HH Ablatt-29.10.11
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8 THEMA Hamburger Abendblatt Donnerstag, 27. Oktober 2011 . . . R E P O RTAG E . I N T E RV I E W . ESSAY . P O RT RÄ T . D O KU M E N TAT I O N . . . Zitat zum Thema „Ich warne die Bundesregierung davor, diese Menschen (die Soldaten) im Stich zu lassen. Alle Härten müssen jetzt bestmöglich abgefedert werden.“ Oberst Ulrich Kirsch, Bundeswehrverband Online Die Reportagen und Berichte der letzten Thema-Seiten Abendblatt.de/thema Der Norden wird abgerüstet Das ohnehin strukturschwache Schleswig-Holstein soll die meisten Soldaten verlieren und den größten Beitrag zur Bundeswehr-Schrumpfkur leisten Ladelund Rantum Flensburg Kruså 840 490 Süderlügum 50 Niebüll Bargum Wyk 0 40 Bredstedt 0 Stadum 1590 Husum 1070 2630 Husum Hörnum 2350 komplette Schließungen Tönning St. Peter-Ording gleichbleibend oder Erhöhungen Friedrichstadt Meldorf Nordholz Rendsburg Hohn Hohenwestedt N I E D E R L A N D E Westerstede Winschoten Papenburg 850 630 OsterholzScharmbeck Bokel Friesoythe Ems 1280 1220 Großenkneten Lorup Wildeshausen Löningen Nordhorn Vechta Essen Meppen Visselhövede W Thedinges hausen er Lohne Quakenbrück Sulingen 1020 530 Diepholz Bersenbrück Fürstenau Damme Ibbenbüren Rheine NRW Fallingbostel Bad Essen Greven U L F B. C HRI ST E N WO L FGAN G K LI ETZ R üdiger Steffensen, Bürgermeister des 4500-Einwohner-Ortes Boostedt bei Bad Segeberg, kann es nicht fassen: „Die Kaserne in Boostedt soll dem Erdboden gleichgemacht werden“, schimpft er. Erst vor einer Woche noch habe der Bauausschuss der Gemeinde über den Antrag der Bundeswehr beraten, ein neues Wachgebäude am Eingang der Rantzau-Kaserne zu bauen. Just an der Kaserne, die jetzt 2015 dichtmachen soll. Von 1980 Soldaten sollen 1940 abrücken, der Rest ein Munitionsdepot bewachen. „Damit haben auch die Soldaten nicht gerechnet“, sagt Steffensen. In seinem Zorn nimmt er nun den Ministerpräsidenten ins Visier: Der habe nicht genügend für Boostedt gekämpft. „Ihm ist der Süden des Landes egal.“ Auf der Sparliste steht auch der zweite große Bundeswehrstandort im Hamburger Umland neben Boostedt, die Unteroffiziersschule der Luftwaffe in Appen. Sie soll 150 von derzeit 500 Soldaten verlieren, behält aber die Zweigstelle in Heide. Carstensen wies den Vorwurf zurück, er habe „nicht hart genug verhandelt“ Schleswig-Holstein steht unter Schock: Das strukturschwache Bundesland soll mit der Schließung von gleich acht Standorten und dem Abbau von mehr als 10 000 Soldaten (41,2 Prozent) den größten Beitrag zur bundesweiten Bundeswehr-Sparaktion liefern. In den betroffenen Standorten reagierten Bürger, Soldaten und Politiker enttäuscht, entsetzt und oft auch wütend. Die Nordelbische Kirche hat bereits angeboten, Soldaten und ihre Familien seelsorgerisch zu betreuen. Ministerpräsident Peter Harry Carstensen (CDU) zeigte aber trotz der harschen Proteste auch Verständnis für den „schmerzhaften Einschnitt“ und kündigte ein Hilfsprogramm an, damit die Lichter in Schleswig-Holstein nicht ausgehen. Carstensen wies den Vorwurf zurück, er habe „nicht hart genug verhandelt“, machte allerdings kein Geheimnis daraus, dass er sich in Berlin erfolgreich für das Pionierbataillon in Husum eingesetzt habe. Die Pioniere sind aus Sicht des Westküstenpolitikers unverzichtbar, um bei einer schweren Sturmflut die Deiche zu sichern. Umso stärker werden in Schleswig-Holstein Lübbecke Georgsmarienhütte Bünde Herford Bad Oeynhausen Bad Salzuflen Lehrte Barsing- andere Standorte bluten, neben Glücksburg und Kiel auch solche, in denen die Bundeswehr der mit Abstand größte Arbeitgeber in der Region ist. Das gilt für Seeth, Hohn oder Alt Duvenstedt ebenso wie für Lütjenburg, wo alle 830 Soldaten abrücken sollen. „Das ist eine politische und militärische Fehlentscheidung“, schimpfte Bürgermeister Lothar Ocker. In der kommenden Woche wollen die Lütjenburger mit einer Demonstration für den Erhalt der Schill-Kaserne streiten. „Wir werden darüber hinaus den Verteidigungsminister einladen, seine Entscheidung in Lütjenburg zu erläutern“, sagte Stadtsprecher Stefan Leyk. „Der Minister muss die Hosen runterlassen.“ Den großen Frust in Lütjenburg im Kreis Plön erklärt Leyk damit, dass die Kleinstadt (5400 Einwohner) ohne Bundeswehr kaum eine Zukunft hat. Ob Bäcker, Tankstelle oder die kleinen Geschäfte in der Innenstadt – alle leben von und mit den Soldaten. Ohne Bundeswehr muss mindestens einer der Wusterhausen BRANDENBURG Bernau Henningsdorf Kalbe SalzHolzminden gitter Sarstedt S.-Bad Nauen Rühen Tangermünde Gardelegen Genthin Haldensleben Wolmirstedt Hamburger Abendblatt: Herr Ministerpräsident, sind die Streichungspläne gerecht? Erwin Sellering: Ich habe schon den Eindruck, dass das Stationierungskonzept nach sachlichen Gesichtspunkten entschieden wurde und auch gerecht ist. Es wurde mal behauptet, dass Mecklenburg-Vorpommern einen Nachteil bei der Reform haben werde, weil ich als Ministerpräsident gegen den Afghanistan-Einsatz bin. Das hat sich jedoch nicht bewahrheitet. Welche Standorte in Mecklenburg-Vorpommern werden stark reduziert? Sellering: Wir sind schon deutlich betroffen. Die Dienstposten in Mecklenburg-Vorpommern sollen von 14 200 auf 10 600 reduziert werden. Am meis- Petershagen Rüdersdorf Brandenburg Potsdam Schönefeld Teltow Werder Ziesar Beelitz Burg Ludwigsfelde Königswusterhausen Zossen 25Belzig km Marienborn Schöningen Magdeburg Schöppenstedt Treuen- brietzen Quelle: Bundesverteidigungsministerium sechs Kindergärten schließen; gefährdet sind auch der örtliche Sportverein und nicht zuletzt die Arbeit im Stadtparlament: Jeder dritte Abgeordnete war oder ist Uniformträger. mern (6,4), auch dank Schleswig-Holstein: Das Glücksburger Flottenkommando soll nach Rostock umziehen. Sperrfeuer kam von der SPD. „Die Entscheidung des Verteidigungsministeriums ist desaströs für Schleswig-Holstein“, sagte der Bundestagsabgeordnete Hans-Peter Bartels dem Abendblatt. Mit mehr als 40 Prozent weniger Dienstposten sei das Land der Verlierer der Reform. „Für die Landesregierung ist das auf jeden Fall kein Erfolg“, meinte der Verteidigungsexperte. Andreas Breitner, Vizechef der Landes-SPD, griff Carstensen knapp sieben Monate vor der Landtagswahl frontal an. Der Regierungschef habe sich in Berlin zu wenig für die Interessen SchleswigHolsteins eingesetzt, kritisierte Breitner. Er ist als Bürgermeister von Rendsburg direkt betroffen, weil das Lufttransportgeschwader 63 im nahen Hohn auf der Sparliste steht. Carstensen versuchte, den betroffenen Standortgemeinden neue Hoffnung zu geben. Bereits heute will er auf In dem Land zwischen Nordund Ostsee wurden auch wegen seiner strategischen Bedeutung so viele Truppen stationiert. Carstensen bemühte sich, die Wogen zu glätten. „Wir mussten damit rechnen, dass Schleswig-Holstein durch die Reform hart getroffen wird, zumal unser Land bisher die höchste Stationierungsdichte hatte.“ Zudem bleibe Schleswig-Holstein auch nach der Reduzierung der Truppen von 26 000 auf 15 300 Soldaten mit einer Quote von 5,4 Dienstposten je 1000 Einwohner (bisher 9,2) die Nummer zwei in Deutschland. Den neuen Spitzenplatz hält nun Mecklenburg-Vorpom- Ministerpräsident Sellering über die künftige Truppenstationierung in Mecklenburg-Vorpommern :: Mecklenburgs Ministerpräsident Erwin Sellering (SPD) befürchtet Nachteile für Standort-Gemeinden, sieht aber auch Vorteile durch die Reform: Rostock wird Marine-Schwerpunkt. BERLIN Tangerhütte Königslutter Helmstedt Premnitz „Rostock wird deutlich gestärkt“ R OMAN HE F L I K Strausberg Falkensee Wolfsburg Wolfenbüttel Rathenow Stendal Oebisfelde Braunschweig Peine S A C H S E N - A N H A LT Klötze Eberswalde Oranienburg Friesack Arneburg Brome Joachimsthal Havelberg Fehrbellin Wittingen Ilsede 980 740 Kyritz Osterburg Burgdorf 1510 hausen Wunstorf 1040Bad Münder 1840 Rinteln Springe 1820 Hameln Bückeburg Salzwedel Wesendorf Templin Gransee Neuruppin Bad Wilsnack Seehausen N I E D E R S A CGifhorn HSEN BückeStadthagen burg Fürstenberg Wittenberge Schnackenburg Arendsee Celle Wietze Prenzlau Rheinsberg Hankensbüttel 1080 400 Wunstorf Espelkamp Minden Melle Celle Dedelow Mirow Perleberg Lüchow 1920 Unterlüß 1730 1160 570 Neustrelitz Pritzwalk Dannenberg Gorleben Pasewalk Lychen Dömitz Uelzen 650 530 2320 1290 Langenhagen Neustadt a. R. e Hitzacker Faßberg Hannover Petershagen Osnabrück Tecklenburg Lengerich Steinfurt Walsrode 1520 Nienburg 1220 Schwarmstedt Stolzenau Bohmte Emsdetten LohheideMunster Soltau Neustadt a. R. 1520 1070 Diepholz 6260 5270 Ebstorf Strasburg Wittstock Elb 1820 710 Torgelow Neubrandenburg Röbel 60 Ludwigslust 0 Neuhaus Bad Bevensen Bergen Nienburg Bramsche Bad Bentheim 680 20 Verden Munster Bispingen Hoya Twistringen Bisp.-Wilsede Achim 2550 Syke 1380 Bassum Lübtheen Ueckermünde Neubrandenburg 150 0 NeustadtGlewe Lübtheen Rotenburg Visselhövede Hagenow Lüneburg Lüneburg 1170 900 Friedland 700 0 Rechlin Parchim Boizenburg Viereck Waren Crivitz Usedom 1640 1600 Anklam Stavenhagen Altentreptow Büchen Schwanheide Torgelow Jarmen Trollenhagen MECKLENBURG-VORPOMMERN 1460 1420 Bleckede Tostedt 2090 Schneverdingen 1540 1230 Teterow 1260 Sternberg Hagenow Ratzeburg Mölln Lauenburg Winsen Wolgast Lassan Demmin Dargun Malchin Geesthacht Rotenburg/W. RostockLaage Güstrow Bad Kleinen Gadebusch Buxtehude Zinnowitz Lubmin Greifswald Laage Schwaan Wismar Herrnburg 2730 2360 Reinbek Sittensen Delmen- BREMEN horst Delmenhorst Weyhe Dassow Grevesmühlen Buchholz Zeven Grimmen Gnoien Boltenhagen Travemünde Trittau Hamburg Horneburg Miltzow Tribsees Neubukow Timmend. Str. Bad Schwartau Ahrensburg Hollenstedt Scharmbeck Oldenburg Cloppenburg 980 970 3490 2710 590 450 Bad Doberan Bargteheide Wedel Bad Sülze Scharbeutz Bad Oldesloe Seedorf 870 870 Osterholz- Wardenburg 40 0 Lingen Bremervörde Stade Worpswede Garrel Meppen Hechthausen Norderstedt Uetersen 500 350 Pinneberg Drochtersen Bad Zwischenahn 940 940 Haren Appen Die Nachnutzung von Kasernen wird schwierig, die SPD fordert Härtefonds Putbus Stralsund Ribnitz-Damgarten Rostock Rerik Neustadt 940 490 Bad Segeberg 1980 40 Glückstadt Grömitz Barth Kühlungsborn Elmshorn Bad Bederkesa Elsfleth Wahlstedt Boostedt Bad Bramstedt 730 250 Binz Prerow Graal-Müritz Kellenhusen Eutin Plön Neu- Itzehoe Bremerhaven Hemmoor 1300 0 Brake Rastede Plön Kellinghusen Wischhafen Oldenburg i. H. Oldenburg Dahme SCHLESWIG-HOLSTEIN münster Brunsbüttel Otterndorf Emden Lütjenburg Preetz Sassnitz Mukran Bergen Wustrow 2320 2240 Großenbrode Bornhöved Schortens Hesel 940 0 850 0 RostockWarnemünde Burg Wiek 1470 830 Gedser Heiligenhafen 5290 3590 Alt-Duvenstedt Kramerhof Puttgarden 830 0 Kiel Schönberg Marne Loxstedt Lütjenburg Eckernförde Cuxhaven Leer 2340 2300 Friedrichskoog 1900 2110Duhnen 1630 WilhelmsHarlesiel 2050 haven Wittmund Esens Norddeich 7780 1660 Wittmund Norden Jever Wilhelms-8570 730 Aurich haven Schortens Nordenham Aurich Greetsiel 550 110 Schwanewede Wiesmoor Varel Marilyst Rødby Havn Laboe 720 0 Heide Nykøbing Maribo Rødby Eckernförde Kropp Schleswig 270 280 Guldborg Nakskov Kappeln Damp Niedersachsen verliert ein Fünftel der Soldaten D Ä N E M A R K 20 0 Gelting Süderbrarup Büsum alte Zahlen gekürzt auf neue Zahlen Leer 0 Flensburg Seeth Kürzungen bei Bundeswehrstandorten mit mehr als 500 Beschäftigten 1980 40 Glücksburg 920 Hürup Glücksburg ten Sorgen bereiten uns dabei massive Streichungen in Neubrandenburg. Dafür werden wir im Marinebereich gestärkt, indem wir in Rostock das Marinekommando bekommen werden. Positiv ist auch, dass die Luftwaffe in Rostock-Laage gestärkt wird. ausgerichtet wird. Wenn dann mit der Reform 75 000 Bundeswehrstellen abgebaut werden, ist ein Land mit vielen Standorten wie unseres zwangsläufig mit dabei. Die Bundeswehr bleibt im Land aber stark präsent. Trotz allen Streichungen behält Mecklenburg-Vorpommern künftig die höchste Dichte an Soldaten. Warum? Sellering: Das hängt ganz einfach damit zusammen, dass wir eine lange Küste haben und deswegen die Marine bei uns stationiert ist. Sie tragen die Kürzungen also mit? Sellering: Deutschland lebt heute in Frieden mit all seinen Nachbarn. Da ist klar, dass wir nicht mehr eine so große Bundeswehr brauchen. Die Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern steht hinter der Verkleinerung. Kritisch sehe ich, dass die Bundeswehr immer stärker auf weltweite Kampfeinsätze Was bedeutet der Abzug für Ihr Land? Sellering: Die Bundeswehr ist ein Wirtschaftsfaktor und ein ganz starker Faktor im sozialen Leben der Städte und Kommunen mit Kasernen. Jetzt wird man zusammen mit dem Bund und den Kommunen alles tun müssen, um zu helfen. Da gibt es viele Fragen: Wie geht das weiter mit den Liegenschaften? Was kann man daraus entwickeln? Wir wollen den Kommunen dabei helfen, mit diesen Flächen etwas anzufangen. Erwin Sellering, SPD, Ministerpräsident von MecklenburgVorpommern Foto: picture-alliance + Luckenwalde Abendblatt-Grafik: F. Hasse der in Lübeck tagenden Konferenz der Ministerpräsidenten dafür streiten, dass der Bund den Truppenabbau mit einem Konversionsprogramm abfedert und frei werdende Bundeswehrflächen „verbilligt“ an die Gemeinden abgibt. Zudem will das Kieler Kabinett am nächsten Dienstag einen „Aktionsplan“ aufstellen, um Gemeinden den Weg in eine zivile Nutzung von Bundeswehrliegenschaften zu ebnen. Solche Programme haben in Schleswig-Holstein Tradition. Das kleine Land zwischen Nord- und Ostsee, in dem auch wegen seiner strategischen Bedeutung im Kalten Krieg so viele Truppen stationiert wurden wie nirgendwo sonst, musste schon bei früheren Bundeswehrreformen kräftig bluten. Seit 1988, als von 1000 Einwohnern 30 Soldaten waren, wurden im Norden bereits mehrere Dutzend Standorte geschlossen, insgesamt 60 300 Soldaten abgezogen. Im Zuge jeder Sparaktion legte die jeweilige Kieler Regierung ein eigenes Hilfsprogramm auf, das einige Früchte trug. Das ehemalige Munitionslager Enge-Sande ist heute ein Testzentrum für Offshore-Windenergie, in den früheren Munitionsdepots in Löwenstedt und Süderlügum lagern Feuerwerkskörper und der stillgelegte Fliegerhorst Eggebek hat eine Perspektive als Energie- und Technologiepark. Letzte Hoffnung für Reformopfer ist die Landtagswahl Neben solchen Erfolgen gibt es aber auch zahlreiche Pleiten. Für mehr als 40 Bundeswehr-Liegenschaften fand sich bisher kein Interessent. Die Nachnutzung anderer Flächen, etwa auf Sylt, gestaltete sich auch schwierig, weil der Bund mit den Grundstücken Kasse machen wollte. Auf der Kippe steht eines der größten Konversionsprojekte, der Umbau des früheren Marinestützpunktes Kappeln-Olpenitz zum größten Ferienparadies in Europa. Die Investorengesellschaft musste vor Kurzem Insolvenz anmelden. Hinzu kommt, dass Schleswig-Holstein sich keine weitere millionenschwere Hilfsaktion leisten kann. Selbst die üblichen Bund-Länder-Förderprogramme wurden im Zuge der jüngsten Sparwelle eingedampft. Letzte Hoffnung für Boostedt, Lütjenburg und die anderen Reformopfer ist die nahe Landtagswahl im Mai 2012. Sie könnte alle Parteien trotz leerer Landeskasse zu teuren Zugeständnissen bewegen. HA NNOV ER/ LÜNEBUR G :: Auf den ersten Blick kommt Niedersachsen beim Truppenabzug der Bundeswehr mit einem blauen Auge davon. Rund 10 000 von jetzt noch mehr als 50 000 Dienstposten entfallen, aber das Land bleibt bei der Bundeswehrpräsenz – hinter Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein – gleichauf mit Rheinland-Pfalz in der Spitzengruppe. Tatsächlich aber stehen Landesregierung und Kommunen seit gestern vor viel größeren Problemen, weil auch die britischen Truppen das Land verlassen. Da geht es noch einmal um rund 11 000 Mann sowie deren Familienangehörige. Der Verlierer schlechthin in Niedersachsen ist die Gemeinde Schwanewede im Landkreis Osterholz. Hier wird die Garnison mit jetzt 1130 Soldaten aufgelöst, nachdem die Bundeswehr schon in der Vergangenheit massiv Personal abgebaut hatte. Starke Reduzierungen müssen auch Lüneburg (von 1820 auf 710), Hannover (2320 auf 1290), Munster (6260 auf 5270), Visselhövede (680 auf 20), Rotenburg (2090 auf 1540) und Celle (1080 auf 400) hinnehmen. Celle ist zudem vom Abzug der Briten besonders betroffen, wie etwa auch Bergen. Das Echo der betroffenen Kommunalpolitiker reichte von „schlicht eine Katastrophe“ im Fall Schwanewede bis hin zu offener Freude. Es gibt nämlich nicht nur Verlierer, sondern auch Profiteure durch die Umorganisation der Bundeswehr. So konzentriert die Marine viele Aufgaben im besonders strukturschwachen Wilhelmshaven, im Ergebnis steigt die Zahl der Soldaten dort um rund 700 auf knapp 8600. Laut Ver.di trifft der Abbau auch 2000 Zivilbeschäftigte Vielerorts hatten Bürgermeister und Landräte sogar noch schlimmere Einschnitte befürchtet. Lüneburgs Oberbürgermeister Ulrich Mädge (SPD) zeigte sich „erleichtert“, dass der Standort Lüneburg bestehen bleibt: „Offenbar hat man unsere sachlichen Informationen über die Vorteile des Standortes anerkannt.“ Der Lüneburger Landrat Manfred Nahrstedt (SPD) forderte, dass nun der Zeitplan für die Umstrukturierung offengelegt werden solle: Man müsse „mit den Soldaten, die Lüneburg verlassen müssen, offen umgehen und ihnen aufzeigen, wie und wo es mit ihnen weitergehen soll“. Ganz anders aber sieht es Franka Strehse, SPD-Bürgermeisterin von Visselhövede, wo nur 20 von bislang 680 Dienstposten erhalten bleiben: „Diese Entscheidung ist für uns schwieriger als eine komplette Schließung der Kaserne“, sagt sie. Gerade wenn nämlich nur so wenige Dienstposten der Bundeswehr verbleiben, mindere das die Chance, eine attraktive Nachnutzung für die Kasernen zu finden. Ob nun Tourismus oder Gewerbeansiedlung, die Kommunen brauchen Gewerbesteuereinnahmen und Umsätze im Einzelhandel, wenn so viele Soldaten wegziehen. Deshalb appellierte der Städte- und Gemeindebund Niedersachsen (NSGB) gestern bereits an das Bundesverteidigungsministerium, die Kommunen nicht im Stich zu lassen: „Der Bund muss die Planungskosten für die Nachnutzung der Liegenschaften übernehmen. Und es darf auch nicht nur um maximale Gewinnerzielung bei der Verwertung gehen“, so der NSGB. Es sei „unhaltbar“, wenn sich – wie im Falle Emden geschehen –, die Entscheidung einer Nachnutzung 13 Jahre hinziehe. Die oppositionelle SPD im Landtag in Hannover forderte gestern einen Härtefonds von Bund und Land für besonders betroffene Kommunen. Die Gewerkschaft Ver.di rechnete vor, außer mehr als 10 000 Soldaten treffe der Truppenabbau auch mindestens 2000 Zivilbeschäftigte in Niedersachsen. Hier seien aber betriebsbedingte Kündigungen durch einen Tarifvertrag ausgeschlossen. (fert)