (106). Leider können sie so nach eigenem Dafürhalten »keine Aussagen über die Ergebnisse und Wir3 www.vimu.info Buch_ZFGD_2011.indb 164 Buchbesprechungen kungen historischer Lerneffekte« (106) gewinnen, noch wollen sie aufgrund der notwendigen Kürze des Beitrages einen aus ihrer Sicht »zufrieden stellenden Besuch« und seine Darstellung im »Serverprotokoll« (95) dokumentieren. Jan Hodels empirisch begründete These, dass Jugendliche das Internet vor allem als Nachschlagewerk nutzen und damit einen »faktenorientierten, positivistischen Zugang zu Geschichte« (127) legen, deckt sich mit den Beobachtungen Dankers und Schwabes. Die meisten user verweilten weniger als eine Minute und zudem auf einer einzigen Seite des digitalisierten Angebotes, mehr als eine »suchend-enzyklopädische Nutzung« (100) ist da kaum drin. Was stattdessen alles im virtuellen Raum möglich wäre, damit beschäftigt sich der dritte Teil des Sammelbandes. Alexander König stellt ein sogenanntes Lernmanagementsystem (MOODLE) vor und Holger Meeh demonstriert anhand verschiedener Autorenprogramme, wie Lehrkräfte »ohne große technische Expertise und hohes finanzielles Budget ansprechende Lernobjekte produzieren« (151) können. Zu Recht weist er darauf hin, dass solche Programme die »inhaltliche und didaktische Planungsarbeit« (167) der Lehrkraft jedoch nicht übernehmen können. Es folgen abschließend Erfahrungsberichte über die Arbeit mit weiteren neuen Medien wie der Lernplattform »Didactics online« auf www.didactics.eu (Alois Ecker), eines selbst erstellten Lernmoduls zum Bibliographieren4 (Manuel Altenkrich, Marcel Schäfer), des »cross4 Das Modul zum Bibliographierenlernen befindet sich unter http://appserv2.phheidelberg.de/ilias3/data/PH-Heidelberg/ lm_data/lm_495/blg_end/index.html 07.09.11 12:08 Buchbesprechungen medialen ZDF-Geschichtsportals ›Die. Deutschen.de‹« (203) (Andrea Kolpatzik) und eines weiteren Portals mit Zeitzeugeninterviews zum Holocaust www.zeitzeugengeschichte.de (Birgit Marzinka). Die Beiträge zeigen, dass auch in der virtuellen Welt Geschichte allgegenwärtig ist. So sehr diese Popularität Anlass zur Freude sein mag, so sehr ist der Umgang mit Geschichte in den (neuen) Medien aber auch eigenen Regeln unterworfen, die den Regeln der wissenschaftlichen Erzeugung von historischem Wissen nicht selten zuwiderlaufen. Es ist daher auch im Geschichtsunterricht lohnenswert, die massenhaft und schnell verfügbare Geschichtskultur der virtuellen Medien daraufhin zu analysieren, welche spezifischen Narrationen sie bilden (vgl. die Beiträge von Barricelli und Hodel), welche (Geschlechter)Rollen verteilt werden (vgl. den Beitrag von Schwarz), wie nationale Identität konstruiert wird (vgl. den Beitrag von Kolpatzik). Allerdings erfordern solche Reflexionen, die auch »das Erkennen von ›historischen Fehlern‹ in Strukturen oder Abläufen sowie die Fähigkeit zur Kritik am Dargestellten« fördern, ein »hohes Maß an Dekodierungsleistung […], die Fähigkeit eingeschlossen, Geschichte nicht als Aneinanderreihung von Fakten […] zu begreifen« (47). Solche Anforderungen können aber erst gestellt werden, wenn zuvor überhaupt eine Konstruktion, also ein wie auch immer geartetes Verständnis von Geschichte den Schülerinnen und Schülern zugänglich ist. Die Neugier der Lernenden richtet sich daher zunächst vor allem darauf, ganz elementar etwas Historisches in Erfahrung zu bringen und zu verste- Buch_ZFGD_2011.indb 165 165 hen. Im Umgang mit den Zeitzeugeninterviews mit Holocaust-Überlebenden fällt Barricelli die Annahme der Schülerinnen und Schüler negativ auf, »dass man Judenverfolgung und Judenhass verstehen (d. h. nicht entschuldigen, aber nachvollziehen, auf objektive Gründe zurückführen) könne und auch damals schon konnte« (23). Die Bedürfnisse der Lernenden schmiegen sich nicht den geschichtsdidaktischen Zielen Barricellis an, für den stattdessen »eine Solidarisierung mit den Motiven der Befragten« (23), »Trauerarbeit« und ein Hineinlauschen »in den Echoraum des Horrors« (26) wünschenswert sind. Warum dagegen das Verlangen nach konkretem Wissen und damit auch nach historischem Lernen nicht als Glücks-, sondern Störfall wahrgenommen wird, ist nur schwer nachzuvollziehen. Das Wissen und das Verständnis von konkreten historischen Ereignissen und Zusammenhängen, ja sogar Geschichtsbewusstsein5 werden dabei allenfalls noch als Voraussetzung des Unterrichts gedacht, um abstrakte Kompetenzen einzulösen, und nicht mehr als dessen eigentliches Ziel. Historisches Lernen wird so gerade bei der Nutzung virtueller Medien von den Füßen auf den Kopf gestellt: Lassen sich durch Zeitzeugeninterviews aufgeworfene Schülerinteressen an dem von Barricelli angepeilten Reflexionsgrad messen, in dem »erinnerungspraktische Probleme der scripts, medialen Importe […], flashbulbs, kulturellen Diskurs5 »Diese subjektiven Konstruktionen [gemeint sind die Zeitzeugeninterviews, C.M.] können die Lernenden mit den Inhalten, Präkonzepten, Bildern ihres eigenen Geschichtsbewusstseins in eine werthaltige Beziehung setzen.« (24) 07.09.11 12:08 166 und Genreregeln« (15) selbstverständlich sind, oder bedarf es dazu nicht schon des fertigen Historikers? Grundsätzlich wirft der Sammelband auch die Frage auf, welchen Mehrwert die virtuellen Medien sui generis für historisches Lernen generieren. Die Antworten erscheinen in dieser Hinsicht nicht befriedigend. Bei den bestehenden Angeboten ist nicht ersichtlich, weshalb sich mit oder in ihnen besser historisch lernen ließe als mit konventionellen Medien. Ob das Zeitzeugeninterview per Download aus dem Internet den Weg in den Klassenraum findet oder über die analoge VHS Kassette, ob Bilder und Texte am Bildschirm gelesen, gedeutet, markiert, kommentiert und verlinkt werden oder das gleiche auf einem Blatt Papier oder auf einer Wandzeitung geschieht, mag eine Frage der Arbeitsökonomie sein, auch mag das Arrangement durch den Computer individuellere Entscheidungen der Schüler ermöglichen, die zu erbringende historische Erkenntnisarbeit am Gegenstand wird sich dadurch aber nicht ändern. Historisch lernen können Schülerinnen und Schüler dann, wenn der Gegenstand historisch ist, unabhängig von seiner medialen Präsentation. Das »Lernmanagement« obliegt zudem keiner Software, sondern dem Lehrer, und das Klassenzimmer ist die nächstliegende »Lernplattform«. Deshalb sind auch viele Beobachtungen und Thesen des Sammelbandes zutreffend, ohne dass sie in irgendeiner Hinsicht exklusiv Geltung für die Darbietung historischen Lernens durch die virtuellen Medien beanspruchen müssten, was die Autoren auch verschiedentlich einräumen. Das von Alavi und Schäfer in ihrem resümierenden Schlussbeitrag Buch_ZFGD_2011.indb 166 Buchbesprechungen gezogene Fazit setzt folgerichtig einen neuen Akzent: Die Ausgangsfrage, welche historischen Lernchancen sich durch den Einsatz virtueller Medien ergeben, wird umformuliert in die anstehende Suche nach der »medienadäquaten Umsetzung einer netzbasierten historischen Lernaufgabe« (247). Es wäre zu begrüßen, wenn die virtuellen Medien in Zukunft eindeutiger als Hilfsmittel denn als historische Lernkultur eigener Provenienz verstanden würden. Christian Mehr, Frankfurt/M. 07.09.11 12:08