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Entsetzen und Trauer waren groß, als die krebskranke Kaycee Nicole am
1 5 . Mai 200 1 an den Folgen ihrer Erkrankung starb. Kaycee, eine 1 9 jähri-
ge Studentin in den USA, hatte jahrelang gegen die Krankheit angekämpft
und dies in einem eigenen Internet-Tagebuch (Weblog, Kurzform: blog)
dokumentiert. Unterstützt wurde sie in ihrem Kampf von ihrer Mutter, die
ebenfalls in einem Weblog die Anstrengungen zur Genesung und den Le-
bensmut ihrer Tochter dokumentierte. Unterstützung kam aber auch von
einer nach Hunderten zählenden Gemeinschaft von aktiven Webloggern
und interessierten Lesern, die sich um die Internet-Tagebücher von Kaycee
und ihrer Mutter gebildet hatte. Sie schickten aufmunternde E-Mails,
tauschten sich untereinander über den Fall aus, gaben Tipps für Therapien,
chatteten mit Kaycee, um sie aufzumuntern oder sprachen ihr sogar am
Telefon Mut zu. Die Mutter von Kaycee schilderte die Krankheit der Toch-
ter aus ihrer Perspektive. Sie stellte ein Bild der Tochter ins Internet, auf
dem diese tapfer in die Webcam lächelte und beschrieb die Genesungsfortschritte, die durch die positive Resonanz aus dem Netz unterstützt wurden.
Und dann, eines Tages, war im Internet-Tagebuch der Mutter vom plötzlichen Tod von Kaycee Nicole zu lesen.
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Die Mehrzahl der Gemeinschaftsmitglieder reagierte schockiert auf
dieses unerwartete Ende. Viele hatten zu Kaycee und ihrer Mutter persön-
liche Beziehungen aufgebaut, die zu einem zentralen Thema der Weblog-
Gemeinschaft geworden waren. Schließlich handelte es sich hier um einen
konkreten Fall, in dem man Mitgefühl über das Medium Internet zeigen
und jemandem helfen konnte, der sich im ,realen Leben‘ in einer dramatischen Notlage befand. Die Weblogs lieferten hierfür die Grundmelodie in-
timer Informationen, die sich durch Medienwechsel (Briefe, Telefongespräche) noch verdichten ließen.
1
Eine ausführliche Dokumentation der Vorgänge aus psychologischer Sicht finden sich mit
weiteren Verweisen und Materialien (z.B. zum Kaycee-FAQ der Weblog - Community und
zur Rechtfertigungs - Mail der Mutter) u.a. bei Grohol (200 1 : Online), sozialpsychologi-
sche Interpretationen der Vorkommisse geben Joinson, Dietz -Uhler (200 1 : Online) und
Döring (2003 : 3 87f. ).
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Und weil es um wirkliche Personen in wirklichen Notlagen ging, woll-
ten einige der medialen Freundinnen und Freunde der Verstorbenen ihr
und ihrer Mutter einen letzten Dienst erweisen und an Kaycees Beerdigung
teilnehmen. Aber die Mutter nannte keinen Bestattungstermin. Das Unter-
stützungsinteresse der Weblogger lief plötzlich ins Leere. Nachforschungen
durch einige Weblogger ergaben schließlich, dass Kaycee an keiner High
School oder Universität, in keinem Krankenhaus oder gar in einem Toten-
register jemals eine Spur hinterlassen hatte. Kaycee Nicole war ein Fake im
Internet, eine virtuelle Identität, die sich als Abbild einer lebenden Person
ausgab, die es tatsächlich niemals gegeben hatte. Kaycee hatte zwar existiert, aber nie gelebt.
Soweit sich der Fall rekonstruieren lässt, hatte um das Jahr 1 99 8 eine
Gruppe von Schülerinnen eine virtuelle Freundin mit Namen »Kaycee« er-
funden und auf einer Webseite im Internet ins elektronische Leben entlas-
sen. Debbie Swenson aus Oklahoma City, die Mutter einer der Schülerin-
nen, hatte Kaycee ,adoptiert‘, die Identitätsgeschichte des krebskranken
Teenagers erfunden und konsequent sowohl im Online-Tagebuch der ima-
ginären Tochter, als auch im eigenen Tagebuch weiterentwickelt. Sie hatte
die E-Mails an Kaycee selbst beantwortet und auch den Webloggern, die
anriefen, die kranke Tochter vorgespielt. Nach der Aufdeckung des Fakes
behauptete Debbie Swenson, sie habe Kaycee aus drei Krebsfällen ,kompo-
niert‘, die ihr persönlich bekannt waren, um auf die Probleme Krebskran-
ker hinzuweisen. Die Bilder ihrer virtuellen Tochter im Netz würden eine
der erkrankten Bekannten zeigen. Eine Aussage, die sich ebenfalls als
falsch herausstellte.
Die Folge dieser ,Enttarnung‘ waren eine tiefe Enttäuschung bei den
engagierten Mitgliedern der Kaycee- Community. Natürlich hatte man Kaycee vor ihrem Tod nie persönlich getroffen. Die Situation der Selbstoffen-
barung intimer Details, die Weblogs nahe legen, obwohl sie potenziell von
einem Millionenpublikum rezipiert werden können und die Anhaltspunkte
für die Glaubwürdigkeit der dargestellten Geschichte, wie die Fotos, die
Darstellungen des Tagesablaufs und der Therapien, die Antworten auf
E-Mails, eine stimmige Darstellung der Zusammenhänge und schließlich
die Möglichkeit sich über das Telefon unmittelbar mit Kaycee in Verbindung zu setzen, erzeugten jedoch Vertrauenswürdigkeit. Ein hohes persönliches Engagement schien daher trotz der nur medialen Kommunikationssi-
tuation gerechtfertigt und wurde nach dem Vertrauensbruch entsprechend
stark enttäuscht. Die Gemeinschaft im Netz, die Kaycee Nicole und ihre
Mutter unterstützt hatte, löste sich auf.
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Obwohl solche Fakes im Internet nicht selten auftreten und massenme-
dial viel Aufmerksamkeit erfahren, da sie die dämonische Seite virtueller
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Sozialkontakte plakativ zu illustrieren scheinen, sind Täuschung und an-
schließende soziale Abwendung durchaus alltägliche Phänomene. Jeder
und jede kennt aus der eigenen Erfahrung Fälle, in denen man über die In-
teressen oder Motive von Freunden und Bekannten getäuscht oder bewusst
belogen wurde. Es passt auch ins Bild, dass die Gemeinschaft der Kaycee-
Freunde nach Aufdeckung des Fakes zerbrach, handelte es sich doch um
eine auf einen Einzelfall fixierte, spontane Gemeinschaftsbildung, ohne ex-
plizite innere Organisations- und Normstruktur. Überraschen kann nur das
hohe Maß an Vertrauen, das Online ohne unmittelbare Kontakte zur Per-
son hinter der Persona entwickelt wurde und das anscheinend eine wichti-
ge Ressource der Konstitution dieser Gemeinschaft war, die sich mit
Schwerpunkt im Internet medial entwickelte.
Das Beispiel vermittelt zunächst den Anschein, als sei im Internet Ge-
meinschaftsbildung möglich − zumindest als ein
auf spezifische Themen be-
zogener und interessegeleiteter Kommunikationszusammenhang, zu dem
Und
sich Kommunikationsteilnehmer relativ dauerhaft zugehörig fühlen.
entgegen den Annahmen, das Internet etabliere eine sozial distanzierende,
virtuelle Realität, in der nur ,Pseudogemeinschaften‘ existieren, scheint Ver-
trauen eine nicht unwesentliche Rolle bei der Integration computermedial
realisierter Gemeinschaften zu spielen.
Ein weiteres Beispiel zu einer anderen Erscheinungsform virtueller Ge-
meinschaft und einer anderen Art der Irritation von Vertrauen mag seine
Bedeutung als Ressource des Zusammenhalts verdeutlichen. Die Störung
des Vertrauens kann hierbei in der Art eines unbeabsichtigten Krisenexpe-
riments im Garfinkelschen Sinn gelesen werden. Erst die Verunsicherung
des vorher stillschweigend vorausgesetzten Vertrauens und die Versuche
seiner Substitution durch andere Mechanismen sozialer Orientierung und
Ordnungsbildung verdeutlichen seine funktionale Bedeutung.
2
Im Juni 2004 wird vom aktuellen Fall der Layne Johnson berichtet, die in Netztagebüchern
detailliert ihre schreckliche Kindheit als Missbrauchsopfer und ihre lesbischen Affären
schilderte. Eines Tages verschwand sie spurlos aus dem Internet. Nachforschungen im
Netz führten zu einer zweiten Frau, die Layne gekannt haben musste und ergaben
schließlich, dass beide ,Frauen‘ von einem Familienvater erfunden, und im Netz ,am
Leben‘ erhalten worden waren (vgl. Kneip, 2004: Online).
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Es geht um den in der Anfangszeit des World Wide Web (WWW) be-
kannt gewordenen Fall einer Online-Vergewaltigung in der virtuellen Welt
des sog. LambdaMOO, wie er von Julian Dibbel ( 1 993 ) nach teilnehmen-
der Beobachtung berichtet wurde. Bei LambdaMOO handelt es sich um ei-
ne computergenerierte Welt, die den frühen Cyberspace-Visionen einer immersiven, virtuellen Realität, in die ihre Bewohner vollständig eintauchen,
sehr nahe kommt. Ein MOO ist die Spezialform eines MUD. Die Abkür-
zung MUD steht, mal als »Multi User Dungeon« oder »Multi User Dimension« bezeichnet, für eine Online-Welt, die von den computermedial ver-
netzten Teilnehmern zumeist durch schriftliche Beschreibungen, in jünge-
rer Zeit auch vermehrt durch Entwerfen grafischer Texturen, Objekte und
animierte Körper gemeinsam konstruiert und besiedelt wird.
3
LambdaMOO ist als eine solche textorientierte virtuelle Welt auf den
Computern der Xerox Company installiert. Sie stellt ein verschachteltes
Haus dar, in dem man sich zwanglos treffen, Freundschaften schließen,
sich verlieben, gemeinsam Kunstwerke betrachten oder Exkursionen unter-
nehmen kann. Die Teilnehmer treten als Beschreibungen phantastischer
Charaktere in Erscheinung. Sie beschreiben einander Gegenstände des persönlichen Bedarfs, denen sie durch Programmierung besondere Eigenschaf-
ten verleihen. Sie leben in den Beschreibungen eigener, teilweise skurriler
Räume und fiktiver Erlebnissituationen, die auch in ihrer Abwesenheit Be-
»stand haben und in denen sie sich mit anderen virtuellen Charakteren
treffen (vgl. Curtis, 1 993 ).
Eines Nachts erschien hier ein virtueller Charakter, der sich »Mr.
Bungle « nannte. Entsprechend der Selbstbeschreibung verkörperte er einen
hässlichen, dicken Clown in Begleitung einer Voodo-Puppe. Wie sich bald
zeigte, repräsentierte diese Puppe ein Script, eine kurze Programmsequenz,
die Mr. Bungle dazu nutzte, die Beschreibungen anderer virtueller Charak-
tere in seinem Sinne zu manipulieren. So war es ihm möglich, Bewegungen
3
Der Terminus »MUD« taucht erstmals 1 979 auf, als Richard Bartle und Roy Trubshaw an der
Universität von Essex (GB.) ein Abenteuerspiel programmierten, das von vielen Spielern
gleichzeitig gespielt werden konnte. Es war dem Fantasy- Spiel »Dungeons and Dragons«
nachempfunden, und wurde »Multi User Dungeon« genannt (vgl. Bartle, 1 999 : Online).
Obwohl die Ursprünge in der Spielszene liegen, steht »MUDs « inzwischen als Oberbegriff
für vielfältige virtuelle Welten mit z.B. sozialer, erzieherischer oder aufgabenorientierter
Ausrichtung und für verschiedenste Realisierungsformen, wie MOO, MUSH, MUSE etc.
(zur weiteren Klassifikation siehe Keegan, 1 997: Online).
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oder Aussagen anderer Charaktere zu beschreiben, die nicht von den steu-
ernden Personen beabsichtigt und vorgegeben waren. Auf diese Weise
konnten diese Personae dazu gebracht werden, obszöne Gesten oder Aus-
sagen zu machen, an ,sich selbst‘ sexuelle Handlungen vorzunehmen oder
sexuelle Übergriffe ohne Gegenwehr hinzunehmen.
Mr. Bungle nutzte diese Fernsteuermöglichkeiten in seinem Sinne aus.
Im 'Wohnzimmer' des MOO überfiel er zunächst »legba«, eine Persona, die
einen haitianischen Gauner mit unbestimmtem Geschlecht darstellte und
zwang das virtuelle alter Ego sexuelle Handlungen an Mr. Bungle vorzu-
nehmen, indem er die entsprechenden Beschreibungen auf die Bildschirme
aller mit dem Wohnzimmer des MOO verbundenen Kommunikationsteil-
nehmer schickte. Dann zog er sich aus dem Wohnzimmer zurück, manipu-
lierte über das Script der Voodoo-Puppe aber weitere Personae. So zwang
er »Starsinger«, eine Persona, die eine junge Frau verkörperte zu nichtbeab-
sichtigten sexuellen Handlungen mit anderen Personae, die zunehmend ei-
nen gewalttätigen Charakter annahmen, untermalt von der Beschreibung
eines teuflischen Lachens.
Mr. Bungle war infolge des Scripts, das er anwendete, nicht durch die-
jenigen Programmbefehle zu stoppen, die den Teilnehmern im MOO dafür
zur Verfügung standen. Erst als man »Zippy«, einen Operator, d.h., ein Ge-
meinschaftsmitglied, das über Zugriff auf den grundlegenden Programmco-
de des MOO verfügte, zu Hilfe rief, konnte dieser die destruktiven Kom-
mandos von Mr. Bungles Voodoo-Puppe abfangen und in einer Programmschleife einschließen. Die virtuelle Vergewaltigung endete.
Die Gemeinschaft der MOO -Teilnehmer war durch diesen Vorfall
verunsichert. Über Dibbel hinausgehend, der vor allem die psychischen
Traumata thematisiert, die von den Personen berichtet wurden, deren Personae Mr. Bungle fremdgesteuert hatte, sind hierfür soziologische Ursa-
chen zu benennen. Mr. Bungle hatte nicht nur die Offenheit des Environ-
ments und seine Möglichkeiten aus der Pseudonymität heraus zu agieren,
d.h., die Grundlagen der virtualisierten Öffentlichkeit zum Ausleben ego-
zentrischer Sexualphantasien auf Kosten argloser Mitspieler missbraucht.
Er hatte bewusst einen Ort der öffentlichen Kommunikation im MOO ge-
wählt, so dass alle Zeugen der Vorfälle wurden und er hatte die manipulier-
ten Personae und die steuernden Personen ,vergewaltigt‘, indem er sie der
Kontrolle ihrer virtuellen alter Egos im Cyberspace beraubte.
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Damit wurden die impliziten Handlungsimperative virtueller Welten:
»konstruiere, steuere, interagiere« bewusst von ihm verletzt. Die Folge war
eine Störung des Vertrauens in die Konstruktions-, Steuerungs- und In-
teraktionsfähigkeit im virtuellen Raum. Dieses Vertrauen in die Potenziale
der Virtualisierung stellt neben den vielfältigen Interessen und Kompeten-
zanforderungen die Grundlage dafür dar, dass Personen sich über die fragi-
le Nabelschnur einer Internetverbindung mit dem Cyberspace verbinden
und erwarten, dass sie mittels eingetippter Tastaturkommandos ihre teilwei-
se sehr exzentrischen virtuellen Charaktere in den virtuellen Welten so
agieren lassen können, dass ihre Phantasien frei zum Ausdruck kommen,
respektiert werden und sie die soziale Beachtung erfahren, die sie sich er-
warten.
Der Mr. -Bungle-Zwischenfall im LambdaMOO blieb infolgedessen
nicht ohne soziale Konsequenzen. So klagten die missbrauchten Personae
Mr. Bungle öffentlich an und forderten, dass man den virtuellen Charakter
von Seiten der Operatoren (in Anlehnung an die MUD -Tradition »Wizards« genannt) ,toaden‘ sollte. Mr. Bungle sollte in eine virtuelle ,Kröte‘
verwandelt werden, die keine Möglichkeiten mehr hatte, an der Kommunikation im MOO mitzuwirken. Dies kommt einer erzwungenen Ausblen-
dung der Persona aus der Kommunikation gleich und führt zur faktischen
Löschung des betroffenen virtuellen Charakters.
Innerhalb kürzester Zeit schlossen sich über 50 Teilnehmer des MOO
dieser Forderung nach Löschung an. Jedoch gab es weder eine Norm, die
definierte, unter welchen Bedingungen das Toaden zulässig war, noch ein
ausformuliertes und akzeptiertes Verfahren der Sanktionierung. Die Wi-
zards von LambdaMOO hatten sich nach dem Ende der technokratischen
Gründungsphase nur noch als technische Dienstleister, nicht als soziale
Regulationsinstanzen betrachtet und ihr Vertrauen in die Selbstregulations-
fähigkeiten von Prozessen der ad hoc Konfliktbewältigung gesetzt. Die
Teilnehmer im MOO hatten ihrerseits darauf vertraut, dass zumindest der
Anschein der Zivilisiertheit im sozialen Umgang bewahrt werde, wie etwa
legba zu Protokoll gab: »Mostly, I trust people to conduct themselves with
some veneer of civility« (zitiert nach Dibbel, 1 993 : Online).
Ein derart weitgehender Eingriff eines Wizards in die virtuelle Existenz
eines Teilnehmers, musste deshalb als Akt der willkürlichen Ausübung
technischer Kontrollmacht erscheinen. Die Anwendung von Macht anstatt
einer konsensuellen Beilegung des Konflikts symbolisierte zudem das Versagen des Basisvertrauens der Gemeinschaft.
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Vor dieser Konsequenz schreckten die Gemeinschaftsmitglieder zu-
rück. Es kam daher keine Einigung über das weitere Vorgehen von Seiten
der versammelten MOO-Teilnehmer zu Stande. Die Entscheidung über das
Toaden von Mr. Bungle blieb im Dissens der Meinungen über die Sankti-
on, die Art des Vorgehens, seine Legitimität, den Status einer virtuellen
Existenz und ihrer Verhaltensfreiheit stecken.
Am Ende handelte ein Operator im Alleingang, und behob die ,Kom-
munikationsstörung‘, indem er Mr. Bungle aus dem MOO entfernte. Such-
te man nun mit dem <@who> Kommando nach einer Persona mit Namen
Mr. Bungle, so konnte man nur noch lesen: »,Mr. Bungle, ‘ it would have
said, is not the name of any player.« (O.c. : Online).
Dieser Fall von Machtausübung irritierte die Gemeinschaft allerdings
weit stärker, als Mr. Bungles Attacke. In den folgenden drei Jahren kam es
zu vehementen Auseinandersetzungen um die Institutionalisierung von Ab-
stimmungsverfahren, normativen Grundlagen, die Kontrolle von Operato-
renmacht und um Verfahren der Sanktionierung. Dibbel hat diese Ausein-
andersetzungen als Startpunkt für das Entstehen einer Gemeinschaft aus
einer Datenbank betrachtet. Anschließende Forschungen zur ,Gesetzge-
bung‘ des LambdaMOO (Mnookin, 1 99 6) zum Umgang mit abweichendem Verhalten im Cyberspace ( Stivale, 1 99 6a) und schließlich zur Frag-
mentierung von Gemeinschaft aufgrund der Identitätsprobleme ihrer Mit-
glieder (Kolko, Reid, 1 99 8 ) interpretierten den Sachverhalt demhingegen
als Hinweis auf die Auflösung einer virtuellen Gemeinschaft.
LambdaMOO existiert als virtuelle Gemeinschaft jedoch noch heute.
4
Im Unterschied zu anderen virtuellen Gemeinschaften, die, wenn nicht am
Desinteresse, dann am Misstrauen, misslungenen Mediationsversuchen bei
Konflikten und dem Einsatz von Machtmitteln scheiterten (vgl. Reid- Stee-
re, 2003 : 267ff.), ist es hier gelungen, die Gemeinschaft auf veränderter
2
Grundlage zu erhalten. Zu beobachten ist nicht die Auflösung einer virtuellen Gemeinschaft, sondern deren Transformation von einer ungeregelten,
nur technisch kontrollierten, in eine basisdemokratisch strukturierte Ge-
meinschaft, in der Mitglieder den Einsatz technischer Machtmittel durch
Abstimmungsverfahren kontrollieren.
4
LambdaMOO ist nicht über das WWW, sondern via Telnet, einen textorientierten Dienst des
Internet, zu erreichen: telnet://lambda.moo.mud.org: 8 8 8 8/ Zur Einführung existiert aber
auch eine Web - Site: http://www.gotham- city.net/lambdamoo/
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Die Praxis der Umsetzung dieser Strukturierungsbemühungen zeigt al-
lerdings anhand vieler gescheiterter Abstimmungsverfahren, ihrer latenten
Konfliktträchtigkeit sowie den Möglichkeiten der Mitglieder zur Fluktuation und Umgehung von Sanktionen, dass sowohl Autorität als auch Lega-
lität im Cyberspace unsichere Ordnungsgrößen bleiben. Das bedeutet aber
gleichfalls, dass der Einsatz anderer Ordnungsmechanismen Vertrauen
auch in einer virtuellen Gemeinschaft mit organisierten Regulationsverfah-
ren nicht obsolet macht. Ganz im Gegenteil scheint es weiterhin die Unsicherheiten virtualisierter Gemeinschaftsbildung auf eine Weise zu über-
brücken, die Macht, Normen oder Kontrollen nicht leisten können, ohne
dass Misstrauen, d.h. , eine Negativierung der offenen Horizonte des Cyberspace droht.
Die Reihe der Beispiele ließe sich fortsetzen und auf virtuelle Gemein-
schaften ausdehnen, die sich aufgrund anderer technischer Realisierungen
der computermedialen Kommunikation im Internet konstituieren ( siehe
mit weiteren Verweisen z.B. Joinson, Dietz-Uhler, 200 1 : Online). Hier wä-
ren etwa die synchronen , Schwatzbuden‘ der Chats, die auf zwanglose thematische Kommunikation und weniger auf das Erschaffen komplexer virtueller Welten abzielen zu nennen, weiter die synchronen Online- Spielwelten,
deren Clans oder Gilden Spielmissionen erfüllen müssen, die virtuellen Ar-
beitsgruppen, die synchron und asynchron an Projekten arbeiten oder die
Themengemeinschaften asynchron kommunizierender NewsGroups, die
entlang einer toponymischen Ordnung thematischer Plattformen zueinander finden.
Abgesehen davon, dass hier in den letzten Jahren technische und sozia-
le Konvergenzen der Kommunikationsformen zu beobachten sind, wonach
sich bspw. Chats in MUD ähnlichen Szenarien entfalten, deren Mitglieder
obendrein zu spielerischen Wettbewerben animiert werden und in deren
Umfeld eigene Internetseiten, Weblogs oder NewsGroups existieren, lassen
5
die vorgestellten Beispiele bereits eine grundlegende Hypothese zum Ver-
trauen in virtuellen Gemeinschaften zu. Sie lautet:
5
Virtuelle Gemeinschaften
Besonders kommerzielle Web - Chats sind in den letzten Jahren zu virtuellen Erfah-
rungswelten ausgebaut worden, die neben dem Chat, Objektmanipulation, Wettbewerbe,
virtuelles Eigentum, aber auch Newsboard ähnliche Suchfunktionen bieten. Als zwei Bei-
spiele lassen sich etwa die auf Web - Chats basierenden Community-Plattformen von
»There« (vgl.
Spohn, 2003 : Online), » second life« (http : / / secondlife . com/ about/
possibilities.php) oder »Palace« (http://www.thepalace.com) anführen.
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sind vertrauenskritische Gemeinschaften.
Und weiter:
Angesich ts ihrer virtua-
lisierten Kommunikationsbedingungen ist Vertrauen ein nicht vollständig er-
setzbarer, zugleich aber auch besonders enttäuschungsanfälliger Mechanis-
mus, um soziale Ordnung zu erzeugen und zu stabilidsieren.
Die Beispiele für vertrauenskritische Konstellationen durch Täuschung
oder Missbrauch, wie für die unstrukturierte Gemeinschaft rund um ein
Weblog und für die strukturierte Gemeinschaft des LambdaMOO vorge-
stellt, zeigen weiterhin, dass Vertrauen selbst in unterschiedlichen Ausprä-
gungen in virtuellen Gemeinschaften auftritt. Die Erscheinungsformen von
Vertrauen und seine Leistungen scheinen hierbei von den Unsicher-
heitsproblemen der Gemeinschaften und dem Set an alternativen Problemlösungen abzuhängen. Somit ist eine zweite Hypothese zu formulieren:
Ver-
trauen entfaltet sich in virtuellen Gemeinschaften unter spezifischem Pro-
blembezug, erfährt dabei aber selbst konstitutive Veränderungen.
Wenn Vertrauen eine solch ,tragende Rolle‘ für die Produktion und Reproduktion der sozialen Ordnung einer virtuellen Gemeinschaft zukommt,
sollte man davon ausgehen, dass es bei der soziologischen Beobachtung
von Vergesellschaftung im Cyberspace als prominenter Beobachtungsge-
genstand behandelt wird. Davon kann jedoch, zumindest was die Fragestel-
lung der Integration virtueller Gemeinschaften anbelangt, nicht die Rede
sein.
Zwar ist Vertrauen im Zusammenhang mit dem Internet rein quantita-
tiv durchaus ein Thema.
6
Dennoch fällt für die Soziologie hierzu eine
sowohl empirische, als auch theoretische Abstinenz auf. Bezüglich der Bil-
dung, Stabilisierung und Auflösung virtueller Gemeinschaften ist es sozio-
logisch vornehmlich bei Verweisen auf die Bedeutung von Vertrauen
geblieben, wobei dessen Erforschung eher als Marginalie behandelt wird.
7
Es hat den Anschein, als werde entweder unterstellt, Vertrauen sei im In-
ternet aufgrund der computermedialen Kommunikationssituation nicht
6
Sogar ein großes Thema, die Abfrage der Begriffskombination: Internet + Vertrauen in der
Suchmaschine »Google« ergibt nach eigener Recherche rein quantitativ 3 84.000 Verweise,
7
die Eingabe: »Internet + Trust« liefert sogar 8 . 500.000 thematische Hinweise.
Diesen Eindruck gewinnt man zumindest bei der Recherche in Standardwerken zur sozialen
Realität des Internets. Hier wird Vertrauen entweder überhaupt nicht im Register geführt,
nur mit wenigen Nennungen behandelt, begrifflich nicht von Äquivalenten unterschieden
oder mit Vertrauenssignalen sowie strukturellen Ergebnissen gleichgesetzt.
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oder nur höchst eingeschränkt zu entwickeln oder es existiere als fraglose
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und unkritische Grundierung, als ein ,Urvertrauen‘ jeglicher sozialer Kontakte eben auch im Internet.
Erst im Zuge der Ausweitung von Internet-Geschäftsbeziehungen und
der damit einhergehenden Virtualisierung von Kundenbeziehungen sowie
den daraus resultierenden Sicherheitsproblemen hat Vertrauen im Internet
seit Mitte der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts als sozialwissenschaftliches
Thema Karriere gemacht (vgl. Hoffmann et al. , 1 999 ; Kollock, 1 999b).
Das heißt aber auch, als soziologisches Problem ist Vertrauen im Internet
scheinbar nur dort identifizierbar, wo es um die Sicherheit bei der
Übermittlung persönlicher Daten und − damit eng verbunden − um die
Unsicherheit bei der Kalkulation von Transaktionskosten für Akteure geht,
die im Internet Dienstleistungen des sog. eCommerce (Electronic Com-
merce) anbieten oder nachfragen.
Im Zusammenhang dieser ökonomisch grundierten Fragestellung nach
der Transaktionsrelevanz von Vertrauen, scheint sich die Tendenz abzu-
zeichnen, Vertrauen im Rahmen virtueller sozialer Beziehungen aufgrund
von Annahmen eines intentional handelnden Akteurs, der seinen Vertrau-
enseinsatz rational kalkuliert, theoretisch zu modellieren. Diese Annahme
einer individuellen, rationalen Vertrauenskalkulation wird dann zum Mo-
dell eines interpersonalen Austauschs erweitert, in dem die Agenten des
Vertrauens wechselseitig ihre Züge in einem Vertrauensspiel nach Kosten-
und Nutzenerwägungen kalkulieren. Vertrauen scheint hierbei mit Kooperation gleichgesetzt zu werden.
Dies gilt ähnlich für die Analyse der Bedeutung von Vertrauen für vir-
tuelle Gemeinschaften. Reziproke Vertrauensverhältnisse sollen dazu beitragen, die ,Opportunitätskosten‘ virtueller Gemeinschaftsbildung zu sen-
ken, die darin bestehen, dass die Teilnehmer ohne Gegenleistungen an den
öffentlichen Gütern (informationelle Ressourcen, Kooperation, emotionale
Unterstützung etc. ) der Gemeinschaft partizipieren können, genau dadurch
aber die Motivation zur Produktion dieser Güter verloren geht (vgl. Kol-
lock, 1 999b: 220ff. ).
8
Ähnlich argumentieren auch soziologische Arbeiten zu virtuellen Gemeinschaften. Unter explizitem oder implizitem Bezug auf die wahrnehmungsreduzierte, computermediale Kom-
munikation wird festgestellt, im Internet wären keine Interpersonalität und Nähe gegeben
(vgl. z.B. Wehner, 1 997: 144ff. ), daher auch keine Gemeinschaftsbildung möglich, allen-
falls Pseudogemeinschaften (vgl. z.B. Lockard, 1 997: 225 ) oder lockere Netzwerke (vgl.
z.B. London, 1 997 Online).
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Nun kann man in Frage stellen, ob sich virtuelle Gemeinschaften gene-
rell als ökonomische Transaktionsgemeinschaften oder gar als Geschenk-
ökonomien beschreiben lassen, die sich aufgrund des Vertrauens in erwi-
derte Vorleistungen reproduzieren. Über den engeren Horizont von virtuel-
len Arbeits- und Tauschgemeinschaften oder elektronischen Handelsplatt-
formen hinaus sind durchaus egoistische, destruktive oder gar altruistische
Partizipationen denkbar, die nicht von Reziprozität abhängen. Alexandra
Samuel (200 1 : Online) weist zudem darauf hin, dass bereits die Kommuni-
kationssituation des Internets, bei der individuelle Aktionen potenziell von
einem globalen Publikum registriert werden, nicht nur die Dilemmata der
Opportunität überbrückt, sondern einzelne Beteiligungen zu kollektiven
Aktionen vergrößert und so einen nicht unbeträchtlichen Partizipationsanreiz darstellt.
Abgesehen von der Kritik an der Verengung des Vertrauens auf ein in-
terpersonales Reziprozitätsverhältnis ist aber auch die Konzeption des rationalisierten Vertrauens selbst problematisch. So fällt die hohe Informati-
onsabhängigkeit eines rational kalkulierten Vertrauens auf und das heißt
zugleich, der hohe Zeitbedarf, den eine Erhebung dieser Informationen
und deren sorgfältige Abwägung mit sich bringen. Erinnert man sich an
das nach wie vor aktuelle Diktum Georg Simmels, wonach Vertrauen ein
»mittlerer Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen« ( 1 992: 393) sei, erscheint es unwahrscheinlich, dass Vertrauen auf wohlkalkulierten Informa-
tionen basiert oder sich überhaupt in Situationen entwickeln würde, in
denen ausreichendes Wissen über den wahrscheinlichen Verlauf der Zu-
kunft gebildet werden könnte.
Auch nachfolgende Autoren verweisen auf die Typik des Vertrauens,
die darin liegt, dass es dort entsteht, wo Anhaltspunkte auf einen positiven
Verlauf zukünftiger Entwicklungen schließen lassen, aber keine Informatio-
nen vorliegen, die eindeutige Vorausberechnungen zulassen. So halten Le-
wis und Weigert fest: »Trust begins where prediction ends« ( 1 9 85 : 976) und
Preisendörfer betont in seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem entscheidungstheoretischen Modell des rationalen Akteurs, dass gerade die In-
formationserhebung zur Abschätzung von Vertrauenswürdigkeit: »(. . .) das
Zustandekommen einer Vertrauensbeziehung eher behindern als fördern. «
( 1 995 : 269 ) dürfte.
Ein derart rationalisiertes Vertrauen fällt im Kontext der für soziale Be-
ziehungen wichtigen Symbolisierung und Wahrnehmung von Vertrauen
demzufolge durch eine Überbetonung des sozialen Kontrollaspekts auf. Ein
solches kontrolliertes und kontrollierendes Vertrauen läuft jedoch zum eiUdo Thiedeke, Trust, but test!
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nen Gefahr, statt eines vertrauensvollen Sicheinlassens ein misstrauisches
Abschätzen und damit einen sozialen Vorbehalt zu signalisieren. Anderer-
seits ist unter Berücksichtigung des Kontrollaspekts unklar, welche Vorzüge
Vertrauen dann gegenüber Strukturierungsmechanismen wie Planung oder
der Strukturierung durch Normen und Macht mit den Möglichkeiten einer
weit eindeutigeren Kontrolle von Handlungssituationen, besonders bei der
Integration von Gemeinschaften haben sollte. Warum sollte man es z.B. ge-
rade in virtuellen Gemeinschaften entwickeln, in denen es besonders
schwierig zu sein scheint, die virtualisierten Akteure persönlich einzuschät-
zen und Informationen über ihre wirklichen Intentionen einzuholen?
Wenn Vertrauen primär als Sicherheitsproblem der Internetkommuni-
kation begriffen wird, stellt sich schließlich die Frage, warum vor allem
technische Lösungen von Sicherheitsproblemen vertrauensbildend wirken
sollten? Wird Vertrauen durch sichere technische Mechanismen nicht ent-
behrlich? Zumindest scheinen auch bei den einfach strukturierten, zumeist
bilateralen geschäftlichen Austauschbeziehungen nicht nur die Probleme
der sicheren Übermittlung von Kreditkartennummern vertrauensrelevant
zu sein, sondern z.B. auch Probleme der angemessenen Bearbeitung des
Auftrags, der Erbringung der Leistung, der Qualitätskontrolle, Kundenzu-
friedenheit etc., die ebenfalls von der Virtualisierung betroffen sind. Und es
ist zu erwarten, dass sich die Vertrauensproblematik bei immersiven multi-
lateralen virtuellen Gemeinschaften dann noch weit vielschichtiger darstellt, um sie nur auf Sicherheitsaspekte reduzieren zu können.
Wie aber soll Vertrauen theoretisch modelliert werden, sodass eine so-
ziologische Beobachtung des Vertrauens in virtuellen Gemeinschaften
nicht nur einzelfallspezifische, sondern allgemeine Erkenntnisse erwarten
lässt? Dazu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass es nicht das Ziel dieser
Studie ist, die Entwicklung von Vertrauensmodellen und ihrer erkenntnis-
theoretischen Wurzeln nachzuzeichnen oder verschiedene Modelle auf ihre
analytische Leistungsfähigkeit hin zu vergleichen. Die Entscheidung für ei-
ne theoretische Modellierung erfolgt problembezogen. Das meint, sie er-
folgt unter Bezug auf die besonderen Probleme, die sich aus einer Verge-
meinschaftung unter den Bedingungen computermedialer Virtualisierung
sozialer Kontakte ergeben.
Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt die über die Internet-For-
schung hinausgehenden Vorschläge zur Beobachtung und Beschreibung der
sozialen Realität des Vertrauens, so fällt zunächst auf, dass das Vertrau-
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ensthema in der letzten Dekade in den Vordergrund wissenschaftlicher Be-
obachtung gerückt ist. Dieser Sachverhalt wird u.a. mit einer zunehmenden
Komplexität der Lebenswirklichkeit begründet und in Schlagworten wie
Modernisierung, Individualisierung oder Globalisierung diskutiert. Als Fol-
ge wird eine schwindende Verlässlichkeit traditionellen Orientierungswis-
sens, aber auch ein Nachlassen normativer Bindungen und solidarischen
Handelns bei gleichzeitig wachsenden individuellen Entscheidungslasten
diagnostiziert, was eine Umorientierung auf den ,weichen‘ Entscheidungs-
faktor Vertrauen begünstigen soll (siehe z.B. Misztal, 1 99 8 : 3).
2
Es fällt darüber hinaus auf, dass sich seit der Diagnose von Lynn Zuk-
ker in den 1 9 80er Jahren, wonach die vielen Vertrauensdefinitionen wenig
mehr gemein hätten, als die Einsicht, Vertrauen sei informal ( 1 9 86 : 5 6 ), an
der Uneinheitlichkeit der Vertrauensansätze nichts wesentlich geändert hat.
Sie scheint sogar weiter zuzunehmen (siehe zur Kritik auch Hosmer,
1 995 ). Als eine verbindende Gemeinsamkeit für die Mehrzahl der Ansätze
ist vielleicht festzuhalten, dass Vertrauen intentionalistisch und akteurszen-
triert gedacht wird. Vertrauen ist hierbei an die Handlungsabsichten eines
Akteurs gebunden und entfaltet sich abhängig von seinen kulturellen Vorprägungen, seinem individuellen Wissen und situativen Variablen in der sozialen Dimension als wechselseitige, interpersonale Vertrauensbeziehung.
Eine solche Sichtweise wirft jedoch mehrere Probleme auf. Abgesehen
von methodischen Schwierigkeiten, soziale Vertrauenskonstellationen auf
individuelle Absichten zurückführen zu müssen, die auch noch situativ variieren, was die Gefahr ausufernder Vertrauenstypologien heraufbeschwört,
sind die Handlungs- bzw. Vertrauensabsichten der Akteure soziologisch
nur schwer zugänglich, wenn sie nicht geäußert werden. Eine explizite Re-
flexion von Vertrauensabsichten erscheint bereits auf der Basis alltäglicher
Erfahrungen zwar möglich, aber nicht unproblematisch, da allzu leicht
Wahrnehmungen eines gefährdeten Vertrauens oder der Berechnung auf-
kommen. Die Unterstellung impliziter Vertrauensabsichten im Sinne eines
fungierenden Vertrauens (vgl. zum Begriff Endreß, 2002: 6 8ff.) lässt Ver-
trauen jedoch im Hintergrund eines individuellen Handlungsbewusstseins
verschwinden, aus dem heraus es in der Art einer Vertrauenseinstellung
wirkt. Um dieses individuelle Vertrauen wieder auf die ,soziale Bühne‘
zurückzuholen, muss es dann als reziproke, interpersonale Handlungsperspektive zwischen vertrauenden Akteuren konzipiert werden.
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Die Eingangsbeispiele zeigen demhingegen, dass nicht nur einzelne Ak-
teure vertrauen können, sondern auch Kollektive, wobei diese realistischer-
weise nicht als ,kollektive Akteure‘ mit homogenen Handlungsabsichten zu
verstehen sind. Sie zeigen weiter, dass eine soziale Vertrauenssituation auch
von einseitigem Vertrauen bestimmt sein kann. Vertrauensvolles Handeln
präformiert dann in einer unsicheren Handlungssituation bei geringen Hin-
tergrundinformationen enge Interaktionen, legt sie jedenfalls näher, als ab-
wartendes oder kontrollierendes Verhalten, wobei die andere Seite sich am
vertrauensvollen Handeln orientiert, obwohl sie gar keine Vertrauensabsichten hegt.
Die Festlegung auf ein intentionalistisches und interpersonales Vertrau-
enskonzept schränkt schließlich die Vertrauensperspektive auf Vertrauen
zwischen Personen ein. Die Handlungssituation der Moderne, die wie oben
angeführt die Vorbedingungen für eine verstärkte Beachtung von Vertrauen
erzeugen soll, ist aber durch komplexe Handlungskonstellationen charakte-
risiert. Handelnde Personen sind nicht immer eindeutig zu identifizieren,
stehen nur in vermittelten Beziehungen miteinander oder das Operieren
überindividueller Institutionen sowie technischer Systeme definiert die
Handlungs- und Orientierungsbedingungen (Giddens, 1 995 ). Hier kann
2
nicht immer unmittelbar in Personen vertraut werden. Dies trifft gerade
dann zu, wenn die sozialen Kontakte medial vermittelt werden. So agieren
virtualisierte Akteure zwar unmittelbar, etwa in den beschriebenen MUDs
oder MOOs, sind dabei aber mittelbare, konstruierte Akteure (Personae),
die extern gesteuert werden und das, wie wir gesehen haben, nicht immer
im Sinne des Erfinders.
Zur Beobachtung des Vertrauens in virtuellen Gemeinschaften soll da-
her ein theoretisches Konzept herangezogen werden, das Vertrauen nicht
auf ein Vertrauensverhältnis zwischen Personen einschränkt, sondern
als ei-
nen Mechanismus sozialer Ordnungsbildung auffasst, der unter komplexen
Bedingungen spezifische Orientierungsmöglichkeiten des Handelns entfaltet,
Vertrauen ist mithin nicht aus
die soziale Ordnung wahrscheinlich machen.
seinen
, sondern aus seiner
für die soziale OrdnungsbilAbsichten
Funktion
dung erklärbar und anhand seiner Entstehungsbedingungen und Ergebnisse
zu beobachten. Damit wird auch die Perspektive des Vertrauens von koordinierten Intentionen auf sozial vermittelte Erwartungen, d.h., von
auf
Konsens
umgestellt.
Konditionierung
Ein solches Modell, das Vertrauen systemtheoretisch als Reduktions-
mechanismus sozialer Komplexität begreift, wurde von Niklas Luhmann
( 1 9 89 ) ausgearbeitet. Vertrauen ist demnach ein Auswahlmechanismus soUdo Thiedeke, Trust, but test!
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zialen Sinns, der unter unsicheren Orientierungsbedingungen Anhaltspunk-
te für positive Zukunftserwartungen überbetont, riskante Alternativen aus-
blendet und auf diese Weise Anschlussmöglichkeiten für weitere Kommunikationen und Handlungen gewinnt. Vertrauen reduziert Unsicherheit, in-
dem es Vertrauenserwartungen als riskante Vorleistungen signalisiert. Und
es trägt so zum Aufbau sozialer Ordnung bei, weil es die Bildung von Er-
wartungsstrukturen ermöglicht, die angesichts der Risiken und alternativen
Entwicklungsmöglichkeiten eigentlich unwahrscheinlich erscheinen.
Geleitet ist diese Beobachtung, die sich bei Luhmann an den Problem-
lösungskapazitäten des Vertrauens orientiert, von einem negentropischen
Verständnis sozialer Systembildung. Das meint, Systembildung ist ständig
von Entropie bedroht, die aus der Komplexität der Systemumwelt, z.B. den
vielfältigen Verhaltensalternativen von Personen, abweichenden Meinungen, nicht gleichzeitig realisierbarer Entwicklungsoptionen oder intranspa-
renten Handlungsfolgen resultiert. Das Entstehen und Fortbestehen sozial-
er Systeme erscheint daher als unwahrscheinlich. Dennoch wurde dieses
Komplexitätsproblem in der Vergangenheit so gelöst, dass soziale Systeme
sich gegen den Sog der Entropie behaupten konnten und können. Sie ha-
ben dabei Mechanismen des Selbsterhalts entwickelt, die ihre selektive Abgrenzung zur komplexen Umwelt sowie ihre Reproduktion ermöglichen.
Um soziale Ordnungsbildung unter komplexen Bedingungen erklären zu
können, sind funktionalen Mechanismen − wie bspw. Vertrauen − und ihre
Funktionsergebnisse für die soziale Ordnungsbildung zu beobachten. Die-
ser
Ansatz des Vertrauens ermöglicht somit eifunktionalstrukturalistische
ne problembezogene,
funktionale Analyse.
Für eine systemtheoretische Interpretation von Vertrauen in virtuellen
Gemeinschaften spricht aber nicht nur der funktionalstrukturalistische Be-
zug auf das Komplexitätsproblem, der die besondere Komplexitätslage die-
ser Gemeinschaften in den Blick bringt, sondern auch, dass soziale Syste-
me als Kommunikationssysteme verstanden werden.
Angesichts alltagsweltlicher Erfahrungen mit sozialen Kontakten zu
körperlich präsenten Menschen hat die theoretische Entscheidung soziale
Systeme als selbstreferente Kommunikationszusammenhänge zu betrachten
und Menschen, bzw. Individuen als psychische Systeme in deren Umwelt
anzusiedeln, für erhebliche Irritationen gesorgt (siehe zur Diskussion z.B.
Haferkamp, Schmid, 1 9 87). In Bezug auf virtuelle soziale Systeme, die sich
computermedial reproduzieren, erscheint jedoch gar keine andere Interpre-
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tation möglich. Die Welten des Cyberspace sind informationeller Code
und ihre Realität ist eine Realität der Kommunikation, wie anhand der
Wirklichkeits
der MUDs und MOOs aber auch der kommubeschreibungen
nikativen Begegnungen in Chats oder NewsGroups deutlich wird.
Die soziologische Beobachtung sozialer Online-Phänomene hat die
Konsequenz dieses Faktums in der Vergangenheit allerdings kaum realisiert. Die Konsequenz lautet, dass mit dem Entstehen der computergestütz-
ten und vernetzten
, die nach den Indivikybernetische In teraktionsmedien
dualmedien (Sprache, Schrift) und den Massenmedien (Druck, elektroni-
sche Verbreitungsmedien) entstanden sind, nicht mehr nur die Operation
sozialer Systeme
diesen Medien möglich ist, um auf dieser Grundlage
mit
Systeme zu bilden, die nicht mehr von persönlichen Begegnungen abhängig
sind. Stattdessen ist jetzt die Bildung sozialer Systeme
sog. virtuellen
im
Raum des Cyberspace, wie er u.a. mit dem Internet entstanden ist, möglich
geworden.
Diese Realitätserweiterung durch mediale Virtualisierung ist nicht mit
den Fiktionen der Literatur, des Theaters oder Films gleichzusetzen. Hier
handelt es sich nicht um zeitweilige Imaginationen, die wir nur erleben
können, sondern um eine eigene soziale Realität an der man in virtualisier-
ter Form handelnd partizipiert und sich den dort herrschenden Eigenge-
setzlichkeiten unterwirft. Neben den bisherigen Erfahrungsbereichen exi-
stiert eine eigene Realität, die auch dann weiter existiert und ihr Gesicht
verändert, wenn wir gerade nicht in ihr agieren. Sie weist eine Emergenz ei-
gener sozialer Ordnungen auf, die sich selbstkonstitutiv und nicht abhängig
von Regieanweisungen oder , special effects‘ entfaltet.
Die Soziologie hat sich auf diesen Sachverhalt einer eigenen virtuellen
Realität der Vergesellschaftung noch nicht angemessen eingestellt, was un-
ter anderem daran deutlich wird, dass sie bei der Beobachtung des Cyberspace immer noch mit Gegensatzpaaren wie
oder
real/virtuell
natüroperiert oder virtuelle Sozialformen mit realweltlichen vergli-
lich/künstlich
chen werden (vgl. zur Diskussion Thiedeke, 2004). Medienökologische
Sichtweisen, die den Eigenwert sozialer Sachverhalte in einer besonderen
Medienumwelt berücksichtigen, wie sie in den letzten Jahren vor allem in
der Sozialpsychologie entwickelt wurden (Diskussion der Ansätze bei Dö-
ring, 2003 : 1 29f.; 553f. ), sind in der Soziologie bislang auf keine große Re2
sonanz gestoßen.
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Eine in der oben skizzierten Weise fundierte systemtheoretische Beob-
achtung des Vertrauens in virtuellen Gemeinschaften ermöglicht es hinge-
gen, sowohl den Problembezug auf eine virtualisierte Kommunikationsum-
welt, als auch die soziale Systembildung eines virtualisierten Kommunikationssystems in den Blick zu nehmen.
Im Folgenden soll daher nicht untersucht werden, was Vertrauen ist,
sondern wie es seine Reduktionsfunktion unter virtualisierten Kommunika-
tionsbedingungen entfaltet, auf welche selektiven Anhaltspunkte der Vertrauenswürdigkeit es sich bezieht und in welcher spezifischen Weise es dabei die virtuelle Gemeinschaftsbildung unterstützt.
In diesem Zusammenhang wird kein Punkt zu Punkt Vergleich
zwischen aktuellen Gemeinschaften mit physikalischen Grundlagen auf der
einen, und virtuellen Gemeinschaften mit informationellen Grundlagen,
auf der anderen Seite durchgeführt. Virtuelle Gemeinschaften lassen sich
nicht als kausale Weiterentwicklung oder gar als Ersatz für aktuelle Ge-
meinschaften begreifen. Es handelt sich um eine andere Form der Systemdifferenzierung, die auf eine spezifische Umwelt bezogen ist. Virtuelle Ge-
meinschaften sind von aktuellen Gemeinschaften zu unterscheiden, nicht
mit diesen zu vergleichen.
Gemeinschaften bilden sich in der Umwelt des Cyberspace,
Virtuelle
wie ihn z.B. das Internet produziert und reproduziert. Sie existieren nur
dort, nicht teilweise im aktuellen und im virtuellen Raum. Hier müssen
operable Lösungen für die Probleme des Systemerhalts und der Systemdif-
ferenzierung entwickelt werden. Das erklärt die Eigenart der Systembildung
im Cyberspace, aber auch, warum etwa aktuelle und virtuelle Gemeinschaf-
ten weiterhin parallel existieren.
Mit Bezug auf das Vertrauensproblem wird daher nicht untersucht, ob
aktuelle und virtuelle Gemeinschaften mit ihren Vertrauensmechanismen
korrespondieren oder danach gefragt, welche Eigenschaften ,realweltlicher‘
Gemeinschaften bei der Gründung oder Entwicklung virtueller Gemeinschaften ,nützlich‘ sein könnten. Es wird bspw. nicht beobachtet, ob Fa-
ce-to-face-Begegnungen das Vertrauen herstellen, das es möglich macht,
sich auf eine Mitgliedschaft in einer virtuellen Gemeinschaft einzulassen
oder ob rechtliche Würdigungen ,In Real Life‘ (IRL) das Vertrauen in die
Operationsweise von Sicherheitssoftware ,In Virtual Reality‘ (IVR) stärken
etc.
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Methodisch ist die Untersuchung des Vertrauensmechanismus in virtu-
ellen Gemeinschaften wie angeführt als funktionale Analyse angelegt. Das
heißt, ausgehend von der Identifikation von Bezugsproblemen, werden
funktionale Mechanismen in ihren Problemlösungskapazitäten und Folge-
probleme analysiert. Der Plural legt es bereits nahe, dass Vertrauen hierbei
nicht der einzig denkbare Mechanismus ist, der die soziale Ordnungsbildung virtueller Gemeinschaften unterstützt. Es gibt auch hier alternative
Mechanismen, die als
wirken. Obwohl der Schwerfunktionale Äquivalente
punkt der Beobachtung auf dem Vertrauensmechanismus liegt, soll dieser
daher zumindest exemplarisch von zwei weiteren Mechanismen − Misstrauen und Macht − unterschieden werden.
Die äquivalenz-funktionale Analyse erfolgt theoriegeleitet, bezieht sich
aber dort punktuell auf Ergebnisse der empirischen Forschung zu sozialen
Phänomenen im Internet, wo diese theoretisch identifizierte Problemkonstellationen oder Entwicklungstendenzen durch Erfahrungen mit der virtu-
ellen Kommunikationspraxis konkretisieren. Den empirischen Ergebnisse
kommt im Rahmen der empirisch informierten theoretischen Analyse
demzufolge anekdotische Evidenz zu.
Eine systematische Reinterpretation soziologischer empirischer For-
schungen zum Internet wird auch deshalb nicht unternommen, weil es bis-
lang weder das Forschungsfeld einer Soziologie des Internet oder Cyberspace, noch eine methodisch strukturierte und systematisch betriebene so-
ziologische Empirie des Internets gibt. Abgesehen von empirischen ,Hot
Spots‘ zu auffälligen Beispielfällen (etwa zu Identitätstäuschungen, virtuel-
ler Gesetzgebung, Sanktionspraxis in virtuellen Gemeinschaften oder dem
virtuellen Geschlechtswechsel), ist erst in jüngster Zeit eine systematischere
empirische Forschung zum Problem der Kooperation und Netzwerkbildung
(vor allem in virtuellen Arbeitsteams) oder zur Reputation (hier im Zusam-
menhang mit dem Vertrauen in virtuellen Marktgemeinschaften) auf Basis
der oben geschilderten Annahmen rationaler virtueller Akteure, nicht aber
zum funktionalen Mechanismus des Vertrauens in virtuellen Gemeinschaf-
ten festzustellen.
9
9
In jüngster Zeit ist zumindest das Bestreben zu beobachten, sozialwissenschaftliche Ansätze
zur Erforschung des Vertrauens im Netz systematisch aufeinander zu beziehen, theore-
tisch zu vereinheitlichen und eine reflexive Empirie zu entwickeln. Siehe hierzu etwa die
auf der Konferenz: »Trust and Community on the Internet. Possibilities and Restrictions
for Cooperation on the Internet« (Baurmann, et al. , 2003 : Online) benannten Desiderate.
Allerdings liegt auch hier, unter der theoretischen Perspektive interpersonalen Vertrauens,
der Fokus der Beobachtung auf Vertrauen als Kooperation.
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Das Programm der nachfolgenden Untersuchung bezieht sich demzu-
folge zunächst auf das Phänomen virtueller Gemeinschaftsbildung. Dabei
ist ein Begriff der virtuellen Gemeinschaft zu entwickeln, der die mediale
Umwelt mitberücksichtigt, in der diese Gemeinschaftsbildung möglich
wird. Gemeinschaftsbildung erfolgt selbstverständlich nicht nur in Referenz
auf eine mediale, sondern eine weit komplexere gesellschaftliche Umwelt,
in der z.B. sozialstrukturelle, kulturelle oder normative Faktoren die Bedin-
gungen der Möglichkeiten von Gemeinschaft prägen. Allerdings soll hier
soziale Ordnungsbildung unter der soziologisch zumeist vernachlässigten
Perspektive des Komplexitätsfaktors
beobachtet
medialer Kommunikation
werden, der für die globale, funktional differenzierte (Welt- )Gesellschaft inzwischen konstitutiv geworden ist. Im vorliegenden Fall werden also die
medialen Umweltbedingungen des Internets und Cyberspace schwerpunkt-
mäßig berücksichtigt. Und es ist in einem nächsten Schritt danach zu fra-
gen, welche Problemperspektive sich aus diesem Umweltbezug ergibt und
in welchen konkreten Konstitutionsfaktoren sie für die virtuelle Ge- meinschaftsbildung wirksam wird.
Durch diese problemgeleitete Perspektive wird virtuelle Gemeinschafts-
bildung von anderen Erscheinungsformen, wie Face-to-face- und imaginä-
ren Gemeinschaften unterscheidbar, die sich in eigenen medialen Umwel-
ten entwickelt haben. In diesem Zusammenhang ist weiter zu beobachten,
in welche gemeinschaftsspezifischen Inklusions-, bzw. Reproduktionspro-
bleme sich die komplexen Konstitutionsfaktoren virtueller Gemeinschaften
übersetzen und mit welchen Problemlösungen sie beantwortet werden. Der
Prozess dieser Problembearbeitung wird am Beispiel des Vertrauens beob-
achtet, um Erkenntnisse darüber zu gewinnen, in welcher Weise Vertrauen
als Reduktionsmechanismus zur selektiven Lösung der Komplexitätsproble-
me beiträgt und auf welche Weise es dabei selbst konditioniert wird. Zur
Verdeutlichung der spezifischen Problemlösungskapazität von Vertrauen in
virtuellen Gemeinschaften soll es, wie oben angedeutet, abschließend mit
zwei funktionalen Äquivalenten − Misstrauen und Macht − kontrastiert
werden.
Eine Zusammenfassung mit Ausblick auf vertrauenskritische Bedingun-
gen und vertrauensbildende Maßnahmen in virtuellen Gemeinschaften so-
wie die Evolution des Vertrauens unter den Bedingungen virtualisierter
Kommunikation, schließen die Untersuchung ab.
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