Gespräch mit einer Deutschen, die China nah im Herzen ist

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Gespräch mit einer Deutschen, die China nah im Herzen ist
Welche Schwierigkeiten haben chinesische Studenten, die hier in
Deutschland studieren? – Ein Gespräch mit einer Deutschen, der
China „nah im Herzen ist“
Von Xiaojun Bian
Dr. Patricia Mueller-Liu, Lehrbeauftragte am Lehrstuhl Germanistik/Deutsch als
Fremd- und Zweitsprache hat von 1980-1993 Sinologie und Japanologie in Paris,
China (Taipei) und Kyoto studiert und während dieser Zeit dort u.a. auch als Sprachdozentin gearbeitet. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland hat sie an der Universität
des Saarlandes in Linguistik/Phonetik promoviert (2004) und danach das Zertifikat
Deutsch als Fremdsprache absolviert (2007). Seit August 2007 ist Dr. Mueller-Liu
auch Dozentin für Deutsch als Fremdsprache beim Internationalen Bund e.V.
(Standort Homburg/Saar). Sie ist mit einem Chinesen verheiratet und kehrt, so oft
sich die Gelegenheit ergibt, nach China und Taiwan zurück. Besonders gut hat ihr
meine Heimatstadt Shanghai gefallen, die sie anlässlich einer Tagung im Mai 2010
besucht hat. Zu Beginn unseres Gespräches sagte sie mit einem Lächeln: „Ich bin in
meiner Denk- und Lebensweise deutlich von der chinesischen Mentalität geprägt.“
Auszüge aus dem Gespräch:
Wann sind Sie nach China gefahren? Hatten Sie sich auf Ihre Reise vorbereitet? Welche Probleme gab es und wie sind Sie damit zurechtgekommen?
„Ich bin im August 1980, kurze Zeit nach meinem Abitur in Saarbrücken, in Taiwan
angekommen. Vor meiner Reise habe ich mich nur sehr wenig auf mein neues Leben
vorbereiten können. Ich hatte zwei, drei Monate lang Privatunterricht von einem
Chinesen in Paris bekommen, doch beschränkte sich dieser auf ca. 50 Wörter und
Ausdrücke aus dem Alltagsleben, die ich weder schreiben noch richtig aussprechen
konnte. An meinem ersten Schultag – alle Ausländer mussten täglich mindestens
zwei Stunden Sprachunterricht nehmen – konnte ich lediglich meinen chinesischen
Namen nennen und die heute überall bekannte Begrüßung „Ni hao!“ sprechen. Bzgl.
der Kultur, der Geschichte und der Landeskunde hatte ich nur sehr wenig Vorwissen
und vor allem die klimatischen Bedingungen im subtropischen Taiwan waren mir
völlig unbekannt. Ich glaube, das Klima hat mir während meines Aufenthaltes in
Taiwan die größten Probleme verursacht. Es ist im Sommer in Taipei sehr heiß und
sehr feucht, im Winter wiederum ist es kalt und regnet oft tagelang. Damals gab es in
Taiwan noch keine Elektroheizungen, so dass wir oft jeden Tag die gleichen feuchten
Kleider tragen mussten. Ich war in einem guten Studentenheim untergebracht, aber
manche von uns Ausländern wohnten in ärmlich ausgestatteten WGs, wo es z.B.
zum Schlafen nur Matratzen auf dem Boden gab. Das war viel zu kalt im Winter. Ich
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erinnere mich, dass ein amerikanischer Bekannter einmal mit einer Lungenentzündung ins Krankenhaus gebracht werden musste.“
Wie war das mit der Kultur und dem Alltagsleben? Ist Ihnen das Einleben leicht
gefallen oder hatten Sie Probleme?
„Mit der Kultur und der Lebensweise hatte ich anfänglich schon große Schwierigkeiten. Für eine deutsche Frau gibt es viele Dinge, die sie neu lernen muss, wenn sie
sich, so wie ich, dort eingewöhnen will. In einer Männergesellschaft wie dem
damaligen Taiwan, das ja 50 Jahre lang eine japanische Kolonie war, sind Frauen
zurückhaltend, sanft und geben sich in der Gegenwart von Männern unterwürfig,
gehorsam und ein wenig kindlich. Von früh an haben sie gelernt, den Männern in
allem den Vortritt zu lassen – bei der Begrüßung, beim Ansprechen und im
Gespräch, beim Betreten eines Hauses oder Raums, bei der Bewegung im Raum
und der Organisation und Erledigung gemeinsamer Arbeiten. Wie man sich vorstellen
kann, fiel mir diese Umstellung schwer und ich machte zu Beginn viele Fehler. Auch
noch in späteren Jahren, als ich bereits arbeitete, konnte ich in einer neuen Umgebung nie völlig sicher sein, dass ich mich ganz richtig verhielt. Das Leben ist dort
wirklich sehr anders. Aber von Anfang an hatte ich immer Hilfe und war nie allein mit
meinen Problemen. Die Leute waren alle sehr nett, verständnisvoll und hilfsbereit, so
dass ich, so groß meine Verwirrung auch sein mochte, nie alleine damit zurechtkommen musste. Als ich mich nach ca. sechs Monaten langsam auf Chinesisch
ausdrücken konnte, begann ich, so viel ich konnte, zu erfragen und zu erfahren.
Wenn ich ein Problem hatte, beim Sprechen oder bei alltäglichen Dingen, oder wenn
ich etwas nicht verstanden oder falsch gemacht hatte, konnte ich immer fragen, wie
ich die jeweiligen Dinge tun sollte – und vor allem warum man das in China so macht.
Auch die einfachen Menschen in den Geschäften und auf den Straßen konnten
meine Fragen beantworten und mir weiterhelfen. Auf diese Weise war es mir
möglich, schnell zu lernen und alle Probleme zu lösen. Da die Menschen in China
gegenüber Fragen sehr offen sind und sich auch gerne mit Fremden unterhalten,
gewann ich dabei auch viele Freunde. Nach zwei, drei Jahren fühlte ich mich dort wie
zuhause und nach meiner Heirat im Jahr 1987 wollte ich nicht mehr zurück nach
Deutschland.“
Welche Schwierigkeiten gibt es Ihrer Meinung nach für Chinesen und chinesische Studenten, die nach Deutschland kommen?
„Wenn ich die Sache heute betrachte, dann meine ich, es ist im Allgemeinen viel
einfacher für Deutsche und Europäer nach China oder in asiatische Länder zu fahren
und dort zu leben oder zu studieren als es für Asiaten ist, zu uns zu kommen. Dass
der Weg in den Westen schwer ist, habe ich am eigenen Leben erfahren. Auch für
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mich waren die Rückkehr 1993 und die Neueingewöhnung an das Leben in Deutschland äußerst schwer. Ein einfaches Beispiel: In Deutschland lassen die Männer den
Frauen den Vortritt, so dass Frauen im Allgemeinen vor den Männern durch eine Tür
gehen, etwa in ein Restaurant oder auf die Straße. In Japan und Taiwan hingegen
sind es die Frauen, wie gesagt, gewöhnt, dass Männer immer zuerst gehen – um
sich zu vergewissern, dass keine Gefahr droht. So merkwürdig dies für westliche
Ohren klingen mag: So hatte ich dies und vieles andere übernommen und es ist mir
sehr schwer gefallen, hier wieder umzulernen. In mancher Hinsicht bin ich heute, fast
20 Jahre später, immer noch nicht ganz hier „angekommen“.
Warum war das so schwer und warum berichten Ausländer von Problemen bei
der Eingewöhnung in Deutschland?
„Meiner Erfahrung nach ist das gerade erwähnte Wörtchen „Warum“ eines der
wichtigsten Faktoren in diesem Prozess. Es ist hier oft schwer, auf diese Frage eine
Antwort zu bekommen. Nicht immer sind die Menschen hier bereit, sich darüber
Gedanken zu machen, warum etwas so und nicht anders gemacht wird. Viele
Ausländer und ausländische Studierende machen diese Erfahrung. In meinen
Deutschkursen höre ich oft davon erzählen. Viele „Neulinge“, nicht nur Chinesen und
Asiaten, haben Fragen und Probleme, da das Leben in Deutschland in vielerlei
Hinsicht anders und auch komplizierter ist als in ihren Heimatländern. Wenn es
Fragen gibt, ist aber das erste Problem, jemanden zu finden, den man fragen kann
und der einem eine Antwort geben wird. Das ist hier im Gegensatz zu China nicht
immer einfach. Nicht allen Menschen gefällt es, von Unbekannten über ihr Leben,
ihre Gebräuche und ihre „Mentalität“ befragt zu werden. Auch an der Universität
macht man diese Erfahrung. In China kann man Lehrer oder Dozenten jederzeit
fragen und sie fühlen sich für die Studenten verantwortlich. In Deutschland muss
man z.B. die Sprechstunden eines Dozenten beachten. Wenn man zu einer anderen
Zeit kommen will, muss man per Email um einen Termin bitten. In Deutschland, so
heißt es, gibt es keine strengen Hierarchien wie in China, es geht alles viel lockerer
zu. Warum kann man aber trotzdem den Dozenten nicht duzen und warum korrigiert
er einen nicht direkt, wenn einem das nicht klar ist?
Hat man einen Gesprächspartner gefunden, hat nicht jeder Antworten für die Fragen
parat. Über gewohnte Denk- und Verhaltensweisen denkt, wie gesagt, nicht jeder
nach. Für viele sind die Dinge selbstverständlich und brauchen keine Erklärung,
andere wiederum meinen, jeder darf für sich selbst entscheiden, wie er vorgehen will.
Doch, so unnötig die Gründe für unser Verhalten scheinen mögen, so angenehm
diese individuelle Freiheit hier sein mag, für Menschen aus anderen Kulturen, wo
feste Regeln das tägliche Leben ordnen und dem Individuum Sicherheit geben, kann
das sehr verwirrend und frustrierend sein. Welche Optionen gibt es bei der Wahl des
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Einzelnen? Was genau ist mit der jeweiligen Handlungsweise verbunden? Bei solchen Fragen trifft man hier oft auf Ratlosigkeit. Manche Menschen sind konsterniert
oder irritiert. Für sie klingt die einfache Frage „Warum?“ wie eine Kritik. Meiner
Meinung nach zählen diese zu den zentralen Problemen für Ausländer und ausländische Studierende in Deutschland. Es ist oft schwer, Antworten auf seine Fragen
zu bekommen.“
Gibt es auch Probleme bzgl. Der Sprache?
„Natürlich kann auch die Sprache Probleme bereiten. Ich nenne Ihnen ein paar
Beispiele: Wenn ein Chinese zu einem anderen sagt, „Du bist you yisi“ (“interessant“), dann heißt das, er findet den anderen humorvoll, verbringt gerne Zeit mit ihm
und fühlt sich mit ihm wohl. Hier ist es keine gute Idee, zu jemandem zu sagen, er
oder sie sei „interessant“. Der andere könnte sich komisch vorkommen, als ob er ein
Tier im Zoo wäre. Zu einem Mann sagt man in Deutschland auch besser nicht, er sei
„süß“, denn „süß“ klingt hier nach Süßigkeiten und Babys und wird eher für kleine
Kinder verwendet. Auf Chinesisch hingegen heißt ke-ai („süß“, „niedlich“) auf einen
Menschen angewandt „liebenswert“, also dass unser Gegenüber uns gefällt und wir
ihn oder sie sehr gern haben. Ein anderes Beispiel: Wenn mein Bleistift auf den
Boden fällt und der andere hat ihn für mich aufgehoben, dann sage ich in China zu
ihm statt „Danke“ „Entschuldigung“ – was in China normal ist, für Deutsche aber
äußert merkwürdig klingt. Ich habe oft erlebt, wie die „übertrieben“ klingende Höflichkeit des Fernen Ostens hier Gefahr läuft, für Ironie oder Überheblichkeit missverstanden zu werden. Hierauf muss besonders Acht gegeben werden. Ein anderes
häufiges Missverständnis, das auch auf die unterschiedlichen Konzeptionen von
Höflichkeit zurückgeht, ist die Zurückhaltung und Bescheidenheit von Chinesen bei
der Arbeitssuche und in Bewerbungsgesprächen. In China und Japan ist es wichtig,
Bescheidenheit zu zeigen und dabei seine Kenntnisse und Fähigkeiten klein zu
machen. Zum anderen muss man auch Lernbereitschaft und Wissbegierde zeigen,
denn das Lernen ist in China nicht nur wichtig, sondern eine Tugend. Aus diesen
Faktoren ergibt sich der Schlüsselsatz eines jeden Bewerbungsinterviews in China:
„Hier bei Ihnen kann ich sehr viel (dazu) lernen!“, das in Deutschland aber zu Verwirrung und leider eher zur Nicht-Einstellung des Kandidaten führt.“
Können Sie noch ein paar andere konkrete Schwierigkeiten von chinesischen
Studenten in Deutschland nennen?
„Ja, natürlich. Bevor sie soweit sind, dass sie darüber nachdenken, möglicherweise
in Deutschland zu bleiben und hier Arbeit zu suchen, gibt es genügend Schwierigkeiten zu überwinden. Zum Beispiel haben die Studenten hier oft eine gemeinsame
oder eigene Küche im Wohnheim, was es in China so nicht gibt. Anders als in China,
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wo die Stundenpläne auch für Studenten vorgegeben und fest sind, kann – bzw. aus
chinesischer Sicht muss – man in Deutschland auch seine Kurse selbst wählen und
seinen Stundenplan alleine aufstellen. Auch dies stellt chinesische Studierende vor
große Schwierigkeiten, denn sie müssen sich hier ganz umstellen und haben dafür
nicht sehr viel Zeit, da die Anzahl der Stunden, die man fehlen darf, begrenzt ist.
Wenn kulturelle Unterschiede dieser Art bekannt sind und gesammelt werden,
können sie vor der Ankunft in Deutschland vorbereitet, vielleicht sogar im Deutschunterricht in China thematisiert werden. Es gibt aber auch andere Schwierigkeiten,
deren Ursachen nicht so leicht festzumachen sind. Warum wundern sich Dozenten
oft über die fehlende Sprechfertigkeit und Spontaneität von chinesischen Studenten,
über ihre Zurückhaltung bei Diskussionen und Gruppenarbeit? Warum klagen
chinesische Studenten in Deutschland über den mangelnden Kontakt zu anderen
Studierenden? Liegt es nur daran, dass sie in der Fremde gerne unter sich bleiben,
oder sind auch hier auch Unterschiede bzgl. der Lebensgewohnheiten und/oder der
Gesprächsthemen beteiligt? Vieles ist noch unklar und muss noch aufgedeckt und
geklärt werden, damit sich chinesische Studierende in Deutschland wohl fühlen und
sich in das Studentenleben voll integrieren können, um bei ihrem Studium hier bei
uns aus dem Vollem schöpfen zu können.“
27.10.2011
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