Die Transformation ist nicht vorhersagbar

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Die Transformation ist nicht vorhersagbar
JOURNAL Club
Leukämie
Von monoklonaler B-Zell-Lymphozytose zu chronisch lymphati­scher Leukämie
Die Transformation ist nicht vorhersagbar
Hintergrund und Fragestellung
Rawstron AC,
Bennett FL,
O‘Connor SJ et al.
Mono­clonal B-cell
lymphocytosis and
chronic lymphocytic
­leukemia.
N Engl J Med 2008;
359:575–83.
MBL festgestellt. Bei diesen Patienten fanden sich
die CLL-typischen chromosomalen Aberratio­nen
13q14-Deletion und Trisomie 12 in gleicher Häufigkeit wie bei CLL-Patienten. Außerdem konnte bei
diesen Patienten ein vermindertes Repertoire der
Immunglobulin-Schwerketten-Gene (IGHV) nachgewiesen werden, ähnlich wie bei CLL-Patien­ten.
Bei den 185 Patienten mit MBL, die im Verlauf
beobachtet wurden, stieg in 28% der Fälle die Lymphozytenzahl kontinuierlich an. Eine progrediente
CLL entwickelten 15% der Patienten. Bei 7% der
MBL-Patienten war im Verlauf eine Chemotherapie notwendig. Der einzige unabhängige prognostische Faktor zur Vorhersage einer progredienten
Lymphozytose war die absolute B-Zellzahl.
Im Verlauf der medianen Nachbeobachtung im
Zeitraum von 6,7 Jahren waren 62 der 185 Patienten
(34%) verstorben, aber nur vier davon an einer
CLL. Unabhängige prognostische Faktoren zur
Vorhersage des Todes waren Alter über 68 Jahren
und ein Hb-Wert unter 12,5 g/dl.
Die Diagnose einer chronischen lymphati­schen Leukämie (CLL) erfordert den Nachweis von 4000 zirkulierenden Lymphozyten mit dem CLL-Phänotyp
pro mm³ peripheren Blutes. Asymptomati­sche Personen, die zirkulierende Lymphozyten mit CLLPhänotyp in geringerer Anzahl aufweisen, haben
definitionsgemäß eine monoklonale B-Zell-Lymphozytose (MBL). Ziel der Studie war es, den Zusammenhang zwischen MBL und CLL aufzuklären.
Patienten und Methodik
Die Studie umfasste 1520 Personen (67–80 Jahre),
die das Universitätskrankenhaus in Leeds (Groß­
britannien) wegen nicht hämatologischer Probleme
mit einem normalen Blutbild besucht hatten, sowie
2228 Perso­nen, die wegen einer Lymphozytose von
mehr als 4000 Lymphozyten/mm³ überwiesen wurden. Wurden in der Flow-Zytometrie monoklonale
B-Zellen nachgewiesen, folgten zytogenetische und
molekulare Analysen. In einer repräsentativen Kohorte von 185 Personen mit CLL-typischer Lymphozytose und MBL erfolgte eine Verlaufskontrolle.
Schlussfolgerungen
Zellen mit einem CLL-Phänotyp, die in der gesunden Bevölkerung sowie bei Patienten mit Lymphozytose nachgewiesen werden, weisen weitere Charakteristika von CLL-Zellen auf. Die Rate der
Transformation einer MBL mit Lymphozyten über
n
4000/µl in eine CLL beträgt 1,1% pro Jahr. Ergebnisse
Bei den 1520 Kontrollpersonen mit normalem Blutbild, die wegen nicht hämatologischer Probleme in
die Klinik kamen, wurden in 5,1% der Fälle zirkulierende monoklonale B-Lymphozyten mit einem
CLL-typischen Phänotyp entdeckt. Unter den 2228
Patienten, die wegen Lymphozytose > 4000/mm³ in
die Klinik kamen, wurde in 13,9% der Fälle eine
Am Leben und keine
Therapie gegen CLL
100
Patienten (%)
Bach Rawstron AC et al. N engl J Med 2008
75
Am Leben
50
25
0
0
1
2
3
4
5
6
Jahre seit Diagnose
7
8
9
10
Stabile Erkrankung
b
Patienten mit stabiler Erkrankung (%)
Überlebensraten
a
Schlüsselwörter: Monoklonale B-Zell-Lymphozytose – chronische lymphati­sche Leukämie
100
B-Zellen < 1900/mm3
B-Zellen 1900–
4000/mm 3
75
50
B-Zellen > 4000/mm3
25
p = 0,003
0
0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Jahre seit Diagnose
Abbildung 1. Verlauf bei Patienten mit CLL-Phänotyp MBL und Lymphozytose. (a) Gesamtüberlebensraten und Überlebensrate ohne CLL-Therapie. (b) Stabile CLLPhänotyp-MBL, definiert als Symptomfreiheit bzw. Fehlen von CLL-Charakteristika und stabiler Lymphozytenzahl (keine Verdopplung seit Diagnose).
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In❘Fo❘Onkologie 2008;11:406 (Nr. 6)
Die Strategie bei MBL heißt „watch and wait“
Kommentar von Manfred Hensel
D
ie aktuellen Guidelines zur Diagnose und Therapie der CLL, die vom International Workshop
on Chronical Lymphocytic Leukemia (IWCLL) 2008
veröffentlicht wurden, verlangen 5000 oder mehr
B-Lymphozyten mit dem CLL-Phänotyp/µl im peripheren Blut [1]. Dies steht im Gegensatz zu den
früheren Guidelines der National Cancer Institutsponsored Working Group, die lediglich 5000 oder
mehr Lymphozyten/µl Blut (egal ob B oder T) gefordert hatte. Hierdurch wird der Tatsache Rechnung
getragen, dass auch reaktive T-Zellen zur Lymphozytose beitragen können und so möglicherweise
gelegentlich fälschlicherweise eine CLL diagnostiziert worden ist.
Häufig werden aber Patien­ten mit einer relativen Lymphozytose bei normaler Gesamtleukozyten- und Lymphozytenzahl in der hämatologischen Praxis vorgestellt, bei denen die genauere
Untersuchung der Lymphozyten mittels hochsensitiver Flow-Zytometrie gelegentlich das typische
Muster einer chronisch lymphatischen Leukämie
ergibt. Für diese Patienten, sofern keine weiteren
klinischen Zeichen einer CLL gefunden werden,
wurde die neue klinische Identität „monoklonale
B-Zell-Lymphozytose“ (MBL) definiert [2].
Prognostische Aussagen sind schwierig
Schon 2002 konnte gezeigt werden, dass mittels
hochsensitiver 4-Farbenflow-Zytometrie bei 3,5%
der gesunden Bevölkerung im Alter über 40 Jahren,
monoklonale B-Zellen mit dem klassischen CLLPhänotyp in niedriger Konzentration gefunden
werden [3]. Andere Studien zeigten, dass mindes­
tens 13% der erstgradigen Angehörigen von CLLPatienten ebenfalls solche Zellen im peripheren
Blut haben [2]. Bisher fiel es schwer, diesen Patien­
ten eine fundierte Einschätzung der Bedeutung
dieses Befunds hinsichtlich Prognose, evtl. Therapie­
notwendigkeit und Lebenserwartung an die Hand
zu geben. Die hier referierte Arbeit gibt erste Einblicke in die biologischen Charakteristika sowie
den natürlichen Verlauf und die Prognose der MBL.
Wir selbst konnten zeigen, dass sowohl die Lymphozyten von CLL- als auch von MBL-Patienten zu
einem hohen Prozentsatz Zentrosomen­aberratio­
nen aufweisen (26% bzw. 12,2%) im Ver­gleich zu
nur 2% bei gesunden Kontrollpersonen [4].
Wir haben bisher keine Kriterien, nach denen
wir die individuelle Prognose für MBL-Patienten
abschätzen können. Die Mehrzahl der Menschen
mit MBL weisen, wie oben erwähnt, Marker auf,
die für eine günstige Prognose der CLL sprechen
würden (mutierter IGVH-Status, günstige chromo-
In❘Fo❘Onkologie 2008;11:407 (Nr. 6)
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somale Aberrationen). Die Lymphozytenverdopplungszeit, die bei der CLL ein gutes Kriterium darstellt, ist hier nicht informativ. Lediglich die initiale
B-Zell-Zahl war in der aktuellen Arbeit ein unabhängiger Faktor zur Prädiktion einer progressi­ven
Lymphozytose. Eine behandlungsbedürftige CLL
trat bei Patienten mit MBL und Lymphozytose mit
einer Rate von 1,1% pro Jahr auf. Die Kaplan-Meier-Kurven der Krankheitsprogression zeigen kein
Plateau im Lauf der Zeit. Dies spricht dafür, dass
man ein lebenslanges periodisches Monitoring
empfehlen sollte. Eine weitere Ähnlichkeit der MBL
mit der MGUS (monoklonale Gammopathie unbestimmter Signifikanz) ist, dass die Mehrzahl der
Todesfälle bei MBL-Patienten nicht auf eine spätere
CLL zurückzuführen waren. Alter und Hämoglobinspiegel waren die einzigen unabhängigen Prädiktoren für den Todesfall. Die Anämie in diesen Fällen
war nicht durch die CLL-Infiltration des Knochenmarks verursacht, da dies ja ein Ausschlusskriterium
für die Diag­nose der MBL darstellen würde.
Prof. Dr. med.
Manfred Hensel
Mannheimer
­Onkologie Praxis
E-Mail: hensel@
mannheimeronkologie-praxis.de
Fazit
Die Daten von Rawstron et al. definieren einen
neuen prämalignen Zustand. 5% der normalen gesunden Bevölkerung weisen CLL-Zellen im peripheren Blut auf und haben nach den neuen Kriterien eine MBL. Zur Unterscheidung einer CLL von
einer MBL ist die Immunphänotypisierung der Lymphoyzten notwendig, nicht allein die Bestimmung
der Lymphozytenzahl. Die B-Lymphozyten von
MBL-Patien­ten sind biologisch nicht von denen bei
der CLL unterscheidbar. Bei der Mehrzahl der MBLPatienten wird niemals eine CLL auftreten. Möglicherweise sind zusätzliche onkogene Ereignisse für
eine Transformation notwendig.
Bei Patienten, die mit einer Lymphozytose
über 4000 Lymphozyten/µl in die Sprechstunde
kommen, sollte immer eine Immunphänotypisierung der Lymphozyten durchgeführt werden mit
Untersuchung der Leichtkettenexpression. Bei Patienten mit dem Nachweis einer MBL sollte eine
Watch-and-Wait-Strategie gewählt werden, mit
jährlichen Verlaufskontrollen der Lymphozytenzahl. Falls keine Progression eintritt, ist eine zusätzliche Untersuchung des Mutationsstatus oder
chromosomaler Aberration nicht erforderlich. n
Literatur
1. Hallek M et al. Blood 2008;111:5446–56.
2. Marti G et al. Br J Haematol 2007;139:701–8.
3. Rawstron AC et al. Blood 2002;100:635–9.
4. Hensel M et al. Int J Cancer 2007;121:978–83.
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