Deutschland

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Deutschland
NR. 39, 18. JULI 2014
DEUTSCHE AUSGABE
Fédération Internationale de Football Association – Seit 1904
BRASILIEN
GROSSARTIGER
GASTGEBER
SEPP BLATTER
DEUTSCHLAND
SETZT MASSSTÄBE
GÉRARD HOULLIER
SO FUNKTIONIERT
FUSSBALL HEUTE
WM 2014
Es war fantastisch
W W W.FIFA.COM/ THEWEEKLY
I N H A LT
6
Nord- und Mittelamerika
35 Mitglieder
www.concacaf.com
Grosses Kino
Mit einem Traumtor in der 113. Minute setzte
Deutschland der WM 2014 ein glamouröses
Ende. Wir blicken nochmals zurück auf das
Turnier und suchen nach Gründen des
Erfolges und des Misserfolges einzelner Teams.
Dabei wagen unsere fünf Autoren auch einen
Blick in die Zukunft.
17
USA: Der Soccer-Hype
Noch nie hatte eine Fussball-Weltmeisterschaft
in den USA mehr Interesse ausgelöst als 2014.
Jetzt erhofft sich die Major League Soccer einen
Aufschwung. Trotzdem ist Geduld gefragt.
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Sepp Blatter
“Deutschland ist ein würdiger Weltmeister”,
hält der FIFA-Präsident in seiner Kolumne fest.
“Gleichzeitig gibt es aber 15 000 WM-Teil­
nehmer, die eine Goldmedaille verdient haben:
die Volunteers.”
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Verweis mit Folgen
1972 wurde Afrikas Fussballlegende Abdel
Moneim Hussein von der Schule geschmissen.
Erst dieser Verweis lancierte seine Karriere.
Südamerika
10 Mitglieder
www.conmebol.com
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Argentinien
Gutes Spiel, schlechte
Chancen­verwertung:
Warum es dem Team
von Superstar Messi
nicht zum dritten Titel
gereicht hat.
24
Brasilien
Allen Befürchtungen
zum Trotz: Brasilien
erwies sich als herzlicher
Gastgeber. Das Turnier
wurde zur WM der
Lebensfreude.
Es war fantastisch
Mario Götze, wer sonst, ziert diese
Woche unser Titelbild. Die Aufnahme ist
eine gute halbe Stunde nach seinem
1:0-Treffer im WM-Finale entstanden.
Laurence Griffiths / Getty Images
FIFA
U-20-Frauen-Weltmeisterschaft
5. bis 24. August 2014, Kanada
2
T H E F I FA W E E K LY
Olympische
Jugendfussballturniere
14. bis 27. August 2014, Nanjing
Getty Images (3)
The-FIFA-Weekly-App
The FIFA Weekly, das Magazin der FIFA,
erscheint jeden Freitag neu und in
fünf Sprachen – und ist auch auf Ihrem
Tablet verfügbar.
D I E WO C H E I M W E LT F U S S B A L L
Europa
54 Mitglieder
www.uefa.com
Afrika
54 Mitglieder
www.cafonline.com
Asien
46 Mitglieder
www.the-afc.com
Ozeanien
11 Mitglieder
www.oceaniafootball.com
30
18
Viel Qualität
Der ehemalige Liverpool-Trainer Gérard
Houllier analysiert die
WM mit wissenschaftlicher Akribie: “Die
Intensität vieler Spiele
war phänomenal.”
imago (1)
Deutschland
Der Titelgewinn hat
eine Vorgeschichte,
die vor zehn Jahren
begann.
FIFA
Klub-Weltmeisterschaft
10. bis 20. Dezember 2014, Marokko
FIFA
U-20-Weltmeisterschaft
30. Mai bis 20. Juni 2015, Neuseeland
FIFA
Frauen-Weltmeisterschaft
6. Juni bis 5. Juli 2015, Kanada
T H E F I FA W E E K LY
3
UNCOVERED
Ein Leben lang
N
un liegen sie irgendwo am Swimmingpool, vielleicht unerkannt mit Sonnenbrille und Sonnenhut. Abends geniessen
sie an der Strandbar einen Drink, womöglich schaut dann
doch noch ein Autogrammjäger vorbei. Gibt es als deutscher
Nationalspieler in diesen Tagen eine schönere Pflicht? Sie signieren jetzt als Weltmeister – ein Leben lang. Diese Ehre kommt
wenigen zu. Cruyff oder Beckham jedenfalls nicht. Sven Goldmann würdigt den Titelgewinn Deutschlands und erklärt, weshalb sich Joachim Löw Zeit lässt, sich über seine Zukunftspläne
zu äussern. Darüber hinaus bewerten vier Autoren das Abschneiden der grossen und kleinen Fussballnationen und sagen,
mit welchen Teams in den nächsten Jahren zu rechnen ist.
N
eben schönem Fussball präsentierte sich Brasilien als
grossartiger Gastgeber. Perikles Monioudis hat sich bis zum
letzten Turnier-Tag in Brasilien aufgehalten um die Atmosphäre aufzugreifen. Sein Fazit: Die zwanzigste WM war ein
Wett­bewerb der Lebensfreude. Wie es das fünftgrösste Land der
Welt trotz aller Skepsis geschafft hat, ein fantastisches Turnier
auszurichten, lesen Sie in der dreiseitigen Reportage.
S
epp Blatter stuft den Triumph von Deutschland als logische
Konsequenz ein. In seiner Kolumne spricht der FIFA-Präsident über die kontinuierliche Aufbauarbeit von Löws Team
und schickt zum Turnierabschluss einen besonderen Dank an
die 15 000 Volunteers: “Sie haben mit hervorragender Arbeit alle
WM-Gold verdient.”
U
m unsere WM-Ausgabe zu komplettieren, haben wir nach
dem Finale mit dem Franzosen Gérard Houllier gesprochen.
Der ehemalige Liverpool-Trainer analysiert die Spiele
­w issenschaftlich und sagt: “Herausragend war, dass es keine
krass unterlegenen Mannschaften gab. Ich wünsche mir, dass
in Zukunft weiterhin diese spielerische und technische Qualität
im Vordergrund steht.” Å
Alan Schweingruber
Instagram (2), Twitter (1)
Grüsse aus dem Urlaub
Mesut Özil (oben),
Bastian Schweinsteiger
(rechts) und Mario Götze
(mit Sängerin Rihanna).
T H E F I FA W E E K LY
5
W M - A N A LY S E
Grosses
Kino
6
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DEUTSCHLAND
Mehr
geht nicht
Angeführt
von Bastian
Schweinsteiger
präsentiert
sich der neue
Weltmeister
seinen Fans.
Sven Goldmann, Rio de Janeiro
A
“The Winner Takes it All.”
Aber was machte
­Deutschland zum Weltmeister? Weshalb ist
Argentinien gescheitert?
Und wie geht’s mit Brasilien
und Italien weiter?
Fünf WM-Autoren auf
­Spurensuche.
Alex Livesey/Getty Images
lle herzten die Kanzlerin. Das gehört mittlerweile zum Pflichtprogramm, seit der
Weltmeisterschaft 2006, als Angela Merkel zum ersten Mal im Mannschaftshotel,
auf der Tribüne und in der Kabine auftauchte. Fussball ist in Deutschland schon immer ein bisschen Politik gewesen, und was hat
eine Bundeskanzlerin im Sommer auch anderes
zu tun, als nach Rio de Janeiro zu fliegen und
ihren Jungs die Daumen zu drücken? Das
­Maracanã hat ihnen zugejubelt nach diesem
1:0-Sieg im WM-Finale über Argentinien.
Knapp 10 000 waren aus Deutschland angereist,
sie machten den grössten Lärm, obwohl doch
viel mehr Argentinier dort waren, aber auch die
verneigten sich vor dem neuen Weltmeister,
denn er ist ein würdiger Weltmeister.
Die grössten und buntesten und schönsten
Kränze flochten die Torcedores aus Brasilien.
Die Liebhaber des schönen Spiels, das sie bei
ihrer Mannschaft so sehr vermisst und überraschenderweise bei den Deutschen wiedergefunden haben. Der Sieg im Finale im Maracanã
war der finale Federstrich unter ein Gemälde,
dessen weitgehende Fertigstellung das Land
des Fussballs doch schon vier Tage vorher ­hatte
besichtigen müssen. Oder dürfen?
Von Brasilianern herzlich empfangen
Brasilien weinte nach diesem epochalen 1:7
­seiner Seleção im Halbfinale gegen Deutschland. Aber die Tränen trockneten schnell.
Nach dem Spiel wagten sich die deutschen
Fans nur zögerlich ins nächtliche Belo Horizonte. Wie würden die gedemütigten Brasilianer reagieren? Warum patrouillierte so viel
schwer bewaffnetes Militär durch die Strassen? Aber als sie dann stolz und leise in die
Bars und Cafés traten, da sprangen die Männer, Frauen, Greise und Jugendlichen in ihren
gelben Hemden auf, umarmten die Gäste und
bedankten sich für das in Vollendung vorgeführte Spiel, und schon standen die ersten
Biere und Caipirinhas auf den Tischen, und es
wurde noch eine lange Nacht.
Das alte Land des Fussballs hat sich neu
verliebt in diesen Wochen der “Copa”. Und für
wen anderes hätten die Torcedores beim Endspiel schon in die Tröten blasen können, wenn
nicht für diese neuen Interpreten der Leidenschaft und Schönheit? Natürlich hat die deutsche Mannschaft im Endspiel nicht so dominiert wie im Halbfinale. Dafür waren die
T H E F I FA W E E K LY
7
DEUTSCHLAND
Und noch einmal
zum Geniessen
Das Tor von
Mario Götze in der
113. Minute des
Finales.
Vorname, Name, Stadt-Ort
Joachim Löw
macht weiter,
weil ihm die
Arbeit so viel
Spass macht.
8
T H E F I FA W E E K LY
Fussball zelebrieren statt arbeiten
Auch in dieser Umkehrung der früheren Verhältnisse lag der Zauber des Endspiels. Argentinien hatte die besseren Torchancen, aber
Deutschland spielte den besseren Fussball. Mit
einem Ensemble, in dem es keinen Schwachpunkt gab und keinen Superstar, allenfalls zwischenzeitlich herausragende Spieler – es war in
jedem Spiel ein anderer. Gegen Portugal Thomas Müller, gegen Brasilien Toni Kroos, im
Endspiel Bastian Schweinsteiger, der eben kein
ewig Unvollendeter ist, was er schon vor einem
Jahr im Champions-League-Finale mit den Bayern bewiesen hatte.
Schweinsteiger war die überragende Figur
des Finales, mit einer Passquote von annähernd 100 Prozent. Aber in Erinnerung wird
bleiben, wie die Deutschen das Spiel für sich
entschieden. Nicht mit einem Glücksschuss
oder einem Elfmeter, sondern mit einer Komposition aus drei Ballkontakten – Flanke, Annahme, Volleyschuss, technisch perfekt in der
Seitenlage. Mario Götze, der spät eingewechselte Autor dieses Meisterwerks, zählt zu dieser
nachgewachsenen Generation, die Fussball
nicht mehr arbeitet, sondern zelebriert. Und
dabei doch nicht die intellektuell-strategische
Komponente vernachlässigt, wie noch vor zwei
Jahren bei der Europameisterschaft in Polen
und der Ukraine.
Es gab auch in Deutschland eine Zeit, da
hielten es viele Fussballfans eher mit den
Gegnern von Deutschland. Das hatte, wohl als
Spätfolge des Zweiten Weltkrieges, gewiss
auch politische Gründe, aber nicht nur. Heute
ist es diese Kombination aus Schönheit und
Effizienz, von der die Fans auf der ganzen
Welt – und auch in Deutschland selbst –
fasziniert sind. So wie diese Spieler ihren Job
auf dem Rasen erledigen, wollen die Deutschen
auch im Alltag sein und von den anderen
wahrgenommen werden.
Löw ist altmodisch unberechenbar
Über allem steht der Mann, der den Paradigmenwechsel gegen jeden Widerstand und trotz
öffentlicher Angriffe auf seine Position durchgedrückt hat. Der Bundestrainer Joachim Löw
interessiert sich durchaus für andere Meinungen, nimmt sich aber die Freiheit, sie daraufhin
zu überprüfen, ob sie sich mit seinen Überzeugungen vereinbaren lassen. Er war sich nicht
zu schade, sein System während der WM von
4-3-3 auf 4-2-3-1 umzustellen. Nicht weil es ihm
andere einredeten, sondern weil er selbst es für
richtig hielt.
Löw ist auf eine altmodische Art unberechenbar. Nach dem gewonnenen WM-Finale
hatten viele mit seinem Rückzug gerechnet,
weil doch jetzt alle Ziele erreicht seien. So aber
denkt der Bundestrainer nicht. Natürlich
macht er weiter, aber nicht aus karrieristischen
Motiven, sondern weil ihm die Arbeit so viel
Spass macht. Weil eben nichts zu Ende ist, sondern gerade erst anfängt. Deswegen hat auch
noch keiner der neuen Weltmeister mit grosser
Geste seinen Rücktritt erklärt.
Es ist dieser Spass ohne weitergehende
­Berechnung, der das neue Deutschland auf
dem Rasen so authentisch macht. Å
imago, Jamie McDonald/Getty Images
Argentinier zu gut. Auf eine Weise, die an die
einstmals verächtlich als “typisch deutsch”
­k arikierten Tugenden erinnerte: Kampf und
Disziplin – allerdings auf einem technisch sehr
viel höheren Niveau.
ARGENTINIEN
Andrew Warshaw, Belo Horizonte
Z
u Tausenden strömten sie in blau-weissen
­Horden nach Rio de Janeiro. Sie nutzten dafür alle Mittel, die ihnen zur Verfügung standen. Manche nahmen eine zweitägige Reise
im Wohnmobil in Kauf, da längst alle Flüge
ausgebucht waren. Die Copacabana wurde praktisch besetzt, der berühmte Strand von Rio de
Janeiro in ein zweites Zuhause verwandelt. Sie
sangen ihre Lieder – viele davon auf grausame
Weise an die Gastgebernation gerichtet – und huldigten ihrem Genie. Dieser Mann, auch unter dem
Namen Lionel Messi bekannt, sollte die grösste
Trophäe des Sports zum ersten Mal seit 28 Jahren
aus dem Feindesland über die Grenze nach Argentinien zurückbringen.
Doch dies gelang nicht. Am Ende des Finals
blieb Messi, seinen Teamkameraden und dem zurückhaltenden argentinischen Trainer ­A lejandro
Sabella nichts als Niedergeschlagenheit. Und der
quälende Gedanke, was möglich gewesen wäre,
wenn die Mannschaft eine der wenigen erstklassigen Chancen genutzt hätte.
Die grösste Ironie in der Niederlage der Argentinier im WM-Finale gegen Deutschland liegt wohl
darin, dass sie ihren bis dahin besten Fussball gezeigt haben. Im Moment des herzzerreissenden
Schmerzes nach der Finalniederlage lobte Sabella
den Kampfgeist seiner Mannschaft und sprach von
einem ausgeglichenen Duell. Doch jeder, der
­A rgentinien regelmässig verfolgt hat, würde wohl
zustimmen, dass das Team gehemmt wirkte. Dass
es ihm am Glauben fehlte, an Bewegung und
­K reativität mangelte.
Wie zum Beispiel in der Partie gegen Iran.
Wenn das iranische Team seine Chancen in Belo
Horizonte genutzt hätte, wären wir möglicherweise
Zeugen einer der grössten Überraschungen der
WM-Geschichte geworden. Dass sich Argentinien
in diesem Spiel nicht zum einzigen Mal im Verlauf
des Turniers durchmogelte, verdankt das Team vor
allem einem Mann – Messi.
Gleichwohl muss Sabella zugutegehalten werden, dass er fast alles richtig gemacht hat. Mascherano bewies, dass er noch immer in der körperlichen Verfassung ist, um im Mittelfeld mit den
Besten mitzuhalten. Martín Demichelis, der im
Verein in der letzten Saison als Schwachpunkt galt,
strömte in der argentinischen Innenverteidigung
eine souveräne Ruhe aus.
Und natürlich führen im Fussball viele Wege
nach Rom. Ein schwer zu überwindendes Team zu
sein, ist eine Möglichkeit. Daran besteht kein Zweifel. Doch ohne die nötige Inspiration und Kreativität in anderen Bereichen war die argentinische
Mannschaft zu sehr davon abhängig, dass ihr
­launischer Messi sie aus der Klemme befreit.
Argentinien ist es immerhin gelungen, bis zum
letztlich bitteren Ende im Turnier zu bleiben. Auch
wenn dies eher dem Pragmatismus des Teams als
seiner Brillanz zu verdanken ist. Und der immer
noch erst 27-jährige Messi wird wohl noch mindestens eine WM vor sich haben. Der unterbewertete
Sabella hingegen, der die Mannschaft 2011 übernahm und nun wahrscheinlich gehen wird, flösste
der Mannschaft eine lobenswerte Arbeitsmoral
und die dringend benötigte taktische Disziplin ein.
Für manche wird er als derjenige Mann in die
­Geschichte eingehen, der Argentinien zum ersten
Mal seit 24 Jahren in ein Finale führte. Für andere
als der Mann, der so nah dran war und gleichzeitig
so weit entfernt. Zum Leidwesen Sabellas erinnern
sich viele Menschen nur an die Sieger. Å
Sabella
muss zugute­
gehalten
­w erden, dass
er fast alles
richtig
­g emacht hat.
Irgendwann kommt
eine neue Chance
Argentiniens Coach
Alejandro Sabella
und sein Superstar
Lionel Messi.
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BRASILIEN
Seleção – wie weiter?
Dieser Gedanke nach
dem 0:3 gegen die
Niederlande lässt sich
auf die gesamte
Entwicklung des
brasilianischen
Fussballs übertragen.
P
Der Verband
wird an einer
gründlichen
Ursachen­
forschung
nicht vorbei­
kommen.
10
T H E F I FA W E E K LY
elé, quasi die höchste moralische Instanz im
Weltfussball, twitterte schon im Moment des
1:7 gegen Deutschland beschwichtigende
Worte: “Der Fussball ist wie eine Wundertüte – dieses Resultat hätte niemand erwartet.
Wir werden den sechsten Titel 2018 in Russland
gewinnen.” Dem König des Fussballs zu widersprechen, wagt niemand öffentlich. Hinter vorgehaltener Hand werden bezüglich der Wettbewerbstauglichkeit des brasilianischen Fussballs – auf
Verbandsstufe – aber grosse Fragezeichen gesetzt.
Man verlasse sich zu sehr aufs Talent und (vergangene) Erfolge und vergesse dabei die Grundlagenarbeit im Nachwuchsbereich.
Der Schlusspunkt als Höchststrafe: Gellende
Pfiffe und deftige Schmährufe hallten letzten Samstag durchs Estádio Nacional in Brasília, auf den
Tribünen das kollektive Kopfschütteln und auf dem
Rasen die grosse Leere. Die brasilianische Nationalmannschaft verlor auch das Spiel um Platz 3 sangund klanglos – 0:3 gegen die Niederlande.
Dabei sah das Drehbuch ein ganz anderes
Szenario vor. Trainer Luiz Felipe Scolari, der
­
Brasilien 2002 zum fünften WM-Titel geführt
­
­hatte, hatte einen klaren Auftrag erhalten: die
Komplettierung der Hexa, den Gewinn des
6. WM-Titels – und die Tilgung der Schmach von
1950, als Brasilien die WM vor heimischem
­A nhang an Uruguay verspielt hatte.
Nach dem Gewinn des Konföderationen-­
Pokals 2013 sahen es die meisten Brasilianer als
­q­u asi gottgegebenes Recht, dass ihre Mannschaft
auch in diesem Juli triumphiert – und klammerten zwei Dinge grosszügig aus: In der Offensive
lastete praktisch der ganze Druck auf den Schultern eines 22-jährigen Jünglings (Neymar), und in
der Defensive bot die Seleção ab dem ersten Spiel
gegen Kroatien grosse Angriffsflächen. Teams wie
Deutschland und Argentinien, aber auch Holland
oder Chile, waren ihr bezüglich Organisation und
taktischer Disziplin überlegen.
Als Neymar im Spiel gegen Kolumbien mit
­einem gebrochenen Lendenwirbel vom WM-Rasen
getragen wurde, verflüchtigte sich der vermeintlich
offensive Ballzauber auf Nimmerwiedersehen. Und
beim 1:7 gegen Deutschland brach das Unheil
kübelweise über Brasilien herein. Gary Lineker, der
englische WM-Torschützenkönig von 1986 und
heutiger BBC-Kommentator, sagt: “Es war der
Abend, als Brasiliens schönes Spiel starb. Nichts
mehr ist wie vorher.” Ebenso deutlich wird der frühere argentinische Nationalspieler und heutige
Trainer Gabriel Calderón: “Diese Niederlage stellt
im brasilianischen Fussball vieles in Frage – den
Trainer, die Spieler, die Taktik. Lange träumten alle
davon, wie Brasilien zu spielen. Dann hat Spanien
den Fussball auf eine neue Stufe gehoben – und
jetzt setzen die Deutschen den Massstab. Sie
­spielen wie früher die Brasilianer.”
Die brasilianischen Junioren-Auswahlen gehören momentan nicht zu den besten. Die U-17-Mannschaft scheiterte an der WM 2013 in den Vereinigten Arabischen Emiraten in den Viertelfinals an
Mexiko, die U-20-Mannschaft war im gleichen Jahr
an der WM in der Türkei nicht dabei. Der Verband
wird an einer gründlichen Ursachenforschung
nicht vorbeikommen – und an deren Ende dürfte
die Erkenntnis stehen: zurück auf Feld 1 – mit
­e­inem neuen Konzept, einem neuen Ausbildungsprogramm und einem neuen Trainer für die Nationalmannschaft. Denn mit dem WM-Titel von 2002
lässt sich in der Gegenwart nichts mehr kaufen. Å
The Asahi Shimbun/Getty Images, imago
Thomas Renggli, Rio de Janeiro
L AT EIN AMERIK A
Jordi Punti
D
eutschland hat das Finale gewonnen und ist
verdient Weltmeister geworden, aber wenn
wir unseren Blick etwas weiter schweifen lassen, erkennen wir, dass der grosse Gewinner
dieser WM Amerika war – und zwar ganz
Amerika, vom Norden bis in den Süden. Die WM in
Brasilien hat nun in einigen Bereichen für Klarheit
gesorgt. Da wäre zunächst einmal die Topform, in
der sich die Torhüter präsentierten, die in vielen
Partien die entscheidende Rolle spielten. Diese Tatsache trifft mit dem nahezu vollständigen Fehlen
des klassischen Mittelstürmers zusammen, dem
Mann mit der Trikotnummer 9, dessen Aufgabe es
ist, an vorderster Front auf seine Chance zu warten
und Tore zu erzielen. Ein weiterer Aspekt, den es zu
berücksichtigen gilt, ist der Tribut, den die anspruchsvollen Wett­bewerbe in Europa und die hohe
Anzahl der Partien gefordert haben, welche die
Spieler bestreiten müssen. Dies führte dazu, dass
zahlreiche grosse Stars (Reus, Montolivo, Falcao,
Ribéry, Strootman) gar nicht erst zur WM antreten
konnten. Hinzu kamen schwere Verletzungen während der WM (Di María) sowie die Formtiefs weiterer wichtiger Spieler (Cristiano Ronaldo).
In diesem Zusammenhang lässt sich jedoch
auch eine neue, positive Tendenz beobachten, und
zwar das hohe Niveau des amerikanischen Fussballs. Teams wie Chile, Costa Rica und Kolumbien
boten technisch einige der besten Partien dieser
WM und zeigten dabei Fussball mit hohem Unterhaltungswert. Die Hälfte der Teams, denen der Einzug in die zweite Runde gelang, stammte aus Amerika.
Zahlreiche
Spieler
lieferten
hier
Glanzleistungen ab und man könnte problemlos
eine Traumelf aus Akteuren zusammenstellen, deren Mannschaften am Ende noch nicht einmal das
Halbfinale erreichten. Probieren wir es doch e
­ infach
einmal. Tor: Keylor Navas (Costa Rica). Abwehr:
­Eugenio Mena (Chile), Diego Godín (Uruguay), Rafael Márquez (Mexiko). Mittelfeld: Michael Bradley
(USA), James Rodríguez (Kolumbien), Juan Cuadrado
(Kolumbien), Jermaine Jones (USA). Angriff: Alexis
Sánchez (Chile), Edinson Cavani (Uruguay), Joel
Campbell (Costa Rica).
Natürlich sind die Erfolge der Teams zum Grossteil auch den jeweiligen Nationaltrainern zu verdanken. Herrera (Mexiko) und Tabárez (Uruguay) haben
es geschafft, Mannschaften Charakter zu verleihen,
die im Vorfeld der WM von vielen Zweifeln umgeben
waren. Ohne die Bescheidenheit ausser Acht zu lassen, hat Pinto es geschafft, dass die Costa Ricaner in
der wohl schwierigsten Gruppe überhaupt daran geglaubt haben, dass sie mehr sein könnten als blosse
Komparsen. Genau wie Sampaoli in Chile und
­Pekerman in Kolumbien ist es diesen Trainern ausserdem gelungen, noch einen Schritt weiterzugehen: Sie haben zukunftsträchtige Teams auf die Beine gestellt und eine solide Basis dafür geschaffen,
dass man es durchaus noch weiterbringen könnte.
Mit Ausnahme von Pekerman, der bislang noch
nicht bestätigt hat, dass er Kolumbien weiterhin
trainieren wird, wird die Mehrheit dieser Trainer
mit den entsprechenden Teams anlässlich der Copa
América 2015 in Chile aufeinandertreffen. Teilweise
dürfte sich das Ganze ausnehmen wie eine Art
­Déjà-vu der jüngsten Weltmeisterschaft. Bei diesem
Turnier werden Spieler wie Sánchez und Vidal bei
Chile sowie James Rodríguez und Cuadrado bei
­Kolumbien Gelegenheit haben, ihr grosses Talent zu
bestätigen. Gleichzeitig werden die ewigen Favoriten Brasilien und Argentinien auf dem Prüfstand
stehen, die bei der WM zwar weitergekommen sind
als alle anderen, ihre Spielweise aber vermutlich
überdenken müssen. Å
Teams wie
Chile, Costa
Rica und
­K olumbien
boten technisch einige
der besten
Partien
dieser WM.
Starkes Lateinamerika
Die sechs “Heim”-­
Nationen Chile,
­Kolumbien, Costa Rica,
Uruguay, Argentinen
und Mexiko erreichten
in Brasilien alle die
K.-o.-Phase.
T H E F I FA W E E K LY
11
ENGLAND
“Die Premier League drängt unsere
Nationalmannschaft in den Schatten”
Der Engländer Rio Ferdinand gehört zu
den erfolgreichsten Spielern der Gegenwart.
In Brasilien stand er als TV-Experte im
Einsatz – und schwankte zwischen
­Begeisterung für die WM und Enttäuschung
über die englische Leistung.
Name
Rio Ferdinand, wie fällt Ihre persönliche Bilanz
der WM aus?
Rio Ferdinand
Es war fantastisch. Viele Tore, epische
Dramen, ein grosses Spektakel – viele Mannschaften, die über sich hinausgewachsen
sind. Ich denke an Costa Rica, Mexiko,
Kolumbien – aber auch an die Niederlande.
Kaum jemand hätte das Team so stark erwartet. Auch Organisation und Atmosphäre
waren perfekt. Die ganzen negativen Voraussagen sind nicht eingetreten. Was kann man
sich Besseres wünschen, als eine Fussball-WM zwischen Maracanã und C­opacabana? Diese WM war grossartig – ich habe
jeden Moment genossen.
7. November 1978, London
Ich glaube nicht – schliesslich qualifizierten sich mit der Niederlande und Deutschland
auch zwei europäische Mannschaften für die
Halbfinals. Und das Klima war von Spielort zu
Spielort sehr unterschiedlich – ja teilweise
sogar recht kühl. England zum Beispiel verlor
die entscheidende Partie gegen Uruguay bei
fast schon britischem Wetter. Ich glaube nicht,
dass sich die Bedingungen auf die Resultate
ausgewirkt haben.
Sie machen nicht das brasilianische Klima für
das englische Scheitern verantwortlich?
Nein – das war für mich keine Überraschung. Ich habe schon vor der WM in einer
Kolumne geschrieben, dass es ein grosser
Erfolg wäre, wenn sich England für die
K.-o.-Phase qualifizieren würde.
Aber mit einem derartigen Desaster rechneten
auch Sie nicht?
Desaster ist ein zu hartes Wort – es war
eine grosse Enttäuschung. England hat
schlicht zu schlecht gespielt. Diese Leistung
genügte nicht, um weiterzukommen. Am
Beispiel von Costa Rica sieht man, was möglich gewesen wäre. Alle haben damit gerechnet, dass der Aussenseiter auf dem letzten
12
T H E F I FA W E E K LY
Klubs
West Ham, Bournemouth, Leeds,
Manchester United
Erfolge
Sechsfacher Meister
Champions-League-Sieger
(alles mit ManU)
Nationalteam
81 Einsätze, 3 Tore
Platz landet. Dann gewann er die Gruppe.
Jeder kriegt an einer WM, was er verdient.
Aber die Zukunft für England sieht möglicherweise nicht so schlecht aus. Schliesslich stehen
einige junge hoffnungsvolle Spieler in der
Mannschaft.
Man muss jetzt die Schlüsse aus diesem
Turnier ziehen – und dem Trainer die Gelegenheit geben, ein Umfeld zu schaffen, in dem
Erfolge möglich werden. Auch die Premier
League muss über die Bücher. Letztlich hält
sie den Schlüssel für die Zukunft der Nationalmannschaft in den Händen. Die Liga
dominiert alles – und drängt die Nationalmannschaft in den Schatten.
Das heisst, es müssten Reglemente geschaffen
werden, damit mehr englische Spieler in den
Klubs tragende Rollen spielen …
Die FA muss sich überlegen, die Ausländerzahl zu limitieren oder eine Mindestzahl
für einheimische Spieler festzulegen. Das
wäre ein Ansatz. Aber in der freien Marktwirtschaft ist das schwierig. Das Geld bestimmt, wo und wie der Ball rollt. Und die
Premier League geniesst die höhere Priorität
als die Nationalmannschaft. Das tut mir
weh – auch für die Fans. Die englischen Fans
gehören zu den besten der Welt.
War es hart für Sie, die Spiele als Aussenstehender anzuschauen?
(lacht) Sehr schwer – ich litt fast mehr als
auf dem Spielfeld. Das war die erste WM seit
meiner Kindheit, die ich als Zuschauer erlebte. Und ich spielte quasi immer noch mit –
probierte, die Bälle zu stoppen oder sie in
Richtung Tor zu schiessen.
Sie stehen am Ende Ihres Vertrages mit
­Manchester United. Geht Ihre Karriere als
Spieler noch weiter?
Ich möchte mindestens noch ein Jahr
spielen – und stehe mit verschiedenen
Klubs in Verhandlung. Unterschrieben ist
noch nichts.
Sie haben hier in Rio de Janeiro auch die
Favelas besucht – und mit den Menschen
gesprochen. Ist die WM auch dort wichtig?
Wenn Brasilien spielte, schauten natürlich
alle zu. Gleichzeitig fühlen sich die Menschen
aber von der eigenen Regierung ungerecht
behandelt. Die Menschen in den Favelas sagten
mir, dass sie kein Geld wollen, sondern infrastrukturelle Verbesserungen, die ihnen erhalten bleiben – im Bildungswesen, in der medizinischen Versorgung, im öffentlichen Verkehr.
Wir beklagen uns ja auch in England oft über
die Situation. Aber bei uns ist die medizinische
Versorgung gratis und das System funktioniert. Das muss einem immer bewusst bleiben.
Mit Rio Ferdinand sprach
Thomas Renggli
Christopher Thomond/Guardian, imago
Im Vorfeld war oft vom Heimvorteil der südamerikanischen Nationen die Rede.
Gab es den wirklich?
Geburtsdatum, Geburtsort
EUROPA
Luigi Garlando
C
hristoph Kolumbus ist in gewisser Weise endlich auch im Fussball angekommen: Erstmals
hat eine europäische Mannschaft einen Titel in
Amerika geholt. Der Titelgewinn der deutschen
Mannschaft hat das Scheitern zweier Fussballmächte des Alten Kontinents – Spanien und Italien,
die die beiden letzten Weltmeisterschaften gewonnen hatten, – wieder wettgemacht. Dennoch endete
für diese beiden Teams die WM in einem Desaster.
Die Gründe für das spanische Scheitern sind offensichtlich: das bevorstehende Ende einer Goldenen
Generation und einer einzigartigen Spielweise, die
nun ebenso wie ein Computerprogramm eines
Upgrades bedarf. Doch im Schatten von Xavi & Co.
lauern bereits neue Spieler, die eine grossartige Zukunft vor sich haben.
Von der spanischen Mannschaft, die im Juni 2013
das Endspiel der U-21-Europameisterschaft gewann,
standen vier Spieler im letzten Champions-League-Finale: Koke, Isco, Morata und Carvajal. Thiago Alcántara, der damals drei Treffer erzielt hatte, avancierte
inzwischen zu einem Schlüsselspieler von Bayern
München, während andere ebenfalls zu den Stammkräften von Topklubs gehören: De Gea, Tello, Montoya ... Diese sind keine Hoffnungsträger mehr, sondern ausgereifte Spieler, die bereits internationale
Erfahrung vorweisen können. Spanien verfügt über
Talente, Ausbildungseinrichtungen und eine starke
Spielweise – also über alles, was für einen Neuanfang
nötig ist. Beim nächsten Turnier wird bestimmt wieder eine konkurrenzfähige Furia Roja zu sehen sein.
In Italien hingegen sieht es anders aus, zumal das
Land eine tief greifende Strukturkrise durchlebt, die
in Massenrücktritten – unter anderem des Teamchefs und der Verbandsspitze – nach dem WM-Debakel kulminierte. Von jener italienischen Mannschaft,
die das U-21-Finale gegen Spanien verloren hatte,
konnten bis dato nur Verratti (Paris Saint-Germain)
und Insigne (SSC Neapel) Champions-League-Luft
schnuppern. Die Serie A zählt in puncto Nachwuchs-
spieler zu den europäischen Schlusslichtern und
weist zudem das höchste Durchschnittsalter auf. In
Italien gibt es zwischen Nachwuchs- und A-Mannschaften ein regelrechtes schwarzes Loch, das Generationen von Talenten verschlingt, da es an Reservemannschaften mangelt, die in besser entwickelten
Ländern die Youngsters in “echten” Meisterschaften
mit professionellen Trainingsmethoden an den Spitzenfussball heranführen. Italien bleiben nur noch
Pirlo und Buffon, während man weiterhin auf eine
Weiterentwicklung Balotellis hofft und ängstlich in
die Zukunft blickt.
Bei drei europäischen Mannschaften, die in Brasilien für hohen Unterhaltungswert sorgten und
auch bei der EM 2016 in Frankreich im Fokus stehen
werden, spielten hingegen die jungen Akteure gross
auf: Wijnaldum und Depay bei den Niederländern,
Courtois und Origi bei den Belgiern sowie Varane
und Pogba, der beste junge Spieler der WM, bei den
Franzosen.
Diese Mannschaften haben eines gemeinsam: die
Fähigkeit, die eigene Tradition neu zu interpretieren
und darüber hinaus zu gehen. Van Gaal hat die offensive Ausrichtung des niederländischen Fussballs nicht
verraten, sondern mit drei Innenverteidigern vielmehr
eine starke Defensive hinzugefügt. Dasselbe gilt für
Deschamps: Muskeln und Champagner. Belgien konnte die graue Taktik seiner Vergangenheit hinter sich
lassen und durch ein farbenfrohes Offensivspektakel
ersetzen. Mit etwas weniger Glück, aber sehr viel Mut
versuchte auch Roy Hodgson, seine Engländer vom
klassischen Kick-and-Rush abzubringen und stattdessen auf ballorientierteren Angriffsfussball zu setzen.
Ganz zu schweigen von Joachim Löw, der die
Deutschen brasilianischer spielen liess als Brasilien
selbst, ohne dabei die typisch deutsche Stabilität zu
vernachlässigen.
Youngsters und neue Konzepte – bei der WM hat
man gesehen, dass Europa gesund und auf einem
guten Weg ist. Bis auf Italien. Å
Man sieht,
dass Europa
auf einem
­g uten Weg
ist. Bis auf
Italien.
Ein Aus mit Würde
Frankreich, hier
Jungstar Paul
Pogba, scheiterte
an ­Weltmeister
Deutschland.
T H E F I FA W E E K LY
13
EVERY GASP
EVERY SCREAM
EVERY ROAR
EVERY DIVE
EVERY BALL
E V E RY PAS S
EVERY CHANCE
EVERY STRIKE
E V E R Y B E AU T I F U L D E TA I L
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BLICK IN DIE LIGEN
I
N
Primera División Peruana
Provinzielle Luft
Sven Goldmann ist Fussballexperte beim ­“Tagesspiegel” in Berlin.
Das WM-Finale im Maracanã
ging gerade in die Verlängerung, da wurde es auch
woanders in Südamerika ernst. Einmal quer
über den Subkontinent in Richtung Nord­
westen. Peru hat die Weltmeisterschaft in
Brasilien nach einem kleinen Zwischenhoch
dann doch ziemlich deutlich verpasst und
deswegen im Ligabetrieb keine Pause eingelegt.
Auf dem Kunstrasen im Estadio Elías Aguirre
von Chiclayo empfing der Aufsteiger Los
Caimanes am sechsten Spieltag der Apertura
Real Garcilaso aus Cusco, die Überraschungsmannschaft der jüngsten Geschichte der
Primera DivisiÓn Peruana.
HO
Real Garcilaso ist ein fussballerisches Start-up-­
Unternehmen aus Cusco im Andenhochland.
Den Verein gibt es erst seit fünf Jahren,
gegründet von Absolventen der Schule Inca
Garcilaso de la Vega, benannt nach einem
peruanischen Chronisten der spanischen
S
I
Conquista. So richtig ernst genommen hat
man Real lange Zeit nicht. Weder daheim in
Cusco, wo der Traditionsverein Club Sportivo
Cienciano schon immer das Sagen hatte als
erster und bisher einziger peruanische Klub,
der die Copa Sudamericana gewann (vor elf
Jahren im Finale gegen Boca Juniors), und
erst recht nicht in der Hauptstadt Lima, dem
Zentrum des peruanischen Fussballs. Die
beiden grossen Mannschaften Universitario
de Deportes und Alianza spielen hier seit
Ewigkeiten den “Clásico peruano” aus und
sind der Konkurrenz zumeist turmhoch
überlegen. Alianza ist zwar die frühere
Heimat der Nationalhelden Teófilo Cubillas
und Claudio Pizarro, hat aber erst 22 Titel
gewonnen – vier weniger als Universitario.
Und dann kam auf einmal Real Garcilaso,
genannt La Maquina Celeste, die himmelblaue Maschine. Der Klub marschierte durch
die Instanzen und wäre beinahe schon in der
vergangenen Saison, im zweiten Jahr der
Erstklassigkeit, Peruanischer Meister geworden. Erst im dritten Spiel der Finalserie setzte
sich Universitario mit 2:1-Siegen gegen den
Emporkömmling durch, das entscheidende
Spiel wurde erst im Elfmeterschiessen gewonnen. Es ist neue Konkurrenz erwachsen, und
D
E
das Establishment aus Lima flucht jetzt
doppelt, wenn es mal wieder vom Río Rímac
am Pazifik ins Andenhochland geht. Die Luft
im 3400 Meter über dem Meeresspiegel
gelegenen Cusco ist neuerdings auch sportlich
sehr dünn.
Real ist nicht so grossartig in die neue Saison
gestartet und doch gut genug, um wieder
oben anzugreifen. Bei der “Visita a Lacoste”,
wie sie die Reise zu den Kaimanen von
Chiclayo nennen, sprang durch ein Tor von
César Ortiz Mitte der zweiten Halbzeit ein
1:0-Sieg heraus. Das bedeutet erst mal Platz 6.
Und die beiden Mannschaften aus Lima?
Taten sich schwer. Alianza kam zu Hause
nur zu einem torlosen Unentschieden gegen
César Vallejo, Universitario musste gar eine
1:2-Niederlage bei Universidad Técnica de
Cajamarca einstecken. Mit der Tabellenspitze
hat das Establishment aus der Hauptstadt
zurzeit ebenso wenig zu tun wie der Emporkömmling aus den Anden. Ganz oben thront
eine andere Mannschaft aus der Provinz.
Mit vier Siegen aus sechs Spielen heisst die
Mannschaft der Stunde Inti Gas Deportes aus
Ayacucho. Ebenfalls eine Stadt in den Bergen,
aber nicht ganz so hoch und nicht ganz so
weit weg von Lima. Å
Das Über­
raschungsteam
in Peru
Real Garcilaso
aus dem
Andenhochland.
T H E F I FA W E E K LY
15
Bereit für die Liga
Alan von Salzburg
traf im Pokalspiel
gegen Sollenau
viermal.
Salzburg will vier
perfekte Spiele
Andreas Jaros ist freier Autor
Ligavorstand Christian Ebenbauer nicht
lange. Mit einem besseren Preis-Leistungs­
Verhältnis und einem Wohlfühlambiente in
den Stadien soll der Abwärtstrend gestoppt
werden. Bereits fixiert sind kundenfreundlichere Anpfiffzeiten ab September: 16 Uhr und
18.30 Uhr an Samstagen.
und lebt in Wien.
Draussen beim Wakeboardlift
flogen Hobbysportler spektakulär über die Wellen der
Neuen Donau, und drinnen in der Eventlocation “wake up”, wo Österreichs Bundesliga
erstmals die sommerliche Saisonauftakt-­
Pressekonferenz mit allen Trainern und
Kapitänen abhielt, ging es erst recht um den
optimalen Drive. “Den Schwung der WM
mitnehmen”, lautete die Devise von Bundes­
liga-Präsidenten Hans Rinner für die am
Wochenende startende Meisterschaft, für die
der deutsche Wettanbieter Tipico als Bewerbssponsor gewonnen werden konnte. Ob 2014/15
noch mehr Tore fallen als zuletzt? Der Schnitt
von 3,3 kann sich absolut sehen lassen.
Trotzdem kamen weniger Zuschauer (6165 pro
Spiel). “Der brennendste Punkt”, fackelte
16
T H E F I FA W E E K LY
Red Bull Salzburg “lieferte” vergangene
Saison zu jedem Zeitpunkt: Mit gnadenlos
hohem, intensivem Pressing und einer Siegesserie wurde die Europa League buchstäblich
im Sturm erobert. Ajax Amsterdam – immerhin mit den späteren WM-Dritten Jasper
Cillessen (Torhüter) und Daley Blind (als
Abwehrspieler der Niederlande sogar Torschütze gegen Brasilien im Spiel um Platz 3) –
war zweimal vorgeführt worden: 3:0 und 3:1,
Salzburg erreichte glanzvoll das Achtelfinale,
wo dann als erneut besseres Team gegen den
FC Basel Endstation war.
In der Liga legten die Mozartstädter ein Solo
hin. Schon Ende März waren sie, nach 28 von
36 Runden, Meister. Am Ende betrug der
Vorsprung auf den Zweiten, Rekordmeister
Rapid, sagenhafte 18 Punkte. Titelverteidiger
Austria Wien bezahlte die fünf Zähler in der
Champions-League-Gruppenphase mit
Platz 4, noch hinter Sensationsaufsteiger
Grödig.
In der neuen Saison würde es Rapid trotz
kräftigen personellen Aderlasses (die ab­
gewanderten Sabitzer, Burgstaller und Boyd
erzielten zusammen 33 Tore) gerne spannender machen – dieser Versuch muss allerdings
im ungeliebten Happel-Stadion unternommen
werden, denn das stimmungsvolle GerhardHanappi-Stadion wird abgerissen und das
neue Heimstadion wird erst 2016 fertig sein.
Doublegewinner Salzburg, das Regionallist
Sollenau im Pokal letzten Samstag 10:1 schlug,
konnte seine Schlüsselspieler halten. Das ist
keine gute Nachricht für die Konkurrenz. Das
überregionale Ziel von Trainer Adi Hütter, der
den von Bayer Leverkusen abgeworbenen
Roger Schmidt ersetzte: erstmals die
Champions-League-­Gruppenphase erreichen.
“Dazu müssen wir in Topverfassung sein, wir
brauchen vier perfekte Spiele!”
Die denkbar idealste Einstimmung:
Der Liga-Auftaktknaller am Samstag,
19. Juli, daheim gegen Rapid. Å
Mario Kneisel / Gepa / EQ Images
Österreichische Bundesliga
Major League Soccer
Das Geduldsspiel
Roland Zorn ist Fussballexperte
und lebt in F
­ rankfurt am Main.
Es wird noch dauern, bis die
Vereinigten Staaten “DreamTeams” zu Fussballweltmeisterschaften schicken können, deren Spieler
vorzugsweise aus der Major League Soccer
(MLS) kommen. Es mag aber auch sein, dass
sich diese Sehnsucht nie erfüllt. Doch die
Zeichen der Hoffnung sind gesetzt. Wie zuletzt
2002, als die Amerikaner überraschend das
Viertelfinale bei der WM erreichten und dann
mit etwas Pech am späteren Finalisten
Deutschland scheiterten, könnte die MLS auch
nach der WM in Brasilien einen Boom erleben.
Einen kleinen zumindest, da sich die Amerikaner wie nie zuvor für eine Weltmeisterschaft begeisterten, während der auch für das
Team der USA ein belebender Faktor war. Die
Mannschaft von Trainer Jürgen Klinsmann,
dem deutschen Weltmeister von 1990, schied
nach leidenschaftlichen Auftritten zwar schon
im Achtelfinale aus, hinterliess aber einen
guten Eindruck, weil sie amerikanische
Tugenden verkörperte: Sie gab nie auf, kämpfte sich durch eine schwierige Gruppe und
hielt dank ihres eisernen Willens auch mit
spielstärkeren Teams mit.
“Wir haben der Welt bewiesen, dass wir eine
Fussballnation sind”, sagt Don Garber, seit
1999 Commissioner der MLS. Ihr Chefpromoter sieht sich ab sofort gefordert, einen Teil
der öffentlichen Anteilnahme auf die MLS zu
übertragen. Die 19 Klubs starke Liga hat an
dem Wochenende, da in Rio de Janeiro der
neue Weltmeister gesucht wurde, schon
wieder in ihrer Eastern und Western Conference gespielt. Wenn die im Durchschnitt
von rund 18 000 Zuschauern besuchten
Begegnungen der Major Soccer League
stattfinden, versammeln sich vor den Bildschirmen aber nicht mehr bis zu 25 Millionen
Menschen, wie beim WM-Gruppenspiel der
Amerikaner gegen Portugal, sondern durchschnittlich nur noch 220 000. Das sind
deutlich weniger als die im Schnitt 400 000
Fussballfans, die sich die live ausgestrahlten
Partien aus der Premier League anschauen.
Qualität hat ihren Reiz.
einem raschen Tempo, auch was den FanZuspruch und die Qualität der Mannschaften
angeht. Dennoch ist der Weg, der vor uns
liegt, noch lang.”
Und doch verheisst Garber gerade im Blick
auf Klinsmanns Team, dass “unsere Fanbasis
grösser wird und die Einschaltquoten im
Fernsehen höher sein werden”. Es ist ein
Geduldsspiel, das die MLS unter dem Konkurrenzdruck der grossen amerikanischen
Profiligen im American Football, Baseball
und Basketball bestehen muss, aber es ist
auch eine grosse Chance, da sich mehr und
mehr Augen auf die Major League Soccer
richten. Klinsmann, von Natur aus Optimist,
sagt: “Die Liga wächst wirtschaftlich in
“Wir haben
der Welt bewiesen,
dass wir eine
­F ussballnation sind.”
Diejenigen, die ihn in Zukunft mitgehen
wollen, sind in der Welt des Fussballs nicht
ganz unbekannt. So wird der brasilianische
Weltstar Kaká 2015 das neugegründete
Team Orlando City SC ebenso bereichern
wie der spanische Nationalspieler David
Villa den im selben Jahr in die MLS aufgenommen New York City FC. David Beckham,
die Fussball-Ikone aus England, will einen
Klub aus Miami zukünftig in die MLS
integrieren so wie auch in Atlanta eine neue
Mannschaft geplant ist. “Bis 2022 wollen
wir eine der besten Ligen der Welt sein”,
verspricht Garber.
Don Garber
imago
Die Neugier auf mehr Fussball ist in den
Vereinigten Staaten geweckt, Investoren stehen
bereit, bei der Jugend ist der weltweit beliebteste Sport mindestens so populär wie Baseball,
die zwanzig Spieler der MLS, die bei der WM
im Einsatz waren, – so viele wie nie zuvor
– werden von Jahr zu Jahr besser, die Nachwuchsarbeit gewinnt an Professionalität: Gute
Voraussetzungen, einen schlafenden Riesen
wach zu kitzeln. “Unsere Liga”, sagt Garber und
hofft, mit seiner These recht zu bekommen,
“wird durch die Massenbegeisterung rund um
die WM wichtiger und wertvoller.” Å
New Yorker Sieg Federico Higuaín (links) von
Columbus verlor letzten Samstag in der Red Bull
Arena in New Jersey 1:4 (rechts: Lloyd Sam).
T H E F I FA W E E K LY
17
DEBAT T E
Ohne Scheuklappen
Der letzte Schliff des Meisters Mit grosser Geduld und technischem Verständnis hat Trainer Joachim Löw massgeblich zur Entwicklung beigetragen.
Perikles Monioudis
A
ls grössten Erfolg des deutschen Fuss­
balls seit dem Wunder von Bern im Jahr
1954 feiert die deutsche Qualitätspresse
den Triumph des Löw-Teams in Brasili­
en. Der Vergleich stimmt nur schon des­
wegen, weil die deutsche Nationalmann­
schaft zehn Jahre zuvor – wie damals auch – am
Boden war. Der Wiederaufbau des DFB-Teams
seit 2014 kann aber nun, nach der WM 2014, als
gelungen angesehen werden.
Bundestrainer Joachim Löw trat 2006 an
die Stelle von Jürgen Klinsmann, dessen Assis­
tent er zwei Jahre lang gewesen war. In der
Pressekonferenz am Vortag zum WM-Finale
2014 machte Löw im Bauch des Maracanã-Sta­
dions in Rio keinen Hehl daraus, dass er und
sein Team beim Wiederaufbau der Nationalelf
überall dort Anleihen gemacht haben, “wo wir
18
T H E F I FA W E E K LY
etwas Neues beobachten konnten”, eine über­
raschende Tendenz im Spielsystem, neue Me­
thoden – ob in den Niederlanden oder sonst wo
auf der Welt.
Vorbild der Seleção?
Dieser langwierige Prozess des Wiederaufbaus
steht im brasilianischen Fussball nun an. Die
Deutschen haben es vorgemacht: Ohne
Scheuklappen haben sie sich den Realitäten
des gegenwärtigen Fussballs gestellt. Für die
Deutschen hiess das, die Freude an der Schön­
heit des Spiels für sich zu entdecken, die Lust
am schönen Spiel. Sie taten das, ohne dabei
über Bord zu werfen, was sie stets ausgezeich­
net hatte: Durchsetzungswillen und Wett­
kampfhunger. Dazu kam die über zehn Jahre
ausgeprägte Fähigkeit, ein Spiel auch unter
ästhetischen Gesichtspunkten zu dominieren –
mit innovativen Passfolgen und Freistoss­
varianten, mit einem flexiblen Stil.
Die Brasilianer traten an ihrer Heim-WM
dagegen körperbetont auf. Das “Joga bonito”,
einst die Grundbedingung des brasilianischen
Fussballs, wurde zugunsten eines eher aggres­
siven Spiels aufgegeben; das variantenreiche
Spiel mit dem Ball schien durch das simple
Spiel auf den Mann ersetzt worden zu sein.
Zurück in die Zukunft
Wann wird es den Brasilianern gelingen, ihr
schönes Spiel wiederzuerlangen und darin die
guten Seiten des Körperbetonten einzuflech­
ten? Zunächst scheint es angebracht, über dem
neuen Spielsystem zu brüten – das gilt nicht nur
für die Seleção. Das gilt auch für das spanische
Nationalteam, das mit Deutschland einen wür­
digen Nachfolger in Brasilien gefunden hat. Å
Die Weekly-Debatte.
Was brennt Ihnen unter den Nägeln?
Über welche Themen wollen Sie
diskutieren? Ihre Vorschläge an:
[email protected]
imago
Das deutsche Nationalteam hat in den letzten
zehn Jahren seine traditionellen Tugenden
mit neuen Ideen versehen. Der Seleção steht
­dieser erfolgversprechende Prozess nun bevor.
DEBAT T E
PRESIDENTIAL NOTE
Die Eindrücke der FIFA.com-User von der
Weltmeisterschaft :
Dank der Magie des Fernsehens konnte ich
60 von 64 Spielen live verfolgen. Es muss
eine unglaubliche Erfahrung sein, ein Spiel
live im Stadion zu sehen. Nun bin ich traurig,
dass alles vorbei ist und ich habe erst noch
die Abschlussfeierlichkeiten verpasst. Ich
hoffe, irgendein TV-Sender wird diese im
Nachhinein bald noch übertragen. Die
­FIFA-WM war mit Sicherheit unterhaltsam
und spektakulär. Gratulation an den Gast­
geber Brasilien, vielen Dank für ein höchst
genussreiches und unvergessliches Turnier!
pinkpearl417, Kanada
Meiner Meinung nach wurde das beste Tor
an dieser aussergewöhnlichen Weltmeisterschaft von James Rodríguez geschossen!
Alvin94270, Frankreich
Trotz des enttäuschenden Endresultates von
Brasilien in dieser WM muss gesagt werden,
dass Scolari ein grossartiger Trainer ist.
Er hat sein Team 2002 zu einem WM-Titel
geführt und Portugal in das EM-Finale
gebracht. Aber die Aufgabe, mit diesem Team
einen weiteren Titel auf heimischem Boden zu
erkämpfen, war einfach zu gross. Brasilien –
so glaube ich – kann von Glück sprechen, dass
überhaupt die Halbfinals erreicht wurden.
Und mit dem Fehlen von zwei der besten
Spieler war es unmöglich, Deutschland zu
schlagen!
Sauer-Kraut, Kanada
Gratulation, deutsche Mannschaft! Spielt
auf dieselbe Art und Weise in Russland
und die Trophäe wird für immer in euren
Händen sein!
hubec80, Serbien
Herzlichen Glückwunsch an die deutsche
Nationalmannschaft! Sie hat ein grossartiges
Turnier gespielt und den vierten Stern wahrlich verdient!
Sir-Galaxy, Frankreich
“Die beste
­Weltmeisterschaft
überhaupt.”
Diese war die beste Weltmeisterschaft
überhaupt! Ich habe sie in vollen Zügen
genossen: die Organisation, die Menschen,
das Wetter …
tanta_17, Ägypten
Die Weltmeisterschaft 2014 hielt sehr viele
wunderschöne und ganz wenige traurige
Momente für uns bereit! Die Verletzung
von Neymar war ein grosser Schock. (Und
ich bin davon überzeugt, dass die SeleÇão
sogleich wusste, dass nun die Katastrophe
nicht weit ist!)
ForcaBraNey, Frankreich
“Herzlichen Glückwunsch an
die deutsche Mannschaft!”
15 000-mal Gold
T
ore, Spektakel, Dramen. Die WM in Brasilien
hat uns verzaubert und gefesselt – und passend zu diesem grossartigen Fussballfest
erlebten wir eines der schönsten Tore am
Schluss: Der Siegestreffer von Mario Götze für
Deutschland im Endspiel gegen Argentinien war
ganz hohe Fussballkunst – und er schrieb Sportgeschichte. Erstmals triumphierte auf amerikanischem Boden eine europäische Mannschaft.
Dass diese Ehre ausgerechnet Deutschland
zukommt, ist kein Zufall. Denn die DFB-Auswahl hat die wohl erstaunlichste Entwicklung
aller Spitzenteams hinter sich: Seit 2006 setzt sie
spielerische und kreative Massstäbe – und zeigt
technische Qualitäten, die man früher nur von
südländischen Mannschaften kannte. Gleich­
zeitig konnte sie die herausragende mentale
­Belastbarkeit und die weltmeisterliche Konstanz
­bewahren. Seit 2002 klassierte sie sich an jeder
WM-Endrunde in den Top 3. So gesehen, ist der
Triumph von Rio de Janeiro die logische Konsequenz einer kontinuierlichen Aufbauarbeit.
Das deutsche Team ist der würdige Weltmeister. Gleichzeitig gibt es aber 15 000 andere
WM-Teilnehmer, die eine Goldmedaille verdient
hätten – die Volunteers, die das freundliche
G esicht des Turniers entscheidend geprägt
­
­haben. Ob in den Stadien, Hotels, Flughäfen,
­Medienzentren, Kongresslokalitäten oder an
den Bushaltestellen – bei Problemen war immer
eine helfende Hand und ein guter Rat erhältlich.
Letztlich bleiben die spektakulären Bilder
von den Spielen in den Köpfen der Menschen
haften. Alle sprechen von Götze, Messi und
Neuer. Doch die heimlichen Stars an dieser
WM sind die Volunteers. Für ein T-Shirt, e
­ inen
Trainingsanzug und ein Paar Schuhe lieferten
sie die organisatorische Basis. Ohne die 15 000
freiwilligen Helfer hätte Mario Götze nie zum
WM-Helden werden können. Ohne die Volunteers wäre ein Anlass dieses Ausmasses nie
denkbar. Für diese Hilfe möchte ich mich aufrichtig und herzlich bedanken!
Ihr Sepp Blatter
T H E F I FA W E E K LY
19
20
T H E F I FA W E E K LY
First Love
O r t: Tek n a f, Ba ng l adesc h
Datum: 21. Juni 2012
Zeit: 14. 32 Uhr
AP / Keystone
T H E F I FA W E E K LY
21
© 2014 adidas AG. adidas, the 3-Bars logo and the 3-Stripes mark are registered trademarks of the adidas Group.
instinct
takes over
#predatorinstinct
adidas.com/predator
SPLIT TER
F
ussball ist auch ein Spiel der Einsamkeiten – selbst im Spiel der Spiele, im WM-Finale. Zur zweiten Halbzeit erschien der deutsche Kapitän P
­ hilipp
Lahm als Erster auf dem Platz, er joggte in die Platzmitte, begleitet von einem nur ganz kurzen Applaus der seinem Team gewogenen Zuschauer
im Maracanã zu Rio de Janeiro, und begann dort mit Stretching, bevor er ein paar schnelle Stampfschrittfolgen und breit abgestützte Rückwärtsschritte vollführte, die ein Verteidiger, auch ein Vorwärtsverteidiger wie der Bayern-Kapitän, so oft im Spiel anwendet. Er liess sich Zeit. Ab und zu
blickte er zum entfernten Spielertunnel, aber da tat sich noch lange nichts; und auf den Rängen schienen sich die Menschen mit ihren Kameras oder
Smartphones genug Beschäftigung zu bereiten. Lahm verlor sich auf dem weiten Feld, keiner schien ihn zu beachten. Es war die Ruhe vor dem Sturm.
Er war für sich allein; mit sich und seinen Gefühlen. Anderthalb Stunden später stemmte er den WM-Pokal siegreich in die Höhe. Å
Perikles Monioudis
imago
P
ünktlichkeit sei bei Brasilianern eine Interpretationssache, heisst es immer wieder. Und “Relaxa e aproveita” (entspannen
und genies­sen) laute das nachahmenswerte
­Lebensgefühl. Tatsächlich macht in Brasilien
niemand einen Aufstand, wenn eine Verabredung mit 15 Minuten Verspätung eingehalten
wird. Der Toleranzspielraum ist fast immer
grösser als die Ungeduld. In den Grossstädten
hat dies auch einen pragmatischen Hintergrund. Je nach Verkehrsfluss kann eine Autofahrt auf gleicher Strecke fünf Minuten
oder eine Stunde dauern.
Der Chronist lernte Brasilien in den vergangenen fünf Wochen aber auch von einer
anderen Seite kennen: Zum Besuch von 19
Spielen an der Fussball-WM waren zwischen
Manaus und Porto Alegre insgesamt 21 Inlandflüge ­nötig. Gesamtbilanz: 20-mal pünktlich oder zu früh am Ziel; einmal mit 30 Minuten Verspätung. Fazit: Hätten die brasilianischen Fussballer so zuverlässig gearbeitet wie die n
­ ationalen Fluggesellschaften, wären sie kaum im Halbfinale abgestürzt. Å
Thomas Renggli
D
as neue Verhältnis der Deutschen zur
Fussballkunst ist in den vergangenen
­Tagen ausgiebig diskutiert und gewürdigt worden. Zwei deutsche Fans leiteten aus
dem Stil ihrer Mannschaft das Recht ab, ein
­a ngemessenes Souvenir mit nach Hause zu
nehmen.
Auf dem Rückflug bei einer Zwischenlandung in São Paulo besuchten die beiden in
Deutschlandtrikots eine temporäre Ausstellung mit dem schönen Titel “Schiess den
Ball!”. Sie hatten ja genügend Zeit. Dabei
nutzten sie einen vermeintlich unbeobachteten Augenblick, um eine gewichtige Bronzeskulptur unter einem Plexiglaszylinder
hervorzuziehen und im Handgepäck zu verstauen. Dummerweise gibt es in der brasilianischen Öffentlichkeit keine unbeobachteten Augenblicke, weil alles mit K
­ ameras
gefilmt wird. Die Polizei stellte die ­beiden
Kunstdiebe kurz vor dem Abflug und verhalf
ihnen zu kurzer Berühmtheit. Die Bilder der
Überwachungskameras liefen danach rund
um die Uhr auf allen Fernsehkanälen. Å
Sven Goldmann
D
ie kleine Bar liegt gut. Links die Tram­
station, rechts ein Feinkostladen, etwas
weiter hinten der Geschäftskomplex. Nun,
nachdem die WM vorbei ist und sich der
Fussballfan wieder den elementaren Dingen
zuwenden darf (Lebensunterhalt verdienen,
Politikartikel lesen, Blumen kaufen), hat sich
die kleine Bar einen Spass gemacht. Besitzer
Giovanni öffnet gegen Abend alle Fenster und
lässt auf einem grossen Fernseher abwechslungsweise die WM-Spiele der Jahre 1982 und
2014 laufen.
Giovanni sagt, das seien seine Lieblings­
turniere. Darum geht es aber nicht. Es geht
darum, dass der Gastronom ein gutes Gespür
für den wirtschaftlichen Nutzen hat. Giovanni surft auf der letzten WM-Welle. Er macht
Profit mit seinem Spass. Altobelli-Rossi-Tor!
Schürrle-Götze-Tor! Immer wieder die gleichen Bilder. Immer wieder die gleichen LiveKommen­tare. Die Leute bleiben stehen und
schauen rein. Und dann tritt Giovanni auf
den Plan: “Lust auf einen Campari? Birra?
Bruschetta?” Å
Alan Schweingruber
T H E F I FA W E E K LY
23
DANKE, BR ASILIEN
Ort eines grandiosen
Finales Rio de Janeiro
und sein Maracanã.
Eine WM der Lebensfreude
Was hatte man vor Brasilien 2014 in den Medien nicht alles befürchtet – Massendemonstrationen,
unfertige Stadien, defensiven Hitzefussball. Doch es kam alles ganz, ganz anders.
Herzenssache
Die friedlichen Fans
in Brasilien, im Bild
die chilenischen,
bleiben noch lange
in Erinnerung.
24
T H E F I FA W E E K LY
Gustavo Pellizon, AFP
Perikles Monioudis, Rio de Janeiro
DANKE, BR ASILIEN
Public Viewing an der Copacabana
Das beliebte FIFA-Fan-Fest in Rio hatte ein
Fassungsvermögen von 20 000 Besuchern.
Carlos Becerra / Anadolu Agency / Getty Images
D
ie Argentinier sind weg. Zu Zehntausenden waren sie mit ihren Kleinwagen
nach Rio de Janeiro gefahren, um ihrem
Team im WM-Finale beizustehen. Sie
parkten die Copacabana voll, kochten
aus mitgebrachten Töpfen Reis und
G emüse und sangen zwei Tage lang. Am
­
­d ritten Tag aber, am Montag nach der spektakulären Partie im Maracanã, war schon bei
Sonnen­aufgang in Rio kaum mehr ein argentinisches Nummernschild auffindbar. Die
­a rgentinischen Fans hatten die Stadt noch in
der Nacht verlassen – ohne die Belohnung
durch den Finalsieg. Als gute Verlierer ­nahmen
sie ihr Schicksal hin. Zu Auseinandersetzungen ­z wischen ihnen und den Deutschen oder
den ­Einheimischen, die unverhohlen für die
­deutsche Elf und dabei vor allem gegen den
Erzrivalen Argentinien waren, kam es nicht.
In der Nacht des WM-Finals blieb es in Rio – in
dieser Hinsicht – ruhig.
Die deutschen Fans, zahlreich, aber nicht
omnipräsent wie die Argentinier, konnten
schwerlich mit dem Auto anreisen; sie flogen
für teures Geld über den Atlantik und verbanden ihre Reise der Hoffnung, die Verheissung
vom vierten WM-Titel der DFB-Auswahl, fast
schon mehrheitlich mit einem Kultur­
programm (Führung in der weltberühmten
Bibliothek Rios oder im imposanten Opernhaus), zumindest mit einem Sightseeing auf
dem ­Corcovado. So gehörten am Tag nach dem
vierten deutschen WM-Triumph die Trikots
der Nationalmannschaft in Rio noch immer
zum Strassenbild – gemeinsam mit den omnipräsenten gelben Trikots des WM-Gastgebers Brasilien.
Begeisterung allenthalben
Die Brasilianer haben, allen Unkenrufen zum
Trotz, ihre WM 2014 zu einem unvergess­lichen
Fest gemacht – sowohl was die grossmehrheitlich offensiv geführten Partien aller Teams
­a ngeht, als auch, was die Atmosphäre und die
Professionalität anbelangt, mit der die “Copa”
im Grossen wie im Detail absolviert wurde.
Die Stadien waren voll, die ­Zuschauer gingen
mit; der WM-Torrekord von Frankreich 1998
(171) wurde eingestellt.
Was wurde nicht alles schwarzgemalt vor
der WM. Das Klima würde keinen Offensivfussball zulassen, hiess es in den Medien oft
genug. Ja, im Norden war es heiss, im Süden
kalt, und an der Küste regnete es lange. Aber
Man weiss in
Brasilien noch
nicht, wohin die
Reise geht.
die Teams spielten auf Angriff. Die Spieler
wussten, worum es ging, und waren bereit, für
ihre Ziele alles zu geben.
Mit den Deutschen hat ein Team triumphiert, das physisch, aber auch mental bestens
auf das Turnier in Brasilien eingestellt war.
Den klimatischen Bedingungen trugen sie
klug Rechnung; das gelang anderen europäischen Spitzenteams nicht optimal, sie schieden früh aus, während umgekehrt die lateinamerikanischen Verbände zu überzeugen
wussten. Costa Rica schaffte es aus einer sehr
schweren Gruppe ins Viertelfinale. Und Argentinien forderte den Deutschen im Finale alles
ab. Mit Algerien und Ghana schafften es
­erstmals zwei Verbände aus der Afrika-Konföderation in die K.-o.-Phase.
“Die Welt lacht zurück”
Der deutsche Bundestrainer Joachim Löw
­hatte nur gerade einen eigentlichen Torjäger
aufgeboten, den 36-jährigen Miro Klose, der
mit seinem 16. WM-Treffer den Brasilianer
Ronaldo überholte und den alleinigen Tor­
rekord ergatterte. Auch wenn das Achtelfinale
gegen Algerien (2:1) zur Nagelprobe geriet: Die
deutsche Elf katapultierte sich mit dem 7:1Sieg im Halbfinale gegen Brasilien zum gros­
sen Favoriten auf den WM-Titel, somit dorthin, wo sie vielleicht nach dem 4:0-Sieg im
Gruppenspiel gegen Portugal schon einmal
gewesen sein mochte – so oder so in der dominanten Rolle. Doch war das eine Dominanz,
die an sich nicht bedrohlich wirkte, denn sie
T H E F I FA W E E K LY
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Die FIFA Fussball-Weltmeisterschaft™
ist, wo jeder von uns sein will.
DANKE, BR ASILIEN
Sieg gegen Chile Eine Bar in
Brasilia steht nach dem Elfmeterschiessen am 28. Juni Kopf.
David Gray / Reuters
gründete auf den positiven Aspekten des
Spiels, nicht in dessen Zerstörung. Deutschland spielte erfrischend, schön und effizient,
lachte dabei aus dem Herzen. “Die Welt lacht
zurück”, betitelte die Frankfurter Allgemeine
ihren Leitartikel am Folgetag.
Dominanz war vor dem Turnier den Spaniern zugetraut worden. Das Kurzpassspiel
Tiki-Taka hat sich aber insofern überlebt, als
sich sehr langer Ballbesitz an diesem Turnier
der Offensivbemühungen als übermässig
­herausstellte. Das gekonnte schnelle Umschalten von Abwehr auf Angriff dagegen feierte
Urstände. Bei ihrem 7:1-Sieg gegen Brasilien
hatten die Deutschen lediglich zu 48 Prozent
der Spielzeit den Ball in ihren Reihen. Und
auch die Niederlande, während des Turniers
wenn, dann nur im Elfmeterschiessen besiegt,
kamen mit meist weniger Ballbesitz als der
Gegner zum Erfolg.
Brasiliens Fussball vor Neuanfang
Nun, Erfolg war der Seleção nur bedingt
b eschieden. Sie ging im Halbfinale gegen
­
Deutschland unter. Der Druck, der auf dem
Team lastete, war gross. Im Konföderationen­
Pokal 2013 noch eine Macht, brachen für das
Scolari-Team an der WM alle Dämme (Unentschieden gegen Mexiko, Sieg im Elfmeterschiessen gegen Chile, Deklassierung durch
Deutschland). Kein Team hat an einer WM
mehr Treffer kassiert als die Seleção an der
Heim-WM (17). Das Team ist am Nullpunkt
a ngekommen, muss nun in allen Belangen
­
In Rio herrscht
Genugtuung
darüber, sich von
der besten Seite
gezeigt zu haben.
­ iederaufgebaut werden. Mit dem Team fragt
w
sich auch eine ganze Nation nach der eigenen
Identität. In TV-Sendungen werden Trainer mit
der Philosophie eines Pep Guardiola als Cheftrainer der Seleção gefordert – wenn nicht
­Guardiola, der FC-Bayern-Coach, selbst. Man
weiss noch nicht, wohin die Reise geht. Im Oktober sind Wahlen in Brasilien.
Mit dem Ausrichten der WM aber, so viel
steht fest, war Brasilien nicht überfordert. Im
Gegenteil: Die zwölf Stadien waren fertig, es
konnte dort gespielt werden – das hatten viele Medien bis zuletzt für wenig wahrscheinlich gehalten. Und die Anreise gestaltete sich
für alle problemlos. Engpässe an den Flug­
häfen gab es nur in den Befürchtungen der
Bedenkenträger. Die fulminanten Fangesänge
in den Arenen sind ein Grund dafür, dass der
Funke auf die Teams übersprang und so der
Weltöffentlichkeit ein ausserordentliches
Spektakel, eine friedliche Gefühlswallung
­beschert wurde.
Grosses geleistet
Müssig zu erwähnen, dass Massendemonstrationen ausblieben. Der Fussball spielte während der WM die Hauptrolle. Denn die Brasilianer erwiesen sich als politikbewusste
Bürger, die sehr wohl zu unterscheiden wussten zwischen den hausgemachten sozialen
und wirtschaftlichen Problemen und den Leistungen der FIFA, die schon vor der WM als
Sündenbock so gar nicht mehr zu taugen
schien. Schon vor dem 64. FIFA-Kongress Anfang Juni in São Paolo war klar: Die Einheimischen freuen sich auf ihre “Copa do Mundo”,
und sie werden davon abgehen, Kritik an den
falschen Adressaten zu richten.
In Rio herrschte in den Tagen nach dem
WM-Finale Genugtuung darüber, sich während der WM von der besten Seite gezeigt zu
haben. Auch wenn die Seleção neu Anlauf nehmen muss: Die Brasilianer haben bewiesen,
dass sie etwas Grosses auf die Beine stellen
können. Davon kann man zehren, und dafür
dankt ihnen die Welt. Å
T H E F I FA W E E K LY
27
Wir bringen alle
Fans zusammen
Finden Sie neue Freunde und teilen Sie Ihre Begeisterung
in der Bord-Lounge der Emirates A380.
#AllTimeGreats
youtube.com/emirates
Hello Tomorrow
F I F A ’ S 11
FREE KICK
Die Teams mit den
meisten WM-Siegen
Wenn der Magen
rebelliert
Alan Schweingruber
A
m ersten Tag nach der WM meldete sich Hubert krank. Er fühlte sich schlecht. Womöglich eine heimtückische Magen-Darm-Grippe. “Krank?”, schrie sein Chef ins Telefon. “Soll
ich Ihnen das glauben, Westermann? Man sagt,
Sie hätten letzte Nacht in den Strassen getanzt.”
Hubert ging auf die Provokationen seines
Chefs schon lange nicht mehr ein. Es war nicht
das erste Mal. Bestimmt hatte das ganze Team
beim Telefonat mitgehört. Wenn er eine Gelegenheit sah, sich in der Abteilung zu positionieren, liess der Chef seine Bürotür offen. Einmal
hatte er Huberts Kollegin Dolores zusammengestaucht, weil diese mit ihrem Wellensittich
zum Tierarzt fahren musste. Danach habe
­Dolores stundenlang geheult. So wurde das
­Hubert zumindest berichtet.
Sein neues Credo hiess: Gemeinheiten dieser
Art nicht mehr an sich heranlassen. Die innere
Mitte finden. Er nahm ein heisses Bad, dann
kochte er sich einen Tee. Am Fernsehen lief ein
Zusammenschnitt der besten WM-Szenen 2014:
Van Persies Flugkopfball. James’ Weitschusstor
gegen Uruguay. Götzes Finaltor aus drei unterschiedlichen Blickwinkeln. Herrlich. Hubert
schmunzelte gequält und schaltete einen Sender
weiter. Strömender Regen in Frankreich. Drei
Radfahrer kämpften am Berg um die Führung.
Einer schien am Bein zu bluten. Ein Sturz? Das
müsste seinem Chef auf dem Weg zur Arbeit
mal passieren, dachte Hubert. Er lachte kurz
auf. Wenig später schlief er ein.
Hubert träumte, wie er im Maracanã-Stadion einen Elfmeter ausführte. Dabei stand er
vor einem Torwart, der ihn verbal beeinflussen
wollte. “Trash Talk” nennt man das im Boxsport. Nicht mit Westermann! Er schwitzte, im
Hintergrund lärmten 70 000 Zuschauer. Links
oben? Rechts unten? Er drosch den Ball stattdessen über die Latte und alle im Stadion johlten. Am Gitter hinter dem Tor stand sein Chef.
“Westermann, du Flasche!”, schrie dieser. Dann
wachte Hubert auf.
Sein Magen rebellierte. Es ging Hubert
noch schlechter als am Vormittag. Er wankte
ins Bad, danach in die Küche. Auf halbem Weg
spähte er ins Wohnzimmer und sah, wie das
Lokalfernsehen gerade die amateurhaften
K amerabilder von vergangener Nacht aus­
strahlte. Eines zeigte Hubert in weissem Fussballshirt und einem zerfetzten Strohhut. Er
tanzte mit einem Glas Weissbier in der Hand
zu einem deutschen Schlager. Während der
K ameramann die Szene heranzoomte, legte
­
Hubert seine Lippen auf die Linse.
Am anderen Tag meldete sich Westermann
bis Ende Woche krank. Per E-Mail. Å
Die wöchentliche Kolumne aus der
The-FIFA-Weekly-Redaktion
1
Brasilien
70 Siege in 104 WM-Spielen
2
Deutschland
66 Siege in 106 WM-Spielen
3
Italien
45 Siege in 83 WM-Spielen
4
Argentinien
42 Siege in 77 WM-Spielen
5
Spanien
29 Siege in 59 WM-Spielen
6
Frankreich
28 Siege in 59 WM-Spielen
7
Niederlande
27 Siege in 50 WM-Spielen
8
England
26 Siege in 62 WM-Spielen
9
Uruguay
20 Siege in 51 WM-Spielen
10
Russland
17 Siege in 40 WM-Spielen
11
Schweden
16 Siege in 46 WM-Spielen
Quelle: FIFA
(FIFA World Cup, Milestones &
­Superlatives, Statistical Kit, 12.05.2014)
T H E F I FA W E E K LY
29
Name:
Gérard Houllier
Geburtsdatum, Geburtsort
3. September 1947
Thérouanne
Stationen als Spieler
Liverpool Alsop
Hucqueliers
AC Le Touquet
Stationen als Trainer
AC Le Touquet
US Noeux-les-Mines
RC Lens
Paris Saint-Germain
Frankreich
Liverpool
Olympique Lyon
Aston Villa
3-mal französischer Meister,
UEFA-Pokal, FA Cup
30
T H E F I FA W E E K LY
imago
Grösste Erfolge
DAS INTERVIEW
“Wir spüren die Trends heraus”
Er gewann dreimal die französische Meisterschaft, führte den FC Liverpool zu
grossen nationalen und internationalen Erfolgen. An der WM in Brasilien analysierte
Gérard Houllier die Spiele mit wissenschaftlicher Akribie.
Das Offensivspektakel war für den Franzosen keine Überraschung.
Monsieur Houllier – Sie haben die Weltmeister­
schaft als Chef der technischen Studiengruppe
der FIFA akribisch und analytisch verfolgt.
Welche Erkenntnisse bleiben?
Klasse, Disziplin, taktische Leidenschaft. Es
war kein Zufall, dass Chile nur hauchdünn an
Brasilien scheiterte.
Fussballerische Topqualität, viele Tore,
grosse Unterhaltung. Die Intensität vieler
Spiele war phänomenal – und die Dramaturgie
kaum zu überbieten. Es begann schon in der
Gruppenphase mit Mannschaften, von denen
man dies kaum erwartet hätte. Herausragend
war auch, dass es keine krass unterlegenen
Mannschaften gab. Jedes Team hatte eine
Chance auf die Achtelfinal-Qualifikation.
Wäre hätte schon gedacht, dass Costa Rica
ungeschlagen – und erst nach einem verlorenen Elfmeterschiessen – nach Hause fährt?
Wie gross ist der Einfluss des europäischen
Klubfussballs?
Worin lag genau Ihre Aufgabe an der WM?
Ja – aber in der Analyse der brasilianischen Leistung muss man zu einem früheren
Zeitpunkt ansetzen. Das Team hatte einen
schweren Weg durchs Turnier – mit den
technisch starken Kroaten und Mexikanern
als unbequeme Gegner. In der K.-o.-Phase
waren Chile und Kolumbien hohe Hürden. Was
gegen Deutschland passiert ist, war ein Unfall.
Ich möchte die Leistung der Deutschen in
keiner Weise kleinreden – das Team von Jogi
Löw hat perfekt gespielt – aber nach dem
zweiten Tor fielen die Brasilianer in eine Art
Schockstarre. Das kann im Fussball passieren.
Unsere Aufgabe in der technischen Studiengruppe der FIFA ist es, Tendenzen und
Trends herauszuspüren. Wir analysieren jedes
Spiel, ja jede Situation, werten die Informationen und Daten aus – und lassen den Bericht
und eine DVD jedem Nationalverband zukommen. Diese Informationen sind die Grundlage
der weltweiten Entwicklungsarbeiten und
Förderungsprogramme. An der WM spürt man
den Puls des Fussballs – und erkennt, wohin
die Entwicklung geht.
Wie ist die enorme Leistungsdichte an dieser
WM zu erklären?
Jede Mannschaft hat Spieler, die in Europa
engagiert sind und Erfahrung und eine Botschaft nach Hause tragen. Und den Trainern
stehen viel mehr Erkenntnisse und Informationen zur Verfügung als früher – auch durch
unsere Analysen. Dazu kommt die immer
bessere Grundlagenarbeit im Nachwuchsbereich in vielen Verbänden.
Heisst das auch, dass die Stilunterschiede der
einzelnen Mannschaften kleiner werden?
Ich glaube, wir haben an der WM gesehen,
dass viele südamerikanischen Teams mit einer
quasi europäischen Organisation spielen –
aber gleichzeitig ihre Leidenschaft und den
Stolz behalten haben. Ich denke an Kolumbien, Argentinien und Chile. Gerade Chile ist ein
hervorragendes Beispiel: Praktisch alle Spieler
sind im Ausland engagiert und lassen eine
Mischung aus den wichtigsten Qualitäten
entstehen – gute Organisation, individuelle
Der Fussball ist global – die grossen Talente
kommen von allen Kontinenten. Aber selbstverständlich sind die Spitzenligen prägend für
die Nationalteams. Die meisten Spieler der
besten vier Teams spielen in Europa. Wer in
einem europäischen Topklub spielt, bewegt sich
vor allem taktisch auf einem hohen Niveau.
Kommen wir zurück zu Brasilien. Das 1:7
gegen Deutschland war eines der prägenden
Ereignisse des Turniers …
Über dieses Spiel werden wir in 50 Jahren
noch sprechen.
Darin lag vermutlich das Problem des
Heimteams. Im Vorfeld der WM sprachen
alle über die Schmach von 1950 gegen Uruguay. Das hat einen enormen Druck aufgebaut.
Die Brasilianer waren mental auf dieses
Szenario nicht vorbereitet. Nach dem ersten
Gegentreffer dachten sie, dass sie es noch
korrigieren könnten – wie gegen Kroatien.
Aber bleiben wir sachlich: Die Mannschaft
hat das Halb­fi nale erreicht. Wenn man es
unter die besten vier Equipen der Welt
schafft, ist nicht alles schlecht.
Was machen Deutschland und Argentinien
besser als die Konkurrenten?
Die Deutschen steigerten sich im Verlauf
des Turniers kontinuierlich und fanden eine
Lösung für jedes Problem. Sie machten kaum
Fehler und wuchsen an der Aufgabe. Seit acht
Jahren spielt das Team mit Konstanz. Wer
über eine so lange Zeitspanne so nah am Titel
ist, entwickelt ein grosses Verlangen nach
dem Triumph. Auch diese Erfahrung hat die
Mannschaft so weit getragen.
Und Argentinien?
Alle sprechen von Messi. Aber dahinter
stehen eine grossartige Organisation und eine
exemplarische Disziplin. Argentinien überzeugte durch eine herausragende, defensive Qualität. Es ist kein Zufall, dass die Mannschaft in
der K.-o.-Phase keinen Gegentreffer zuliess.
Wie erklären Sie sich die offensive Spielweise
in den vergangenen viereinhalb Wochen?
Für mich kommt das nicht überraschend.
Nach dem Konföderationen-Pokal im letzten
Jahr habe ich ein spektakuläres, offensiv
geführtes Turnier erwartet. Wir wussten schon
im Vorfeld, dass für rund 50 Prozent der
Trainer ihre Anstellung mit der WM endet.
Das animierte wohl viele Coaches dazu, zusätzliche Risiken einzugehen. Am Ursprung der
Entwicklung liegen aber auch ein paar kluge
Regelanpassungen – beispielsweise das Durchgreifen bei überhartem Einsteigen von hinten.
Auch die flächendeckende mediale Abdeckung
hat dazu beitragen. Denn schwere Fouls
werden automatisch zum grossen Thema – und
die “Täter” sozusagen an den Pranger gestellt.
Aber wir haben auch das Beispiel von Neymar
erlebt, der vom Kolumbianer Juan Zúñiga
richtiggehend niedergestreckt wurde.
Das war ein Unfall – und kann in jedem
Spiel passieren. Ich wage zu behaupten, dass
kein Spieler seinen Gegner auf diese Art
absichtlich verletzten würde.
Was wünschen Sie sich für die künftige
Entwicklung des Fussballs?
… dass weiterhin die spielerische und
technische Qualität im Vordergrund steht,
dass man die Stärken der Spieler fördert, dass
Kreativität und Ideen ausgelebt werden. Diese
WM ist auch das Turnier der überragenden
Individualisten – Messi, Robben, Müller,
Neymar. Aber jeder dieser Spieler arbeitet
auch viel nach hinten – und stellt das Team in
den Vordergrund. Das macht den kompletten
Fussballer der Gegenwart aus. Å
Mit Gérard Houllier sprach Thomas Renggli
T H E F I FA W E E K LY
31
ZEITSPIEGEL
T
H
E
N
London, England
1953
T. Marshall / Topical Press Agency / Getty Images
Feinarbeit im Gentlemen’s Club: Der Platzwart in Fulham
demonstriert im Rahmen einer Schau die neueste Technik.
32
T H E F I FA W E E K LY
ZEITSPIEGEL
N
O
W
Rio de Janeiro, Brasilien
2014
Buda Mendes / Getty Images
Grünpflege im Maracanã: Ein Mann mäht
den bekanntesten Stadion-Rasen Brasiliens.
T H E F I FA W E E K LY
33
DAS FIFA-R ANKING
Rang Team
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
38
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
53
55
56
57
58
59
60
61
62
63
64
65
66
67
67
69
70
71
72
73
74
75
76
77
34
Deutschland
Argentinien
Niederlande
Kolumbien
Belgien
Uruguay
Brasilien
Spanien
Schweiz
Frankreich
Portugal
Chile
Griechenland
Italien
USA
Costa Rica
Kroatien
Mexiko
Bosnien und Herzegowina
England
Ecuador
Ukraine
Russland
Algerien
Elfenbeinküste
Dänemark
Schottland
Rumänien
Schweden
Venezuela
Serbien
Türkei
Panama
Nigeria
Tschechische Republik
Ägypten
Slowenien
Ungarn
Ghana
Honduras
Armenien
Tunesien
Österreich
Wales
Japan
Slowakei
Island
Paraguay
Iran
Montenegro
Guinea
Usbekistan
Norwegen
Kamerun
Finnland
Republik Korea
Jordanien
Burkina Faso
Peru
Mali
Polen
Senegal
Libyen
Sierra Leone
Vereinigte Arabische Emirate
Südafrika
Albanien
Israel
Oman
Republik Irland
Bolivien
Bulgarien
Aserbaidschan
EJR Mazedonien
Kap Verde
Australien
Sambia
T H E F I FA W E E K LY
→ http://de.fifa.com/worldranking/index.html
Rang­veränderung Punkte
1
3
12
4
6
1
-4
-7
-3
7
1724
1606
1496
1492
1401
1330
1241
1229
1216
1202
-7
2
-1
-5
-2
12
1
2
2
-10
5
-6
-4
-2
-2
-3
0
1
3
10
-1
3
-2
10
-1
0
-12
9
-1
-7
-3
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-3
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2
-6
1
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6
2
-14
-3
8
12
1
-10
7
-1
-1
8
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0
-4
6
10
6
-36
-14
-1
1148
1098
1091
1056
989
986
955
930
917
911
901
898
897
872
850
807
734
733
724
720
717
714
684
664
646
645
644
642
642
637
635
621
614
606
604
588
570
566
563
559
555
523
520
520
508
501
500
495
487
483
478
476
471
469
466
450
444
444
443
440
429
425
410
406
401
397
396
Rang
02 / 2014
03 / 2014
04 / 2014
05 / 2014
06 / 2014
07 / 2014
1
-41
-83
-125
-167
-209
78
79
79
81
82
83
84
85
86
87
88
89
89
91
92
93
94
95
96
96
98
99
99
101
102
103
104
105
106
107
108
109
110
111
112
113
114
115
115
117
118
119
120
121
121
123
124
125
126
127
128
129
129
131
131
133
134
135
136
136
138
139
140
140
142
143
144
Platz 1 Aufsteiger des Monats Saudiarabien
Marokko
Angola
Belarus
Kongo
Jamaika
Trinidad und Tobago
Palästina
Katar
Uganda
Togo
Nordirland
Irak
Benin
Estland
Gabun
VR China
Kenia
DR Kongo
Georgien
Simbabwe
Botsuana
Niger
Neuseeland
Moldawien
Lettland
Litauen
Bahrain
Tansania
Kuwait
Luxemburg
Ruanda
Äthiopien
Äquatorial-Guinea
Namibia
Haiti
Mosambik
Sudan
Liberia
Zentralafrikanische Republik
Kanada
Libanon
Kuba
Malawi
El Salvador
Aruba
Tadschikistan
Dominikanische Republik
Burundi
Kasachstan
Philippinen
Afghanistan
Vietnam
Lesotho
Suriname
Mauretanien
Guatemala
St. Vincent und die Grenadinen
Neukaledonien
Guinea-Bissau
St. Lucia
Zypern
Turkmenistan
Tschad
Grenada
Madagaskar
Kirgisistan
12
-2
14
1
3
-2
-13
9
14
-1
0
1
15
-4
6
-4
9
13
-12
0
1
-7
13
-4
-1
6
2
5
7
8
11
7
-3
-9
2
-40
4
5
1
-12
-8
6
-25
1
-53
-3
2
6
2
-3
1
1
-6
8
5
4
-7
-2
4
-2
-1
3
3
-6
2
1
5
Absteiger des Monats
384
377
377
376
375
373
369
362
361
358
357
356
356
354
345
344
342
339
338
338
334
332
332
330
325
314
312
288
287
281
278
276
273
270
264
262
257
256
256
253
250
249
245
234
234
233
232
230
222
220
218
217
217
213
213
208
204
203
199
199
195
193
183
183
182
179
176
145
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147
148
149
150
151
151
153
154
155
156
157
158
159
160
161
162
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167
167
169
170
171
172
173
174
175
175
177
178
178
180
181
182
183
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190
190
192
192
192
192
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197
198
199
200
200
202
203
204
205
206
207
208
208
Malediven
Syrien
DVR Korea
Gambia
Antigua und Barbuda
Malta
Malaysia
Indien
Indonesien
Singapur
Guyana
Puerto Rico
Thailand
St. Kitts und Nevis
Swasiland
Myanmar
Belize
Hongkong
Bangladesch
Nepal
Pakistan
Montserrat
Liechtenstein
Dominica
Barbados
Laos
Tahiti
Komoren
Bermuda
Guam
Nicaragua
Salomon-Inseln
São Tomé und Príncipe
Sri Lanka
Chinese Taipei
Jemen
Turks- und Caicos-Inseln
Seychellen
Curaçao
Färöer
Mauritius
Südsudan
Vanuatu
Fidschi
Mongolei
Amerikanische Jungferninseln
Samoa
Bahamas
Brunei Darussalam
Osttimor
Tonga
Cayman-Inseln
Amerikanisch-Samoa
Andorra
Papua-Neuguinea
Kambodscha
Britische Jungferninseln
Eritrea
Somalia
Macau
Dschibuti
Cook-Inseln
Anguilla
Bhutan
San Marino
2
-6
-1
0
2
-18
2
3
4
1
1
2
-8
2
14
-1
-9
1
4
0
-1
0
-5
2
1
-2
-10
2
2
4
1
5
-5
1
-2
3
26
-1
-1
-13
-1
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3
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144
144
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78
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1
0
0
THE SOUND OF FOOTBALL
DAS OBJEK T
Perikles Monioudis
D
Anti-Kommerz-Geist
Hanspeter Kuenzler
Vier Jahre werden wir bis zum nächsten
­offiziellen WM-Schlager ausharren müssen.
Grund genug, Trost in “inoffiziellen” Fussballliedern zu suchen.
Sion Ap Tomos
“T
he Official Colourbox World Cup Theme”
schaffte es trotz flammender Melodie nie
über die Grenzen der alternativen britischen Musikszene hinaus. Schon der clevere
Scherz im Titel – es war natürlich kein offizieller
FIFA-Song, sondern eine “offizielle” Colourbox-Single! – deutet an, dass man es hier nicht
mit einem kruden Cash-in zu tun hat. Colourbox, das waren die Gebrüder Martyn und Steven
Young, dazu die Sängerin Lorita Grahame.
Jahre bevor Techno die Tanzhallen in
­Beschlag nahm, hatten sie in einer düsteren
Kellerwohnung in Maida Vale, London, mit
elektronischen Instrumenten und dem beim
Hip-Hop ausgeborgten Sampling-Trick experimentiert. Dabei kam weder Krautrock im Stil
von Kraftwerk noch Disco à la Giorgio Moroder
heraus. Vielmehr vereinten sie Reggae-Beats
mit sahninger Soul-Musik, englischem Humor
und der Stimmung von Spaghetti-Western.
Ein einziges, typischerweise feines Album
veröffentlichten sie – es schaffte es in den
Charts auf Rang 67. “The Official Colourbox
World Cup Theme” erschien auf die WM von
1986 in Mexiko hin. Ganz dem damals in alternativen Musikkreisen herrschenden Anti-Kommerz-Geist folgend, gab die Band am gleichen
Tag noch eine zweite Single heraus und ruinierte damit die Chancen von beiden. Schon das
Cover hat einsame Klasse: die Konterfeis der
englischen Fussballer Jimmy Hill (vorn) und
Bobby Robson (hinten) in klassischer Sechzigerjahre-Montur. Der “Song” selber ist ein unglaublich mitreissendes und doch äusserst elegant arrangiertes Instrumentalstück, dessen
einziger Text aus gelegentlichen menschlichen
Grunzlauten besteht.
Kurze Zeit später taten sich Colourbox mit
der Gruppe A.R.Kane zusammen, um ihre
Sampling-Experimente unter dem Namen
M/A/R/R/S auf die Spitze zu treiben. Prompt
resultierte der pionierhafte Welt-Hit “Pump
up The Volume”. Die Youngs hassten den Rummel. Sie haben seither nie mehr eine Platte
aufgenommen. Æ
er heilige Rasen – jeder Fussballfan weiss,
dass es ihn gibt. Nicht irgendwo, nein, heilig ist der Rasen nur da, wo er dazu bespielt
worden ist, wo er also über Generationen hinweg von den Idolen des Spiels benutzt wurde –
für ihre Tore des Jahres oder des Jahrzehnts,
ihre Titelgewinne. Heilig ist der Rasen da, wo
er zu Höherem diente. Auf Anhieb fallen dem
Fussballfan bestimmt das Grün des Wembley-Stadions zu London ein und jenes weit
umgürtete im Land des fünffachen Weltmeisters: der heilige Rasen des Maracanã-Stadions
im brasilianischen Rio de Janeiro.
1950 spielten Brasilien und Uruguay die
entscheidende Partie um den WM-Titel im
­damals gerade neu errichteten Maracanã aus.
Das bessere Ende behielten die Uruguayer. 64
Jahre später sah das Stadion aller Stadien ein
weiteres WM-Finale, wieder lag dabei für die
Seleção nichts drin, denn sie war schon früher
aus dem WM-Turnier ausgeschieden.
Die Deutschen triumphierten 2014 auf
dem heiligen Rasen des Maracanã. Der Rasen
ist nun um ein Finalhighlight reicher, um einen Teil der Fussballgeschichte vielmehr, um
einen veritablen Mythos, um es genau auszudrücken. Ein Stück des heiligen Rasens im
FIFA-Museum in Zürich auszustellen, liegt
nahe. Allein, wie bekommt man einen Rasenziegel unbeschadet über den Atlantik ins Herzen Europas, an den Zürichsee?
Eine eigens dazu angefertigte Holzschachtel musste dafür herhalten (siehe Bild oben). Sie
ist im Unterschied zu ihrem Inhalt zwar nicht
heilig, aber immerhin kommt ihr das Verdienst
zu, den heiligen Rasen befördert zu haben. Ein
Platz in den Archiven des FIFA-Museums
scheint ihr jetzt schon sicher. Å
T H E F I FA W E E K LY
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Only eight countries have ever
lifted the FIFA World Cup Trophy.
Yet over 200 have been
winners with FIFA.
As an organisation with 209 member
associations, our responsibilities do not end
with the FIFA World Cup™, but extend to
safeguarding the Laws of the Game, developing
football around the world and bringing hope to
those less privileged.
Our Football for Hope Centres are one example
of how we use the global power of football to
build a better future.
www.FIFA.com/aboutfifa
TURNING POINT
Name
Abdel Moneim Hussein
Geburtsdatum, Geburtsort
7. Juli 1956, Khartum (Sudan)
Position
Defensives Mittelfeld
Erfolge als Spieler
8-mal ägyptischer Meister,
2-mal ägyptischer Cup-Sieger
Erfolge als Coach (Auswahl)
2-mal ägyptischer Meister,
Sieger afrikanische
Champions League
“Der Schulrauswurf
war mein Sprungbrett”
Der Sudanese Abdel Moneim Hussein ist eine Legende
des afrikanischen Fussballs. Diesen Status verdankt er
­indirekt der Roten Karte an der Universität.
Getty Images
I
n der Fussballwelt bin ich unter dem Spitznamen “Shatta” bekannt. Das ist Arabisch
und bedeutet “scharfer Pfeffer”. Ich wurde
schon als Kind so gerufen, weil ich nie ruhig
sitzen konnte und voller Energie war. Dieser
Kraft verdanke ich auch meine Karriere.
Denn sie trieb mich stets an, mehr Engagement
und Aufwand zu investieren als die meisten meiner Alterskollegen. Ich wuchs mit sechs Schwestern und sechs Brüdern im Sudan auf. Da lernt
man automatisch, die Ellbogen auszufahren.
Fussball war für mich als Kind bloss ein
Hobby. Ich spielte auf der Strasse mit Kollegen.
Mehr Zeit und Energie setzte ich in meine
schulische Ausbildung. Ich wollte unbedingt
Ingenieur werden und erhielt einen Studienplatz an der Universität in Khartum. Das war
alles andere als selbstverständlich, denn pro
Jahr kam dieses Privileg nur 20 Schülern zu.
Parallel zu meinem Studium spielte ich für
den lokalen Klub Al Tahrir und mit der universitätsinternen Mannschaft weiter Fussball. 1972
gewannen wir in Tansania völlig überraschend
den prestigeträchtigen kontinental-afrikanischen Universitäts-Cup. Ich war Torschützenkönig des Wettbewerbs und wurde zum besten
Spieler gewählt. Dieses Ereignis sollte zum gros­
sen Wendepunkt in meinem Leben werden –
­a llerdings nicht so, wie ich es mir vorgestellt
hatte. Als wir nämlich nach Khartum zurückkehrten, wurde ich von der Schule geschmissen – mit der Begründung, dass ich drei Wochen
unentschuldigt gefehlt hätte.
Zuerst war es ein Schock, rückblickend
muss ich der Schulleitung für die Suspension
aber dankbar sein. Denn sie öffnete mir die Türe
zur grossen Fussballwelt. Dank meiner Leistungen waren diverse grosse afrikanische Klubs auf
mich aufmerksam geworden. Ich entschied mich
schliesslich für den ägyptischen Rekordmeister
Al Ahly. Wer den ägyp­tischen Fussball nicht
kennt, kann sich kaum vorstellen, welch grosse
Bedeutung dieser Club hat. Die Derbys gegen
Zamalek gehören zum heissesten, was der internationale Fussball zu bieten hat – vor einer Kulisse von 120 000 Zuschauern im Kairo-Stadion.
Nach dem Rücktritt als Spieler wurde ich
Trainer von Al Ahly. Der zweite grosse Wendepunkt bedeutete aber mein Engagement als
technischer Direktor des afrikanischen Kontinental-Verbands. In dieser Funktion verfolge ich
die Leistungen der Afrikaner in Brasilien mit
grösstem Interesse. Dass sich erstmals zwei
­u nserer Nationalmannschaften für die Achtel­
finals qualifizierten, ist ein Erfolg. Es wäre aber
noch mehr möglich gewesen. Der afrikanische
Fussball besitzt das Talent und die Inspiration
für ganz grosse Erfolge. Doch er braucht eine
solidere administrative und organisatorische
Basis. Der Weg dorthin kann nur über mehr
Wettbewerb und Konkurrenz führen: inner- wie
interkontinental. Deshalb hoffe ich, dass Afrika
dereinst mehr als nur fünf Startplätze an der
Endrunde erhält. Schliesslich haben wir exakt
gleich viele Mitglieder wie die UEFA. Å
Aufgezeichnet von Thomas Renggli
Persönlichkeiten des Fussballs erzählen
von einem wegweisenden Moment in
ihrem Leben.
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©2014 THE COCA-COLA COMPANY. COCA-COLA® AND THE CONTOUR BOTTLE
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Ein WM-Trikot, Alfredos Doppelgänger und ... raten Sie mit!
Herausgeberin:
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Präsident:
Joseph S. Blatter
1
Generalsekretär:
Jérôme Valcke
Der Weltklasse-Stürmer spielte für drei Nationalmannschaften, zuletzt für Spanien.
Er verpasste die WM 1962 wegen Verletzung. Viele Jahre spielte er für einen spanischen
Spitzenklub – der andere Spitzenclub hatte ihn ebenfalls umworben.
Und in dieser Stadt starb er auch. Wer?
Direktor Kommunikation
und Öffentlichkeitsarbeit:
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Chefredakteur:
Perikles Monioudis
TRaymond
RFerenc
PFritz
KLaszlo
Redaktion:
Thomas Renggli (Autor),
Alan Schweingruber, Sarah Steiner
Art Direction:
Catharina Clajus
Bildredaktion:
Peggy Knotz
2
Produktion:
Hans-Peter Frei
Bei wie vielen WM-Spielen sah man dieses Trikot?
A
O
E
I
Layout:
Richie Krönert (Leitung),
Marianne Bolliger-Crittin,
Susanne Egli, Mirijam Ziegler
drei oder weniger
genau fünf
genau sechs
sieben oder mehr
Korrektorat:
Nena Morf, Kristina Rotach
Ständige Mitarbeitende:
Sérgio Xavier Filho, Luigi Garlando,
Sven Goldmann, Hanspeter Kuenzler,
Jordi Punti, David Winner,
Roland Zorn
3
Was steht hier drauf?
C
L
N
R
Mitarbeit an dieser Ausgabe:
Andreas Jaros, Alissa Rosskopf,
Andrew Warshaw, Andreas Wilhelm
Man of The Match
Golden Boot
Fair Play
Third Place WC 2014
Redaktionssekretariat:
Honey Thaljieh
Projektmanagement:
Bernd Fisa, Christian Schaub
Übersetzung:
Sportstranslations Limited
www.sportstranslations.com
Druck:
Zofinger Tagblatt AG
www.ztonline.ch
4
Wer hat die meisten WM-Tore geschossen – die abgebildeten Spieler des englischen Klubs,
des spanischen Teams, das Trio oder der zweifache Vater? (Elfmeterschiessen zählt nicht mit.)
A
E
H
K
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Kontakt:
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Der Nachdruck von Fotos und
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hergestellt und gedruckt.
Ansichten, die in The FIFA Weekly
zum Ausdruck gebracht werden,
entsprechen nicht unbedingt den
Ansichten der FIFA.
Das Lösungswort des Rätsel-Cups aus der Vorwoche lautet: SEPP
Ausführliche Erklärungen auf www.fifa.com/theweekly
Inspiration und Umsetzung: cus
Bitte senden Sie das Lösungswort bis Mittwoch, 23. Juli 2014, an die E-Mail-Adresse [email protected]
Die korrekten Lösungen für alle seit dem 13. Juni 2014 erschienenen Rätsel nehmen im Januar 2015 an der Verlosung
einer Reise für zwei Personen zum FIFA Ballon d’Or am 12. Januar 2015 teil.
Vor Einsendung der Antworten müssen die Teilnehmenden die Teilnahmebedingungen des Gewinnspiels sowie die Regeln zur
Kenntnis nehmen und akzeptieren, die unter folgendem Link zu finden sind:
http://de.fifa.com/mm/document/af-magazine/fifaweekly/02/20/51/99/de_rules_20140613_german_german.pdf
T H E F I FA W E E K LY
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F R A G E N S I E T H E W E E K LY
UMFR AGE DER WOCHE
WM 2014: Welcher Fussball-Stil hat Ihnen am besten gefallen?
Bei Deutschland standen sieben
Spieler von Bayern München im
WM-Endspiel – ist das Rekord?
Ines Mares, Turin
Nein. Vor vier Jahren stellte der
FC Barcelona sechs Spieler in der
Final-Formation der Spanier:
Piqué, Puyol, Busquets, Iniesta,
Xavi und Pedro. Insgesamt aber
standen sieben Katalanen im
Weltmeister-Kader – gleich stark
sind die Bayern im aktuellen
DFB-Team vertreten. Deutschlands Coach Joachim Löw komplettierte gegen Argentinien mit
der Einwechslung von Mario
Götze die Bayern-Fraktion.
Der Höchstwert liegt 64 Jahre
zurück: Im “Endspiel” von 1950
standen neun Spieler von Peñarol
Montevideo im Uruguay-Kader:
Máspoli, Varela, Ghiggia, Míguez,
Schiaffino, Britos, González,
Ortuño und Vidal. Peñarol stellte
insgesamt neun Weltmeister.
Rekord! (thr)
Weltmeister Deutschland bestach in Brasilien mit modernem Fussball. Aber auch Costa Rica, Nigeria
oder die Niederlande zeigten ansehnliche Spiele. Welcher Stil hat Ihnen besonders gut gefallen?
Stimmen Sie ab unter www.fifa.com/newscentre
ERGEBNIS DER LETZTEN WOCHE
Welches Team gewinnt die FIFA-Fair-Play-Auszeichnung? (Kolumbien gewann die Auszeichnung.)
48%
31%
Kolumbien
Schweiz
12%
Anderes Team
6%
Nigeria
3%
Argentinien
Z AHLEN DER WOCHE
Kilometer lief der 26-jährige Michael Bradley
aus den USA im Achtelfinale gegen Belgien
(2:1). Der Mittelfeldspieler liefert damit die
beste Laufleistung des Turniers in Brasilien
ab. Für den kampf­erprobten Bradley, der sich
im wahrsten Sinne des Wortes als unermüdlicher Arbeiter und Antreiber auszeichnetet,
war es die zweite WM-Teilnahme.
88
Prozent aller Pässe gelangen den Akteuren
im Spiel Italien - England. Dieser Höchstwert
der WM 2014 ist auch deshalb so erstaunlich,
weil die zwei ehemaligen Weltmeister im
tropischen Manaus aufeinandertrafen.
Italien gewann die Hitzeschlacht 2:1.
(Im Bild: Daniele De Rossi.)
sagenhafte Kilometer pro Stunde wurden
bei einem Sprint von Júnior Díaz an der
WM 2014 gemessen. Keiner lief in Brasilien
so schnell wie Costa Ricas Aussenverteidiger.
Der 30-Jährige spielt seit 2012 in der deutschen Bundesliga für den 1. FSV Mainz 05.
Getty Images
16.69
33.8

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