Walther von der Vogelweide, owê war sind verswunden

Transcription

Walther von der Vogelweide, owê war sind verswunden
Mittelalterliche Texte in der Lyrikmail – (c) Dr. Martin Schuhmann, Frankfurt
[email protected]
Jeden zweiten Mittwoch im Monat präsentiert Lyrikmail in Zusammenarbeit mit Dr. Martin Schuhmann (Universität
Frankfurt/Main) Texte aus dem Mittelalter in Original und Übersetzung. Martin Schuhmann freut sich auf Ihr Feedback:
[email protected];
http://www.uni-frankfurt.de/fb/fb10/IDLD/ADL/mitglieder/schuhmann/Lyrikmail.html
-----------------------------Lyrikmail Nr. 2343, 12.01.2011
------------------------------
Walther von der Vogelweide: „Owê war sind verswunden alle mîne jâr“ –
„Oh weh, wohin sind verschwunden alle meine Jahr“ (sogenannte „Alterselegie“)
(1)
Owê war sint verswunden alle mîne jâr,
ist mîn leben mir getroumet, oder ist ez wâr?
daz ich ie wânde daz iht waere, was daz iht?
dar nâch hân ich geslâfen und enweiz es niht.
nû bin ich erwachet und ist mir unbekant
daz mir hie vor was kündic als mîn ander hant.
liute unde lant, dâr ich von kinde bin erzogen,
die sint mir frömde worden reht als ob ez sî gelogen.
die mîne gespiln wâren, die sint traege unde alt.
bereitet ist daz velt, verhouwen ist der walt,
wan daz daz wazzer fliuzet als ez wîlent vlôz,
für wâr ich wânde mîn ungelücke wurde grôz.
mich grüezet maniger trâge, der mich bekande ê wol.
diu welt ist allenthalben ungnâden vol.
als ich gedenke an manigen wunneclîchen tac,
die mir sint enphallen als in daz mer ein slac,
iemer mêre ouwê.
(1)
Oh weh – wohin sind verschwunden alle meine Jahr,
ist mir mein Leben nur geträumt, oder ist es wahr?
Das, von dem ich glaubte, es wäre etwas – war das etwas?
So wie es jetzt ist: Ich habe geschlafen und weiß es nicht!
Jetzt bin ich aufgewacht und mir ist unbekannt,
was ich vorher kannte wie meine zweite Hand.
Menschen und Land, in dem ich von Kind an wurde erzogen,
die sind mir fremd geworden: Genauso, als ob es Lügen
wären. / Die, mit denen ich gespielt habe, die sind träge und
alt. / Angelegt ist das Feld, abgehauen ist der Wald,
wenn nicht das Wasser so fließen würde, wie es damals floss,
wäre (denke ich) mein Unglück groß geworden.
Mich grüßt so mancher verdrossen, mit dem ich früher gut
bekannt war; / die Welt ist allenthalben voll von Ungnädigkeit.
Wenn ich denke an so manchen wunderbaren Tag,
der mir in den Händen vergangen ist, wie in das Meer ein
Schlag: / Immer mehr: Oh weh!
(2)
Owê wie jaemerlîche junge liute tuont,
den ê vil hovelîche ir gemüete stuont!
die kunnen niuwan sorgen. ouwê wie tuont si sô?
swar ich zer werlte kêre, dâ ist nieman vrô:
tanzen, singen zergât mit sorgen gar:
nie kristenman gesach sô jaemerliche jar.
nû merkent wie den frouwen ir gebende stât!
die stolzen ritter tragent dörpellîche wât.
uns sint unsenfte brieve her von Rôme komen,
uns ist erloubet trûren und fröide gar benomen.
daz müet mich inneclîchen sêre (wir lebten ie vil wol),
daz ich nû für mîn lachen weinen kiesen sol.
die wilden vogel betrüebet unser klage;
waz wunders ist ob ich dâ von verzage?
waz spriche ich tumber man durch mînen boesen zorn?
swer dirre wunne volget, der hât jene dort verlorn,
iemer mêr ouwê.
(2)
Oh weh, wie beklagenswert die jungen Leute handeln,
deren Sinn einst so höfisch war!
Die können nichts mehr, außer sich Sorgen machen! O weh,
warum handeln sie so? / Wohin ich mich auch in der Welt
wende, da ist niemand fröhlich: / Tanzen, Singen – das geht
ganz in Sorgen auf; / niemals hat ein Christenmensch so
jämmerliche Jahre gesehen. / Jetzt achten Sie darauf, wie es
um den Kopfschmuck der Damen steht – / [Und] Die stolzen
Ritter tragen bäuerliche Kleidung! / Für uns sind unbequeme
Briefe aus Rom gekommen: / Uns ist [den Briefen zu Folge]
das Trauern erlaubt und die Freude ganz genommen. / Das
macht mir innerlich viel Kummer (wir haben vorher doch so
schön gelebt!), / dass ich nun Weinen statt meines Lachens
wählen soll. / Die wilden Vögel sind traurig über unsere Klage:
/ Ist es da ein Wunder, wenn ich darüber verzage? / [Jedoch:]
Was spreche ich dummer Mann in meinem unnützen Zorn? /
Wer dieser Freude [hier auf Erden] folgt, der hat jene dort [im
Jenseits] verloren. / Immer mehr: Oh weh!
- bitte umblättern! -
1
Mittelalterliche Texte in der Lyrikmail – (c) Dr. Martin Schuhmann, Frankfurt
[email protected]
(3)
Owê wie uns mit süezen dingen ist vergeben!
ich sihe die bittern gallen mitten in dem honige sweben:
diu Welt ist ûzen schoene, wîz grüen unde rôt,
und innân swarzer varwe, vinster sam der tôt.
swen si nû verleitet habe, der schouwe sînen trôst:
er wirt mit swacher buoze grôzer sünde erlôst.
dar an gedenkent, ritter, ez ist iuwer dinc!
ir tragent die liehten helme und manigen herten rinc,
dar zuo die vesten schilte und die gewîhten swert.
wolte got, waer ich der sigenünfte wert!
sô wolte ich nôtic man verdienen rîchen solt.
joch meine ich niht die huoben noch der hêrren golt.
ich wolte selbe krône êweclîchen tragen;
die mohte ein soldener mit sîme sper bejagen.
möhte ich die lieben reise gevarn über sê,
sô wolte ich denne singen wol unde niemêr mêr ouwê.
(3)
Oh weh, wie uns die angenehmen Dinge vergiften!
Ich sehe die bittere Galle mitten im Honig treiben:
Die Welt ist außen schön – weiß, grün und rot –
und innen ist sie von schwarzer Farbe, dunkel wie der Tod.
Wer auch immer [von der Welt] verleitet wurde, der sehe
[hier] seinen Trost: / Er wird mit einer milden Buße von großer
Sünde erlöst. / Daran denkt, ihr Ritter, das ist eure Aufgabe!
Ihr tragt die strahlenden Helme und manchen harten Ring [am
Panzer der Rüstung], / dazu die festen Schilde und die
geweihten Schwerter. / Ach, wollte Gott, dass ich dieser Siege
würdig wäre – / dann wollte ich notleidender Mann mir
reichen Sold verdienen! / Damit meine ich aber wirklich
keinen Landbesitz oder das Gold der Herrscher. / Ich wollte
diese eine ewige Krone tragen, / die sich ein Söldner mit
seiner Lanze erkämpfen kann. / Könnte ich die Annehmlichkeiten bringende Reise über das Meer unternehmen, / so
wollte ich denn richtig singen und niemals mehr: Oh weh!
-------------------------------------------------------Der Text des Originals folgt der sehr guten Minnesangausgabe (mit Übersetzungen und Kommentar) herausgegeben von
Ingrid Kasten: Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters, Frankfurt 1995 u.ö. (auch als Taschenbuch erhältlich).
Der Text trägt dort die Nummer 214. Wissenschaftliche Notation: L(achmann) 124,1. Übersetzung: Martin Schuhmann.
------------------------------------------------------Das neue Jahr mit einer Klage beginnen? Warum nicht, aber dann vielleicht so wie Walther von der Vogelweide. Walther,
der wahrscheinlich Ende des 12. Jahrhunderts anfing zu dichten und nach seinen eigenen Worten „40 Jahre oder mehr“
lang Lieder verfasste, stellt sich in diesem Text als Mann vor, dem seine Umwelt fremd geworden ist: Die höfische Kultur
sei nicht mehr dieselbe wie früher, die Leute sängen keine fröhlichen Lieder mehr, seien verdrossen, unfreundlich oder
undankbar, und trügen keine schönen Kleider mehr (1. Strophe und Großteil der 2. Strophe). Warum? Es seien „unsenfte“
(unbequeme) Briefe mit nicht genanntem Inhalt aus Rom angekommen, die Trauer anraten würden (2. Strophe, Vers 9).
Darüber klagt Walther noch ein paar Verse – mittlerweile ist weit mehr als die Hälfte des Gedichts vorbei – um dann eine
erstaunliche Wende zu vollziehen: Das sei alles bisher im ganz unnützen Zorn gesprochen worden (2,15); und es sei ja
auch viel wichtiger, sich auf sein Seelenheil zu konzentrieren als irdischer Freude nachzulaufen. Der Rest des Gedichts ist
dann ein Aufruf zum Kreuzzug, der erst richtig deutlich wird, als kurz vor Schluss von „der lieben Reise über sê“ die Rede
ist, von der Fahrt übers Meer: Das ist das Kürzel der Zeit für die Kreuzzugsfahrt.
Ein flammender Aufruf zum Kreuzzug ist das aber nicht; man bekommt eher deutlich das Gefühl, dass Walther sich für
diese dichterische Aufgabe, auf die das Gedicht ja eigentlich zuläuft, nicht richtig interessiert. Der Kreuzzugsaufruf leidet
auch darunter, dass Walther sich gleich selbst eine Entschuldigung für die Fahrt ausstellt: Das ist eine Aufgabe für Ritter
(3. Strophe, Vers 7), und er sei dieser Siege nicht würdig, wahrscheinlich weil er arm ist (3,10f.); aber er würde gern
darüber singen, wenn er nur könnte. Das letzte ist wahrscheinlich der Schlüssel zum Gedicht und seiner Raffiniertheit: Das
Lied ist ganz aus der Perspektive des Sängers gedacht, der den Niedergang seiner Kunst beklagt, weil die Leute mit ihren
Sorgen beschäftigt sind. Und am Kreuzzug, der hier eher als Spaziergang vorgestellt wird („schwache buoze“, „liebe
reise“), stellt Walther vor allem heraus, dass man über ihn gut singen könnte – wenn man denn teilnehmen könnte oder
wollte. Dann könnte man auch aufhören zu klagen, aber das Klagen trägt das Lied ja gerade...
Die Klage darüber, dass die Freude der Welt dahin sei, ist jedenfalls der wesentliche Bestandteil des Lieds, und diese Klage
kann man sich gern gefallen lassen. Wir wünschen Ihnen denn auch ein glückliches, freudiges und fröhliches 2011!
2

Documents pareils