Zur Rolle der NATO in Lateinamerika Die Mitgliedschaft in

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Zur Rolle der NATO in Lateinamerika Die Mitgliedschaft in
Zur Rolle der NATO in Lateinamerika
Die Mitgliedschaft in der Nordatlantikpakt-Organisation NATO ist gemäß Artikel 10 des
Nordatlantik-Paktes auf Staaten Europas und Nordamerikas begrenzt. Auch der
Verteidigungsfall ist nach den Artikeln 5 und 6 des Vertrages nur bei Angriffen auf
Mitglieder nördlich des nördlichen Wendekreises der Sonne gegeben, d.h. nördlich von
Mexiko. Staaten Lateinamerikas können damit nicht Mitglied der NATO sein, und ein Krieg
beispielsweise um die Malvinas (Falkland-Inseln) würde wie auch 1982 nicht den Bündnisfall
auslösen. Dennoch hat sich das Einfluss- und Einsatzgebiet des Militärbündnisses spätestens
seit Verabschiedung des dritten Strategischen Konzeptes von 1999 mit out-of-area-Einsätzen
über die europäischen Territorien hinaus entwickelt. Geopolitische Einflussnahme der NATO
erfolgt potentiell auf dem ganzen Planeten. Die Sicherheitsstrategie der NATO von 2010
umfasst unter anderem das sogenannte Krisenmanagement und die „kooperative Sicherheit“,
die global zum Einsatz kommen. Damit liegt es nicht fern, den Blick auch auf Lateinamerika
zu richten und zu fragen, welche geostrategischen Interessen dort von NATO-Partnerstaaten
verfolgt werden.
Auf den ersten Blick erscheint Lateinamerika aus Perspektive des Nordens allein als
„Hinterhof“ der USA. Das hat US-Außenminister Kerry am 17. April 2013 bei einer
Anhörung des Foreign Affairs Committee noch einmal wörtlich bestätigt, auch wenn es ihm
darum ging, die Aufmerksamkeit der USA auf Lateinamerika zu erhöhen.1 Ein genauerer
Blick zeigt jedoch, dass noch andere Mitglieder dort ganz unmittelbare Interessen verfolgen.
Militärbasen werden in Lateinamerika von den USA, Großbritannien und Frankreich
unterhalten. Geopolitische Interessen verfolgen darüber hinaus aber auch die NATOMitglieder Niederlande als Staat mit karibischen Territorien, sowie Spanien und Deutschland
mit teils umfangreichen ökonomischen Interessen. Wir werden uns wegen des Gewichts auf
die USA konzentrieren, aber auch ein paar Punkte zu den Aktivitäten weiterer NATOMitglieder in Lateinamerika sagen.
In einem zweiten Schritt wollen wir anschließend die jüngere Souveränitäts- und
Bündnispolitik in Lateinamerika skizzieren.
I. Historische Vorläufer der Interventionspolitiken der USA in Lateinamerika
Die Intervention der USA in Lateinamerika beginnt bereits in der frühen ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts. Die USA verfolgten Politiken mit doppelter Zielsetzung: Erweiterung der
Territorien in Richtung Süden und Sicherung einer eigenen Einflusszone gegen europäische
Einmischung.
Der Versuch der politischen und ökonomischen Einflussnahme dauert bis heute an. Er beginnt
mit der Monroe-Doktrin von 1823, in welcher Lateinamerika als „Einflusssphäre“ deklariert
wurde. Ziel ist seitdem die Sicherung ökonomischer, aber auch weiterer geostrategischer
Interessen. Die politischen und ökonomischen Methoden der USA hierfür sind vielfältig. Sie
umfassen die Steuerung oder Beeinflussung panamerikanischer Institutionen mit Sitz in
Washington wie Organisation Amerikanischer Staaten samt Interamerikanischem
Menschenrechtssystem, Interamerikanischer Entwicklungsbank, im weiteren Sinn auch IWF
und Weltbank, ferner bi- und multilaterale Freihandelsabkommen und strategisch
ausgerichtete Entwicklungshilfe sowie schließlich militärische Einflussnahme. Die
1
Pravda, John Kerry, Secretary of State: "Latin America is our back yard", Artikel vom 23.4.2013,
http://english.pravda.ru/world/americas/23-04-2013/124377-latam_backyard-0/#, besucht am 25.4.2013; El
Ciudadano, John Kerry: América Latina es nuestro “patio trasero”, Artikel vom 23.4.2013,
http://www.elciudadano.cl/2013/04/19/66569/john-kerry-america-latina-es-nuestro-patio-trasero/, besucht am
25.4.2013.
militärischen Methoden reichen dabei von Militärinterventionen über die Installation von
Militärbasen sowie militärischem und ideologischem Training von Offizieren der Streitkräfte
lateinamerikanischer Staaten bis hin zur Planung und Durchführung oder logistischen
Unterstützung von Staatsstreichen. Mit einer gewissen Hellsichtigkeit schrieb Simón Bolívar
schon 1829 aus dem ecuatorianischen Guayaquil: „Die USA scheinen von der Vorsehung
dazu bestimmt zu sein, Amerika im Namen der Freiheit mit Elend zu überziehen.“2
Militärinterventionen
Die Zahl der nordamerikanischen Militärinterventionen ist lang. Ihre jüngere Geschichte
beginnt im Jahr 1898 mit dem spanisch-amerikanischen Krieg. Dieser stellt mit der Annexion
Puerto Ricos und der Unterwerfung Cubas als Protektorat die letzte militärische Erweiterung
des Territoriums der USA dar.
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts lassen sich insgesamt 46 militärische Interventionen der
USA in Lateinamerika und in der Karibik zählen. In den meisten Fällen beschränkten sich
diese auf die Entsendung bewaffneter Truppen sowie den Einsatz von Militärberatern.3 Zu
Kampfhandlungen unter US-Beteiligung kam es seit Gründung der NATO 1949 insbesondere
in Guatemala 1954, der Dominikanischen Republik 1965 und Panama 1989.
So weit, dass zum Schutz der ökonomischen und geostrategischen Interessen der bewaffnete
Einsatz eigener Soldaten und Waffen erforderlich wurde, ließen es die USA in aller Regel
also nicht kommen. Vielmehr dienten ein Cocktail aus Bedrohung und
Unterstützungsleistungen und die Abhängigkeit der Eliten von den USA dazu, die schmutzige
Arbeit von heimischen Militärs verrichten zu lassen. Auf die Qualität der Arbeit, um es
zynisch zu sagen, nahmen die USA über die Ausbildung der Offiziere Einfluss.
Eine Reihe von Maßnahmen ging und geht dabei Hand in Hand. Wichtigste strategische
Elemente sind (1) der Aufbau und die Aufrechterhaltung US-orientierter Import-ExportStrukturen, (2) die Unterfütterung der ökonomischen Strukturen durch Kontrolle
multilateraler Institutionen und Maßnahmen der sogenannten Entwicklungshilfe oder
Entwicklungszusammenarbeit durch die Organisationen mit Sitz in Washington, nämlich
USAID, Interamerikanische Entwicklungsbank, Weltbank und IWF, (3) die Kontrolle von
Eliten und vor allem nationalistischen Widerstandsbewegungen durch die CIA, (4) die
Ausbildung von Offizieren durch US-Ausbildungszentren wie die School of the Americas
samt militärtechnologischer Abhängigkeit der Truppen, sowie (5) schließlich die Einrichtung
von Militärbasen.
US-abhängige ökonomische Strukturen
Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben sich die ökonomischen Strukturen in Lateinamerika,
insbesondere in Mittelamerika und im Norden und Westen Südamerikas, immer stärker auf
ein Import-Export-Verhältnis mit den USA eingestellt. Bis in die 1950er Jahre bestand die
Struktur dabei im Kern etwas vereinfacht aus der Ausfuhr von landwirtschaftlichen Produkten
und Bodenschätzen gegen die Einfuhr von Konsumprodukten. Mit Einführung der
importsubstituierenden Investitionen verlagerte sich in Südamerika das Gewicht der
Einfuhren teilweise von Konsum- auf Ausrüstungsgüter; die Exportstruktur änderte sich nur
wenig. Das Kapital für die Investitionen kam dabei, mit Ausnahme Brasiliens, in erster Linie
2
Brief Simón Bolívars an Oberst Patrick Campbell vom
5. August 1829, abrufbar unter:
http://es.wikisource.org/wiki/Carta_al_Coronel_Patricio_Campbell besucht am 20.4.2013.
3
Eva Golinger, Una pequeña lista de intervenciones militares estadounidenses en América Latina, Artikel vom
8.3.2007, http://www.aporrea.org/tiburon/a31649.html, besucht am 23.4.2013.
ebenfalls aus dem Norden, d.h. vor allem den USA. Im Ergebnis führte die zaghafte
Industrialisierung zu hohen Zinszahlungen an Banken und zu Gewinntransfers zu den
Mutterkonzernen, beide im Norden. Die deutschen Interessen lassen sich beispielsweise an
Großinvestitionen von Volkswagen in Mexiko und Brasilien erkennen. Mit Beginn des
Neoliberalismus haben auch spanische Unternehmen, insbesondere Banken, Versicherungen
und Telekommunikationsunternehmen, den lateinamerikanischen Markt erobert. Die Gewinne
der Unternehmen werden dabei zumeist nicht national reinvestiert, sondern in den Norden
exportiert.4 Das Bild der einzelnen Staaten ist natürlich komplexer, aber an dieser Stelle muss
diese Kurzfassung aus Platz- und Zeitgründen reichen.
Bedeutung Internationaler Organisationen
Der Schutz der ökonomischen und geopolitischen Interessen der USA wurde nach dem 2.
Weltkrieg systematisch durch nationale und internationale Organisationen institutionell
verankert. 1948 wurde die Organisation Amerikanischer Staaten aufgebaut, mit Sitz in
Washington. Das Interamerikanische Menschenrechtssystem mit Kommission und
Gerichtshof sitzt in Washington. Die USA entsenden zwar RichterInnen, haben die
Menschenrechtsdokumente aber selbst nicht ratifiziert. Finanziell fördern sie gezielt die
Tätigkeitsbereiche, die der Aufrechterhaltung des status quo dienen. Das betrifft insbesondere
den Berichterstatter zum Schutz der Meinungs- und Pressefreiheit, die in Lateinamerika
ähnlich wie in Italien in wenigen Händen stark konzentriert ist. Kuba wurde aus der OAS
Anfang der 1960er Jahre ausgeschlossen, aber keine der rechten Diktaturen in den 1960er und
1970er Jahren.
Die staatliche Entwicklungshilfeorganisation USAID wurde unter Kennedy aufgebaut, um
nach Beginn der kubanischen Revolution mit etwas Zuckerbrot zu verhindern, dass andere
Staaten dem gleichen Weg folgen. Mit der Zeit wurde die USAID aber vor allem zur
finanziellen Förderung von politisch-ökonomischen Strukturreformen im Interesse der USA
genutzt. Die Interamerikanische Entwicklungsbank steuerte, unterstützt von der Weltbank,
das Kapital für Großinvestitionen bei, die eine weitere Ausrichtung der Wirtschaftsstrukturen
auf den Norden absicherten, z.B. durch Investitionen in die Erschließung von Regenwäldern
und anderen Großprojekten zum Abbau von Rohstoffen, beispielsweise die großen
Wasserkraftwerke in Venezuela zur Herstellung von Aluminium, Eisen und Stahl, deren
Endverarbeitung dann in den USA erfolgte.5
Kontrolle durch die CIA
Die ökonomischen Strukturen verfestigten und vertieften notwendig eine immer stärker
wachsende gesellschaftliche Spaltung zwischen arm und reich mit einer recht kleinen
Mittelschicht. Für die Masse der Menschen bot der Arbeitsmarkt nicht mehr als
Subsistenzwirtschaft und Tagelöhneraktivitäten in den Armenvierteln der Städte. Im ImportExport-Bereich, insbesondere bei Dienstleistungen, konnte sich eine kleine Oberschicht
entwickeln. Mangels Kaufkraft und Bildung der Bevölkerungsmassen blieb nur wenig Raum
für die Expansion der Mittelschichten. Insgesamt ein fruchtbares Umfeld für revolutionäre
Bewegungen jeder Art, die auf Umverteilung, Souveränität und Industrialisierung hinwirkten.
Als Zentren der revolutionären Bewegungen entwickelten sich vor allem die Universitäten,
aber insbesondere in Mittelamerika auch Bauernbewegungen heraus. In einigen Staaten kam
das Militär, angeführt durch antiimperialistische Offiziere z.B. in Guatemala, dazu. Hier
verstand es die CIA seit den 1960er Jahren als ihre Aufgabe, aufständische Bewegungen
4
5
Ausführlich hierzu Dieter Boris, Lateinamerikas Politische Ökonomie, Hamburg 2009, 78 ff.
Vgl. Boris, Fn. 4, 46 ff.
selbst oder mit Hilfe von ihr ausgebildeter, lokaler Kräfte zu bekämpfen. In den 1960er und
1970er Jahren erfolgte das vor allem durch gezielte Tötungen und Verschwindenlassen sowie
die Unterstützung von Staatsstreichen. Mit tatkräftiger Hilfe der CIA gelang es so, dass Mitte
der 1970er Jahre praktisch alle Staaten Lateinamerikas durch Militärdiktaturen oder autoritäre
rechte Regimes regiert wurden; allein Kolumbien, das sich in einem Bürgerkrieg befand, und
Venezuela, das mit Ölgeldern einen Teil der Bevölkerung stillhalten und die politische
Systemopposition mit Massakern, Verschwindenlassen und Folter bekämpfte, waren
„demokratisch“ regiert.
Die School of the Americas
Die mit der sogenannten Aufstandsbekämpfung und den Staatsstreichen betrauten Offiziere
wurden in aller Regel in der 1946 gegründeten School of the Americas ausgebildet. Die
ursprünglich in der US-kontrollierten Kanalzone Panamas beheimatete, seit 1984 in Fort
Branning, Georgia angesiedelte Akademie hat seit Gründung über 60.000 Offiziere
ideologisch und militärisch ausgebildet. Seit der Kennedy-Administration gehörte
antikommunistische Aufstandsbekämpfung zu den Kernthemen der Ausbildung, spätestens in
den 1980er Jahren auch Folter, außergerichtliche Tötungen (d.h. Mord oder Totschlag),
Freiheitsberaubung und Erpressung. Die Washington Post übertitelte denn auch einen Artikel
über die School of the Americas mit „Teaching Human Rights Violations“6, die New York
Times sprach von der „School of the Dictators“.7
Dabei stellt die US-amerikanische NGO „School of the Americas Watch“ heraus, dass
mindestens elf lateinamerikanische Diktatoren die Ausbildungsstätte durchlaufen haben,
darunter Manuel Noriega aus Panama (de-facto-Machthaber 1983-1989), Hugo Banzer aus
Bolivien (Diktator von 1971-78, Präsident mit US-Unterstützung 1997-2002) und Guillermo
Rodríguez (Diktator in Ecuador 1972-76).8
Der Oberkommandierende der venezolanischen Armee Efrain Vasquez und der General
Ramirez Poveda waren am Putsch gegen den Präsidenten Chávez 2002 beteiligte Absolventen
der School of the Americas.9
Militärausrüstung
Vor diesem Hintergrund bildet die Einrichtung von Militärbasen nur die Spitze des Eisbergs.
Die Installation begann nach der Invasion Panamas 1904 und hält bis heute auf dem ganzen
Kontinent an. Insbesondere im Jahr 2009 kam es zu einer größeren, lateinamerikaweiten
Diskussion über US-Militärbasen. Die ecuadorianische Regierung der „Bürgerrevolution“
hatte 2008 beschlossen, den 2009 endenden Nutzungsvertrag der USA für die
Luftwaffenbasis in Manta nicht zu verlängern. Der Vertrag hatte die kostenfreie Nutzung der
Airbase durch bis zu 475 SoldatInnen zur Bekämpfung des Drogenhandels vorgesehen. 2009
verhandelten und vereinbarten die USA und Kolumbien schließlich die Einrichtung von
sieben Militärbasen, darunter drei Flughäfen, zwei Armeestandorte und zwei Häfen, welche
u.a. den Einsatz von Kampfflugzeugen in ganz Lateinamerika ermöglichten. Im
6
The Washington Post, Reaching Human Rights Violations, Editorial vom 1.10.1996, S. A18, zitiert nach
http://en.wikipedia.org/wiki/Western_Hemisphere_Institute_for_Security_Cooperation, besucht am 23.4.2013.
7
The
New
York
Times,
School
of
the
Dictators,
Editorial
vom
28.9.1996,
http://www.nytimes.com/1996/09/28/opinion/school-of-the-dictators.html, besucht am 23.4.2013.
8
School of the Americas Watch, 11 Latin American Dictators, Artikel vom 16.8.2004,
http://www.soaw.org/about-the-soawhinsec/13-soawhinsec-graduates/840, besucht am 23.4.2013.
9
School of the Americas Watch, Venezuelan Generals Backing Interim President are SOA Grads, Artikel vom
12.4.2002, http://www.soaw.org/about-the-soawhinsec/13-soawhinsec-graduates/2163, besucht am 23.4.2013.
Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und Kolumbien einerseits,
Venezuela andererseits in den Jahren 2008, 2009 wurde zudem einer breiteren Öffentlichkeit
bekannt, dass die USA nicht nur ihre nach dem 2. Weltkrieg eingemottete IV. Flotte im Jahr
2008 wieder aktiviert hatte, die erneut zwischen Karibik und Kap Hoorn patroulliert, sondern
darüber hinaus auf verschiedenen Karibikinseln, darunter den königlich-niederländischen
Inseln Aruba und Curacao direkt vor Venezuela, sowie in fast allen zentralamerikanischen
und verschiedenen südamerikanischen Staaten Militärbasen unterhält oder entsprechende
Nutzungsrechte innehat. Insgesamt wird geschätzt, dass die USA zwischen 2410 und 3711
Militärbasen und militärische Stützpunkte in Lateinamerika und der Karibik unterhalten.
Zentrales Argument der USA, die Zahl ihrer Militärbasen und die militärische
Zusammenarbeit und Ausrüstung in Lateinamerika sowie die Präsenz der Geheimdienste zu
erhöhen, ist der Kampf gegen Drogenhandel und organisierte Kriminalität. Associated Press
berichtet, dass die US-Regierung in den letzten zehn Jahren über $ 20 Milliarden in die
militärische Bekämpfung des Drogenhandels gesteckt hat.12 Die für die Drogenkontrolle
eingerichtete Militärstützpunkte und die eingesetzten nachrichtendienstlichen Mittel lassen
sich allerdings nicht nur für Drogenbekämpfung nutzen, sondern auch zur militärischen
Kontrolle der beteiligten und benachbarten Staaten sowie zur allgemeinen Destabilisierung.
Beachtlich ist insofern, dass insbesondere in Mittelamerika die Lage seit Beginn der
Militarisierung immer mehr außer Kontrolle gerät. Die Militarisierung in Kolumbien hat von
Beginn an vor allem der Bekämpfung der teils seit über 50 Jahren im Bürgerkrieg
befindlichen Guerillas gedient. In Venezuela wiederum ist die Beschlagnahme von Drogen
nicht nur seit Amtsantritt der Regierung Chávez massiv gestiegen 13, sondern noch einmal seit
Beendigung der Zusammenarbeit mit der US-amerikanischen Drogenbekämpfungsagentur
DEA im Jahr 2005.14 Alles in allem spricht einiges dafür, dass für die USA die Bekämpfung
des Drogenhandels an sich nur eine untergeordnete Rolle bei der massiven Erweiterung der
Militärpräsenz gespielt hat.
Wie steht es nun um die Präsenz anderer NATO-Staaten in Lateinamerika?
Militärische Präsenz europäischer Staaten ist in ehemaligen und verbliebenen Kolonien zu
finden. Aktuell besitzen noch Großbritannien, Frankreich und die Niederlande Territorien in
Lateinamerika und der Karibik.
Die militärische Rolle der Niederlande beschränkt sich darauf, Flughäfen auf Aruba und
Curaçao vor der venezolanischen Küste den US-Streitkräften zur Mitnutzung vertraglich zur
Verfügung zu stellen.15
Frankreich betreibt drei Militärbasen in Französisch-Guyana, darunter eine Luftwaffenbasis,
eine Basis der Fremdenlegion zum Schutz des Weltraum-Bahnhofs in Kourou sowie eine
10
W.T. Whitney, United States adds bases in South America, Artikel vom 26.4.2012,
http://peoplesworld.org/united-states-adds-bases-in-south-america/, besucht am 24.4.2013.
11
Movimiento por la Paz, la Soberanía y la Solidaridad entre los Pueblos, Bases militares extranjeras en América
Latina y el Caribe. Recuento provisorio hasta el 10 de Abril de 2012, http://www.mopassol.com.ar/archives/351,
besucht am 24.4.2013.
12
Martha Mendoza, Associated Press, US Military expands its drug war in Latin America, Artikel vom 3.2.2013,
http://news.yahoo.com/us-military-expands-drug-war-latin-america-145202763.html, besucht am 24.4.2013.
13
Gregory Wilpert, Venezuela’s Chavez Confirms Suspension of Cooperation with DEA, Artikel vom 8.8.2005,
http://venezuelanalysis.com/news/1279, besucht am 24.4.2013.
14
Tamara Pearson, Venezuela Better Off without DEA Says Vice President, Artikel vom 4.4.2009,
http://venezuelanalysis.com/news/4350, besucht am 24.4.2013.
15
Eva Golinger, Washington Plans New Military Bases in Brazil and Peru to Contain Venezuela, Artikel vom
8.4.2010, http://english.pravda.ru/hotspots/conflicts/08-04-2010/112941-washington_plans_new_bases_braz-0/,
besucht am 24.4.2013.
Dschungelkampfschule, in der auch Spezialkräfte anderer NATO-Staaten wie die Navy Seals
oder die deutschen Kommando Spezialkräfte (KSK) ausgebildet werden. Weitere
französische Militärbasen befinden sich in Guadeloupe und Martinique. Diese Basen dienten
u.a. zur Unterstützung der britischen Streitkräfte im Krieg um die Malwinen oder FalklandKrieg; heute werden dort gemeinsame Manöver durchgeführt.
Großbritannien betreibt zwei Militärbasen auf den Malwinen bzw. Falkland-Inseln, um die in
den letzten Monaten wieder ein größerer Streit mit Argentinien entflammt ist. In Bezug auf
die NATO ist dieser Konflikt insofern interessant, als dass die USA 1947 die Unterzeichnung
des Interamerikanischen Vertrags über gegenseitigen Beistand16 bzw. Rio-Pakts betrieben
hatten, in dessen Folge 1948 die Organisation Amerikanischer Staaten gegründet wurde und
der zur gegenseitigen Verteidigung gegen Angriffe von außen verpflichtete. Als Argentinien
sich 1982 auf diesen Vertrag berief, machten die USA jedoch geltend, dass Argentinien ein
reklamiertes Gebiet angegriffen habe, und unterstützte schließlich Großbritannien. Der
Beistandsvertrag wurde durch dieses Verhalten delegitimiert; Mexiko verließ den Rio-Pakt
2002, die ALBA-Staaten Bolivien, Ecuador, Nicaragua und Venezuela im Jahr 2012.
NATO und Lateinamerika
Bislang ist die NATO selbst in Lateinamerika militärisch praktisch nicht in Erscheinung
getreten. Die USA behandeln Lateinamerika weiterhin als ihren eigenen Hinterhof, in
welchen sie die europäischen „Partner“ nicht stärker einbeziehen, als erforderlich. So lässt
sich nicht feststellen, dass sie europäischen Staaten mehr Raum geben, als diese aufgrund
ihrer alten Kolonialmacht noch besitzen. Zugleich lässt sich ein massiver Ausbau der
Militärpräsenz der USA in Lateinamerika in den letzten Jahren ausmachen.
Dennoch macht die weltweite Expansion des Bündnisses nicht gänzlich halt vor
Lateinamerika. Die Kooperation erstreckt sich dabei zunächst vor allem auf die Teilnahme an
Militäreinsätzen der NATO. Auf diesem Wege wurde Argentinien, das sich ab 1999 an den
SFOR-Kräften in Bosnien-Herzegowina beteiligte, zum offiziellen NATO-Partner.17
In letzter Zeit hat sich insbesondere Kolumbien zu einem Brückenland für die NATO
entwickelt. Kolumbien beteiligt sich seit 2010 mit einem kleineren Kontingent an der
Afghanistan-Mission Endouring Freedom.18 Kolumbianer stellen zudem einen Großteil der
Truppen (mercenaries) der Privatarmeen im Schlepptau der NATO, die teils Aufgaben des
Personen- und Sachschutzes übernehmen, teils aber auch für „schmutzige“ Aufgaben
herangezogen werden, und in erheblichem Umfang von LateinamerikanerInnen gestellt
werden.19
Dass die Zusammenarbeit mit Kolumbien fortgeschritten ist, wurde nicht zuletzt in einem in
der ganzen Region für Aufruhr sorgenden Ankündigung von Präsident Santos deutlich: dieser
teilte der erstaunten Öffentlichkeit mit, Kolumbien plane, bei der NATO einen Antrag auf
Aufnahme zu stellen. Aufgrund der NATO-Verträge erklärte das NATO-Hauptquartier zwar
16
Tratado Interamericano de Asistencia Recíproca (TIAR) bzw. Inter-American Treaty of Reciprocal Assistance
oder Rio-Pakt.
17
Jorge Domínguez, Argentina, NATO´s South Atlantic Partner, http://www.nato.int/docu/review/1999/990102.htm, besucht am 25.6.2013.
18
José Luis Calvo, La OTAN y el reto de Afganistán, Setenta años de la OTAN, ¿Hacia una nueva estrategia?
Centro de Estudios de la Defensa Nacional, España, S. 85-133, und El Espectador, Artikel vom 16.04.2010,
http://www.elespectador.com/noticias/judicial/articulo198611-junio-parte-contingente-colombiano-afganistan
besucht am 15.07.2013.
19
RCN Noticias, Militares experimentados aceptan trabajo de mercenarios, Artikel vom 18.03.2010,
http://www.canalrcnmsn.com/noticias/militares_experimentados_aceptan_trabajo_de_mercenarios_en_pa%C3%
ADses_%C3%A1rabes besucht am 16.07.2013.
daraufhin, dass die Aufnahme nicht möglich sei; die Vorbereitung von Verträgen für einen
umfassenden Austausch von Informationen und die Verschaffung des Zugangs von
Aufklärungsinstrumenten der NATO an Kolumbien wurden jedoch bestätigt.20 Letzteres stellt
gerade für die unmittelbaren Nachbarstaaten wie Ecuador, Venezuela und Brasilien angesichts
der ohnehin immer wieder auftretenden politischen Spannungen eine qualitativ neue Situation
dar, die vielfach als Bedrohung wahrgenommen wird.21 Am 25. Juni 2013 erfolgte die
Unterzeichnung eines Vertrages zum Austausch klassifizierter Informationen, insbesondere in
den Bereichen Drogen- und Terrorismusbekämpfung, zwischen Kolumbien und der NATO.22
II. Regionale Gegenbewegungen
Waren die in der Region präsenten internationalen Organisationen bislang ganz überwiegend,
und die regionalen Organisationen großenteils US-dominiert oder –kontrolliert, ist seit der
Jahrtausendwende in einigen Staaten eine radikale Abkehr von diesem Kurs, in anderen
jedenfalls eine Öffnung zu Kooperations- und Integrationsbündnissen unter Ausschluss der
USA zu beobachten. Die Gründung von ALBA, UNASUR und CELAC sowie der Versuch
der Stärkung und Neuausrichtung des Mercosur stellen einen radikalen Bruch mit den
bisherigen Politiken dar.
Zeit der Umbrüche
Lateinamerika befand sich zwischen den 1970er und 1990er Jahren praktisch in einer
Dauerkrise. Die im Gefolge der Weltwirtschaftskrise nach 1929 begonnene Wirtschaftspolitik
mit importsubstituierenden Investitionen im Zentrum hatte aufgrund verschiedener regionaler
und internationaler Faktoren, insbesondere einer Zeit billiger Kredite, die abrupt durch eine
Zeit hoher Zinsen abgelöst wurde, eine Verschuldungskrise in den 1970er und 1980er Jahren
ausgelöst, die vielfach Hyperinflation, politische und ökonomische Krisen mit sich brachte.
Die Militärdiktaturen bekamen diese Situation ganz überwiegend nicht in den Griff, waren
vielfach am Entstehen der Probleme nicht unerheblich beteiligt. 23 Politisch bildete sich in
dieser Zeit vor dem Hintergrund der Schwäche der staatlichen Strukturen, der durch
Repression erfolgreichen Schwächung linker Gegenbewegungen und einer weltweiten Abkehr
der kapitalistischen Staaten vom Keynesianismus ein doppelter Konsens der Eliten heraus: die
Rückkehr zur verfassungsrechtlich abgesicherten Demokratie bei Durchführung neoliberaler
Politiken.24
Dieser Kurs des Rückzugs des Staates aus der Wirtschaft, dessen Rolle sich auf die
Regelsetzung beschränken sollte, kulminierte 1990 im sogenannten Washington Consensus,
dem Konsens von in Washington beheimateten Organisationen wie Weltbank, IWF, USFinanzministerium und zahlreichen Think Tanks. Demnach sollten u.a. Deregulierung,
Privatisierung, Liberalisierung, Haushaltskürzungen, Subventionsabbau inklusive Sozialabbau
im Wege sogenannter Strukturanpassungen in den Staaten Lateinamerikas durchgesetzt
werden.25
20
La semana, Artikel vom 03.06.2013, http://www.semana.com/nacion/articulo/controversia-propuesta-santosentrar-otan/345309-3 besucht am 15.07.2013.
21
Evo Morales, La República, Artikel vom 03.06.2013, http://www.larepublica.pe/03-06-2013/evo-moralescalifico-de-amenaza-acercamiento-de-colombia-con-la-otan besucht am 16.07.2013.
22
Adriaan Alsema, Colombia signs cooperation agreement with NATO, Artikel vom 25.62013,
http://colombiareports.com/colombia-signs-cooperation-agreement-with-nato, besucht am 25.6.2013.
23
Vgl. Boris, Fn. 4, S. 67 ff.
24
Boris, Fn. 4, S. 91 ff.
25
Vgl. Boris, Fn. 4, S. 79.
Die regionale Bündnisdynamik entsprach diesem Weg: 1991 wurde der Mercosur als
Freihandelsbündnis der vier südlichsten Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und
Uruguay gegründet. Im gleichen Jahr begannen die Verhandlungen um den Aufbau einer
amerikaweiten Freihandelszone unter Einschluss der USA und Kanadas, der ALCA bzw.
FTAA. Die 1994 abgeschlossene Gründung der WTO hatte ebenfalls nicht unerhebliche
Einfluss auf die Wirtschaftspolitik der Region und stärkte den Trend neoliberaler
Öffnungspolitiken.
Ökonomisch brachten diese Politiken jedoch keine bedeutenden Wachstumsimpulse,
andererseits aber eine erhebliche Schwächung der marginalisierten Gruppen der Gesellschaft
durch Kürzung nichtmonetärer Leistungen in Bereichen wie Bildung und Gesundheit sowie
gleichzeitigen Preiserhöhungen für öffentliche Dienstleistungen wie öffentlichen Nahverkehr,
Strom oder Gas. Kürzungen, die zu Volksaufständen in Venezuela, Argentinien, Bolivien,
Ecuador und anderen Staaten führten, in deren Folge ab 1998 linke und progressive
Bewegungen Oberhand gewannen und sukzessive Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
gewannen, in deren Folge neue Verfassungen erarbeitet, sozialstaatliche Strukturen aufgebaut
und die regionale und internationale Bündnispolitik auf neue Füße gestellt wurden.
Bedingung für den Erfolg dieser Maßnahmen war allerdings nicht nur die Wiedereinführung
der Demokratie: wesentliche Faktoren waren die Konzentration der USA auf die Kriege in
Afghanistan und dem Irak, eine Änderung der terms of trade mit deutlich steigenden
Rohstoffpreisen und damit ein wachsender Verteilungsspielraum sowie der Aufstieg Chinas
als relevanter Handelspartner, der eine Lösung von der US-Bindung ermöglichte.
Die Bolivarianische Allianz und Petrocaribe
Als Auftakt für die neue regionale Bündnisstruktur politisch-ökonomisch-sozialer und
kultureller Art lässt sich die Gründung der ALBA, der Bolivarianischen Allianz
(ursprünglich: Alternative) für die Völker „unseres“ Amerika, betrachten. Die ALBA war als
Bündnis zwischen Venezuela und Kuba zunächst vor allem Gegenprojekt gegen die
Freihandelszone ALCA. Grundlage der Organisation ist eine Prinzipienerklärung – die
zentralen Prinzipien der ALBA sind Solidarität, Komplementarität (gegenseitige Ergänzung)
und Kooperation, einzusetzen zum Zweck einer ökologisch nachhaltigen, sozialen
Entwicklung.26 Nach dem Gelingen der ersten Herausforderung, dem Scheitern der
amerikanischen Freihandelszone, sind der ALBA seit 2006 sechs weitere Mitglieder
beigetreten: Bolivien, Nicaragua, Dominica, Ecuador, Antigua und Barbuda sowie Saint
Vincent und die Grenadinen.
Die Idee der Solidarität kommt insbesondere im Beitrag zum Abbau bestehender
Asymmetrien, Bekämpfung der Armut sowie insgesamt einem starken Fokus auf soziale,
wirtschaftliche und kulturelle Rechte sowie das Recht auf Entwicklung zum Ausdruck.
Einseitiger Abbau von Zollschranken gegenüber ökonomisch schwächeren Partnern wie
Bolivien27 oder gezielter Technologie- und Wissenstransfer zum Aufbau größerer
ökonomischer Selbstständigkeit sind Beispiele der so verstandenen Solidarität, aber auch groß
angelegte Sozialprojekte zur Bekämpfung von Analphabetismus oder Augenkrankheiten.
26
Gemeinsame
Erklärung
vom
14.
Dezember
2004,
http://alianzabolivariana.org/modules.php?name=Content&pa=showpage&pid=2060, besucht am 14.6.2013.
27
Acuerdo para la aplicación de la Alernativa Bolivariana para los pueblos de nuestra América y el Tratado de
Comercio
de
los
Pueblos
vom
29.4.2006,
http://www.alianzabolivariana.org/modules.php?name=Content&pa=showpage&pid=516,
besucht
am
14.6.2013.
Während die ALBA im Kern bislang eine politische Organisation ist, deren besondere Stärke
in der Entwicklung gemeinsamer Außenpolitiken liegt, ist sie mit einer Reihe weiterer
Organisationen verflochten, die teils auf Grundlage des ALBA-Selbstverständnisses parallel
entstanden, teils von ihr gegründet worden sind. Eine ökonomisch für die Karibikregion
wichtige Schwesterorganisation ist PetroCaribe mit 18 Mitgliedstaaten. Petrocaribe dient
nicht nur dazu, den venezolanischen Nachbarstaaten über langfristige Kredite und Zahlung
mit Waren- und Dienstleistungen (vor allem Öl und Ölderivate) den Energiezugang zu
erleichtern, sondern insbesondere auch dem Aufbau einer regionalen öffentlichen
Energieinfrastruktur, alternativer Energien und der Landwirtschaftsförderung.28
Die ALBA steht mit ihrer solidarischen Ausrichtung symbolisch für eine Repolitisierung der
Bündnispolitik in der Region, die seitdem deutlich über technische Zusammenarbeit und
Freihandelsbündnisse hinaus geht. Sie ist damit zugleich ein antihegemoniales Bündnis, dem
es gelungen ist, in der Region der vom Weltsozialforum verbreiteten Idee „Eine andere Welt
ist möglich“ auch eine staatlich-internationale Plattform zu bieten. Sie steht damit zugleich für
einen historischen Bruch, für die Aufkündigung des Washington Consensus in der Region.
UNASUR
Das zweite neue, regionalpolitisch bedeutende Bündnis ist die 2008 gegründete Union
südamerikanischer Staaten UNASUR. Ursprünglich vor allem von Brasilien als Projekt einer
gemeinsamen Freihandelszone der südamerikanischen Staaten betrieben, bekam das Projekt
UNASUR durch den venezolanischen Einfluss unter Führung des Präsidenten Hugo Chávez
einen stärker politischen Charakter. Am Ende eines längeren Verhandlungsprozesses wurde
als Gründungsziel der Aufbau „eines Raumes der kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und
politischen Integration und Union zwischen ihren Völkern, priorisierend den politischen
Dialog, die Sozialpolitiken, die Bildung, die Energie, die Infrastruktur, die Finanzierung und
die Umwelt, unter anderen, im Hinblick auf die Eliminierung der sozioökonomischen
Ungleichheit, um soziale Inklusion und Bevölkerungspartizipation zu erreichen, die
Demokratie zu stärken und die Asymmetrien im Rahmen der Stärkung der Souveränität und
Unabhängigkeit der Staaten zu reduzieren“29 vereinbart.
Zum Abbau der ökonomischen Asymmetrien wurde von sieben progressiv regierten Staaten
der UNASUR eine gemeinsame Entwicklungsbank gegründet, um die ökonomische, soziale
und ökologische Entwicklung der Mitgliedsstaaten (Art. 2 Abs. 1 der Gründungsurkunde) zu
fördern. Förderung der Grundlagen der Demokratie, der Sozialstaatlichkeit und der
ökonomischen Angleichung bzw. Kräftesymmetrie sind drei zentrale Achsen des Projektes.
Als Alternative zur Weltbank und zur Interamerikanischen Entwicklungsbank gedacht, die
beide aus Washington gesteuert werden, ist die Tätigkeit auf die UNASUR-Staaten
beschränkt.
Auf der politischen Ebene hat die UNASUR nicht nur ein hochkarätig besetztes Sekretariat
eingerichtet – Gründungssekretär war der ehemalige argentinische Präsident Kirchner, auf
welchen die ehemalige kolombianische Außenministerin María Emma Mejía und aktuell der
ehemalige venezolanische (u.a.) Außenminister Alí Rodríguez Araque folgten. Neben dem
Sekretariat sind mittlerweile zwölf MinisterInnenräte eingerichtet worden, die Austausch und
Koordinierung in allen wesentlichen politischen Bereichen befördern sollen.
Im Hinblick auf das vorliegende Thema ist der Verteidigungsrat von besonderem Interesse.
Die allgemeinen Ziele des Rates sind die Konsolidierung Südamerikas als Raum des Friedens,
die Schaffung einer gemeinsamen Verteidigungsidentität als Beitrag zur Einheit
28
29
Petrocaribe, http://www.petrocaribe.org, besucht am 14.6.2013.
Gründungsvertrag, http://www.unasursg.org/inicio/organizacion/historia, besucht am 14.6.2013.
Lateinamerikas und der Karibik, sowie die Stärkung der regionalen Kooperation im Bereich
der Verteidigung (Art. 4 der Statuten des Verteidigungsrates der UNASUR).30 Erreicht
werden soll dies durch Maßnahmen, die vom Informationsaustausch im Allgemeinen sowie in
Bereichen wie der Ausbildung und humanitären Maßnahmen bis hin zur Inkorporierung einer
Genderperspektive reichen (Art. 5). Für die Umsetzung dieser Aufgaben wurde bereits 2009
die Einrichtung eines Zentrums für strategische Studien beschlossen, das 2011 seine
Tätigkeiten in Buenos Aires aufgenommen hat;31 im Mai 2013 wurde der Beschluss gefasst,
eine gemeinsame Militärschule als Ausbildungszentrum der UNASUR zu gründen 32 - ein
Projekt, das in Konkurrenz zur School of the Americas tritt und dieser mittelfristig auch aus
konservativer südamerikanischer Perspektive ihre Berechtigung nehmen könnte.
CELAC
Die dritte Neuerung in Richtung einer Ablösung von der US-Hegemonie ist die 2010 erfolgte
Gründung der Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten CELAC33,
wie die OAS damit als Bündnis aller Staaten der Amerikas geschaffen, allerdings mit
Ausnahme der USA und Kanadas, und stattdessen mit aktiver Mitarbeit Kubas.
Die CELAC dient bislang in erster Linie als regionales Austauschforum mit noch schwacher
institutioneller Basis. Die Zielsetzungen der Kooperation sind weit – zu ihnen gehören die
Stärkung der Integration der Mitgliedsstaaten sowie der regionalen Organisationen, die
politische, ökonomische, soziale und kulturelle Integration, Koordination des Auftretens auf
internationaler Bühne sowie die Förderung von Maßnahmen der Süd-Süd-Kooperation.34
Während die CELAC für die konservativ regierten Staaten lediglich ein Bündnis zur Stärkung
ihrer eigenen Position sowie des Austausches darstellt, ist in ihr aus Perspektive progressiver
Regionen bereits embryonenhaft eine Nachfolgeorganisation der US-dominierten OAS zu
sehen. In jedem Fall stellt ihre Existenz und die Art der Koordination in Form einer Troika,
wie im Fall der ehemaligen der EU-Ratspräsidentschaft mit dem Gastgeberstaat des jährlichen
Gipfels in der Mitte zwischen dem letzten und nächsten Inhaberstaat der jährlichen
Präsidentschaft, aufgrund der Einheit zwischen konservativen und linken Kräften eine
Schwächung der US-Hegemonie dar; die erste Troika wurde entsprechend von Venezuela,
Chile und Kuba gebildet.
Kampf um Hegemonie
Die drei angeführten neuen Organisationen sind Ausdruck eines Kampfes um Hegemonie in
Lateinamerika. Ihrer Gründung geht die Erkenntnis voraus, dass die formale Unabhängigkeit
und Souveränität in den letzten 200 Jahren weder in ökonomischer, noch in kultureller oder
sozialer Hinsicht Ausdruck demokratischer Selbstbestimmung gewesen ist. Lateinamerika
war Spielball internationaler Mächte, insbesondere Spaniens, Großbritanniens und später der
USA, welche ihre Hegemonie über die Region oder Teile derselben mit Waffengewalt
absicherten, aber im Kern politisch, ökonomisch und kulturell betrieben. Überwunden werden
kann die Hegemonie also nur durch Befreiungsprozesse auf allen diesen Ebenen.
30
UNASUR, http://www.unasursg.org/inicio/documentos/consejos/consejo-de-defensa-suramericano/estatuto,
besucht am 17.6.2013.
31
vgl. Centro de estudios estratégicos de derefensa, http://www.ceedcds.org.ar/, besucht am 17.6.2013.
32
AVN, Artikel 29.05.2013, http://www.avn.info.ve/contenido/unasur-crear%C3%A1-primera-escuelasuramericana-defensa, besucht am 17.6.2013.
33
Comunidad de Estados Latinoamericanos y Caribeños.
34
CELAC, http://www.celac.gob.ve/index.php?option=com_content&view=article&id=15&Itemid=10&lang=es,
besucht am 17.6.2013.
Die Integrationspolitiken weisen in diesem Sinn Kohärenz auf. Sie sind insgesamt von einer
Repolitisierung geprägt, die mitunter nach außen in ihrer Härte für europäische Ohren
ungewohnte Töne mit sich bringt. Nach innen handelt es sich um positive, d.h. nicht allein
(negativ) aus dem Abbau von Handelsschranken bestehende Maßnahmenbündel. Alle neuen
Integrationsprozesse sind auf eine soziale und kulturelle Entwicklung ausgerichtet, welche die
Vielfalt der Völker und Bevölkerungen in Rechnung zu stellen versucht. Entsprechend ist die
soziale Frage sehr präsent. Die Prozesse sind entsprechend auch nicht am Beispiel der EU
orientiert, wie die früher gegründete Andengemeinschaft oder der Mercosur. Und allen
gemeinsam ist, dass sie ohne die USA erfolgen.
Ausblick
Ein regionaler Hegemon kann eine solche Entwicklung schwerlich ohne Reaktion hinnehmen,
und auch die lokalen und regionalen Eliten versuchen insbesondere in den stärker auf den
Aufbau sozialstaatlicher Strukturen und Umverteilung ausgerichteten Staaten, die
Entwicklung zu behindern oder umzukehren. Im schlimmsten Fall versuchen sie, wie in
Venezuela 2002/2003 und Ecuador 2010 erfolglos, in Honduras 2009 und Paraguay 2012
erfolgreich, mit Staatsstreichen mehr oder weniger gewaltsam einen Regierungswechsel
herbeizuführen. Unterfüttert wird die Gegenwehr mit Hilfe der in ganz Lateinamerika
monopolartig organisierten Medienlandschaft, in welcher wenige Familien aus dem Zentrum
der nationalen und regionalen Eliten die Presse- und Fernsehlandschaft dominieren, während
staatliche und unabhängige Medien regelmäßig kaum relevante Marktanteile aufweisen. Nicht
unähnlich den Strategien Rupert Murdochs oder Silvio Berlusconis, wird die Pressefreiheit
hier als politisches Kampfinstrument genutzt. Zugleich wird das interamerikanische
Menschenrechtssystem mit einem von den USA direkt finanzierten Sonderberichterstatter für
Meinungs- und Pressefreiheit instrumentalisiert, um eine Demokratisierung der
Medienlandschaft beabsichtigende Politiken zu bekämpfen.
Die Region bleibt trotz der Integrationsprozesse politisch gespalten; innerhalb und zwischen
den
Staaten
wird
ein
Hegemoniekampf
zwischen
sozialstaatlichen
Demokratisierungsprojekten und neoliberalen Gruppen ausgefochten. Im Hintergrund stehen
dabei die USA, deren Einfluss auf die Region global betrachtet sinkt, in einigen Staaten aber
mit Hilfe von Freihandelsabkommen und militärischen Annäherungen – wie im Falle
Kolumbiens auch mit Hilfe der NATO – durchaus zuletzt jedenfalls gehalten werden konnte.
Die Integration ist der wesentliche Faktor für den Aufbau einer multipolaren Weltordnung, in
welcher der Einfluss der USA und der NATO in Grenzen gehalten wird. Der chinesische
Markt hat Lateinamerika für Schritte in Richtung Multipolarität und tatsächliche
Unabhängigkeit Luft gegeben. Ob diese Schritte, gekennzeichnet durch Repolitisierung und
Aufbau sozialstaatlicher Strukturen, letztlich erfolgreich sein werden, hängt insbesondere von
der ökonomischen Nachhaltigkeit ab, wie die Schwierigkeiten in Venezuela im Frühjahr 2013
belegen. Insgesamt scheint die Region auf gutem Weg zu sein, der Kampf für Frieden und
Demokratie ist aber noch nicht endgültig gewonnen.

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