Walther von der Vogelweide, sog. Preislied

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Walther von der Vogelweide, sog. Preislied
In unregelmäßigen Abständen präsentiert Lyrikmail in Zusammenarbeit mit Dr. Martin Schuhmann
(Universität Frankfurt/Main) Texte aus mittelhochdeutscher und althochdeutscher Zeit in Original
und Übersetzung. Martin Schuhmann freut sich auf Ihr Feedback. [email protected]; http://www.uni-frankfurt.de/fb/fb10/inst_ii/ADL/mitglieder/schuhmann/Lyrikmail.html
-----------------------------Lyrikmail Nr. 1829 vom 02.10.2008
-----------------------------Walther von der Vogelweide: „Ir sult sprechen ‚willekomen‘“ – „Ihr sollt sagen: ‚Willkommen‘“!
(Übersetzung im Anschluss an das Original)
[I] Ir sult sprechen „willekommen“,
der iu maere bringet, daz bin ich.
allez daz ir habent vernomen,
dâst gar ein wint: nu frâgent mich.
ich wil aber miete.
und wirt mîn lôn iht guot,
ich sage lîhte daz iu sanfte tuot.
sehet waz man mir êren biete!
[I] Ihr sollt sagen: „Willkommen“!
Der euch die Neuigkeiten bringt, das bin ich.
Was auch immer ihr bis jetzt gehört hat,
das ist gar nichts dagegen: Nun fragen alle mich.
Ich will aber dafür belohnt werden –
und wenn mein Lohn ansehnlich wird,
dann sage ich vielleicht was, das euch gut tut.
Nun überlegt mal, wie man mir Ehren erweisen kann!
[II] Ich wil tiutschen frowen sagen
solhiu maere daz si deste baz
al der werlte suln behagen.
âne grôze miete tuon ich daz.
ze rîcheme lône
sint si mir ze hêr;
sô bin ich gefüege, und bite si nihtes mêr
wan daz si mich grüezen schône.
[II] Zu den deutschen Damen werde ich nur noch
solche Dinge sagen, dass sie der ganzen Welt
noch besser gefallen.
Das mache ich ohne eine große Belohnung.
Für eine große Belohnung
sind sie mir zu edel so bleibe ich anständig und bitte sie um nichts weiter,
als dass sie mich geziemend grüßen.
[III] Ich hân lande vil gesehen
unde nam der besten gerne war.
übel müeze mir geschehen,
kunde ich ie mîn herze bringen dar
daz ime wol gevallen
wolde frömder site.
waz hulfe mich, ob ich unrehte strite?
tiutschiu zuht gât vor in allen.
[III] Ich habe viele Länder gesehen
und habe mir gerne dort die Besten genau angesehen.
Doch etwas Schlimmes soll mir zustoßen,
wenn ich jemals mein Herz dazu brächte,
dass ihm fremde Lebensart gut gefallen wollte.
Was brächte es mir, wenn ich auf unrechte Sache kämpfte?
Die Art, wie die Deutschen ihr Leben führen, ist besser als
jede andere.
[IV] Von der Elbe unz an den Rîn
und her wider unz in Ungerlant
sô mugen wol die besten sîn,
die ich in der werlte hân bekant.
kan ich rehte schouwen
guot gelâze und lîp,
sem mir got, so swüere ich wol daz dâ diu wîp
bezzer sint danne anderswâ die frouwen.
[IV] Von der Elbe bis an den Rhein
und wieder zurück bis ins Land der Ungarn,
da könnten gut die Besten leben,
die ich auf der ganzen Welt gesehen habe.
Wenn ich was verstehe von
edlem Gebaren und edlen Leibern / (Gott steh mir bei),
dann schwöre ich aufrichtig, dass hier die einfachen Frauen
besser sind als die adeligen Damen anderswo.
[V] Tiutsche man sint wol gezogen,
rehte als engel sint diu wîp getân.
swer si schildet, der ist betrogen;
ich enkan sîn anders niht verstân.
tugent und reine minne,
swer die suochen wil,
der sol komen in unser lant, dâ ist wünne vil.
lange müeze ich leben dar inne!
[V] Deutsche Männer verstehen was von höfischer
Lebensart, / ganz wie Engel sind die Frauen erschaffen.
Wer sie tadelt, der ist getäuscht;
über den kann ich nichts anders urteilen.
Alles, was erstrebenswert ist, und wirkliche Liebe
– wer das suchen will,
der soll in unsere Länder kommen, da ist Freude viel.
Lange möge ich dort leben!
[VI] Der ich vil gedienet hân
unde iemer gerne dienen wil,
diu ist von mir vil unerlân,
iedoch sô tut si leides mir sô vil.
si kan sêren
mir daz herze und den muot.
nu vergebez ir got daz si an mir missetuot.
her nâch mac si sichs bekêren.
[VI] Die, um die ich mich lange bemüht habe,
und um die ich mich immer gern bemühen will,
die will ich niemals aus meiner Liebe lassen
- aber : Sie fügt mir so viel Leid zu.
Sie kann mir verletzen
das Herz und den Sinn.
Nun vergebe es ihr Gott, dass sie falsch an mir handelt.
In Zukunft kann sie sich zu besserem Handeln bekehren.
--------------------------------------------------------------Der Text folgt der Ausgabe „Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters“ von Ingrid Kasten im
Deutschen Klassiker Verlag, Frankfurt a.M.; das Lied ist dort Nr. 172. Übersetzung: Martin
Schuhmann.
------------------------------------------------------------------Autor und Werk
Walther von der Vogelweide (tätig vielleicht in der Zeit von vielleicht 1190 – 1230) ist mit Sicherheit
einer der bedeutendsten Lyriker des Mittelalters und der deutschen Literaturgeschichte. Und sein
obiges Gedicht, das so genannte „Preislied“ diente, wie Sie vielleicht gemerkt haben, für Teile der
deutschen Nationalhymne als Vorbild (dass diese Teile nicht mehr gesungen werden, hat seine
eigene unheilvolle Geschichte, die mit Walther nichts zu tun hat). In der ersten Strophe tritt Walther
prahlerisch auf und kündigt an, neue, bisher ungehörte Dinge zu zählen – und seinem Publikum
wohltuende Dinge zu erzählen, wenn es nur gut bezahlt. Das tut er in der Folge ausgiebig, und
seinem (deutschsprachigen) Publikum wird es gefallen haben. Dass Walther damit bestimmte Ziele
verfolgt, wird dann in der 6. Strophe wieder deutlich, denn die leise Ironie des angekündigten und
nicht gerade bescheidenen Lobs weicht der Feststellung, dass eine „sie“ Walther nicht erhören will.
Die Forschung nimmt mit guten Gründen an, dass es sich hierbei nicht um eine Frau handelt, sondern
um den Wiener Hof, an dem Walther wieder Fuß fassen will. Wir wünschen Ihnen jedenfalls einen
schönen Tag der Deutschen Einheit, an dem Ihre Wünsche zumindest teilweise erhört werden!
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